Parodistische Konstellationen von Nationalsozialismus und Holocaust: Erinnern zwischen Pop und Postmoderne [1 ed.] 9783737014212, 9783847114215

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Parodistische Konstellationen von Nationalsozialismus und Holocaust: Erinnern zwischen Pop und Postmoderne [1 ed.]
 9783737014212, 9783847114215

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Open-Access-Publikation (CC BY 4.0) © 2022 V&R unipress | Brill Deutschland GmbH ISBN Print: 9783847114215 – ISBN E-Lib: 9783737014212

Westwärts. Studien zur Popkultur

Band 6

Herausgegeben von Moritz Baßler, Heinz Drügh und Dirk Niefanger Reihe mitbegründet von Albert Meier

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Kathrin Kazmaier

Parodistische Konstellationen von Nationalsozialismus und Holocaust Erinnern zwischen Pop und Postmoderne

Mit 14 Abbildungen

V&R unipress

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. D.30 © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Wo nicht anders angegeben, ist diese Publikation unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung 4.0 lizenziert (siehe https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/) und unter dem DOI 10.14220/9783737014212 abzurufen. Jede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Collage © Jan Dieske. Verwendete Abbildungen: Walter Moers (Adolf. Äch bin wieder da!! Frankfurt am Main 1998, o.S.); Zbigniew Libera (Lego. The Concentration Camp (1996) und Positives (2002–2003)); Bruno Brunelli (Giotto di Bondone: Szene Nr. 37 Auferstehung, Noli me tangere, aus dem Freskenzyklus: Das Leben Christi, Cappella degli Scrovegni (Arenakapelle), Padua, 1304–1306); Paramount Pictures. All Rights Reserved (George Stevens: A Place in the Sun (1951)); CHRONOS-MEDIA GmbH (Konstantin von zur Mühlen: Der Geist der Befreiung (2018)). Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5219 ISBN 978-3-7370-1421-2

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»Boing«

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I: Gegenwartsdiskurse 1 Karneval im Fatherland – Christian Krachts Faserland . . . 1.1 Vom Unbehagen im Faserland . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Karnevalisiertes Vaterland . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Vom Unsinn zur »deutschen Semiose« und zurück – Stimmenkonkurrenz im Faserland . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Karnevalisierte Gleichwertigkeit – Vom Unsinn . . 1.3.2 Karnevalisierte Reproduktion »deutscher Semiose« 1.4 Zeichendeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Medialisierte Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Materielle Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Fiktionale Zeichen – Erfundene Geschichte(n) . . . 1.4.4 Groteske Körper-Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.5 Groteskes Erinnern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Heterotopische Fluchten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Romantische Ausflucht: Heidelberg . . . . . . . . . 1.5.2 Das andere Deutschland: Die Schweiz . . . . . . . . 1.5.3 Die andere Erzählung: Auf dem Zauberberg . . . . 1.6 Christian Krachts Faserland – Fazit . . . . . . . . . . . .

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2 Diskurspop – Thomas Meineckes Hellblau . . . . . . . . . . . . 2.1 Thomas Meineckes Pop-Verständnis . . . . . . . . . . . . . 2.2 Techno als Modell für das poetische Verfahren von Hellblau 2.3 Lyotard im Clubhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.4 Konzentrische Annäherungen an ›Auschwitz‹ . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Der atlantische Kulturraum als Kreuzungspunkt kultureller Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Signifyin(g) Monkeys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Experimentelle Weltherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Himmlers ›Stimmen der Völker‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Vom Scheitern des Diskurses an der Praxis – Meineckes Figuren in der Einübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Thomas Meineckes Hellblau – Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Fazit Teil I: Stolpern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil II: Den Nationalsozialismus spielen/ Mit dem Nationalsozialismus spielen . . . . . . . .

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4 ›KZ‹ im Kinderzimmer? – Zbigniew Liberas Lego. Concentration Camp 4.1 Die Missachtung impliziter Darstellungsparadigmen . . . . . . . . 4.2 Das ›Rationalitätsprinzip‹ als Weltordnung – Lego und der ›NS‹ . . 4.3 Medienübergreifendes Merchandising – ›toyetic‹ . . . . . . . . . . 4.3.1 (Selbst-)Vermarktung des Holocaust … . . . . . . . . . . . . 4.3.2 … vs. kritisch-aufklärerische Kinderzimmerpädagogik . . . . 4.4 Von der Imagination zur Wirklichkeit zum Denkverbot… und zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Versuchen Sie es selbst – Walter Moers’ Adolf-Comics . . . . . . . 3.1 Adolf, der Superheld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Adolf I und II – Die ewige Wiederkehr . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Ikonizität und Symbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Monokausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Nivellierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Die Umkehr der Kausalitäten – Fiktion und Wirklichkeit . 3.3 Serialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Komik als kritische Distanznahme und Konfrontation unterschiedlicher Bezugssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Adolf III: Der Bonker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Der Untergang: Faszination und Remythisierung Hitlers . 3.5.2 Der Bonker: Entmythisierung Hitlers und inszenatorische Selbstermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Walter Moers’ Adolf-Comics – Fazit . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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Fazit Teil II: Spielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.5 Das Spiel mit der Ikonizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Exkurs: Ikonische Gegenbilder – Zbigniew Liberas Positives 4.5.2 Geschichtete Ikonizität und Modellcharakter . . . . . . . . . 4.6 Mit und gegen das Spielzeug spielen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Zbigniew Liberas Lego. Concentration Camp – Fazit . . . . . . . .

Teil III: Parahistorien 5 Alexander Kluges Parallelgeschichte(n) – Dezember und 30. April 1945 5.1 Zersplitterung als poetologisches Verfahren . . . . . . . . . . . . . 5.2 Dezember – Konstellative Chronik statt Narration . . . . . . . . . . 5.2.1 Konstellationen – 1. Dezember 1941: Eissturm an der Front vor Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Fiktionaler Widerstand des Möglichen . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Konstellationen, noch einmal – Verdichtungen . . . . . . . . 5.2.4 Lesen als produktives Konstellieren . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Inter-, Intratextualität und Intermedialität . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Intratextuelle Verweisstrukturen in Dezember . . . . . . . . . 5.3.2 Intermediale Verweisstruktur – Gerhard Richters Bilderfolge . 5.3.3 Intertextuelle Verweisstrukturen – Enthierarchisierung auf Produktionsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Exkurs: 30. April 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Schwellen-Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Ideologische Überhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Alexander Kluges Dezember und 30. April 1945 – Fazit . . . . . . .

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6 Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma . 6.1 George Stevens und Elizabeth Taylor im Konzentrationslager oder: Der Zusammenhang eines Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Godards ›Filmtheorie‹: Anspruch und Scheitern des Mediums Film. 6.3 Denkende Montage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Exkurs: Hitchcocks Modell vs. Godards Modellierungen . . . . . . 6.5 ›Noli me tangere‹ – Berührungslose Berührung . . . . . . . . . . . 6.6 Jean-Luc Godards Histoire(s) du cinéma – Fazit . . . . . . . . . . .

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Exkurs: Meinecke, Godard und Kluge im Zusammenhang . . . . . . . .

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Inhalt

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Fazit Teil III: Konstruieren – The Good, the Bad and the Ugly . . . . . .

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Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Text-, Bild- und Medienverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7 Quentin Tarantinos ›Bilderstreit‹ – Inglourious Basterds . . . . . . . 7.1 Ceci n’est pas la Deuxième Guerre mondiale . . . . . . . . . . . . 7.2 Janusköpfige ›NS‹-Ästhetik vs. Tarantinos Ästhetik der Exaltiertheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Wucherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Hybridisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Bastardisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.4 Vengeance League of Justice – Empowerment der Opfer . . 7.3 Der Film im Film: Stolz der Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Parodistische Überzeichnung des Heldenepos in Stolz der Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Der Film ist ein Film ist ein Film – Postmoderne mise en abyme oder: Die Bilder schlagen zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Der Verlust der medialen Unschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Überschreibungen und Einschreibungen . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Quentin Tarantinos Inglourious Basterds – Fazit . . . . . . . . . .

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Einleitung

Der Themenkomplex des Nationalsozialismus und des Holocaust wurde stets – trotz vielfältiger populärkultureller Durcharbeitungen – als resistent gegenüber einem offenen, postmodernen (theoretischen wie praktischen) Ästhetik-Diskurs angesehen: Die für die postmoderne Literatur typische Gelassenheit, ihre spürbare Ästhetik der Indifferenz und neuentdeckten Erzählfreudigkeit angesichts des Reproduktions- und Zirkulationscharakters der Bilder, Ideen, Empfindungen und Erinnerungen, gilt für die Holocaust-Thematik so nicht.1

An diesem schon 1997 formulierten Tatbestand hat sich in den darauffolgenden zwei Jahrzehnten wenig geändert. In Bezug auf künstlerische Arbeiten, die sich postmoderner oder popkultureller Motive und Verfahren bedienen, reagiert der gesellschaftliche und kulturelle Diskurs noch immer überwiegend negativ. Obwohl die Überführung nationalsozialistischer Zeichen in die Popkultur – vor allem in Form von enthistorisierenden Tendenzen – durchaus von Wissenschaftlern, Journalisten und Fans einzelner popkultureller Phänomene wahrgenommen und untersucht worden ist,2 ist die dichotome Einteilung in High und 1 Manuel Köppen, Klaus R. Scherpe: Zur Einführung: Der Streit um die Darstellbarkeit des Holocaust. In: Dies. (Hg.): Bilder des Holocaust. Literatur – Film – Bildende Kunst. Köln, Weimar, Wien 1997, S. 1–12, hier S. 4. Siehe auch Andreas Huyssen: »Bei aller Laxheit der Postmoderne hinsichtlich medialer Strategien und formaler Mittel der Repräsentation, beim Thema ›Auschwitz‹ hört der Spaß auf. Massenmord, so ein weitreichender Konsensus, darf nicht massenmedial vermittelt werden, soll aber gleichzeitig von einer größtmöglichen Öffentlichkeit erinnert werden. Im Zeitalter der Medien artikuliert sich die Angst vor dem Realitätsverlust in der Repräsentation nirgendwo so deutlich wie beim Thema ›Holocaust‹.« (Ders.: Von Mauschwitz in die Catskills und zurück: Art Spiegelmans Holocaust-Comic Maus. In: Manuel Köppen, Klaus R. Scherpe (Hg.): Bilder des Holocaust. Literatur – Film – Bildende Kunst. Köln, Weimar, Wien 1997, S. 171–189, hier S. 171). 2 Marcus Stigglegger: Nazi-Chic und Nazi-Trash. Faschistische Ästhetik in der populären Kultur. Berlin 2011. Stigglegger untersucht vor allem die enthistorisierende Aneignung und ReSemantisierung nationalsozialistischer Zeichen durch die Popkultur. Dabei wird das ästhetische Erscheinungsbild des Nationalsozialismus reaktiviert und als Accesoire und Mode zur

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12

Einleitung

Low, ernste, angemessene und legitime gegenüber unterhaltender, unangemessener und illegitimer Kunst im Diskurs über Holocaust3 und Nationalsozialismus noch immer die weithin vertretene Leitlinie. Die wenigen Ausnahmen bestätigen dabei die Regel.4 Explizite Verbindungen von Popkultur und Holocaust – die noch immer ein gewisses Desiderat darstellen – untersucht Kirstin Frieden in ihren Neuverhandlungen des Holocaust. Ihr Bezugspunkt liegt jedoch auf »[m]ediale[n] Transformationen des Gedächtnisparadigmas«5 und knüpft damit an die bestehenden gedächtnistheoretischen Debatten ebenso wie an Diskurse über Generationenfragen an. Das Verhältnis von Popliteratur und Holocaust, das für diese Arbeit einen Ausgangspunkt bildet, bleibt bei Frieden einerseits an den Generationenroman geknüpft, andererseits aber auf die Betonung popliterariSchau getragen. Begleitet ist diese Aneignung häufig von einer nicht eindeutigen Faszination für die damit transportierten Semantiken von Verführung, Hierarchie, Macht und Ästhetik. Georg Seeßlen: Das zweite Leben des »Dritten Reichs«. (Post)nazismus und populäre Kultur. Teil I und II. Berlin 2013. Seeßlen unternimmt eine Analyse der kollektiv-mentalen Verfasstheit der deutschen Gesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg und zeigt die herrschenden Mechanismen anhand von kulturellen Produkten auf. Jelena Jazo: Postnazismus und Populärkultur. Das Nachleben faschistoider Ästhetik in Bildern der Gegenwart. Bielefeld 2017. Jazo untersucht massenmediale Kunstwerke aus bildwissenschaftlicher Perspektive. Ihre Untersuchungsgegenstände sind vor allem Popmusik, Internetphänomene und Filme. 3 In dieser Arbeit wird der Begriff Holocaust ohne Anführungszeichen verwendet und soll dabei potentiell die Gesamtheit der nationalsozialistischen Verfolgungs-, Gewalt- und Vernichtungstaten an Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma sowie Menschen mit Behinderung, Homosexuellen und politisch Verfolgten bezeichnen. Meist geht es in der diskursiven Auseinandersetzung zwar um die Vernichtung jüdischer Menschen und der jüdischen Kultur, mitgedacht sind jedoch auch die anderen von den Nationalsozialisten vernichteten Individuen und politischen, sozialen Gruppen. Zu einer ausführlichen Darlegung des Diskurses um den Begriff ›Holocaust‹ siehe Adrian Daub: Holocaust. In: Dan Diner (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Band 3. Stuttgart, Weimar 2012, S. 94–99. 4 Auch beziehen sich diese überwiegend auf einen bestimmten, kleinen Ausschnitt des Zeichenrepertoires, das der Nationalsozialismus bereithält: So ist Hitler als symbolische Figur des absolut Bösen – und zugleich des absolut Lächerlichen – in der massenmedialen Kultur des Web 2.0 willkommen, akzeptiert und ein immer wieder gern gesehenes wie anhaltend provozierendes Zeichen. Siehe dazu etwa Hipster-Hitler, die Youtube-Channels Cats that look like Adolf Hitler oder Things that look like Adolf Hitler. 5 Kirstin Frieden: Neuverhandlungen des Holocaust. Mediale Transformationen des Gedächtnisparadigmas. Bielefeld 2014, S. 3. Ihre Arbeit fokussiert Arbeiten aus der Literatur, der Performance und den Neuen Medien im Hinblick auf deren Modifizierungen des Gedächtnisbegriffs. Sie analysiert die Arbeiten daher vor einer intergenerationellen Folie. Schnittpunkte zur vorliegenden Arbeit ergeben sich allenfalls in der Tendenz der Betonung von prozessualen, dynamischen Verfahren, wie sie Frieden im Bereich der Performance als »Performing the Past« (ebd., S. 175) oder »Work in Progress« (ebd., S. 180, 233) beschreibt oder für die Literatur Kevin Vennemanns als Spiel bezeichnet. Bei Vennemann bleibt das Spiel allerdings ein textinternes Motiv, das Täter- und Opferpositionen verunsichert. Für die Literatur Vennemanns konstatiert Frieden zudem eine Tendenz zum »performativen Geschichte(n)Erzählen« (ebd., S. 320).

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Einleitung

scher Abwehr gegen die Political und Memorial Correctness6 des allseitig herrschenden »Wort-Knast[s]«7 beschränkt, zieht also aus der Analyse kaum verfahrensspezifische Konsequenzen, wie sie hier vorgelegt werden sollen. Statt einzelner thematischer oder erinnerungstheoretischer Fragen nimmt die vorliegende Studie spezifisch ästhetische Verfahren aus dem popkulturellen und dem postmodernen Kontext, die in künstlerischen Auseinandersetzungen mit den Themen Nationalsozialismus und Holocaust zum Einsatz kommen, in den Blick. Die Gegenstandsauswahl ist dabei auf Arbeiten aus Literatur, Film, Comic und bildender Kunst fokussiert, die popkulturelle und postmoderne Verfahren einsetzen, in ihren Disziplinen als (mittlerweile) kanonisiert gelten und damit die Dichotomie von Hoch- vs. Popkultur durchkreuzen. Eine Analyse verfahrensspezifischer Konsequenzen ermöglicht es, verschiedene Medien und Diskurse in den Blick zu bekommen und so ein disziplinenübergreifendes Panorama zu entwerfen. Der gemeinsame Nenner von popkulturellen und postmodernen Verfahren ist im Gegensatz zu einer auf Schließung zielenden Konventionalisierung von Darstellungsweisen ein grundlegend enthierarchisierendes und antiessentialistisches Zeichen-Denken. Der Diskurs über Nationalsozialismus und Holocaust, der noch immer von moralischen Restriktionen umstellt ist, wird von solchen Verfahren inhaltlich und strukturell affiziert und herausgefordert. Statt Topoi aus der biblischen Tradition, dem semantischen Umkreis der Hölle oder dem Memento mori, statt Motiven wie etwa der Blechtrommel werden Alltagsgegenstände wie die Barbourjacke, der Baseballschläger, die Verfahren experimenteller Technomusik oder ästhetisch wirksame Worte wie ›Neckarauen‹ zu motivischen Trägern für einen aktualisierten Zugang zur deutschen Vergangenheit. Bildliche wie sprachliche Ikonen werden einer kritischen Betrachtung unterzogen und um einen ästhetisch, sprachlich, bildlich, erzählerisch wuchernden und unabschließbaren Umgang mit dem Thema Holocaust und Nationalsozialismus erweitert. Bestehende Parameter wie das Festhalten an einem unbedingten, fragwürdigen Realismus und die Betonung von Authentizität müssen einer selbstbewussten Konstruiertheit, ästhetischen Erfindung und Reproduktion sowie Re-Präsentation weichen. Selbstferentielle Artifizialität wird gegen naturalisierende und ideologisierende Tendenzen in Stellung gebracht, die sich noch immer in einigen gegenwärtigen Darstellungen zu Nationalsozialismus und Holocaust sowie in gesellschaftspolitischen Vorstellungen ritualisierter Erinnerungsmuster nachweisen lassen.

6 Siehe dazu Frieden, Neuverhandlungen des Holocaust, S. 20. 7 Thomas Meinecke: 2 Plattenspieler, 1 Mischpult. In: Marin Kagel, Gudrun Schulz (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts. Vechta 2001, S. 188–190, hier S. 189, zit. nach Frieden, Neuverhandlungen, S. 171.

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Einleitung

Ein kurzer Überblick über die gesellschaftlich-politischen und ästhetischen Entwicklungen und Debatten der deutschen Erinnerungskultur soll den diskursiven und theoretischen Umkreis dieser Arbeit näher beleuchten.

Zur Diskursgeschichte der deutschen Erinnerungskultur Mehrfach ist in der historisierenden Betrachtung die (deutsche) Erinnerungskultur und -politik in verschiedene Phasen eingeteilt worden, die sich mit den Stichworten Beschweigen, Bewältigen und Erinnern überschreiben lassen.8 Die erste Phase ist, so Aleida Assmann, von gesellschaftlichem Be- und Verschweigen geprägt. Der ästhetische Fokus richtet sich vor allem auf die Verarbeitung der soldatischen Kriegserfahrungen und den Umgang mit der beschwerlichen, alltäglichen Nachkriegsrealität sowie auf Versuche, die eigene literarische Sprache einem ›Kahlschlag‹ zu unterziehen.9 Die Gewaltverbrechen der Nationalsozialisten in den Todeslagern kommen nicht zur Sprache. Im Schatten dieser Aufbruchsbemühungen aber entstehen einige ästhetische Versuche, die Erfahrungen der Todeslager zum Ausdruck zu bringen: Paul Celan etwa schreibt schon 1947 sein wohl berühmtestes Gedicht Die Todesfuge, das allerdings erst in den 1960er

8 Aleida Assmann unterstellt die drei Phasen den Begriffen Vergangenheitspolitik (1945–1957), Vergangenheitsbewältigung (1957–1985) und Erinnerung (ab 1985). Siehe Dies.: Wendepunkte der deutschen Erinnerungsgeschichte. In: Dies., Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999, S. 140–147. Hans-Ulrich Thamer unterteilt in fünf verschiedene Phasen: 1. Entnazifizierung und Mythisierung, 2. Tabuisierung (1950er und frühe 1960er Jahre), 3. Tribunalisierung (1960er und 1970er Jahre), 4. Sensibilisierung und Historisierung (1980er Jahre), 5. Universalisierung. Siehe Hans-Ulrich Thamer: Der Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur vor und nach 1989. In: Jens Birkmeyer, Cornelia Blasberg (Hg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten. Bielefeld 2006, S. 81–93. 9 In Abgrenzung zur »Kalligraphie« (Gustav René Hocke: Deutsche Kalligraphie oder: Glanz und Elend der modernen Literatur. In: Der Ruf. Eine deutsche Nachkriegszeitschrift. Hg. von Hans Schwab-Felisch. München 1962, S. 203–208. Ursprünglich erschienen in: Der Ruf, 15. November 1946 (Heft 7)) der Exilautoren beanspruchten junge Autoren wie Alfred Andersch im Umfeld der im amerikanischen Kriegsgefangenenlager auf Rhode Island herausgegebenen Zeitschrift Der Ruf, die eigene Sprache einem »Kahlschlag« (Wolfgang Weyrauch: Nachwort zu Tausend Gramm (1949). In: Ders. (Hg.): Tausend Gramm. Reinbek bei Hamburg 1989, S. 175– 183, hier S. 178) zu unterziehen, um sie von der nationalsozialistischen ›Kontamination‹ zu bereinigen. Diese Rhetorik erwies sich jedoch mehr als postulierter Wunsch denn als tatsächlich realisierter literarischer Neuanfang. Siehe dazu etwa Urs Widmer: So kahl war der Kahlschlag nicht. In: Die Zeit 26. 11. 1965. Die Radikalität von Andersch oder Richter bezog sich vor allem auf unproblematische Motive der Kriegsheimkehrer und der kleinen Soldaten sowie auf die mit dem – physisch wie psychisch zu verstehenden – Schlagwort der Trümmerliteratur versehenen literarischen Bemühungen, zu neuen Erzählungen zu gelangen. Von der Vernichtung der Juden wurde auch hier geschwiegen.

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Zur Diskursgeschichte der deutschen Erinnerungskultur

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Jahren – zusätzlich durch die Goll-Affaire10 in einen negativen Fokus gerückt – in der Öffentlichkeit rezipiert wurde. Auch Nelly Sachs‘ Gedichtband In den Wohnungen des Todes und Primo Levis Se questo è un uomo? (dt. Ist das ein Mensch? (1961)) erscheinen 1947. Beide Themen aber – die deutsche Nachkriegsgesellschaft und die Erfahrungen jüdischer Überlebender oder Exilierter – sind gänzlich voneinander getrennt. Mit der Bildung der Gruppe 47 unter der Federführung von Hans Werner Richter bestimmt diese Institution für Jahrzehnte den deutschen Literaturmarkt, seine Formen der Kritik und verhilft einem neuen realistischen Erzählen zum Erfolg. Formalisten wie etwa Helmut Heißenbüttel die nach dem Zweiten Weltkrieg einen anderen Weg der Sprachkritik gehen und sich weigern, zum sinnstiftenden Erzählen zurückzukehren, stellen für die Realisten der Gruppe 47 zu Beginn eine Irritation dar.11 Damit wird die Tradition deutscher Literatur und Lyrik, die nach dem Zweiten Weltkrieg versucht, an die Vorkriegsavantgarde anzuknüpfen, in den Hintergrund gedrängt.12 Assmann betont, dass, obwohl erst für die zweite Phase überhaupt von einer öffentlichen, gesellschaftlichen Auseinandersetzung gesprochen werden könne, diese schon von einer »›Kritik der Formen der Vergangenheitsbewahrung‹«13 geprägt sei. Öffentliche Debatten über Revisionen gesellschaftlicher, politischer und künstlerischer Normen sind also von Beginn an Teil der deutschen Erinnerungskultur. Die früheste und wohl bekannteste wie grundlegend missverstandene, kritische Positionierung zum Verhältnis von Kunst zu, über und nach

10 Zu den öffentlich nicht überprüften, aber bereitwillig weitergetragenen Anschuldigungen Claire Golls gegenüber Celan, er habe die Gedichte Yvan Golls plagiiert siehe Daniela Beljan: Goll-Affaire. In: Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus. Bielefeld 2009, S. 120–122. 11 Siehe dazu Helmut Böttiger: Überlagerungen. Heißenbüttel und die Gruppe 47. In: Helmut Heißenbüttel: Literatur für alle. Begleitheft zur Ausstellung in den Literaturhäusern Berlin und Stuttgart sowie in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, 2012/13. Hg. v. Johanna Bohley und Lutz Dittrich. O. J., S. 21–22. 12 Dies gilt beispielsweise für die Konkrete Poesie, deren Vertreter einen normalisierenden und naturalisierenden Gebrauch von Sprache vermeiden wollen und an die sprachexperimentellen Ausprägungen der Vorkriegsavantgarde erinnern. Ernst Jandl etwa betont, dass es »nicht um ein Zerstören von etwas [ging], […] sondern es ging darum, die Grenzen der Literatur weiter zu ziehen, als sie während der Hitlerzeit gezogen werden durften« (Ernst Jandl: »ich sehr lieben den deutschen sprach«. Peter Huemer im Gespräch mit Ernst Jandl (21. 04. 1988). In: Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder (2002), Nr. 125, S. 22–30, hier S. 22). Das neue Formbewusstsein war »[a]uf jeden Fall als eine Haltung des Protests gegen bestimmte ästhetische Auffassungen in dieser Gesellschaft [zu verstehen]. […] Sprachästhetik, Literaturästhetik ist meines Erachtens nicht zu trennen von weltanschaulichen, politischen Belangen« (ebd., S. 30). 13 Assmann, Wendepunkte der deutschen Erinnerungsgeschichte, S. 147.

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Einleitung

Auschwitz stammt von Theodor W. Adorno.14 Sein sogenanntes ›Diktum‹15 legt in seiner verkürzten und missverstandenen Auslegung einen Grundstein für die Tendenz, Auschwitz zu sakralisieren und sprachlich wie darstellerisch zu tabuisieren. Eine Etablierung bestimmter Darstellungskonventionen und der sie begleitenden Darstellungsrestriktionen und Stereotype im öffentlichen Diskurs – wie etwa der Topos der Unsagbarkeit und der Undarstellbarkeit des Holocaust – geschieht demnach beinahe zeitgleich mit dem Ende der ersten Phase des Beschweigens und läutet die zweite Phase des Bewältigens ein: Mit dem EichmannProzess 1961 in Jerusalem und den Frankfurter Auschwitzprozessen 1963–65 rückt das zuvor beschwiegene Gewalt- und Vernichtungssystem des Nationalsozialismus zentral in den öffentlichen Diskurs. Dadurch werden erste Diskussionen um politische, gesellschaftliche und künstlerische Auseinandersetzungen mit Auschwitz von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen und geführt.16 Seither scheint es in periodischen Abständen die Notwendigkeit zu neuen kontroversen Debatten über einen politisch, gesellschaftlich oder ästhetisch angemessenen Umgang mit der deutschen Vergangenheit zu geben, die einen zentralen Aspekt des Selbstverständnisses deutscher Politik und Kultur darstellen: In gleichsam zyklisch anmutenden Schüben wird Deutschland von aufgeregten Kontroversen über Nationalsozialismus und Judenvernichtung erfasst. Auslöser solcher Konvulsionen sind erregte Debatten über die angemessene Interpretation und Repräsentation von Nationalsozialismus und Holocaust. Sie entzünden sich vornehmlich an unkonventionellen, gar provokativen Darbietungen künstlerischen und historiographischen [sic!] Genres. Den sich daran abbildenden Diskursen ist wesentlich ein re14 Einen guten Überblick über die Rezeptionsgeschichte von Adornos Position(en) geben Peter Stein: »Darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.« (Adorno). Widerruf eines Verdikts? Ein Zitat und seine Verkürzung. In: Weimarer Beiträge (1996), H. 4, S. 485–508; sowie Rolf Tiedemann: »Nicht die Erste Philosophie sondern eine letzte«. Anmerkungen zum Denken Adornos. In: Theodor W. Adorno: »Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse«. Ein philosophisches Lesebuch. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1997, S. 7–27. 15 »Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stunde der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.« (Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft. (1951) In: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen. Ohne Leitbild. Gesammelte Schriften 10.1. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1977, S. 11–30, hier S. 30). 16 Vor allem die Frankfurter Auschwitzprozesse veranlassten viele Schriftsteller zu journalistischen und literarischen Auseinandersetzungen. Siehe dazu beispielsweise Peter Weiss’ Die Ermittlung. Oratorium in elf Gesängen (1965), Marie Luise Kaschnitz’ Zoon politikon (1965) und Martin Walsers Essay Unser Auschwitz (1965). Auf politischer Ebene lösten die Frankfurter Auschwitzprozesse die Debatte um die Verjährung der Morde durch nationalsozialistische Täter aus.

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Zur Diskursgeschichte der deutschen Erinnerungskultur

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petitiver Charakter eigen, ein das moralische wie historische Selbstbewusstsein der Deutschen prägender Wiederholungszwang.17

In der zweiten Phase lautet neben einigen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bemühungen, die Fakten und das Funktionieren des nationalsozialistischen Regimes aufzuarbeiten, die viele Debatten begleitende, zentrale Frage, ob und wie lange die unmittelbare deutsche Vergangenheit noch thematisiert und erinnert werden muss. Dabei entstehen generationsbedingte oppositionelle Lager der Kriegsteilnehmer einerseits und der ersten Nachkriegsgeneration andererseits. Die Konfrontation beider findet in den Studentenprotesten von 1968 ihren markantesten politischen und mit der sogenannten Väterliteratur als Abrechnung der Nachkriegsgeneration mit dem Schweigen und Verstricktsein ihrer Elterngeneration ihren literarischen Ausdruck. Die unter dem Begriff der Schlussstrichdebatte gefasste Forderung, sich politisch und gesellschaftlich nicht mehr mit dem Nationalsozialismus und seinem verheerenden Gewalt- und Vernichtungssystem auseinandersetzen zu müssen, wandelt sich erst mit der dritten Phase – nach einem erneuten Aufflammen dieser Debatte durch Martin Walsers Rede zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels 199818 – in die Einsicht, dass nicht länger zu fragen ist ob, sondern wie, wer und was erinnert werden soll. Bemühungen um eine Historisierung des Holocaust sind zentral mit dem Historikerstreit von 1986 verbunden.19 Im Zuge dieser Tendenz differenzieren sich viele weitere Themen aus: Immer mehr Opfergruppen stellen den berechtigten Anspruch auf eine der jüdischen Vernichtung äquivalente Aufarbeitung.20 Begleitend dazu werden Fragen nach der Singularität des Holocaust laut. Unter den Stichworten Universalisierung und Globalisierung des Holocaust diskutieren Daniel Levy und Natan Sznaider die Frage, ob der Holocaust als universalisierte Metapher für Verbrechen gegen die Menschheit vergleichbarer Art, wie die als Genozide bezeichneten Massaker in Ruanda (1994) und Srebrenica (1995), gelten kann.21

17 Dan Diner: Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten. München 2003, S. 180. 18 Martin Walser: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. Friedenspreis des deutschen Buchhandels 1998. Frankfurt am Main 1998. 19 In diesen Zeitraum fallen auch die ersten, völlig verfrüht geführten Reden vom bevorstehenden Verlust der letzten Zeitzeugen, die sich als fragwürdiger Wunsch nach Befreiung von den Überlebenden als ›Wächtern des Diskurses‹ und als Bedürfnis nach Schließung deuten lassen. 20 Auf eine sich daraus entwickelnde Debatte um Opferkonkurrenzen antwortet Michael Rothberg mit dem Konzept der multidirectional memory. Ders.: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford 2009. 21 Daniel Levy, Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust. Aktualisierte Neuausgabe. Frankfurt am Main 2007.

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Einleitung

Nach und nach verschiebt sich auch der Fokus von den jüdischen Opfern hin zur vereinzelten Perspektivierung der Täter22 einerseits und der Etablierung deutscher Opfernarrative im Kontext der Aufarbeitung des Bombenkriegs23 andererseits. International häufen sich die kontrovers geführten Debatten um die Verflachung des Umgangs mit dem Holocaust und dem Nationalsozialismus. Seit Elie Wiesels Kommentar zur 1978 in den USA ausgestrahlten Mini-Serie Holocaust, die er als Trivialisierung der Thematik brandmarkt, lässt sich diese Debatte unter verschiedenen Schlagworten verfolgen. Dem Vorwurf der Trivialisierung folgen die Bezeichnungen der Universalisierung und der Amerikanisierung des Holocaust, die »im Kern die Umdeutung von Auschwitz zu einem sinnhaften Ereignis«24 bedeuten. Nach und nach wird der Holocaust, so der Tenor, von einer jüdischen »zu einer amerikanischen Erfahrung umgedeutet«.25 Für die deutsche Politik und Gesellschaft ist – seit den 1990er Jahren und bis zum Aufkommen der AfD – zum Konsens geworden, dass die Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust fortan zum kulturellen Bestand und Selbstverständnis der deutschen Identität gehört. Statt einer abschließenden Bewältigung wird der Fokus auf die zu bewahrende Erinnerung gerichtet. Dadurch treten mediale und ästhetische Fragen drängender in den Vordergrund, müssen doch angemessene Weisen, Formate und Medien gefunden werden, in denen öffentlich und privat, sinnvoll und produktiv erinnert werden kann.

Ästhetische Debatten Die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Holocaust ist von Beginn an in einer paradoxalen Struktur gefangen, die epistemologische, philosophische und sprachliche Gründe hat: Die Erfahrung der Überlebenden wird als durchlebt und erfahrungslos zugleich empfunden, als sprachlich unzugänglich und nicht vermittelbar, ja kaum mitteilbar ausgewiesen. Elie Wiesel formuliert die aporetische 22 Siehe etwa den in Deutschland kontrovers diskutierten Roman Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell (2008, frz. Original: Les Bienviellantes). 23 Siehe dazu Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945. München 2002; W.G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. München, Wien 1999. 24 Katja Köhr: Die vielen Gesichter des Holocaust. Museale Repräsentationen zwischen Individualisierung, Universalisierung und Nationalisierung. Göttingen 2012, S. 54. 25 Diese Entwicklung wurde vor allem durch die Eröffnung des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington, D.C. und seine neue Ausstellungskonzeption in Gang gesetzt: »Mit ihm [d.i. das USHMM, K.K.] wurde der Holocaust in einen nationalen amerikanischen Kontext eingefügt bzw. die Erfahrung der jüdischen Überlebenden mittels eines mehrstufigen Konzepts der Amerikanisierung zu einer amerikanischen Erfahrung umgedeutet.« (Ebd., S. 64).

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Ästhetische Debatten

Situation mit den Worten: »Schweigen ist verboten, Sprechen ist unmöglich«.26 Der Zugang zum durchlebten Ereignis ist aufgrund der Radikalität der Erfahrung vielleicht sogar erst im, als oder durch Text oder nachträgliche Darstellung möglich: »Das Konzentrationslager ist ausschließlich als Literatur vorstellbar, als Realität nicht. (Auch nicht – und vielleicht sogar dann am wenigsten – wenn wir es erleben.)«27 Die menschliche Vorstellungskraft versagt angesichts der Monstrosität des Ereignisses: »The human imagination after Auschwitz ist simply not the same as is was before. […] Stunned by the awesomeness and pressure of event, the imagination comes to one of its periodic endings.«28 Der Holocaust wird so als Ereignis konturiert, das die Auslöschung der Einbildungskraft verursacht (hat).29 Der ›erfahrungslosen Erfahrung‹ der Überlebenden stehen Positionen derer nahe, die sich der Thematik aus theoretischer, epistemologischer und philosophischer Perspektive nähern. Hierzu gehören vor allem Theodor W. Adorno und Jean-François Lyotard, die beide den Holocaust als Ereignis ansehen, das unsere Weise zu denken und unsere Auffassung dessen, was Begriffe wie Erfahrung, Vernunft und spekulatives Denken bedeuten können, ebenso in Zweifel ziehen wie die Vorstellung einer gemeinsamen Weltauffassung und Sprachgrundlage von Tätern und Opfern. Das Unsagbare ist insofern unsag- bzw. undarstellbar, weil jede Form der Darstellung – ob bildlich oder sprachlich – Gefahr läuft, das Darzustellende zu vereinfachen, zu integrieren und als erzählbare Episode in die Geschichte unserer Gesellschaft und Zivilisation einzufrieden, anstatt die Ermordung von Millionen von Jüdinnen und Juden und anderen politisch, ethnisch oder religiös verfolgten Menschen als den radikalen Bruch und Umschlag »in eine neue Qualität der gesamten Gesellschaft, die Barbarei«30 anzusehen, den sie für Adorno und Lyotard bedeutete: Auschwitz markiert eine Zäsur für unsere kulturelle und philosophische Vorstellung vom Menschen als zivilisiertem Vernunft- und Fortschrittswesen. Humanistische Werte und mit ihnen die Vorstellung von Vernunft und Rationalität als Basis einer guten, aufgeklärten Welt sind der Erosion ausgesetzt. Es ist demnach nicht möglich, sich in einer re26 Jorge Semprún, Elie Wiesel: Schweigen ist unmöglich. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer. Frankfurt am Main 1997, S. 18. 27 Imre Kertész: Galeerentagebuch. Übersetzt von Kristin Schwamm. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 253. 28 Alvin H. Rosenfeld: A Double Dying. Reflections on Holocaust Literature. Bloomington, London 1980, S. 13. 29 Siehe dazu Veronika Zangl: Poetik nach dem Holocaust. Erinnerungen – Tatsachen – Geschichten. München 2009, dort S. 210. Auch Lionel Richard bezeichnet die Erfahrung des Holocaust als »uneingebildete Wirklichkeit« (Ders.: Auschwitz und kein Ende. In: Manuel Köppen (Hg.): Kunst und Literatur nach Auschwitz. Berlin 1993, S. 23–30, hier S. 27). 30 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Gesammelte Schriften 4. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 2003, S. 65.

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Einleitung

staurativen Bewegung wie zuvor auf Kultur und Vernunft zu beziehen, ohne sich nachträglich an der Normalisierung, Legitimierung oder Verdrängung der Massenvernichtung mit schuldig zu machen. Bei Adorno entspringt die Verweigerung einer Erzählbarkeit von Auschwitz der Skepsis gegenüber künstlerischen Darstellungen und einer restaurativen Kultur31 bzw. deren interpretatorischen Folgen und dem gesellschaftlichen Umgang damit, keineswegs aber der Überzeugung, das Leiden der Überlebenden dürfe keinen Ausdruck finden. Ohne dies deutlich zu markieren, betont Adorno die paradoxe Zurückweisung des Rückgriffs auf Kultur bei gleichzeitiger Notwendigkeit von Kunst als Zugang zum Erfahrungslosen: »Weil jedoch die Welt den eigenen Untergang überlebt hat, bedarf sie gleichwohl der Kunst als ihrer bewußtlosen Geschichtsschreibung. Die authentischen Künstler der Gegenwart sind die, in deren Werk das äußerste Grauen nachzittert.«32 Auch in seiner Negativen Dialektik kommt die Einsicht in die Notwendigkeit einer offenen und unabschließbaren, indirekten Durcharbeitung von Auschwitz als Zurücknahme seines Diktums von 1949 zum Ausdruck: »Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.«33 Jean-François Lyotards Forderung, an Auschwitz anzuknüpfen, ohne ›Wir‹ zu sagen, zeigt sich strukturell ähnlich. Er bezeichnet Auschwitz als »Para-Erfahrung«, die die »Erfahrung der Unmöglichkeit des ›wir‹«34 ist (siehe dazu ausführlich Kapitel 2.3). Das heißt, dass mit den Verbrechen des Holocaust Erfahrungen und Sprechakte von Tätern und Opfern derart auseinanderfallen, dass sie auf keiner gemeinsamen Grundlage von Denken, Sprechen und Erkenntnis mehr fußen. Für die ästhetische Darstellung folgt daraus, dass es an angemessenen narrativen Rahmen fehlt,35 um das Ereignis unter der doppelten Bedingung der 31 »Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dinglichen Kritik daran, ist Müll.« (Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Gesammelte Schriften Band 6. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 2003, S. 359). 32 Theodor W. Adorno: Jene zwanziger Jahre. In: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft II. Gesammelte Schriften 10.2. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1977, S. 506. 33 Adorno, Negative Dialektik, S. 355. Auf das Zitat folgt Adornos Beschreibung der Kälte als gesellschaftliche Mentalität, die zum Nationalsozialismus führte und die für das Kapitel zu Alexander Kluge relevant ist: »Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen. Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre: drastische Schuld des Verschonten.« (Ebd., S. 355f.). 34 Jean-François Lyotard: Streitgespräche oder: Sprechen »nach Auschwitz«. Aus dem Französischen übertragen, herausgegeben und eingeleitet von Andreas Pribersky. Grafenau 1998, S. 31. 35 Dieses Fehlen narrativer Rahmen kann sowohl ein noch nicht als auch ein nicht mehr Bestehen dieser Rahmen bedeuten. Siehe dazu Zangl, Poetik nach dem Holocaust, S. 194.

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Ästhetische Debatten

Verknüpfung bei gleichzeitiger kategorialer Fremdheit und Unverfügbarkeit ästhetisch einzufassen, darzustellen und zu re-präsentieren: Denn obgleich Lyotard an diesem unvereinbaren Widerstreit36 festhält, gilt es für ihn, an Auschwitz anzuknüpfen: »Die Frage, die Auschwitz stellt, ist die nach der Textur des Textes, der ›an‹ Auschwitz ›schließt‹«.37 Auch Saul Friedländer betont für die Geschichtswissenschaft die grundsätzliche Darstellbarkeit der historischen Ereignisse und äußert gleichwohl Skepsis gegenüber einer hinreichenden oder erklärenden, sprachlichen Darstellung, die sich aus der Beschaffenheit der nationalsozialistischen Vernichtungsgewalt ergibt. Er schreibt in Probing the Limits of Representation einerseits: »The extermination of the Jews of Europe is as accessible to both representation and interpretation as any other historical event«.38 Andererseits gibt er zu bedenken: »our traditional categories of conceptualization and representation may well be insufficient, our language itself problematic«.39 Deutet man den Topos der Undarstellbarkeit schwach als Erinnerung daran, dass es bei jeder Darstellung der Thematik um die Angemessenheit sprachlicher und bildlicher Mittel, der stilistischen Entscheidungen, der Wahl des Mediums und der Gattung geht, kann er ein produktives, verzögerndes Hindernis für jede Produktion und Rezeption ästhetischer Re-Präsentationen sein. Als die virulentesten und zentralen Topoi der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dem Nationalsozialismus gelten erstens die grundlegende Thematisierung der (Un-)Darstellbarkeit, zweitens die Ausbildung ästhetischer Authentifizierungsstrategien als Beglaubigung und drittens die massenmediale Verbreitung, popularisierte Verfügbarkeit und Entkontextualisierung von Bildern, Texten und Motiven im Zuge der Globalisierung und Universalisierung des Holocaust.40

36 Jean-François Lyotard: Der Widerstreit. Übersetzt von Joseph Vogl. 2. korr. Auflage. München 1989. 37 Lyotard, Streitgespräche, S. 16. 38 Saul Friedländer: Introduction. In: Ders. (Hg.): Probing the Limits of Representation. Nazism and the ›Final Solution‹. Cambridge, London 1992, S. 1–21, hier S. 2. 39 Ebd., S. 5. 40 Katja Köhr macht für die Parameter der musealen Präsentation des Holocaust ähnliche Aspekte geltend: »Mit der Konzeption des United States Holocaust Memorial Museums wurden seit 1988 vier entscheidende Ansätze entwickelt […], die bald – trotz ihrer Verfemung als Amerikanisierung – zu Paradigmen der musealen Repräsentation des Holocaust wurden: a) in ersten Ansätzen die Pluralisierung der Erinnerung im Sinne einer Thematisierung der verschiedenen beteiligten Personengruppen, b) die Universalisierung der Erinnerung im Sinne einer Bedeutungszuschreibung als moralischer Imperativ, c) die Personalisierung der Darstellung in Form des Konzeptes der Individualisierung und d) Authentizitätsinszenierungen mit Hilfe von Nachbauten und Originalen« (Köhr, Die vielen Gesichter des Holocaust, S. 56f.).

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Einleitung

Die von Beginn an gestellten Fragen nach der (Un-)Darstellbarkeit des Holocaust behaupt(et)en ihre Richtigkeit häufig in völliger Ignoranz der tatsächlichen Erprobung neuer sprachlicher Zugänge wie sie, um nur einige zu nennen, etwa Nelly Sachs, die 1943 im Konzentrationslager ermordete Gertrud Kolmar, die exilierte Schriftstellerin Else Lasker-Schüler mit ihrem 1943 in Jerusalem veröffentlichten Gedichtband Mein blaues Klavier oder Paul Celan entwarfen.41 Der Rückgriff auf Authentizität, wenn es nicht länger um die Undarstellbarkeit, sondern um eine bestimmte Form der Darstellung geht, muss dabei als eine überzeitliche und zugleich moralisierend-wertende Kategorie angesehen werden, da sie noch immer von der Mehrzahl der Produzierenden und Rezipierenden als Richtwert für die ethische Angemessenheit und die ästhetische Güte einer künstlerischen Auseinandersetzung herangezogen wird. Dies zeigte sich besonders am ›Fall Binjamin Wilkormirski‹, dessen 1995 erschienener Bericht aus einem Konzentrationslager sich als Fälschung erwiesen hatte:42 Vor dem Bekanntwerden der Fälschung wurde der Text als ästhetisch besonders gelungen eingestuft, ein Urteil, das nach der Enthüllung in sein Gegenteil umschlug, was darauf schließen lässt, dass mitnichten der literarische Gehalt bewertet worden war, die ästhetischen Kriterien sich vielmehr an den Parametern der Zeugenschaft und am Status Wilkormirskis als Überlebendem orientierten.43 An die – wahrhafte – Zeugenschaft wird so moralische und ästhetische Unfehlbarkeit geknüpft: ein Kurzschluss, der zum Teil in der Forschung und seitens einiger Überlebender wie Ruth Klüger oder Art Spiegelman als Sohn eines Überlebenden vorsichtig korrigiert worden ist. Im Zuge der breiten Rezeption unterschiedlicher Kunstwerke zur Thematik und deren nach und nach steigendem Stellenwert als bedeutender Teil des Selbstverständnisses der deutschen (Erinnerungs-)Kultur und Identität etablierte sich eine – als erhaltenswert angesehene – Ikonographie des Holocaust in Form von Archetypen44 oder bestimmten Darstellungsrestriktionen, wie sie Terrence des Pres in seinem Aufsatz »Holocaust Laughter?« notiert.45 41 Als Epigonen der Undarstellbarkeit gelten etwa Claude Lanzmann und dessen neunstündiger Film Shoah (1985) oder Gérard Wajcman. 42 Binjamin Wilkomirski: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948. Frankfurt am Main 1995. Eine Übersicht über die Debatte liefern Daniel Ganzfried: … alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie. Enthüllung und Dokumentation eines literarischen Skandals. Hg. im Auftrag des Deutschschweizer PEN-Zentrums von Sebastian Hefti. Berlin 2002; sowie Irene Diekmann, Julius H. Schoeps (Hg.): Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein. Zürich, München 2002. 43 Siehe dazu auch Leon de Winter: Biographien. Die erfundene Hölle. In: Der Spiegel 28. 09. 1998. 44 James E. Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt am Main 1997, vor allem S. 164–189. 45 Terrence des Pres: Holocaust Laughter? In: Berel Lang (Hg.): Writing and the Holocaust. New York, London 1988, S. 216–233, insbesondere S. 217.

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Ästhetische Debatten

Die TV-Miniserie Holocaust markiert sowohl für die USA als auch für Deutschland den Beginn einer massenmedial vermittelten Redramatisierung der NS-Zeit und ist als, wenngleich in vielen Punkten sicherlich problematische, Diskurs- und Darstellungskonventionen bildende Instanz in Bezug auf Kameraführung, Szenenmusik und weitere gestalterische Mittel bzw. der Ausbildung eines narrativen Formkanons für die Thematik anzusehen. Mit der HolocaustSerie ging der Vorwurf der »Fiktionalisierung, Trivialisierung und Kommerzialisierung des Holocaust«46 an Hollywood ebenso einher wie die Empörung über den »Verstoß gegen dieses Bilderverbot«.47 Zugleich aber trug die Serie dazu bei, den Begriff ›Holocaust‹ in den deutschen wie amerikanischen gesellschaftlichen Diskurs einzuführen. Eine ähnliche massenmediale Wirkung zog Steven Spielbergs Film Schindlers Liste (1993) nach sich, der mit der Figur Schindlers ein positives Gegenbild zum ewig bösen deutschen Täter erzeugt.48 Der Verdienst solcher massenmedialen Inszenierungen liegt in der Überführung der inkommensurablen Ereignisse in narrative Rahmen, die eine empathische Annäherung an und Einfühlung in die Vernichteten durch bekannte narrative Formen ermöglichen und die geschehene Gewalt und die grausame Vernichtung der Juden erst sichtbar und im Ansatz prozessierbar, d. h. verstehbar machen. Auf dieser Grundlage war und ist zuerst Geschichtsaufklärung in massenmedialer Ausprägung denkbar. Es wäre daher verkürzend, den großen massenmedialen Produktionen wie Holocaust, Schindlers Liste oder auch Der Untergang ihre Berechtigung abzusprechen und ihre Bedeutsamkeit im historischen Diskurs über den Holocaust und den Nationalsozialismus abzustreiten: Ihre historische Wirkung, die Thematik einer breiten gesellschaftlichen Öffentlichkeit vermittelt und dadurch öffentlichen Diskurs etabliert, angestoßen und immer wieder verändert zu haben, sollte keineswegs geschmälert werden. So trugen die durch die Miniserie Holocaust angestoßenen öffentlichen Debatten beispielsweise dazu bei, die Verjährungsfrist für Mord aufzuheben.49 Als Stationen auf einem Weg der Auseinandersetzung sind solche 46 Ute Janssen: Holocaust-Serie. In: Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus. Bielefeld 2009, S. 243–244, hier S. 243. 47 Ebd., S. 243. 48 Spielberg gründete im Zuge der Filmproduktion die Organisation Survivors of the Shoah Visual History Foundation (Shoah Foundation), deren Funktion und Ziel es ist, Interviews mit Überlebenden auf Video aufzunehmen, um sie für zukünftige Generationen zugänglich zu machen. Trotz vielerlei Kritik ist dieser Bestand ein wertvolles Archiv persönlicher Erfahrungen der katastrophalen historischen Ereignisse von Überlebenden. 49 Im Zuge der Ausstrahlung von Holocaust in Deutschland wurde die öffentliche Debatte um die Verjährung von Mord laut, was zum Beschluss der Aufhebung der Verjährungsfrist am 03. 07. 1979 im Bundestag führte. Siehe dazu Antje Langer: Verjährungsdebatten. In: Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutsch-

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Einleitung

massenwirksamen ästhetischen Artefakte wichtige Wegmarken. Gleichwohl ist Vorsicht geboten, wenn solche Kunstwerke als normsetzend angesehen und ihre Darstellungsweisen der Tendenz nach naturalisiert werden. Dies geschieht zumeist, weil sie »nicht an der Spürbarkeit der Zeichen, sondern an gelingenden Referenzillusionen interessiert«50 sind und daher in besonderer Weise als ›realistisch‹ wahrgenommen werden. Des Öfteren gerät dabei – ob durch Produzenten intendiert oder nicht, sei dahingestellt – die Konstruiertheit dieser Darstellungen aus dem Blick. Die im Laufe der Zeit gewachsene Flut an Bildnissen wird jedoch ungebrochen vom Diskurs der Undarstellbarkeit begleitet. Nicht selten bedienen sich bestimmte ästhetische Re-Präsentationen wie etwa Claude Lanzmanns Film Shoah (1985) der Rhetorik dieses Diskurses, um sich als authentisch und unangreifbar zu inszenieren. Im Umkehrschluss wiederum gelten solche Produkte in der Debatte paradoxerweise als musterhafte Beispiele für die Undarstellbarkeit des Holocaust.51 land. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus. Bielefeld 2009, S. 199–200; Clemens Vollnhals: »Über Auschwitz aber wächst kein Gras.« Die Verjährungsdebatten im Deutschen Bundestag. In: Jörg Osterloh, Clemens Vollnhals (Hg.): NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR. Göttingen 2011, S. 375–401. Das bedeutet allerdings nicht, die Serie in ihren ästhetisch-formalen Strukturen kritiklos gutzuheißen. 50 »Literarische Bestseller haben textuelle Gemeinsamkeiten.« Sascha Michel im Gespräch mit Ann-Kathrin Marr, 26. 09. 2019. In: Autorenschule Textmanufaktur. http://blog.text-manufak tur.de/2019/09/26/literarische-bestseller-haben-textuelle-gemeinsamkeiten/, abgerufen am 15. 04. 2022. Diese Bestseller zeichnen sich wesentlich durch Folgendes aus: »Sie sind erstens ausnahmslos realistisch erzählt und weisen eine eingängige, nicht allzu komplizierte Narration auf; sie haben zweitens anders als reine Genre-Erfolge eine besondere Lizenz für Krisen und ›schwere Zeichen‹ (Jean Baudrillard) […]; und sie geben uns drittens durch bestimmte Referenzen das Gefühl, dass wir das ›Herz der Kultur‹ schlagen hören. Auf den letzten Aspekt hat Umberto Eco in einem großartigen Aufsatz schon in den 1960er Jahren hingewiesen; sein Name für solche Erfolge war ›Midcult‹.« (ebd.). Siehe dazu auch Sascha Michel: Die Unruhe der Bücher. Vom Lesen und was es mit uns macht. Stuttgart 2020. 51 Lanzmanns Shoah gilt als Meilenstein der dokumentarischen Darstellungen des Holocaust. Seine Position ist dabei weitaus komplexer, als es in der Debatte häufig – von beiden Lagern – dargestellt wird. Er beschreibt seine Position in einer fast widersprüchlichen Weise, wenn er – Godard trotz der gegenseitigen Abneigung darin überraschend ähnlich – sagt, dass »[d]as Kino zeigt, was sich nicht zeigen lässt.« (Claude Lanzmann: Das Unnennbare benennen. Aus dem Französischen übersetzt von Michael Bischoff. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 27. 01. 2015.) Auch in der Einschätzung des Filmbildes als Transportmittel und Transformator weisen beide Ähnlichkeiten auf: »Zentral ist hier die Frage des Bildes. Man kann nicht sehen, aber was man nicht sehen kann, muss man zeigen, und zwar mit Bildern. Ich habe ein visuelles Werk dessen geschaffen, was am wenigsten darstellbar ist.« (Ebd.) Allerdings gehen sie in der Beurteilung dessen, was der jeweils eigene Film macht oder ist, auseinander, wenn Lanzmann seinen Film beschreibt als »eine Inkarnation […] und eine Erfahrung für den, der den Film anschaut.« (Ebd.) Damit unterstreicht Lanzmann sowohl die Rede von der Undarstellbarkeit und dementiert zugleich die Erfahrungslosigkeit, indem er sein eigenes Werk als Erfahrung bezeichnet.

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Ästhetische Debatten

Nach einem ersten Übergang von der Bild- und Sprachlosigkeit zur Produktion von Bildnissen stellt Klaus Scherpe in der ästhetischen Erinnerungskultur einen erneuten Übergang von »Bildnissen zu Erlebnissen«52 fest, der vor allem für die Nachgeborenen der dritten und vierten Generationen relevant wird, da sie auf keine unmittelbare Erfahrung zurückgreifen können. Für sie entsteht das Bedürfnis eines erfahrenden »›Nacherleben[s]‹«53, das jedoch grundlegend »vermittelt ist über das gespeicherte Wissen, die Rhetorik der Erzählungen und die standardisierte Ikonographie des Holocaust«54 und auf verschiedenen Wegen vollzogen werden kann: Es kann durch eine Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen bei der Konfrontation mit Erzählungen oder Fakten der historischen Ereignisse geschehen. Im Bereich der familiären Auseinandersetzung zwischen den Generationen aber kann es – vor allem für die Seite der jüdischen Nachgeborenen und anderer ›Opfer‹-Gruppen – auch Formen der traumatischen Postmemory annehmen.55 Ein ähnliches Konzept, das nicht auf familiäre ›Vererbung‹ von traumatischen Erinnerungen setzt, sondern Erinnerungen als durch mediale Bilder produzierbar konzipiert, ist Alison Landsbergs Prosthetic Memory.56 Für die Diskussion über künstlerische Verhandlungen der Thematik ist es unabdingbar, den von Klaus Scherpe herausgearbeiteten, grundlegenden Unterschied zwischen künstlerischen Erzeugnissen der ersten und jenen der nachfolgenden Generationen deutlich zu markieren. Künstlerische Auseinandersetzungen, die von Überlebenden stammen, sind von einem unumgehbaren »Pathos des Primären«57 geprägt, während jene der nachgeborenen Generationen notwendig abgeleitete Formen des Zugangs zu den historischen Ereignissen darstellen. Derartige künstlerische Verhandlungen können ihre Beglaubigung

52 Klaus R. Scherpe: Von Bildnissen zu Erlebnissen. Wandlungen der Kultur »nach Auschwitz«. In: Hartmut Böhme, Ders. (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek bei Hamburg 1996, S. 254–282, hier S. 254. 53 Köppen/Scherpe, Zur Einführung: Der Streit um die Darstellbarkeit des Holocaust, S. 2, Herv., K.K. 54 Ebd., S. 2. 55 Zum Konzept der Postmemory siehe Marianne Hirsch: Family Frames. Photography, Narrative and Postmemory. Cambridge, London 1997; Dies: The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture After the Holocaust. New York 2012; Dies.: Family Pictures: Maus, Mourning, and Post-Memory. In: Discourse 15 (1992), Nr. 2 [Sonderausgabe: The Emotions, Gender, and the Politics of Subjectivity], S. 3–29. Postmemory ist stets an die jeweilige Perspektive von ›Täter‹ und ›Opfer‹ gebunden – eine Grenzüberschreitung, dass etwa ein Täter den Holocaust als Opfer nachzuerleben bestrebt ist, ist noch immer tabuisiert und wird überwiegend als Provokation sanktioniert. Gleichwohl bedeutet das nicht, dass im Nachleben aus jüdischer Perspektive nicht verschiedene Mechanismen der Ermächtigung inszeniert und erprobt werden. 56 Alison Landsberg: Prosthetic Memory. The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture. New York 2004. 57 Scherpe, Von Bildnissen zu Erlebnissen, S. 265.

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Einleitung

nicht länger aus dem Rückgriff auf Authentizität58 ziehen, die allein dem (künstlerisch verarbeiteten) Erleben primärer Zeugenschaft zukommt. Sie müssen vielmehr neue Zugänge unter den »Bedingungen des Sekundären, der Pluralität, der künstlerischen Konstruktion und der medialen Vermittlung«59 erproben. Diese Zugänge zu historischen Ereignissen sind dabei stets durch eine historische und mediale Distanz geprägt. Dem Nacherleben und Suchen nach identifikatorischer Nähe folgt, und geht zum Teil schon parallel dazu einher, die Tendenz zur Dekonstruktion: »During the 1990s, some of the process of sanctification has given way to a form of deconstruction and innovation. This has appeared in many places simultaneously.«60 Das kritische Potential und die ästhetischen Verfahren dieser oft als spielerisch und/oder provokativ bezeichneten Ansätze sollen in dieser Arbeit analysiert, differenziert und nachgewiesen werden. Dabei erschwert unsere gegenwärtige Nähe zu den jüngsten Auseinandersetzungen politischer, gesellschaftlicher und vor allem kulturell-künstlerischer Art deren Kategorisierung. Deutlich ist die Neigung zu einer – erneuten oder anders gelagerten – Phrasierung und Zäsurbildung mit dem Fall der Mauer um 1989/1990. Schließlich sind mit dem Ende des Kalten Kriegs und der Aufhebung der deutschen Teilung die direkten gesellschaftspolitischen Konsequenzen aus dem Zweiten Weltkrieg aufgelöst und die deutsche Nachkriegszeit offiziell beendet. Damit, so schien es 58 Authentizität kann nur in Bezug auf die eigenen Gefühle und die eigene Auseinandersetzung mit den medial vermittelten Topoi, Motiven und Bildern von Nationalsozialismus und Holocaust erzeugt werden. Damit verschiebt sich die Perspektive des Diskurses, geht es doch nicht mehr um die Darstellbarkeit oder Echtheit der dargestellten historischen Ereignisse, sondern um die ›Echtheit‹, oder Redlichkeit der eigenen Gefühle. Relevant wird dies bei spezifischen Thematiken wie etwa einer Traumaerzählung über den Holocaust. Kann eine solche Erzählung nicht auf autobiographische Erlebnisse oder ein familiär weitergegebenes Trauma in Form einer Postmemory zurückgeführt werden, steht sie im Verdacht, sich mit den ›fremden Federn‹ einer Opfererfahrung zu schmücken. Ein interessantes Beispiel ist Iris Hanikas Roman Das Eigentliche (2010), der eine traumaähnliche Zwangsstruktur des Gedenkens an einer Figur vorführt, die keine Verbindungen zu Opfern des Holocaust hat, sondern vielmehr ein Vertreter der deutschen Nachgeborenengeneration ist. Der über weite Strecken enervierende Roman zelebriert auf beinahe pornographische Weise ein Unbehagen an der Allpräsenz ritualisierter Erinnerungskultur. Obwohl er dies wortgewaltig in stilistischen Exalthiertheiten kritisieren möchte, reproduziert er es durch seine spezifische Stilistik gerade, weil er das verhandelte Raumgreifen der deutschen Selbstreflexion, das den Opfern mediale und sprachliche Aufmerksamkeit nimmt, selbst praktiziert. Dennoch gelingt es ihm durch höchst artifizielle Sprache und Stilistik, sich des Vorwurfs der Aneignung einer Traumastruktur zu entziehen. Bis auf vereinzelte Kritik an der Geschmacklosigkeit manch stilistisch-typografischer Entscheidungen, ist der Roman weitgehend positiv rezensiert worden. 59 Scherpe, Von Bildnissen zu Erlebnissen, S. 266. 60 Stephen C. Feinstein: Zbigniew Libera’s Lego Concentration Camp: Iconoclasm in Conceptual Art About the Shoah. In: Other Voices 2 (2000), Nr. 1. http://www.othervoices.org/2.1/fein stein/auschwitz.php, abgerufen am 15. 04. 2022.

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Ästhetische Debatten

vielerorts, öffneten sich Möglichkeiten neuer ästhetischer Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust.61 Denn bis in die 1990er Jahre wurde die Verhandlung der deutschen Vergangenheit nicht nur überwiegend in Begriffen und Gesten der Ernsthaftigkeit und unter dem Etikett der Hochkultur geführt. In der deutschen Literatur war sie das maßgebliche Thema. Mit dem Aufkommen der neuen deutschen Pop-Literatur Mitte der 1990er Jahre entspann sich eine folgenreiche Debatte über das endlich eingeläutete Ende der Nachkriegsliteratur. Im Zuge der Veröffentlichung von Christian Krachts erstem Roman Faserland 1995, der zum Aushängeschild und ›Gründungsphänomen‹ dieser literarischen Strömung in Deutschland stilisiert wurde, ging ein vielfach ausgerufener, gefeierter und mit Erleichterung aufgenommener Abschied von der Nachkriegsliteratur einher. Denn damit sollte auch der Weg frei werden, an die Vorkriegsliteratur der Avantgarde anzuknüpfen. Zugleich wurde der Brückenschlag zu den Popliteraten des sogenannten Pop I62 um Rolf Dieter Brinkmann möglich. Daran schloss sich die verspätete Anknüpfung an die schon in den 1960er Jahren international geführte Fiedler-Debatte um die Einebnung der Grenze von High und Low, die wiederum den Übergang von der Moderne zur Nach- bzw. Postmoderne zum Thema machte.63 Moritz Baßler fasst in seiner Studie Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten (2002) die Ausgangssituation der Popliteratur-Debatte von 1995 wie folgt zusammen: In der Bundesrepublik war ›deutsche Vergangenheit‹ ein Synonym für die Jahre 1933 bis 1945, allenfalls noch für die unmittelbare Nachkriegszeit. Alle veröffentlichte Erinnerung, selbst noch die der Nachgeborenen, blieb auf Nationalsozialismus, Krieg und Shoah bezogen und gewann aus diesem Bezug ihre Legitimität. Gegenwart hieß: nach Auschwitz – schlechte Zeiten für Pop.64

Iris Radisch inszeniert diesen Bruch in der wiederholenden Rhetorik der Nachkriegszeit, wenn sie von einer »Zweiten Stunde Null«65 spricht: Die »Abrechnung mit einer nicht enden wollenden deutschen Nachkriegsliteratur […],

61 Manuel Köppens Untersuchung in Bezug auf den Film kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: »Konsens jedoch bestand darüber, dass eine Epoche der Erinnerungspolitik abgeschlossen sei.« (Manuel Köppen: Die wiedererfundene Vergangenheit. Der neue deutsche Bewältigungsfilm. In: Carsten Gansel, Heinrich Kaulen (Hg.): Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Göttingen 2011, S. 13–29, hier S. 13). 62 Zur Unterscheidung von Pop I und Pop II siehe Diedrich Diederichsen: »Ist was Pop?« In: Ders.: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt. Köln, 1999, S. 272–286. 63 Zu einer differenzierten Darstellung der Fiedler-Debatte, ihrer Rezeption in Deutschland und der Rolle, die sie verspätet für die Pop-Literatur der 1990er Jahre spielte siehe Thomas Wegmann: Postmoderne und Pop-Literatur: Die Fiedler-Debatte. In: Handbuch Literatur & Pop. Hg. von Moritz Baßler und Eckhard Schumacher. Berlin, Boston 2019, S. 31–41. 64 Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002, S. 46. 65 Iris Radisch: Die Zweite Stunde Null. In: Die Zeit 07. 10. 1994.

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Einleitung

die bis in die Gegenwart reicht«66 werde von den Verfechtern der Erinnerungskultur pejorativ bestätigend umgedeutet. Den Popliteraten wird beispielsweise von Jens Birkmeyer nurmehr eine individuelle privatisierte Schwundform des Erinnerns zugesprochen, die keine kollektive Bedeutung gewinnen kann: Stattdessen verständigt man sich auf die Zwergform eines ironisch-anekdotischen Gedächtnisses, das sich selbst als pädagogisch-penetriertes Aufklärungsopfer stilisiert. Erinnerung bezieht sich nicht auf die zu erschließende und anzueignende Geschichte, sondern miniaturisiert sich auf das Format von Erinnerungspolaroids eines langweiligen Abitreffens.67

Könnte man Birkmeyer noch zugutehalten, er habe die ›falschen‹ Texte der Popliteratur rezipiert – etwa Florian Illies Generation Golf, der sich als nostalgische, kollektive Generationserinnerung erweist –, trifft Thorsten Liesegang eine solche negative Aussage auch für Faserland: Auf der Reise des Protagonisten durch Deutschland und die Schweiz werden alle Orte zu auswechselbaren Nichtorten. Die Aufhebung topographischer Bezüge korrespondiert mit der Entleerung historischer Symbole und der Entsorgung eines der historischen Erkenntnis verpflichteten Bewusstseins. Geschichte kommt allenfalls als Anekdotenfundus ins Gespräch, als eine Aufreihung entleerter Klischees, bestenfalls mit Obskuritätswert.68

Die Vermeidung topischer Zeichen und ernsthafter Narrative aber führt nicht zwangsweise zur Anekdotensammlung, sondern etabliert gerade durch eine neue Weise des Sprechens eine vom hegemonialen NS- und Holocaust-Diskurs unabhängigere Auseinandersetzung mit neuen Ergebnissen und konfrontativer Verunsicherung, wie im Folgenden dargelegt wird. Die Aufregung über einen Paradigmenwechsel durch die Popliteratur flaute wieder ab – schließlich konnte man sich auf die zeitgleich erstarkenden Ermächtigungsnarrative der sogenannten dritten Generation, die sich in einer »Geschichtsbesessenheit«69 erneut der Vergangenheit zuwandte, fokussieren. Der Pop aber blieb und ist mit seinem ausgestellten Hedonismusprinzip bis heute ein in ›ernsthaften‹ Auseinandersetzungen mit Nationalsozialismus und Holocaust eher ungern und mit Unbehagen gesehener Gast.

66 Baßler, Der deutsche Pop-Roman, S. 110. 67 Jens Birkmeyer: Nicht erinnern – nicht vergessen. Das Gedächtnisdilemma in der Popliteratur. In: Ders., Cornelia Blasberg (Hg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten. Bielefeld 2006, S. 145–164, hier S. 158. 68 Thorsten Liesegang: Die Wiederkehr der Popliteratur als Farce. In: Krisis 25 (2002), S. 155– 162, hier S. 157. www.torli.de/text/popliteratur.pdf, abgerufen am 15. 04. 2022. 69 So etwa der Titel eines Kapitels über Tanja Lange, Jens Sparschuh und Marcel Beyer in Elena Agazzi: Erinnerte und rekonstruierte Geschichte. Drei Generationen deutscher Schriftsteller und die Frage der Vergangenheit. Göttingen 2005, S. 134.

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Pop und Postmoderne als Verfahren – Vom Stolpern des Erzählens

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Versuche, neue Begriffe oder Paradigmen für den gegenwärtigen Umgang mit der Thematik zu finden, haben überwiegend negativen Charakter. Bezeichnungen wie jene der Trivialisierung, der Universalisierung oder Amerikanisierung70 des Holocaust oder etwa der Begriff der Holocaust Industry71 beherrschen den öffentlichen Diskurs, wenn es um die Allgegenwärtigkeit des Holocaust in popund massenkulturellen, (häufig US-amerikanischen) Produkten geht. Zu fragen wäre demnach, was auf die Phase der Erinnerung, wie Assmann die dritte Phase ab 1985 bezeichnet, folgt und ob sich die verschiedenen Ansätze in den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts noch unter einen übergeordneten Begriff fassen lassen. In dieses Geflecht fügt sich diese Arbeit mit dem Anliegen ein, künstlerische Gegenstände, die sich in höchstem Maße ihrer Abgeleitetheit bewusst sind und offensiv mit popkulturellen und postmodernen Verfahren operieren, medienund disziplinübergreifend zu betrachten. Die hier ausgewählten ästhetischen Auseinandersetzungen der Nachgeborenengenerationen können sich demnach nur als Derivate, Zusätze, Kommentare, Vergegenwärtigungen oder Verhandlungen primärer Erzeugnisse und medialer Vermittlungen der historischen Ereignisse verstehen.

Pop und Postmoderne als Verfahren – Vom Stolpern des Erzählens Als Ausgangshypothese wird die Ähnlichkeit popspezifischer Verfahren mit den Strukturmerkmalen der sogenannten Postmoderne, insbesondere der von Linda Hutcheon entwickelten postmodernen Parodie, behauptet. In einer ersten Annäherung wird für alle analysierten Gegenstände eine Poetik des Parodistischen angenommen, deren spezifische Verfahrensweisen sich zwar ähneln, je nach Herkunft, Gattung und thematischer Durchführung des zentralen Komplexes 70 Siehe dazu Franklin Bialystok: Die Amerikanisierung des Holocaust – Jenseits der Limitierung des Universellen. In: Helmut Schreier, Matthias Heyl (Hg.): Die Gegenwart der Shoa – zur Aktualität des Mordes an den europäischen Juden. Hamburg 1994, S. 129–138; Hilene Flanzbaum: Die Amerikanisierung des Holocaust. In: Britta Huhnke, Björn Krondorfer (Hg.): Das Vermächtnis annehmen. Kulturelle und biografische Zugänge zum Holocaust – Beiträge aus den USA und Deutschland. Gießen 2002, S. 91–110; Detlef Junker: Die Amerikanisierung des Holocaust – über die Möglichkeit, das Böse zu externalisieren und die eigene Mission fortwährend zu erneuern. In: Petra Steinberger (Hg.): Die Finkelstein-Debatte. München 2001, S. 122–139; Peter Novick: Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord. Aus dem Amerikanischen von Irmela Arnsperger und Boike Rehbein. Stuttgart, München 2001. Katja Köhr unternimmt den Versuch, den pejorativ verwendeten Begriff neutral als »Aneignung der Geschichte des Holocaust durch die US-amerikanische Gesellschaft als dessen ›diskursive Universalisierung‹« (Köhr, Die vielen Gesichter des Holocaust, S. 53) zu verstehen. 71 Norman Finkelstein: The Holocaust Industry. Reflections on the Exploitation of Jewish Suffering. London, New York 2000.

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Einleitung

Nationalsozialismus oder Holocaust jedoch unterschiedlichen Disziplinen, Debatten, Theorien entstammen. Bemerkenswert ist, dass alle zu untersuchenden Gegenstände ein konventionelles Erzählen, das nach bestimmten Schemata abläuft und durch Funktionalisierung und Motivierung der erzählten Komponenten bestimmt ist, bewusst verstören oder gar gänzlich zugunsten anderer Strukturen der Verknüpfung aussetzen. In ihrem parodistischen Zugriff auf Verhandlungen von Nationalsozialismus und Holocaust bilden die hier gewählten Gegenstände sowohl in sich als auch untereinander Konstellationen im Sinne Theodor Adornos. Der gemeinsame provisorische Nenner eines stolpernden oder stotternden Erzählens bzw. der offenen Konstellationen, wird sich in verschiedene Begrifflichkeiten ausdifferenzieren und soll gegen ein – heuristisch vereinfachtes – Konzept der narrativen Schließung,72 dem nach wie vor viele ästhetische Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust folgen, vorgebracht werden. Gertrud Koch betont die »problematische Natur narrativer Schließung und moralischer Schlußfolgerung, die mit der Ästhetik des Holocaust verbunden ist.«73 Statt auf eine solche Schließung, zielen Verfahren der Vorbehaltlichkeit und der Unabgeschlossenheit auf eine offene, d. h. prozessuale und gegenwartsbezogene Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust. Der strukturellen Öffnung, die für die hier versammelten analysierten Arbeiten postuliert wird, entspricht ein »metonymische[s] Prinzip, das identitätsstiftend nicht handhabbar und daher nur schwer zu ertragen ist: […] Keine sich ins Symbolische rettende Kunst!«74. Neu ist demnach die Verankerung der theoretischen Ausgangspunkte dieser Arbeit in der Popkultur und der Postmoderne gleichermaßen. Im Folgenden wird das für die vorliegende Arbeit grundlegende Verständnis der Begriffe Pop, Postmoderne, Parodie und Konstellation umrissen.

Pop als Poetik des Paradigmatischen Die für diese Arbeit vorgenommene, heuristische Bestimmung von Pop wird nicht soziologisch, kulturkritisch oder etwa -pessimistisch konturiert, sondern über spezifische Verfahrenstechniken definiert. Damit firmiert Pop hier als äs72 Den Begriff der ›narrativen Schließung‹ entlehne ich aus Gertrud Koch: Handlungsfolgen: Moralische Schlüsse aus narrativen Schließungen. Populäre Visualisierungen des Holocaust. In: Dies. (Hg.): Bruchlinien. Tendenzen der Holocaustforschung. Köln, Weimar, Wien 1999, S. 295–314. Koch verwendet den Begriff für die Darstellungen von Biographien zum Holocaust. Hier soll er als Bezeichnung für Narrative gelten, die inhaltlich wie formal auf ein Ende und auf Eindeutigkeit ausgerichtet sind. 73 Ebd., S. 306. 74 Scherpe, Von Bildnissen zu Erlebnissen, S. 257.

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Pop als Poetik des Paradigmatischen

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thetischer Begriff, der selbstverständlich keineswegs alle Phänomene, die unter diesem Begriff versammelt werden, abdeckt, sondern eine beschränkende Terminologie darstellt. Die Auffassung von »Popkultur als letzte[…] verbleibende […] Avantgarde«75 teile ich nicht, etablierte eine solche Bestimmung doch erneut die dichotomische Vorstellung von hochwertigem Pop gegenüber einer abwertenden Verwendung von Pop für Produkte des Mainstreams. In Anlehnung an die Ausführungen von Moritz Baßler und Heinz Drügh fasse ich Pop als Verfahren »der Spezifika und des Paradigmatischen«76 sowie – ausgehend von einer spezifischen Analyse des literarischen Stils in den Romanen Christian Krachts – als Prinzip der »Vorbehaltlichkeit«77 und des modalen Sprechens. Pop ist dabei ein Verfahren, welches das Besondere und Spezifische gegen allgemeine Kategorien in den Mittelpunkt setzt, es verteidigt: »Spezifizierung verstärkt, so gesehen, tendenziell den Grad der Markiertheit und bewirkt damit eine Ent-Naturalisierung und Ent-Automatisierung des vermeintlich normalen, natürlichen Sachverhaltes.«78 Damit wohnt der hier skizzierten Auffassung von Pop als Poetik des Paradigmatischen eine antiessentialistische Haltung inne, die jede sprachliche Aussage über die Welt potentiell als Konstruktion, das heißt als bestimmte Auffassung über die Welt, offenlegt. Der Begriff des Paradigmas stammt aus der Linguistik und bezeichnet die Menge an Elementen (das gilt für einzelne bedeutungsunterscheidende Buchstaben und Laute wie für verschiedene Worte derselben Wortgruppe), die an einer bestimmten Systemstelle, im linguistischen Fall im Syntagma, also an einem spezifischen Ort des syntaktisch geregelten Satzes, eingesetzt werden können. Die Realisierung eines Satzes bedeutet damit immer die Auswahl und Entscheidung für ein Element aus der Menge des Paradigmas. Weist nun die getroffene Auswahl genau darauf hin, dass sie eine Auswahl ist, rückt sie zugleich all die in diesem Satz nicht realisierten Möglichkeiten in den Fokus und macht das, was anstelle ihrer hätte realisiert werden können, stark und bedeutungsvoll. Damit wird das tatsächlich Gesagte in seinem Status zugunsten dessen, was hätte realisiert werden können, relativiert. Die Tendenz zur Naturalisierung dessen, was diskursiv gesagt und gehört wird, wird durch den Rückverweis auf seine (sprachliche) Herkunft und seine mehr oder weniger zufällige Auswahl aus einem Pool anderer Möglichkeiten zurückgenommen. Wenn also »Pop […] mit 75 Martin Büsser: Super Discount: Pop im Jahrzehnt seiner Allgegenwärtigkeit. Zum gegenwärtigen Stand von Popkultur und Popkritik. In: Heinz Geuen, Michael Rappe (Hg.): Pop & Mythos. Pop-Kultur, Pop-Ästhetik, Pop-Musik. Schliengen 2001, S. 41–51, hier S. 44. 76 Moritz Baßler: Definitely Maybe. Das Pop-Paradigma in der Literatur. In: Pop. Kultur und Kritik (2015), H. 6, S. 104–127, hier S. 127, Herv. K.K. 77 Moritz Baßler, Heinz Drügh: Eine Frage des Modus. Zu Christian Krachts gegenwärtiger Ästhetik. In: Text + Kritik (2017), Nr. 216: Christian Kracht, S. 8–19, hier S. 13. 78 Baßler, Definitely Maybe, S. 106.

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Einleitung

dem Paradigmatischen zu tun [hat], dem, was nicht da ist, es aber sein könnte«,79 ist Pop als Verfahren das Bewusstsein über die eigene Kontingenz eingeschrieben und eröffnet so ein Spiel mit den anderen latent präsenten Möglichkeiten der Benennung, der Repräsentation oder des (Geschmacks-)Urteils. Dieses Spiel, das in Form von narrativer Öffnung bzw. der Sprengung narrativer Parameter zugunsten anderer fiktionaler Darstellungsmodi, Plot- und Strukturvervielfältigung oder kontrafaktischen Fiktionen alle ausgewählten Arbeiten auszeichnet, ist damit wesentlich antiessentialistisch, antihegemonial, antihierarchisch und erhebt keinen Anspruch auf genuine Originalität,80 was die »Möglichkeit einer ästhetischen Wertschätzung ohne Rekurs auf einen authentischen Ursprung«81 eröffnet. In seinen Wertsetzungen bleibt Pop wesenhaft idiosynkratisch, ohne jedoch die Möglichkeit auf einen verständigenden Konsens aufzugeben. Das Assoziationsinferno (Wittmann), die intertextuelle Verweishölle (Meinecke), in die sich immer auch begibt, wer sich mit Pop [und postmodernen Ästhetiken, K.K.] einlässt, ist denn auch nichts anderes als der konstitutive Bezug auf diesen paradigmatischen Möglichkeitsraum, der eben niemals allgemein gehalten, sondern stets mit ganz spezifischen Optionen gefüllt ist. Die Freiheit ›auf ihre Art‹ [d.i. die Freiheit der parahistorischen Erzählung in Faserland, K.K.] wäre denn auch eine im je Spezifischen, nicht im Allgemeinen, nicht einfach eine andere, alternative Geschichte, sondern ein semiotisch hochkomplexes anderes Set von Assoziationen und Verweisen.82

Die durch das Pop-Paradigma eröffneten Möglichkeitsräume sind damit konstitutiv nicht als Alternativen im Sinne eines Ausschlusses anderer Möglichkeiten, sondern als Gleichzeitigkeiten, als Schichtung oder Multiplizierung von Wirklichkeitswahrnehmung und -deutung zu verstehen. Verabsolutierte sich eine popkulturelle Bedeutung – über die Rahmen eines gemeinschaftsbildenden Codes hinaus –, so wäre sie nicht länger Pop, sondern verwandelte sich in totalitäre Ideologie. Pop erzeugt so neben, über, unter den und innerhalb der herrschenden Diskursdispositive parallele Denkräume, die diese hegemonialen Strukturen begleiten, herausfordern und im besten Fall kritisch mit ihnen interagieren.

79 Ebd., S. 107. 80 »Generell behauptet Pop aber keineswegs die Minderwertigkeit seiner Produkte, er behauptet nur nicht den Ursprung ihrer Einmaligkeit, Komplexität und Originalität in Genie, Größe, Tiefe und tragischem Leiden des bedeutenden Autor-Individuums« (Moritz Baßler: »Das Zeitalter der neuen Literatur«. Popliteratur als literarisches Paradigma. In: Corina Caduff, Ulrike Vedder (Hg.): Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. München 2005, S. 185–199, hier S. 187). 81 Ebd., S. 187. 82 Baßler, Definitely Maybe, S. 119.

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Postmoderne – Parodie

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Postmoderne – Parodie Dem skizzierten Pop-Verfahren lässt sich Linda Hutcheons Begriff der postmodernen Parodie zur Seite stellen, die sie – entgegen der herkömmlichen Bestimmung der Parodie als lächerlich machende Imitation – als »signaling ironic difference at the heart of similarity and as an authorized transgression of convention«83 definiert. Hutcheons Theoretisierungen beziehen sich vor allem auf die ersten postmodernen Schriften aus der Architekturtheorie, die sie zu einer allgemein-ästhetischen wie gesellschaftspolitischen Theorie ausweitet.84 Bevor die einzelnen Aspekte dieser Definition für diese Arbeit funktionalisiert werden, wird die für diese Arbeit zugrunde gelegte Auffassung der Postmoderne dargestellt. Im Wesentlichen folge ich Peter V. Zimas differenzierter Bestimmung von Postmoderne.85 Zima versteht Postmoderne als Ausdifferenzierung von und Reaktion auf bestimmte Ausprägungen der Moderne, die selbst wiederum in sich widersprüchliche Stränge aufweist. Der von Zima als Modernismus oder Avantgarde bezeichnete Teil (der Moderne) wird dabei zur Selbstkritik der Moderne. Einen zentralen Unterschied zwischen Modernismus und Postmoderne sieht Zima im Übergang von dem für den Modernismus zentralen Aspekt der Ambivalenz, die Wertsetzungen in Zweifel zieht, hin zur postmodernen Indifferenz, für die das Bemühen um konsensfähige Werte und Wahrheitsbegriffe nicht länger relevant ist. Die Unmöglichkeit, zu eindeutigen, universalen, für eine Gesellschaft verbindlichen Werten zurückkehren zu können, wird nicht, wie in hochmodernen Texten noch, als Verlust gesehen und nicht mehr in einer melancholischen Geste betrauert, sondern allenfalls ironisch nachgeahmt und als überholt ausgestellt.86 Eine gesellschaftlich-politische Relevanz solch einer postmodernen Ausprägung ist in dieser Radikalität zurecht fraglich. Die poststrukturalistische Ausprägung der Postmoderne neigt in ihrer radikalen Form, etwa der Derrida’schen Konzeption von Dissemination, différance 83 Linda Hutcheon: A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. New York, London 1988, S. x. 84 Hutcheon bezieht sich vor allem auf Charles Jencks: Post-Modern Classicism: The New Synthesis. London 1980 und Paolo Portoghesi: Postmodern: The Architecture of the Postindustrial Society. New York 1983. 85 Peter V. Zima: Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur. 2., überarbeitete Auflage. Tübingen, Basel 2001. 86 »Insgesamt wird deutlich, daß die postmoderne Literatur sowohl als Reaktion auf die Moderne (Neuzeit) als auch auf den Modernismus (Spätmoderne) zu lesen ist. Ihre Kritik an der Moderne ist durch ihre Kritik am Modernismus gleichsam vermittelt: Indem die Postmodernen der metaphysisch-ideologischen Suche der Modernisten Proust, Kafka, Moravia oder Thomas Mann eine Absage erteilen, verabschieden sie sich endgültig von der platonischen, christlichen, rationalistischen und hegelianischen Frage nach dem Wesen, die Marxismus und Psychoanalyse aufs engste miteinander verbindet.« (Zima, Moderne/Postmoderne, S. 344).

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Einleitung

und Iterabilität oder de Mans »›aporetische[r]‹ Textauffassung«,87 zu einer Auflösung und Zerstörung von Bedeutung. Deutbarkeit und Wahrheit im Sinn der Möglichkeit, aufgrund textinterner Kohärenzbildungen eine Deutung als die richtige zu erkennen, werden angesichts eines Spiels mit sich gegenseitig aufhebenden oder widersprechenden Bedeutungen oder der privaten Lust am Text obsolet. Aussagen über die Welt oder ein Anspruch auf ästhetisches oder historisches Lernen durch Kunst kann so nicht mehr angestrebt werden. Diesen Weg geht keine der hier untersuchten Arbeiten in seiner Radikalität zu Ende. Sie sind vielmehr, der Position Linda Hutcheons nicht unähnlich, politisch wie historisch engagiert. Der Vorwurf der Indifferenz greift nur bedingt, da die Arbeiten das Phänomen der Indifferenz ausstellen, parodierend reproduzieren und auf ihre gesellschaftspolitischen Implikationen hin untersuchen, sie nehmen am Diskurs der Postmoderne in Form einer Metareflexion derselben teil. Insofern lassen sich die von Zima ausgemachten Merkmale einer postmodernen Ästhetik auch in ihnen wiederfinden: Sie zeigen überwiegend ein übergeordnetes Interesse an der »Bloßlegung des Verfahrens«,88 sei es bezogen auf das je eigene Verfahren, auf die Verfahren nationalsozialistischer Ästhetik oder aber auf die Verfahren einer konventionalisierten Erinnerungsästhetik. Die analysierten Gegenstände stellen in ihrer pluralen Bearbeitung und Aufdeckung von Verfahren meistens »Gattungsgrenzen in Frage«89 und betreiben eine »neue[…], ironische[…] und nicht-naive[…] Aufarbeitung der literarischen Vergangenheit«,90 – eine Formulierung, die von der literarischen auf andere ästhetische (selbst-)reflexive Aufarbeitungsformen etwa bildlicher, inhaltlicher, motivischer Art übertragbar ist. Nicht zuletzt kann den hier untersuchten Texten, Filmen, Comics und Kunstwerken auch die für die Postmoderne so typische Intertextualität und eng damit zusammenhängend ihr ›Spielcharakter‹ nachgesagt werden.91 Zentral für alle Formen des Spiels ist dabei das Selbstbewusstsein darüber, Spiel zu sein. Das heißt, sich selbst weder als Realität noch als normsetzend zu verstehen. In diesem Sinn verfahren alle hier versammelten Arbeiten parodistisch. Im Hinblick auf die bewusste Selbstinszenierung und das Selbstverständnis von Popmusik prägt Christian Zürner den Begriff der »ästhetischen Selbsttransparenz«,92 den er wie folgt bestimmt: »Der Terminus Selbsttransparenz 87 88 89 90 91

Ebd., S. 294. Ebd., S. 349. Ebd., S. 349. Ebd., S. 349. »To include irony and play is never necessarily to exclude seriousness and purpose in postmodernist art.« (Linda Hutcheon: The Politics of Postmodernism: Parody and History. In: Cultural Critique (Winter 1986/1987), Nr. 5, S. 179–207, hier S. 186). 92 Christian Zürner: Popmusik als Medium von Erinnerungskultur. In: Peter Bubmann, Hans Dickel (Hg.): Ästhetische Bildung in der Erinnerungskultur. Bielefeld 2014, S. 133–147, hier S. 142.

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Parodistische Konstellationen

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verbindet die Fülle des restlos von der eigenen Präsenz Durchschienenen mit einer Leichtigkeit, die seine – vielleicht sogar unvermeidliche – gleichzeitige Tendenz anzeigt, sich als eben das völlig Durchsichtige auch wieder aufzulösen.«93 Versteht man Transparenz in diesem Zusammenhang als ›durchsichtig sein im Hinblick auf die eigene Konstruktionsweise‹ und übersetzt den Moment des Auflösens bei Zürner in das Bewusstsein der eigenen Reichweite und Gültigkeit, dann lässt sich der Begriff für die hier versammelten Texte, Comics, Filme und Kunstwerke in Anspruch nehmen: Alle Arbeiten fordern gerade ihre eigene Herausforderung heraus, da sie auf Pluralisierung ausgerichtet sind und sich jeweils selbst konkurrieren. Obgleich Linda Hutcheon, laut Zima, wie viele andere den Fehler begehe und Postmoderne als eine Art oppositionellen Kampfbegriff gegen ein spezifisches, einseitiges Verständnis von Moderne einsetze, ist ihre Definition der postmodernen Parodie für den Umriß eines Verfahrensbündels, das unter dem Begriff postmodern provisorisch zu fassen wäre, immens fruchtbar.

Parodistische Konstellationen Herkömmlich ist der Begriff der Parodie, verstanden als humorvolle Imitation, eng mit der Bewegung des ins Lächerliche Ziehens verknüpft.94 Das Bezugsobjekt wird in der Parodie der Lächerlichkeit preisgegeben, wodurch die Parodie als oppositionelle Struktur gekennzeichnet ist. Postmoderne Parodie, wie sie hier in Anlehnung an Linda Hutcheon konzipiert wird, impliziert kein ins Lächerliche Ziehen mehr und steht in einem komplexeren Verhältnis zu ihrem Bezugsobjekt: 93 Ebd., S. 142. 94 Die unzähligen Definitionen des Begriffs differieren aber auch bezüglich ihres Verhältnisses zum Bezugsobjekt. Für einen Überblick siehe Theodor Verweyen: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Darmstadt 1979; Winfried Freund: Die literarische Parodie. Stuttgart 1981; Carmen Cardelle de Hartmann: Parodie in den Carmina Burana. Zürich 2014. Besonders bemerkenswert scheinen mir die Ausführungen Nikolaus Henkels darüber, die »Parodie als prozesshaftes Verfahren aufzufassen, das in durchaus verschiedenen Feldern und medialen Erscheinungsformen von Kultur zu beobachten ist.« (Nikolaus Henkel: Parodie und parodistische Schreibweise im hohen und späten Mittelalter. Lateinische und deutsche Literatur im Vergleich. In: Seraina Plotke, Stefan Seeber (Hg.): Parodie und Verkehrung. Formen und Funktionen spielerischer Verfremdung und spöttischer Verzerrung in Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Göttingen 2016, S. 19–43, hier S. 22). Henkel versteht Parodie als in verschieden medialen Formen präsente Schreibweise, die historisch gebunden ist und durch wissensbezogenen Ein- und Ausschlusskriterien bestimmt ist. Diese Kriterien sind strukturanalog zu dem für Pop spezifischen »Geheimcode, der aber gleichzeitig für alle zugänglich ist« (Diedrich Diederichsen: Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch. In: Goer, Stefan Greif, Christoph Jacke (Hg.): Texte zur Theorie des Pop. Stuttgart 2013, 185–195, hier S. 190).

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Einleitung

Die inhaltliche oder formale Wiederholung (oder Mimesis) geschieht aus einer kritischen Distanz, aus der allerdings kein festgelegtes, positives oder negatives Urteil folgt. Wenn bei Hutcheon von einer ironischen Distanz die Rede ist, so darf ›ironisch‹ hier nicht im Sinne des rhetorischen Mittels als Gegenteil des Ausgesagten verstanden werden. Parodistische Ironie will sich in ein variables Verhältnis zum Parodierten bringen und steht daher in keinem bestimmten Bedingungs- oder Hierarchieverhältnis. Das Parodierte ist daher auch nicht als Original, die Parodie nicht als Kopie zu verstehen. Diese für die Postmoderne zentrale Enthierarchisierung findet in selbstkritischen Bewegungen des Modernismus, etwa in Adornos Kritischer Theorie, ihre Vorläufer: »Herrschaftsfreiheit […] soll in der Kritischen Theorie zugleich durch mimetische Angleichung an das Objekt erreicht werden, die in der Kunst vorgezeichnet ist.«95 Diese Angleichung an das Objekt nimmt dieses zunächst als Einzelnes und Besonderes ernst und wendet sich gegen die von manchen modernen Bewegungen zum Ausdruck gebrachte Neigung zur totalisierenden Vereinheitlichung und Verallgemeinerung. Adorno findet für eine Philosophie, die außerhalb von (Hegels) Systemdenken operieren will, den Begriff der Konstellation, der die Dinge gerade nicht unter einen Begriff subsumiert, sondern »das von den Begriffen Unterdrückte, Mißachtete und Weggeworfene«96 zum Vorschein bringen soll. Wird postmoderne Parodie mit Adornos Konstellations-Begriff zusammengedacht, ist ihr Verhältnis zum Parodierten kein beliebiges, das Parodierte ist es vielmehr wert, parodiert, das heißt herausgefordert und in verschiedene Konstellationen überführt zu werden. Die Parodie imitiert das Bezugsobjekt, um es einer neuen Semantik zuzuführen, es motivisch anzureichern, strukturell transparent zu machen oder thematisch mit gegenläufigen Perspektiven, Diskursen, Aussagen, Begriffen etc. zu konfrontieren. Der durch die Parodie erzeugte kritische Abstand bedeutet aber keineswegs, dass die Parodie davor geschützt wäre, nicht auch denselben Strukturen wie das Parodierte zu unterliegen. Sie ist demnach nicht davor gefeit, zu misslingen oder in ihrem Versuch, Kritik zu üben, selbst – unwissend oder nicht – zu ihrem eigenen Gegenstand zu werden. Ein zentraler Aspekt von Hutcheons Definition der postmodernen Parodie ist die Überschreitung bestehender Konventionen, die sich in Anlehnung an die Definition von Pop auch als Entlarvung naturalisierter Normen bezeichnen lässt. Dies ist für eine Verhandlung ästhetischer Darstellungen über Nationalsozialismus und Holocaust von großer Bedeutung, da die Überschreitung oder kritische Parodie konventioneller Zugänge doch niemals deren bloße Absage, sondern deren Herausforderung bedeutet. Voraussetzung dafür ist, dass ästhetisch erzeugte Referenzen zur Vergangenheit als Gegenstand diskursiver Gefüge und 95 Zima, Moderne/Postmoderne, S. 339. 96 Adorno, Negative Dialektik, S. 21.

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Parodistische Konstellationen

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medialer Vermittlung aufgefasst werden, was zur Folge hat, dass die gegenwärtig kursierenden Geschichtsbilder sowie gesellschaftliche Zugänge zu und der Umgang mit der Vergangenheit als kontingent begriffen werden.97 Die kulturellen Rekonstruktionen des Vergangenen stellen immer einen jeweils gegenwärtigen Zugang zu dem, was wir Vergangenheit nennen, dar. Damit wird also mitnichten ein Zugriff auf die Vergangenheit möglich, sondern eine gegenwärtige Beziehung zur Vergangenheit erzeugt.98 Dies gilt für die Zeugnisse der Überlebenden des Holocaust in gleichem Maße wie für ›abgeleitete‹ künstlerische Erzeugnisse über den Holocaust99 sowie für die scheinbar ungefilterten, realistischen Texte der Pop-Literatur. Obwohl die historischen Ereignisse des Holocaust unabhängig und außerhalb von literarischen, historischen oder künstlerischen ›Texten‹ existieren, gilt Youngs Einschätzung, dass die Fakten des Holocaust letztlich nur in ihrer erzählenden und kulturellen Rekonstruktion Bestand haben, […] [so] daß die Fragen der literarischen und der historischen Interpretation, die ohne dies miteinander verknüpft sind, im Gegenstand der ›literarischen Historiographie‹ zusammenfließen.100

Kunst, die sich der Wirklichkeit nähert, weiß, um mit Roland Barthes zu sprechen, um ihre Irrealität: Literatur ist weit davon entfernt, eine analogische Kopie des Wirklichen zu sein, sie ist im Gegenteil das Bewußtsein vom Irrealen der Sprache. Die wahre Literatur ist die, die sich ihrer Irrealität bewußt ist, insofern als sie sich wesentlich als Sprache versteht, sie ist die Suche nach einem vermittelnden Stand zwischen den Dingen und den Wörtern […]. Der Realismus kann hier also nicht Kopie der Dinge sein, sondern ist Kenntnis der Sprache; das realistische Werk ist nicht jenes, das die Wirklichkeit ›schildert‹, sondern jenes, das, indem es sich der Welt als Inhalt bedient (dieser Inhalt selbst liegt im übrigen

97 Diese Auffassung steht im Gegensatz zu Teiltendenzen der Moderne, die Vernunft und Technikglauben derart favorisieren, dass Rationalität zur überhistorischen, zeitlosen Komponente stilisiert wird, was zum Bruch mit Tradition und eigener Geschichtlichkeit führt: »The odd combination of the empirical and the rational in modernist theory was meant to suggest a scientific determinism that was to combat the cumulative power and weight of all that had been inherited from the past. Faith in the rational, scientific mastery of reality implicitly – then explicitly – denied the inherited, evolved cultural continuity of history.« (Hutcheon, The Politics of Postmodernism: Parody and History, S. 188). 98 »Fortan werden alle Aussagen über Vergangenes zu Aussagen über die Beziehung zu Vergangenem, aber nicht über die Vergangenheit selbst.« (Hans-Jürgen Goertz: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität. Stuttgart 2001, S. 118). 99 Gleichwohl ist hier, wie Klaus Scherpe betont, an einer grundlegenden Unterscheidung zwischen ersteren und letzteren festzuhalten, da sie »Voraussetzung für die Qualifizierung moralischer und ästhetischer Argumentationsstrategien« (Scherpe, Von Bildnissen zu Erlebnissen, S. 265) sowie für die Grenzen und Möglichkeiten einer wissenschaftlichen, analysierenden Arbeit ist. 100 Young, Beschreiben des Holocaust, S. 14.

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Einleitung

außerhalb der Struktur, das heißt außerhalb seines Wesens) so tief wie möglich die irreale Realität der Sprache erforscht.101

Linda Hutcheon beschreibt eine ähnliche Beobachtung für die postmoderne Auffassung von Wirklichkeit wie folgt: what postmodernism does is to contest the very possibility of there being ›ultimate objects.‹ It teaches and enacts the recognition of the fact that social, historical, and existential ›reality‹ is discursive reality when it is used as the referent of art, and so the only ›genuine historicity‹ becomes that which would openly acknowledge its own discursive, contingent identity. The past as referent is not bracketed or effaces […]: it is incorporated and modified, given a new and different life and meaning.102

Das heißt jedoch keineswegs, dass aus der Erkenntnis der Kontingenz – oder anders gesagt: der historischen Bedingtheit – gegenwärtiger Geschichtsdispositive und der grundlegenden Vermitteltheit ästhetischer Darstellung der Vergangenheit deren Bedeutungslosigkeit oder Harmlosigkeit folgen würde. Im Gegenteil: Es gilt, die Genese solcher (ästhetischer) Geschichtszugänge und deren ideologische Grundierungen sowie die ihnen zugrundeliegenden Mechanismen der Autorisierung freizulegen. Diese ästhetische Kippbewegung vom Ernst in den spielerischen Unernst der Parodie, die beispielsweise die Texte Christian Krachts prägt, findet sich von Kracht in dessen Poetikvorlesung expliziert, wenn er dort betont, dass »alles was sich zu ernst nimmt, […] reif für die Parodie [ist].«103 Postmoderne Kunstwerke im hier ausgeführten Sinn setzen sich demnach bewusst in eine distanzierte, kritische, parodistische Beziehung zur ›Geschichte‹ und deren diskursive Konstruktion(en). Dadurch können sie auf das Potential zu hegemonialer Naturalisierung in konventionalisierten Darstellungen und deren Rezeption hinweisen und ihnen alternative anti-hierarchische, spielerische Wirklichkeits- und Geschichtsdarstellungen zur Seite stellen. The paradox of postmodernist parody is that it is not essentially depthless, trivial kitsch, […] but rather that it can and does lead to a vision of interconnectedness: ›illuminating itself, the artwork simultaneously casts a light on the workings of aesthetic conceptualization and on art’s sociological situation.‹104

101 Roland Barthes: Literatur heute. In: Ders.: Literatur oder Geschichte. Frankfurt am Main 1969, S. 70–84, hier S. 82–83, Herv. im Original. Sowohl Youngs Formulierung der ›literarischen Historiographie‹ als auch die Aussagen Roland Barthes lassen sich auf andere künstlerische Disziplinen und auf andere Medien ausweiten. 102 Hutcheon, The Politics of Postmodernism: Parody and History, S. 182, Herv. im Original. 103 Christian Kracht: Emigration. Zweite Poetikvorlesung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main am 19. Mai 2018. Vgl. dazu auch Kathrin Kazmaier: Christan Krachts postmoderne Parodien. In: Heinz Drügh, Susanne Komfort-Hein (Hg.): Christian Krachts Ästhetik. Stuttgart 2019, S. 261–276. 104 Hutcheon, The Politics of Postmodernism: Parody and History, S. 182, Herv. im Original. Das Zitat im Zitat stammt aus Charles Russell: The Context of the Concept. In: Harry R.

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Parodistische Konstellationen

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In der ihnen zugesprochenen Selbstreflexion postmoderner Produkte ermöglichen diese nicht nur einen Blick auf die Einbindung ästhetischer Artefakte in den gesellschaftlichen Diskurs. Sie können zudem die häufig dichotomisch strukturierten Werteschemata dieses Diskurses, in denen Hochkultur und Populärkultur, Ernst und Spiel, Original und Nachahmung in einer streng hierarchischen Opposition stehen, offenlegen und alternative Poetiken des Dazwischen präsentieren. Postmoderne und popkulturelle Produkte verstehen sich selbst als involvierter Teil der (kulturindustriellen oder massenmedialen) Kultur und Gesellschaft, die sie selbstreflexiv einer Kritik unterziehen. Damit sind sie per definitionem nicht davor gefeit, eben jenen Strukturen, die sie aufzudecken bemüht sind, selbst zu verfallen und sie – auch unreflektiert und ohne parodistische Distanz – zu reproduzieren. Gelingt die parodistische Mimesis aber, wird durch den Abstand zum Bezugsobjekt Wirklichkeit (sei es durch Übertreibung bestimmter gesellschaftlicher Strukturen, was eine formale Abweichung darstellte oder durch Hinzufügung neuen Materials, ungewohnter Motive oder pluraler Perspektiven, was als inhaltliche Abweichung zu beschreiben wäre) ein distanzierter, kritischer Blick auf sakralisierende, zirkuläre und selbstbezügliche Verhandlungen von Nationalsozialismus und Holocaust möglich. Dass die künstlerisch-fiktionale Hinwendung zur Vergangenheit im hochkulturellen, offiziellen Diskurs über Nationalsozialismus und Holocaust häufig durch Rhetoriken und Motive geschieht, die keine – oder kaum – Anschlussmöglichkeiten an einen gegenwärtigen Alltag aufweisen, wie etwa in Bernhard Schlinks Der Vorleser, ist einer der zentralen Vorwürfe gegenüber der (deutschen) Nachkriegsliteratur durch die Befürworter der Popliteratur in den 1990er Jahren. Dieser Vorwurf soll hier ernst genommen werden, ohne dabei jedoch mit der grundsätzlichen Absage an die literarisch-künstlerischen Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit übereinzustimmen. Im Gegenteil zeigt diese Arbeit auf, dass die hier untersuchten Romane, Comics, Filme und Kunstwerke durch ihre stilistischen und poetischen Verfahren neue Anschlussmöglichkeiten für die verhandelte Thematik von Nationalsozialismus und Holocaust suchen, die einem gegenwärtigen Umgang angemessen ist. Ein solcher Umgang ist von verschiedenen Voraussetzungen geleitet: Zunächst soll die historische Vergangenheit des Holocaust, in Anlehnung an Imre Kertész und Volkhard Knigge, der Kertészs Formulierung als Ausgangspunkt für die »Konzeptualisierung des Lernens aus unannehmbarer Geschichte«105 setzt, als eine spezifische Art »menschenfeindlicher, unannehmbarer, im nicht-religiGarvin (Hg.): Romanticism, Modernism, Postmodernism. Lewisberg 1980, S. 181–193, hier S. 189. 105 Volkhard Knigge: »Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen.« Unannehmbare Geschichte begreifen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 66 (2016), Nr. 3–4, S. 3–9, hier S. 3.

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Einleitung

ösen, nicht metaphysisch-geschichtsteleologischen Sinne heilloser Geschichte«106 aufgefasst werden, mit der sich »ein Identifikations- und Tradierungsverbot verbindet sowie eine besondere kognitiv-affektive Wucht, die ebenso aufrütteln wie erschrecken und beängstigen kann«.107 Dieser Bedingung ist eingeschrieben, die historischen Ereignisse als unabgeschlossene und unbehagliche gleichermaßen anzuerkennen, das heißt »auf dem Durchdenken […] historischer Erfahrung [zu] beharren.«108 Ästhetische Darstellungen der deutschen Vergangenheit stehen vor der Herausforderung, sich der Doppelbewegung von ›Integration‹ und ›Inkommensurabilität‹ zu stellen und ihr durch die gewählten literarischen, bildlichen oder darstellerischen Verfahren gerecht zu werden. Die Konzeptionalisierung der postmodernen Parodie eignet sich besonders für einen solchen verstehenden und zugleich distanzhaltenden Zugang, da die erzeugte mimetische Welt der parodistischen Differenz sich stets als probeweiser, konstellativer und vorbehaltlicher Gebrauch von Bild und Sprache versteht und die durch sie konstruierte Ähnlichkeit von mimetischer Annäherung und gleichzeitiger Distanznahme durch Abweichung oder Variation geprägt ist. Dieses Oszillieren kommt in den Anforderungen an eine philosophische und ästhetische Auseinandersetzung mit dem Holocaust zum Ausdruck, wie sie JeanFrançois Lyotard in Der Widerstreit und den Streitgesprächen formuliert. Dort bezeichnet er Auschwitz als Para-Erfahrung109, die auszeichnet, dass sie durch herkömmliche philosophische oder ästhetische Beschreibungen, Narrative oder Begriffe nicht angemessen erfasst werden kann. Sie bleibt außerhalb, neben oder über unseren Diskurssystemen. Gleichwohl betont Lyotard die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung, die er als Anknüpfung nach spezifischen, neuen (Sprach-)Regeln beschreibt. Dieser Diskurs ›nach Auschwitz‹ soll das Ereignis für unsere gesellschaftspolitischen und ästhetischen Diskurse anschlussfähig machen, ohne den Komplex narrativ zu vereinnahmen, ihm kulturgeschichtlich Sinn abzuringen oder durch philosophische Begrifflichkeiten zu integrieren. Das Präfix ›Para‹ wiederum hebt auch Linda Hutcheon in ihrer Bestimmung der Parodie hervor: »the Greek prefix para can mean both ›counter‹ or ›against‹ AND ›near‹ or ›beside.‹«110 Ihre Definition der Parodie reflektiert dabei jene Komplexität der Verhältnisse von Aneignung und Distanz, die in Lyotards Bestimmung des Holocaust als Para-Erfahrung sowie in seiner Forderung nach einer neuen Form der Verknüpfung zum Ausdruck kommt. Ausgangspunkt dieser Arbeit sind demnach die hergestellten Verbindungen zwischen Lyotards Forderung an einen sprachlich-fiktionalen Umgang mit dem 106 107 108 109 110

Ebd., S. 3. Ebd., S. 3. Ebd., S. 3. Vgl. Lyotard, Streitgespräche, S. 31. Hutcheon, The Politics of Postmodernism: Parody and History, S. 185f.

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Gegenstandsauswahl und Struktur der Arbeit

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Holocaust und bestimmten popkulturellen und postmodernen Ästhetiken: Die spielerischen Verfahren des Unernsten, Mehrdeutigen, der Ambivalenz, der Übertreibung und Wucherung der hier analysierten Gegenstände bieten verschiedene Lösungsangebote für die von Lyotard geforderte Neuverknüpfung von Auschwitz und werden unter dem Label der parodistischen Konstellationen zusammengefasst.

Gegenstandsauswahl und Struktur der Arbeit Der Zusammenstellung der gewählten Gegenstände liegt ein Komplex von ineinander wirkenden Aspekten zugrunde. Thematisch entfalten die untersuchten Arbeiten eine Poetik der Annäherung zur deutschen Vergangenheit des Nationalsozialismus. Der Holocaust steht dabei selten explizit im Zentrum der Werke, er gerät aber indirekt, durch konzentrische Annäherung, in den Blick. Zeitlich ist der Auswahl der analysierten Gegenstände ein Rahmen gesetzt. Es werden Texte, Filme, Comics und Kunstwerke verhandelt, die nach 1989/1990 erschienen sind. Der Fall der Berliner Mauer und das Ende des Kalten Kriegs werden als ein gesellschafts-politischer wie diskursiver Wendepunkt angesehen. Rezeptionsperspektivisch stehen die verhandelten Arbeiten zunächst in einem Kontext der Provokation: (Fast) alle riefen zum Zeitpunkt ihres Erscheinens – variierend in der Nachhaltigkeit und Reichweite der Debatten – mehr oder minder empörte Reaktionen hervor. Damit einher ging die Kontroverse um die rechtmäßige oder angemessene Verhandlung der Thematik durch das Kunstwerk, was häufig zum reflexhaften Urteil über den Wert der jeweiligen Arbeit(en) führte: Handelt es sich noch um Kunst, um hohe Literatur, um einen ernstzunehmenden Film oder Comic oder haben wir es mit Produkten der zur Unterhaltung dienenden Massenkultur111 zu tun? So haben viele der untersuchten Arbeiten mit ihrem Erscheinen eine Diskussion um ihre ästhetische Verortung entfacht – obwohl alle mittlerweile zum Korpus einer kanonisierten Kunst zu zählen sind. Ebenso bedeutsam ist die disziplinen- und medienübergreifende Zusammenstellung der Gegenstände unter einer formal-ästhetischen Klammer. Allen ausgewählten Gegenständen ist die Erzeugung eines ästhetischen Verweissystems gemeinsam, das anstelle von Schließung und Eindeutigkeit die Diskurse über Nationalsozialismus und Holocaust an thematisch, motivisch und verfahrenstechnisch neue, ungewohnte und offene Gewebe von rhizomatisch-assoziativen Strukturen bindet. Bis auf Alexander Kluges mit Gerhard Richter zusammen veröffentlichten Erzählband Dezember (2010) und Jean-Luc Godards His111 Bezüglich ihrer Verkaufszahlen sind zumindest Inglourious Basterds und Adolf! Die NaziSau der Massenkultur zuzurechnen.

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Einleitung

toire(s) du cinéma (1988–1998), beides Arbeiten, die der etablierten ›Hochkultur‹ zuzuordnen sind, entstammen Quentin Tarantinos Film Inglourious Basterds (2009), Walter Moers’ Comic-Bände Adolf I (1998), Adolf II (1999) und Adolf – Der Bonker (2006) und Zbigniew Liberas Arbeit Lego. Concentration Camp (1996) der sogenannten ›Kulturindustrie‹ oder beziehen zumindest Thema oder Material daraus. Klassisch literaturwissenschaftliche Gegenstände sind die beiden der sogenannten Pop-Literatur zugeordneten Romane Faserland (1995) von Christian Kracht und Hellblau (2001) von Thomas Meinecke, die beide anteilig in Hoch- und Populärkultur zu verorten sind. Faserland kann als mittlerweile massenmedialer Longseller der Unterhaltungssparte zugeordnet werden und zählt durch seine Aufnahme als Schullektüre zu den kanonisierten Werken der deutschen Literatur. Hellblau partizipiert durch die Sperrigkeit seiner Rezeption am hochkulturellen Diskurs der Avantgarde und inkorporiert gleichzeitig durch seine thematische Einbettung von Nationalsozialismus und Holocaust in popmusikalische – insbesondere auf Techno bezogene – Kontexte und durch die ›Übersetzung‹ technospezifischer Verfahren in die Literatur zentrale popästhetische Verfahren. Die Frage nach der Dichotomie von Hoch- und Unterhaltungskultur, von Kunst und Kommerz bzw. künstlerisch anbiedernder Massenproduktion ist dabei als diskursive Größe, die eine ordnende Funktion übernimmt, zwar relevant, für das Ordnungssystem meiner Studie allerdings nicht von Belang. Vielmehr durchkreuzt die Arbeit durch die Zusammenstellung der analysierten Gegenstände die in der Debatte herrschenden Positionen, wenn die beiden der Hochkultur (oder gar einer Avantgarde) zugeordneten Autoren Alexander Kluge und Jean-Luc Godard Teil des Korpus sind. Mit Kluge, der aufgrund seiner Herkunft aus der Kritischen Theorie als modernistischer Autor gilt, ist zudem die gängige Oppositionsbildung von Moderne und Postmoderne produktiv durchkreuzt. Gemeinsam ist den Gegenständen nicht ihre Herkunft, sondern ihr Umgang mit der Thematik des Nationalsozialismus und des Holocaust. Pop und Postmoderne stellen sich gegen die nach wie vor herrschende Opposition von High und Low: »Die Dichotomien werden vielmehr durchkreuzt, Pop kann auf beiden Seiten der Unterscheidung situiert oder aber als jene Schnittstelle begriffen werden, die die vermeintlichen Gegenbegriffe zugleich trennt und verbindet.«112 Damit wird auch die Vorstellung von ›hochwertiger‹ Kunst als ein von kapitalistischen Strukturen unbehelligter Kultur-Raum im Gegensatz zur sich an die wirtschaftliche und massenmediale Ereignisgesellschaft anbiedernden Popkultur und postmodernen Kunst, hinfällig. Pop und postmoderne Kunstwerke operieren vielmehr von Standpunkten innerhalb des 112 Moritz Baßler, Eckhard Schumacher: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Handbuch Literatur & Pop. Berlin, Boston 2019, S. 1–28, hier S. 12f.

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Gegenstandsauswahl und Struktur der Arbeit

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kapitalistischen Systems aus und stellen schon von ihrer Verortung her autoritative Züge und Elitarismus in Zweifel.113 Beide Konzepte setzen auf niedrigschwellige Zugänglichkeit, offene und selbsttransparente Verfahren und aktive Beteiligung der Rezipierenden. Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert, um verschiedene Aspekte der Annäherung an den Nationalsozialismus besser zu bündeln und die einzelnen Analysen schrittweise in ein komplexes Verhältnis zueinander zu bringen. Die drei Teile thematisieren spezifische Zeiten (Teil I: Gegenwart), Rezeptionsformen (Teil II: Spielen) und Darstellungsverfahren (Teil III: Parahistorie). Der erste Teil trägt den Titel Gegenwartsdiskurse. Der Fokus liegt hier in der ästhetischen Bearbeitung gegenwärtiger fiktionaler Figuren, die sich mit den Überresten der ›deutschen Vergangenheit‹ konfrontiert sehen. Christian Krachts Faserland und Thomas Meineckes Hellblau werden unter dieser Überschrift zusammengeführt. Während Faserland den Erinnerungsraum Deutschland sozusagen mikrokosmisch unter der Verwendung neuer motivischer Träger und Verfahren durchmisst, gelingt es Hellblau, eine Makroperspektive auf den transatlantischen Erinnerungsraum mit seinen vielperspektivischen Herkunftsund Diasporakonstellationen, zu öffnen. Der zweite Teil firmiert unter dem Titel Den Nationalsozialismus spielen / Mit dem Nationalsozialismus spielen.114 Dort werden die Adolf-Comics von Walter Moers sowie die Arbeit Lego. Concentration Camp des polnischen Künstlers Zbigniew Libera untersucht. Beide tendieren dazu, die Deutungshoheit den Rezipierenden zu übertragen und zur imaginativen Beteiligung im Sinne der Doit-yourself-Bewegung einzuladen. Walter Moers’ Comic-Reihe fokussiert die historischen wie gegenwärtigen medialen Inszenierungsformen der zum Zeichen gewordenen Person Adolf Hitler. Mit der Figur Hitlers kommt die Auseinandersetzung mit den diskursiven Topoi von Überhöhung, Wahnsinn, von Kult und Faszination, Massenbewegung, der industrialisierten, bürokratisierten Verwaltung des Massenmords sowie die distributive Seite kapitalistischer Ökonomie in den Blick.115 Zbigniew Liberas Arbeit untersucht das Verhältnis, in dem die 113 »Like all parody, postmodernist architecture [und postmoderne Kunst im Allgemeinen, K.K.] can certainly be élitist [sic!], if the codes necessary for its comprehension are not shared by both encoder and decoder.« (Hutcheon, The Politics of Postmodernism: Parody and History, S. 200, Herv. im Original). 114 Die Überschrift entlehne ich einem Aufsatz von Ernst van Alphen: Playing the Holocaust and Playing with the Holocaust. In: Iris Roebling-Grau, Dirk Rupnow (Hg.): ›Holocaust‹-Fiktion. Kunst jenseits der Authentizität. München 2015, S. 151–161. 115 Das entspricht in etwa Matusseks Unterscheidung der Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus in intentionalistische und funktionalistische Argumente. Erstere messen der Figur Hitler die Hauptverantwortlichkeit für den Massenmord bei, zweitere sehen die Gewalt und Tötungen von Juden, Sinti und Roma sowie politisch Verfolgten dem bürokratischen System im Zusammenhang mit Ökonomie und Militär geschuldet. Vgl. dazu

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Einleitung

Konzentrations- und Vernichtungslager und deren historische wie diskursivästhetische Darstellungen zur zeitgenössischen wie gegenwärtigen Gesellschaft stehen und mit welchen Reizreaktionen die Thematik umstellt ist. Der dritte Teil widmet sich einem ästhetischen Verfahren, das in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit erhielt und sich als interdisziplinäres Hybrid bezeichnen lässt: die alternative, kontrafaktische Geschichtserzählung, Parahistorie oder auch alternate history. Die oft auch als Genre aufgefasste Parahistorie hat sich überwiegend mit bedeutenden historischen Ereignissen befasst, der zweite Weltkrieg ist dabei eines der häufigsten Themen. Die Erzählbände Dezember und 30. April 1945 von Alexander Kluge, Jean-Luc Godards Histoire(s) du cinéma und Quentin Tarantinos Inglourious Basterds arbeiten sich an der Art und Weise ab, in der historische Ereignisse erzählt und präsentiert werden. Ihr Zugang zur Thematik ist dabei jeweils einem spezifischen Teilinteresse verbunden. Alle drei aber stellen dem Großnarrativ ›Geschichte‹ mikroskopische Einzelgeschichten zur Seite. Den postmodernen Paradigmenwechsel, den Lyotard durch das ›Ende der großen Erzählungen‹116 markiert, realisieren sie als pluralisierende Zersplitterung in gleichberechtigte Episoden, Denkbilder, rudimentäre Erzählkerne und Teil- bzw. Kleinstgeschichten. Geschichte wird hier stets im Plural erzählt, zielt auf ein Aufbrechen monolithischer Diskurshoheiten und verschafft dem Un- bzw. Unterrepräsentierten – nachträgliches – Gehör.

Peter Matussek: Affirming Psychosis. The Mass Appeal of Adolf Hitler. Frankfurt am Main u. a. 2007. 116 Bei Lyotard ist das folgendermaßen sorgfältig ausgeführt: »Die narrative Funktion verliert ihre Funktoren, den großen Heroen, die großen Gefahren, die großen Irrfahrten und das große Ziel. Sie zerstreut sich in Wolken, die aus sprachlich-narrativen, aber auch denotativen, präskriptiven, deskriptiven usw. Elementen bestehen, von denen jedes pragmatisch Valenzen sui generis mit sich führt. Jeder von uns lebt an Punkten, wo viele von ihnen einander kreuzen. Wir bilden kein sprachlich notwendigerweise stabile [sic!] Kombinationen, und die Eigenschaften derer, die wir formen, sind nicht notwendigerweise mitteilbar. So hängt die kommende Gesellschaft […] viel eher von einer Pragmatik der Sprachpartikel ab. Es gibt viele verschiedene Sprachspiele – das ist die Heterogenität der Elemente.« (JeanFrançois Lyotard: Das postmoderne Wissen. Graz, Wien 1986, S. 14f.).

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Teil I: Gegenwartsdiskurse Im ersten Teil dieser Arbeit stehen zwei formal sehr unterschiedliche Romane im Fokus, die beide unter dem Label Pop-Literatur geführt wurden und häufig noch immer werden: Christian Krachts sogenannter Gründungsroman der Neuen Deutschen Popliteratur Faserland (1995) und Thomas Meineckes Hellblau (2001). Im Hinblick auf die Thematik des Nationalsozialismus und des gesellschaftlichen, medialen und künstlerischen Umgangs mit ihr fordern beide Romane durch ihre literarischen Verfahren nicht etwa die Verlängerung einer Vorstellung des sprachlichen Kahlschlags, sondern vielmehr die Notwendigkeit einer neuen Poetik. Diese zeigt sich bei Christian Kracht in einer konsequenten sprachlichen Vorbehaltlichkeit. Der Spielraum sprachlicher Vagheit wird in seinem Schreiben auf semantischer, pragmatischer und rhetorischer Ebene ausgelotet. Absolute Setzungen, die von den verschiedenen Protagonisten all seiner Romane immer wieder versucht werden, werden in Faserland durch idiosynkratische Intensitäts- und Modalpartikeln grundlegend verunsichert und zurückgenommen. Unbehagen entsteht durch die permanente Verunsicherung jeden Sprechakts, der dadurch auf seine Aussagesituation verwiesen wird, wodurch sich das Konzept der Karnevalisierung von Michail Bachtin als geeignetes Analyseinstrument erweist. Während Krachts Protagonist immer wieder auf erzählerische, motivische und topische Versuche totalitärer Setzung zurückgreift und damit als Individuum konturiert bleibt, dessen Bedürfnisse gerade nicht diskursiv oder in der fiktionalen Konstellation aufgelöst werden können, radikalisiert Meineckes Roman die dekonstruierende Begriffsarbeit. Im Zentrum steht nicht die Vorbehaltlichkeit individueller Positionierungen, sondern die Fragwürdigkeit sprachlicher Zuschreibungen im Allgemeinen. Identitäten werden von den Figuren ebenso erprobt wie Begriffsverwendungen, ja diskursives Sprechen wird als kaum still zu stellendes Verweissystem etabliert, in dem sich die eigene Position als Moment verflüssigt, da sie beim Übergang in die Praxis stets Gefahr liefe, hegemonial zu werden. Sprechen wird durch die rhetorische Figur des Signifyin’ Monkey permanent als geliehenes ausgewiesen. Das kritische Potential des Romans besteht in einer ständigen Bewegung sprachlicher Übernahmen und Unterwanderung, was die Sprache der Herrschenden in ihrer Bedeutung verkehrt,

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Teil I: Gegenwartsdiskurse

anreichert und parodistisch herausfordert. In der Absage an jegliche Genieästhetik, die ein originäres Besitzverhältnis zum künstlerisch genutzten und hergestellten Material beansprucht, tritt auch hier die Uneigentlichkeit des Sprechens ins Zentrum: Authentizität kann allenfalls als Darstellungsstrategie eingesetzt werden. Die Thematik von Nationalsozialismus und Holocaust versetzen beide Romane in neue Kontexte, die als Entautomatisierung im Umgang mit und einer Aktualisierung der Thematik dienen. Eine konventionalisierte literarische Erinnerungskultur dient als Negativfolie, vor der neue motivische Verknüpfungen durch für das kulturelle Gedächtnis neue Gegenstände und Motive wie die mittlerweile berühmte Barbourjacke aus Faserland oder die Musikrichtung Techno in Hellblau erprobt werden. Ritualisierung wird zugunsten von aktualisierten und unvorhergesehenen, zu spontaner Aktivität herausfordernden Zugängen zur deutschen Vergangenheit als starr abgewiesen. Kracht und Meinecke setzen auf eine Thematisierung, der kein Ende eingeschrieben werden kann, sondern die sich stets neu den gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen anpassen muss. Sie verfolgen damit poetisch die von Lyotard vorgebrachte, philosophische Forderung nach einer ›unverknüpften Verknüpfung‹ des Holocaust.

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Karneval im Fatherland – Christian Krachts Faserland »Alles, was sich selbst zu ernst nimmt, ist reif für die Parodie.«117

Faserland118 als Roman zu verhandeln, der das Verhältnis deutscher Kultur zur nationalsozialistischen Vergangenheit durchleuchtet, mag seltsam anmuten, ist der Text doch weithin als erstes Beispiel für den Einzug der gegenwartsgesättigten Popkultur in die ernste deutsche Literatur der Nachkriegszeit rezipiert worden.119 Es lässt sich jedoch zeigen, dass die Roman- und Figurenanlage »mit diesem grauenhaften Nazi-Leben hier« (FSL 74) zu tun hat. Faserland, so meine These, ist als ein permanentes textuelles Ringen um eine angemessene Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit – auf der Ebene des Protagonisten wie auch auf der textuell-diskursiven Ebene des Erzählens – zu deuten. Dabei erweist sich Bachtins Konzept der Karnevalisierung, in der eine »tiefe Zweideutigkeit und Vieldeutigkeit jeder Erscheinung«120 zum Ausdruck kommt 117 Christian Kracht: Emigration. Zweite Poetikvorlesung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main am 19. Mai 2018. 118 Christian Kracht: Faserland. Köln 1995. Im Folgenden im Fließtext unter der Sigle ›FSL‹ nachgewiesen. 119 Auch wenn einige Beiträge aus der Forschung die Obsession des Erzählers für den Nationalsozialismus meist am Rande erwähnen, gibt es wenige Untersuchungen, die sich intensiv mit dem Thema beschäftigen. Siehe vor allem Christian Rink: Christian Kracht und die »Totale Erinnerung«. Zur Vermittlung des ›Erinnerungsdiskurses‹ als Aufgabe der interkulturellen Literaturwissenschaft. In: Christoph Parry, Edgar Platen (Hg.): Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung. München 2007, S. 242–254; Frank Finlay: »Dann wäre Deutschland wie das Wort Neckarrauen«. Surface, Superficiality and Globalisation in Christian Kracht’s Faserland. In: Stuart Taberner (Hg.): German Literature in the Age of Globalisation. Birmingham 2004, S. 189–208; sowie Klaus Bartels: Archäologie der Oberflächenreize. In: TITEL kulturmagazin (2004), S. 1–6. http://www.titel-forum.de/module s.php?op= modload&name=News&file=article&sid=2279, abgerufen am 20. 09. 2018 [Die Webseite ist nicht mehr erreichbar, Zitat nach Manuskript des Autors]. Häufig ist die Erwähnung, wie bei Julia Genz, mit einem einschränkenden ›aber‹ versehen: »Das Thema ›nationalsozialistische Vergangenheit‹ erhält zwar ein relativ großes Gewicht im Roman […]. Allerdings thematisiert er [d.i. der Protagonist, K.K.] das ihn belastende geschichtliche Erbe nur oberflächlich als pauschale Ablehnung gegenüber Deutschland.« (Julia Genz: Diskurse der Wertung. Banalität, Trivialität und Kitsch. München 2011, S. 226). 120 Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Übersetzt von Adelheid Schramm. Frankfurt am Main 1985, S. 37.

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Karneval im Fatherland – Christian Krachts Faserland

und durch die in jede »Äußerung ein[…] Bruch und die Bereitschaft, sofort zu einer anderen, entgegengesetzten Äußerung überzugehen«,121 verankert ist, als Zugang, mit dem sich der poetische Umgang mit der deutschen Vergangenheit in Faserland am besten erfassen lässt. Die für den Karneval grundlegende, relativierende Ambivalenz sprachlicher Aussagen trifft nicht nur totalitäre Ideologie und Ästhetik, sondern potentiell auch deren Kritik, die ebenso wie das Bedürfnis nach einer sinnstiftenden und beherrschbaren Erzählung im Roman unablässig auf deren repressives Potential hin durchleuchtet wird.122 Die integrierende Funktion des Karnevals zeigt sich im Roman auch in seinem Verhältnis zum kulturellen Gedächtnis. Er verfährt synthetisierend, indem er vormals entgegengesetzte ästhetische Kulturmodelle miteinander in Beziehung setzt und sie als zwei (oder mehrere) gleichzeitige Optionen im Paradigma nebeneinanderstellt: ernsthafte Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und spezifische Verortung in einer popkulturellen Gegenwart stellen keine Oppositionen mehr dar. Der Roman zeigt vielmehr, dass beide zur Fiktion einer deutschen Gegenwartserfahrung montiert werden, deren Vorbehaltlichkeit beide gegenseitig in ein sich erhellendes Verhältnis zu versetzen vermag.

1.1

Vom Unbehagen im Faserland

Faserland ist als eine kontrafaktisch durchsetzte De- und Re-Konstruktionsarbeit des Protagonisten zu lesen. Gegenstand dieser fiktionalen, sprachlichen Deund Re-Konstruktionsarbeit ist Deutschland, das sich dem Protagonisten als ein Land zeigt, dessen historische und gesellschaftliche Konturen nicht klar zu erfassen sind. Um den ihm begegnenden Ereignissen, Medien, Erinnerungen, Menschen und Städten einen Sinn abzuringen, versucht der Protagonist sich an verschiedenen erzählerischen Entwürfen, die sich als mimetische Fiktion gegenwärtiger, gesellschaftspolitischer, historischer und literarischer Diskurse erweisen. Zunächst aber ist der Romanbeginn als eine tabula rasa, eine (Neu-) Schöpfung konzipiert: »Also, es fängt damit an« (FSL 15). Dieser Neubeginn gibt vor, eine Absage an alle vorgängigen Deutungskoordinaten des kulturellen Gedächtnisses zu sein. Unterstützt wird dies durch die Weigerung des Ich-Erzäh121 Ebd., S. 37. 122 Dabei zeigt sich einmal mehr, dass auch die aktuellste Forschung immer wieder dem Duktus der Erzählstimme erliegt, wenn ihr die Nähe zur totalitären Struktur nachgesagt wird: »Denn natürlich ist der Ästhetizismus der Erzählstimme keineswegs das Gegenteil potentiell totalitärer Ideologien. Er ist vielmehr selbst anfällig für sie, wenn nicht die Struktur des Totalitarismus selbst.« (Hans Kruschwitz: Wollt ihr die totale Ironie? Warum Christian Krachts Texte nicht harmloser geworden sind. In: Merkur 72 (2018), H. 831, S. 69–75, hier S. 72).

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Vom Unbehagen im Faserland

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lers, während seiner gesamten Reise mit (Träger-)Medien des kulturellen Gedächtnisses in Austausch zu treten: Er verweigert sich der Lektüre, Kommunikation misslingt sowohl mit Menschen seiner eigenen als auch mit Menschen vorheriger Generationen. Er vermeidet zudem überwiegend feste Formen der Nahrungsaufnahme, so dass von einer Verweigerung kulturell-gesellschaftlichen Kontakts und Austauschs auf schriftlicher, mündlicher und (symbolisch zu deutender) körperlicher Ebene gesprochen werden kann.123 Die Konstruktionsarbeit des Erzählers zeigt sich dabei von Beginn an deformiert, weil der ermächtigende Sprecheinsatz misslingt. Die voraussetzungslose Schöpfung eines Textes ist – konstitutiv – zum Scheitern verurteilt, bedarf die Erzeugung von sprachlichem Sinn doch immer schon eines vorangehenden gemeinsamen (Sprach-)Verständnisses, sonst käme es zu keinem Verstehen.124 »Von Anfang an muß der lineare Hervorgang aus einem voraussetzungslosen Quellpunkt, so wie ihn jeder Text in Anspruch nimmt, zirkulär deformiert werden; was eigentlich ideales narratives Substrat der Urgeschichte sein könnte, wird deformiert durch Wiederholungen«.125 Der Entwurf einer fiktionalen Welt ist in Faserland nicht nur sprachtheoretisch zum Scheitern verurteilt. Der Versuch des Ich-Erzählers, seine Geschichte und zugleich sich selbst durch seine Erzählung hervorzubringen, scheitert schon an den ersten beiden Worten, die sich seiner Kontrolle entziehen: »Also, es fängt damit an, daß ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke.« (FSL 15) Die Partikel ›Also‹ fungiert als performativer Aufschub: Sie ist das graphische Pendant eines Räusperns, das von der vor-semantischen Anwesenheit einer Stimme zeugt und sie zugleich performativ setzt. Semantisch-inhaltlich bleibt der Beginn leer und 123 Die dazu konträr erscheinenden Mengen an Alkohol, die der Protagonist konsumiert, sowie die zu Beginn des Romans verzehrten Scampi verursachen lediglich, dass ihm »schlecht« (FSL 15) wird. 124 Auch die biblische Schöpfungsgeschichte des Johannesevangeliums erzeugt erst retrospektiv die Illusion einer voraussetzungslosen Ermächtigung, indem sie vorgibt, dass am Beginn das Wort steht: »Im Anfang war das Wort« (Die Bibel. Lutherübersetzung. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984. Stuttgart 1999, Johannes 1,1. Alle weiteren Bibelzitate entstammen dieser Ausgabe und werden mit den biblischen Büchern und Versen angegeben). Faserland ahmt diese Figur durch das Setzen eines Wortes (›Also‹) nach – als Material und Anfang vor allem Inhalt, ohne jedoch – wie Johannes – darauf selbstreflexiv zu verweisen. Faserland setzt beide Autoritäten, Schöpfer und Erzähler – im Gegensatz zur Schöpfungsgeschichte in der Genesis – in eins und folgt damit der Auslegung Johannes’, der im Wort alle Macht bündelt: »Im Anfang war das Wort […] und Gott war das Wort. […] Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nicht gemacht, was gemacht ist.« (Johannes 1, 1–3). 125 Eckhard Lobsien: Wörtlichkeit und Wiederholung. Phänomenologie poetischer Sprache. München 1995, S. 87. »Es ist unzweifelhaft, dass jede Bezeichnung den Sinn voraussetzt und dass immer schon im Sinn steht, wer eine Bezeichnung vornimmt.« (Gilles Deleuze: Logik des Sinns. Aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann. Frankfurt am Main 1993, S. 35, Herv. im Original).

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Karneval im Fatherland – Christian Krachts Faserland

erzeugt einen Verzug, der den Protagonisten dazu veranlasst, seine Erzählung wiederholend neu anzusetzen.126 Der Versuch einer Neuschöpfung wird durch mehrfach wiederholte ›Also‹-Anfänge ad absurdum geführt, so dass der Beginn der fiktionalen Welt nicht eindeutig festzumachen ist: Im vierten Satz des Romans setzt der Protagonist erneut an, seine Erzählung zu entwerfen – dieses Mal als direkte, zeitdeckende Handlung anstatt als Bericht davon, dass gehandelt wird127: »Also, ich stehe da bei Gosch und trinke ein Jever.« (FSL 15). Diese Versuche des Protagonisten, seine Erzählung durch rückversichernde ›Also‹Neueinsätze unter Kontrolle zu halten, finden sich über 20 weitere Male im Roman. Statt die Erzählung in Gang zu setzen, erzeugen sie Wiederholungen, Redundanzen und häufen Wortmaterial an. Die beiden ersten Also-Einsätze verhalten sich wie Thema und verkürzende Variation zueinander: Aus der ausführlichen Schilderung, »daß ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke« (FSL 15), wird die Abkürzung: »ich stehe da bei Gosch und trinke ein Jever« (FSL 15). Dass im ersten Absatz auf eine »Grenze« (FSL 15) hingewiesen wird, die allerdings gar nicht als solche erkennbar ist, reproduziert auf der inhaltlichen Ebene des Textes die Problematik des Beginns und der Abgrenzung von Text und Nicht-Text, Präsenz und Absenz, Existenz und Nicht-Existenz, Land (Deutschland) und Nicht-(Deutsch-) Land/Wasser: »[M]an denkt, da käme jetzt eine Grenze, aber in Wirklichkeit ist da bloß eine Fischbude« (FSL 15). Das konstitutive Paradox eines sprachlichen Anfangs wird durch Semantik und Grammatik von ›Also‹ und durch die tatsächliche Verdopplung sowie durch den thematisierten Inhalt vervielfältigt. Im variierenden Modus – vom Konstatieren, dass gehandelt wird, zum Handeln selbst – der beiden

126 Stefan Bronner deutet den Beginn von Faserland ähnlich: »Anstatt einen expliziten Punkt in der Zeit zu markieren, der einen Anfang setzt, leitet ein syntaktischer und semantischer Verzögerungsfaktor den Roman ein, der einen Anschluss außerhalb des Buches sucht: nämlich im unbestimmten Gefüge der Sprache.« Und weiter: »›Also‹ wird also – vergleichbar mit dem Flimmern eines TV-Bildschirms, bevor das Bild einsetzt – als Brücken-Wort aufgefasst, das von einem absoluten Schweigen – oder kollektiv-intersubjektiven Lärmen – zur signifikanten Ordnung überleitet.« (Stefan Bronner: Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen. Das abgründige Subjekt in Christian Krachts Romanen Faserland, 1979 und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Tübingen 2012, S. 362; 364f.). 127 Der semantische Gehalt des ersten Satzes ist grammatikalisch in Form eines indirekt wirkenden, eingeleiteten Nebensatzes (Objektsatz) dargestellt und vereitelt so gerade die dem mündlichen Erzählen zugesprochene Unmittelbarkeit. »Diese beachtenswerte Verdopplung lenkt zum einen das Augenmerk auf das Verhältnis von Geschehen und Erzählvorgang und evoziert so die Frage nach dem Erzählzeitpunkt. Zum anderen legt dieser doppelte Anfang nahe, dass ein Unterschied besteht, zwischen der Tatsache, dass man handelt – ›daß ich bei Fisch-Gosch stehe‹ – und dem Handeln als solchem – ›ich stehe da bei Gosch‹.« (Marco Borth: Christian Krachts Faserland an den Grenzen der Erlebnisgesellschaft. In: Christine Bähr, Suse Bauschmid, Thomas Lenz, Oliver Ruf (Hg.): Überfluss und Überschreitung. Die kulturelle Praxis des Verausgabens. Bielefeld 2009, S. 89–106, hier S. 92).

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Anfänge zeigt sich die für Krachts Ästhetik wesentliche Vorbehaltlichkeit.128 Die einzige stabile Verortung geschieht durch die Nennung der beiden Marken ›(Fisch-)Gosch‹ und ›Jever‹. Der Roman eröffnet damit einen spezifischen, paradigmatischen »Möglichkeitsraum«,129 aus dem heraus die deutsche, gegenwärtige Wirklichkeit perspektiviert wird. Es wird sich zeigen, dass hierin eine popkulturelle und -literarische Herausforderung des kollektiven Gedächtnisses liegt, weil sie dessen Parameter verschiebt. Auch der Romantitel weist auf eine Deformation, in diesem Fall jene des erzählten Gegenstands, hin: Er ist eine verunglückte englische Übersetzung des Wortes Vaterland und stellt darin eine Anspielung auf den 1992 erschienenen Parallelweltroman Fatherland von Robert Harris dar.130 Oliver Jahraus will durch diesen Intertext einen latenten Nationalsozialismus in Faserland erkennen: »Das Deutschland, das der Ich-Erzähler in Faserland durchreist, ist nicht nur latent nationalsozialistisch, sondern es ist auch transparent im Hinblick auf ein nationalsozialistisches Regime, das den Krieg eben doch gewonnen hat.«131 Durch die Anspielung auf Fatherland setzt sich Faserland in den Kontext parahistorischer Erzählungen: Kracht also erzeugt eine transparente intertextuelle Folie, indem er nicht nur mit seinem Titel auf eine sogenannte parallel world/universe novel anspielt. So gelingt es ihm, latente Strukturen zu intensivieren, und die Idee der Parallelität der Welt wird selbst zum ästhetischen Prinzip: erstens im Sinne einer ontologischen Unbestimmtheit, wenn man sich fragt, in welcher Welt denn dieser schnöselige Ich-Erzähler überhaupt lebt, und zweitens im Sinne einer Projektion als Prinzip ästhetischer Welterzeugung. Ästhetische Welten sind demnach konstitutiv immer Parallelwelten.132

Der Roman spielt mit dem Status von Referentialität, indem er sich des kontrafaktischen Genres bedient. Dies bedeutet zugleich, dass sich in einem parahistorischen Erzählen die Parameter für den Wahrheitswert von Aussagen nur aus dem Text selbst herauskristallisieren. Der Bezug zur Realität ist kein binäres Abbildverhältnis, sondern komplexerer Art.133 Dieser Erzählmodus erzeugt eine 128 Siehe dazu den Aufsatz von Moritz Baßler, Heinz Drügh: Eine Frage des Modus. Zu Christian Krachts gegenwärtiger Ästhetik. In: Text + Kritik (2017), Nr. 216: Christian Kracht, S. 8–19. 129 Moritz Baßler: Definitely Maybe. Das Pop-Paradigma in der Literatur. In: POP. Kultur und Kritik 6 (2015), S. 104–127, hier S. 119. 130 Robert Harris: Fatherland. New York 1993. 131 Oliver Jahraus: Ästhetischer Fundamentalismus. Christian Krachts radikale Erzählexperimente. In: Johannes Birgfeld, Claude D. Conter (Hg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Köln 2009, S. 13–23, hier S. 16. 132 Ebd., S. 17. 133 Die spezifische Anlage des instabilen Erzählers lässt sich als Instrument lesen, mittels dessen sich »Dinge über Deutschland sagen [lassen], die primär der Eigenlogik der Erzähltextur gehorchen und deshalb letztlich – obwohl vom Gegenwartsdeutschland die Rede ist – nicht über irgendwie einfache Wahr-falsch-Entscheidungen auf die Wirklichkeit zu beziehen sind.

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Karneval im Fatherland – Christian Krachts Faserland

Ambivalenz, die vermeidet, Aussagen eindeutig als entweder faktuale oder fiktionale zu deklarieren. Dass die erzählerische Annäherung an die eigene Geschichte und Heimat als identitätsstiftendes Vaterland unter einem die eigene Muttersprache zersetzenden Romantitel erfolgt, unterstreicht den hybriden Charakter des Romans. Er folgt »trotz historisch-realistischer Anlage dem neuen Paradigma des Nebeneinander«134 von gleichzeitiger Referenz zur Wirklichkeit wie zu fiktionalen, »virtuelle[n] Parallelwelten«.135 Darüber hinaus zeigt sich darin die Befremdung des Protagonisten gegenüber dem eigenen Land, dessen präsente Vergangenheit den Versuch, die Kontrolle über die eigene Erzählung zu behalten, immerzu stören wird.

1.2

Karnevalisiertes Vaterland

Beim Blick auf den mit dem Erzähleinsatz eröffneten Erzählraum des Romans zeigt sich eine erneute Irritation: Folgt man dem Textanfang weiter und erhofft sich mit dem zweiten Wort eine präzise Verortung und Beschreibung der erzählten Welt (etwa die Beantwortung der Fragen wer?, was?, wann?, wo?), stößt man, statt die Koordinaten der erzählten Welt präsentiert zu bekommen (der Ich-Erzähler, ein Jever, bei Fisch-Gosch auf Sylt), auf das unbestimmte Personalpronomen ›es‹: »Also, es fängt damit an« (FSL 15, Herv. K.K.). Nach dem ohnehin schon stolpernden Sprecheinsatz wird das Pronomen zum grammatikalischen und semantischen Anfang des Romans. Aber dieses ›es‹ ist mehrfach unterbestimmt:136 In seiner Funktion als Pronomen zeigt es an, dass der Beginn kein Beginn, sondern entweder ein Bezug auf etwas schon Vorgängiges (es hat schon begonnen) oder eine Ankündigung von Zukünftigem (etwas fängt erst noch an) ist: »Das es erschöpft sich nicht in seiner Verwirklichung, es dehnt sich darüber hinaus aus – über Vergangenheit und Zukunft –, so, wie die Sprache des Romans Und genau auf diese Rede wird ja poetologisch im […] Zitat vom Erzählen an der Baumgrenze reflektiert: Ihre Wahrheit ist nicht an irgendeiner Wirklichkeit zu verifizieren, und genau deshalb hat sie immer Recht. […] Kracht wählt diese Art von Rede, um über Deutschland als post-apokalyptisches Land anders sprechen zu können als SPD-Nazis und andere politisch korrekte Rechthaber, und vor allem: anders als die deutsche Schuld- und Schamliteratur« (Moritz Baßler: »Have a nice Apocalypse!« Parahistorisches Erzählen bei Christian Kracht. In: Reto Sorg, Stefan Bodo Würffel (Hg.): Utopie und Apokalypse in der Moderne. München, Paderborn 2010, S. 257–272, hier S. 263). 134 Ebd., S. 259. 135 Ebd., S. 259. 136 Bronner erläutert ausführlich die grammatikalischen Möglichkeiten, wie das ›es‹ einzuordnen ist. Er spricht vom Übergang des »linguistischen zum philosophischen Problem« (Ders., Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 366) des Es. Siehe dazu dort insbesondere die Seiten 365–374.

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über ihre Bedeutung hinaus wuchert.«137 Bezieht sich das Pronomen auf etwas Vorgängiges, bleibt dieses unbekannt und unterminiert damit die Setzung eines (Neu)Anfangs. Verweist es hingegen auf Zukünftiges, muss sich erst zeigen, worin dieses besteht, und die Deutungshoheit über das Pronomen – das zugleich satzstrukturelles Subjekt und Erzählgegenstand des Romans ist – wäre damit dem Protagonisten per se entzogen. Hier zeigt sich ein erster Widerstreit von Erzähler und Protagonist. Sprachwissenschaftlich argumentiert bleibt das ›es‹ im propositionalen Gehalt des Satzes leer, da sich in der unmittelbaren Umgebung kein Referent finden lässt. Es übernimmt aber als Pseudoaktant die Funktion eines formalen Subjekts, um die Grammatik intakt zu halten.138 Als grammatikalisches Neutrum vermeidet es auf inhaltlicher Ebene Sinnstiftung. Diese Verweigerung eines inhaltlich eindeutigen Sinns lässt sich in Anlehnung an Roland Barthes’ gleichnamiges Konzept als Absage an den Binarismus sprachlicher Bedeutungsfestsetzung lesen: Neutrum nenne ich dasjenige, was das Paradigma außer Kraft setzt. […] [D]as Paradigma [ist] die treibende Kraft des Sinns; wo es Sinn gibt, besteht ein Paradigma, und wo ein Paradigma (eine Opposition) besteht, gibt es Sinn elliptisch gesagt: Der Sinn beruht auf dem Konflikt […], und jeder Konflikt ist sinnerzeugend: Das eine auswählen und das andere zurückweisen heißt stets dem Sinn opfern, Sinn hervorbringen, verfügbar machen. 2. Daher der Gedanke einer strukturalen Schöpfung, die den unerbittlichen Binarismus des Paradigmas durch den Rückgriff auf einen dritten Term auflöst, aufhebt oder konterkariert das tertium: […] amorpher, neutraler Term […] oder Nullpunkt.139

Folgt man diesem Konzept, ist Faserland durch seine beiden ersten Worte grundlegend durch Sinnaufschub, Deutungszersetzung und sprachliche Oszillation geprägt. Der Protagonist arbeitet demnach mit seinen Versuchen, die Erzählung mehrfach neuzustarten, gegen die Verselbstständigung seiner Sprache an. Er ist über den Roman hinweg geradezu leitmotivisch damit beschäftigt, dem Einfall unkontrollierter Sprachkomponenten durch relativierende und übertreibende Erklärungen zu begegnen.140 Auch hier ist der Titel des Romans programmatisch lesbar: Die Rede des Protagonisten zerfasert in einzelne, zuweilen miteinander konkurrierende Fragmente erinnerungstheoretischer, literaturhis-

137 Ebd., S. 369f. 138 »Einem expletiven es [als formalem Subjekt] ist keine thematische Rolle zugeordnet. Es ist daher nicht referentiell, d. h. es bezieht sich nicht auf einen Gegenstand in der außersprachlichen Welt.« (Karin Pittner, Judith Bermann: Deutsche Syntax. Ein Arbeitsbuch. Tübingen 2010, S. 128). 139 Roland Barthes: Das Neutrum. Vorlesung am College de France 1977–1978. Hg. von Eric Marty, übersetzt von Horst Brühmann. Frankfurt am Main 2005, S. 32f. 140 »Karin sieht eigentlich ganz gut aus« (FSL 15); »Karin hat ziemlich blaue Augen« (FSL 16); »Na ja, das denke ich jedenfalls immer, wenn ich fliege, daß es bei mir so wird, meine ich.« (FSL 59); »es ist irgendwie körperlich unerträglich geworden« (FSL 27), alle Herv. K.K.

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Karneval im Fatherland – Christian Krachts Faserland

torischer, politischer Natur. Dieses Prinzip ausstellend,141 findet der Protagonist bei seinem Versuch, auf seiner Reise die Geschichte und Identität seines Landes zu re-konstruieren, stets nur Fasern142, Versatzstücke, Bilder oder einzelne Zeichen vor, die kein ganzes Gewebe, kein eindeutiges Bild seines Heimatlandes ergeben. Da er ein Land durchreist, dessen geschichtliche Kontinuität unterbrochen wurde, basiert auch die Idee seiner Erzählung »auf der Erfahrung von Diskontinuität«.143 Folgt man dem erinnerungstheoretischen Ansatz von Aleida Assmann, ist für die erneute Herstellung von Kontinuität bzw. eines identitätsstiftenden Lebenszusammenhangs die Ermächtigung des Wortes bedeutsam: »Um dennoch fortbestehen und weitergelten zu können, muß eine Geschichte erzählt werden, die das verlorene Milieu supplementär ersetzt. Erinnerungsorte sind zersprengte Fragmente eines verlorenen oder zerstörten Lebenszusammenhanges.«144 In diesem Deutungszusammenhang lässt sich die Geste des Erzählens zunächst als Reproduktion dieser Haltung lesen, diesen durch den Krieg verursachten Brüchen in der deutschen Geschichte eine neue Form der Erzählung zu geben.145 Gleichzeitig ist das Sprachmaterial der Erzählung jedoch resistent gegenüber einem solchen Unterfangen. Anstatt eine konsistente, Identität erzeugende Geschichte produzieren zu können, gerät dem Protagonisten das ›es‹ vor jedem inhaltlichen Gehalt des Romans zum Einfallort pluraler Erzählstimmen, so dass sich der Text als »hybride Konstruktion«146 im Sinne Michail Bachtins erweist: Wir nennen diejenige Äußerung eine hybride Konstruktion, die ihren grammatischen […] Merkmalen nach zu einem einzigen Sprecher gehört, in der sich in Wirklichkeit 141 Vgl. dazu den Aufsatz von Heinz Drügh zu 1979, in dem er für Krachts zweiten Roman eben jenes Verfahren des Verfilzens als dessen Poetik herausarbeitet. Heinz Drügh: »…und ich war glücklich darüber, endlich seriously abzunehmen«. Christian Krachts Roman 1979 als Ende der Popliteratur. In: Wirkendes Wort 57 (2007), H. 1, S. 31–51. 142 Anke Biendarra erkennt im Titel Faserland über »das umgangssprachliche, die unbewußte oder unreflektierte Rede bezeichnende Verb ›faseln‹« hinaus die »weiterliegende Bedeutung des (Auf-)Suchens und Aufspürens« durch den »etymologische[n] Ursprung im althochdeutschen Verb ›fáson‹.« (Anke Biendarra: Der Erzähler als ›popmoderner Flaneur‹ in Christian Krachts Roman Faserland. In: German Life and Letters 55 (2002), Nr. 2, S. 164–179, hier S. 167). 143 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 309. 144 Ebd. S. 309, Herv. K.K. 145 Unter dieser Perspektive wird das einsetzende Sprechen des Protagonisten am Beginn des Romans zum Bruch des Schweigens. Der oft beschworene Vorwurf, die Elterngeneration habe sich über die NS-Vergangenheit ausgeschwiegen, ist vor allem von der 1968-Bewegung aufgegriffen worden. So ist auch für das Jahr 1968 von einer weiteren Zäsur gesprochen worden. Diese radikale Vorstellung eines Neubeginns wird mit dem einsetzenden Reden in Faserland wiederholt und zugleich in ihrer Brüchigkeit ausgestellt. 146 Michail M. Bachtin: Das Wort im Roman. In: Ders: Die Ästhetik des Wortes. Hg. von Rainer Grübel. Frankfurt am Main 1979, S. 154–300, hier S. 195.

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aber zwei Äußerungen, zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei Sprachen, zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen.147

Die vom Protagonisten durchreiste »große Welt« (FSL 69) zeigt sich ihm in Faust’scher Parodie »im Innersten von Mannesmann und Brown Boveri und Siemens zusammengehalten« (FSL 69), das heißt von Zeichen und Phänomenen, die auf den Nationalsozialismus verweisen, durchdrungen. Die in der Aufzählung erwähnten Firmen erweisen sich – bleibt man in der Faust’schen Rede – als ›des Pudels Kern‹, denn alle haben zwischen 1940 und 1945 Zwangsarbeiter aus Konzentrationslagern rekrutiert oder eigene Lager errichtet. Auch in Hamburg leuchtet ihm die Vergangenheit in Form der Blohm&Voss Werft, »da wo sie früher die U-Boote gebaut haben« (FSL 32f.), vom anderen Ufer entgegen. In Heidelberg kommt er zu dem Schluss, dass »ab einem bestimmten Alter […] alle Deutschen aus[sehen] wie komplette Nazis« (FSL 98), und bemerkt, »daß die Menschen […] so eine bestimmte Kampfhaltung entwickelt haben und daß es für sie nicht mehr anders möglich ist, als aus dieser Haltung heraus zu handeln und zu denken«. Diese Haltung habe »mit Deutschland zu tun […] und auch mit diesem grauenhaften Nazi-Leben hier« (FSL 74). Die Welt wird dem Protagonisten zur verkehrten, in der es keine Normalität mehr gibt – bzw. wird die Normalität durch Anormalität verstört. Klaus Bartels beschreibt sinnfällig, dass in Faserland das bei Bret Easton Ellis präfigurierte »Normalismus-Problem […] aus dem psychiatrischen in einen politischen Kontext«148 versetzt werde: Der Protagonist operiert zwischen der Normalität eines alltäglichen, gegenwärtigen Marken- und Partydiskurses und der anormalen ›Normalität‹ der deutschen Geschichte. […] Es ist eine Reise durch die ›Normalität‹ zur ›Anormalität‹. […] Die dem anonymen Ich auf seiner Reise von den nördlichen zu den südlichen Provinzen der Bundesrepublik begegnenden SPD-Nazis, Rentner-Nazis und Ex-KZ-Aufseher offenbaren, dass Hitler zwar nicht den Krieg gewonnen hat, aber viele deutsche Herzen. Auch technologisch ist der Sieg errungen, ›von der großen Maschine, die sich selbst baut‹ und Deutschland heißt. Unter der Oberfläche der Markennamen, von Mode und Lifestyle allerdings verschwindet die deutsche Geschichtsanomalie. Als Konsumzonen nämlich gehören die deutschen Provinzen ohne Friktionen in die große internationale Völkerfamilie. Es misslingt dem Erzähler, zwischen dem exzessiv benutzten ›normalen‹ Diskurs von Mode und Lifestyle und der ständig diskursivierten ›anormalen‹ deutschen Geschichte zu vermitteln und Normalität für sich herzustellen. Er bleibt ›ausgeschlossen‹, oder besser […] ›zwischen‹ den Normalitäts-Diskursen.149 147 Ebd., S. 195. 148 Bartels, Archäologie der Oberflächenreize, S. 3. 149 Ebd., S. 3. Diese Umstülpung von Normalität und Anormalität führt zu einer »[k]ulturelle[n] Entortung« (ebd.), die den Protagonisten gerade nicht im identitätsstiftenden Gegenwartsalltag aufgehen lässt.

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Bevor der Erzähler also seinen Standpunkt an der Grenze Deutschlands verankern kann, wird seine fiktionale Welt durch eine grundlegende, die Koordinaten umkehrende Karnevalisierung kontaminiert. Denn der »Karneval ist die umgestülpte Welt.«150 Mit Michail Bachtin lässt sich daher behaupten, dass das mit dem ›es‹ Beginnende als textueller Karneval zu lesen ist. Der karnevalisierte Ausnahmezustand, so meine These, bildet die strukturelle Grundierung des gesamten Romans. Dieser hybriden, karnevalisierten Konstruktion liegen bestimmte Verfahren des Umsturzes zugrunde. Diese stellen ein hervorragendes Werkzeug dar, die permanenten Anspielungen auf die nationalsozialistische Vergangenheit in Faserland jenseits des nachkriegsliterarischen Diskurses zu beschreiben und zu analysieren und sie damit nicht zugleich wieder in einen bereits bestehenden Diskurs zu überführen: Den Karneval versteht Michail Bachtin als Angriff auf die kulturell implementierten, hierarchisch aufgebauten Deutungsdichotomien einer Gesellschaft. Der Karneval setzt einer offiziellen, homogenen Hochkultur heterogene Offenheit durch dezentralisierende Verfahren der Familiarisierung, der Profanation, der Mesalliance und der Exzentrizität entgegen.151 Als modernistisches Phänomen – als das Peter V. Zima Bachtins Karneval ausmacht – mündet »Karnevalisierung und Verfremdung nicht wie in der Postmoderne in Indifferenz […], sondern in eine Ideologiekritik, die von der Suche nach dem wahren Wert und der authentischen Wertskala begleitet wird.«152 Die daraus folgende Frage nach dem Charakter, den die karnevalistische Poetik bei Kracht einnimmt, und damit zentral an die nicht ermüdenden Debatten über den spielerischen oder doch ernsten Gestus von Krachts Ästhetik, die so oft mit dem Begriff der Ironie beschrieben wird, anknüpft, wird nach der Analyse des ›Karnevalsken‹ in Faserland, beantwortet. Beginnend bei der distanzlosen, ›familiarisierenden‹ Erzählweise,153 die nach Bachtin kennzeichnend für den Karneval ist, über die Permanenz der zu den karnevalisierten Festen154 äquivalenten Partys, die der Protagonist als »rechtsfreie Räume« (FSL 40) bezeichnet, bis hin zur Figurenkonstitution des Prot150 Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Übersetzt von Alexander Kämpfe. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1985, S. 48. 151 Vgl. ebd., S. 48f. 152 Peter V. Zima: Moderne/Postmoderne. Tübingen, Basel 2001, S. 313. 153 »Die Familiarisierung förderte die Zerstörung der epischen und tragischen Distanz und die Versetzung des Dargestellten in die Zone des intim-familiären.« (Bachtin, Literatur und Karneval, S. 50). 154 »Das Fest aber, das nicht auf Arbeit und Produktion gerichtet ist und nur sich selbst produziert, setzt auch das Utopische frei« (Renate Lachmann: Literatur und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1990, S. 235, Herv. K.K.). So wird Deutschland eben zu jener »großen Maschine, die sich selbst baut« (FSL 161), die »von niemandem beachtet« (FSL 157) wird und so das Potential des Utopischen enthält.

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agonisten, für den jeder Tag ein Ausnahmezustand darstellt, da er keiner geregelten Tätigkeit nachgeht, finden sich in Faserland auffallend viele Motive des Karnevalesken wieder. Zudem zeigt der Protagonist sich auf phänotypischer Ebene mit seinem »Nacken, der immer sauber ausrasiert ist« (FSL 35) als parodistischer Widergänger eines Nationalsozialisten. Das kontrafaktische Deutschland Faserlands wird zu einem karnevalesken Widergänger Deutschlands, in dem der Protagonist beständig über Zeichen der nationalsozialistischen Vergangenheit stolpert. Er trifft jedoch keine Ruinen zerstörter Städte mehr an, die seiner Erzählung als »Stütze und Unterpfand des Gedächtnisses«155 dienen könnten, da sie längst verschwunden sind und neuen Stadtbildern Platz gemacht haben. Vielmehr durchkreuzen (sprachliche) Gedanken-Ruinen über die deutsche Geschichte zwanghaft seine Rede, so dass der – erste – Eindruck entsteht, er reproduziere lediglich angelesenes Halbwissen, das er zudem verzerrend und unvollständig,156 in jedem Fall aber deplatziert, abruft:157 »[I]ch denke daran, daß Göring, der hier auf Sylt Ferien machte, einmal seinen Blutund-Ehre Dolch hier verloren hat« (FSL 19); »dann muß ich plötzlich an die Bombennächte im Zweiten Weltkrieg denken« (FSL 51); »[a]b einem bestimmten Alter sehen alle Deutschen aus wie komplette Nazis. […] Daran muß ich denken« (FSL 98–100, Herv. K.K.).

Familiarisierung und Mesalliancen finden sich in Faserland auf sprachlicher Ebene durch unmotiviert scheinende und abseitige Assoziationen, Urteile oder Übergeneralisierungen wie im vorangegangenen Zitat. Auf der Plotebene werden sie anhand von Überschreitungen heteronormativer Sexualität158 und gesell155 Assmann, Erinnerungsräume, S. 315. 156 Der Begriff des unzuverlässigen Erzählers, wie er in der Forschung für die Erzähler Krachts vermehrt Anwendung findet, muss mit Vorsicht verwendet werden. Denn das explizite Ausstellen der Unzuverlässigkeit muss unter der Prämisse eines unzuverlässigen Erzählers wiederum als unzuverlässig eingestuft werden. Die Vorführung der Unzuverlässigkeit stellt das textuelle Verweisspiel auf unendlich, so dass selbst das Urteil der Unzuverlässigkeit von dieser Uneindeutigkeit befallen ist. Die Spaltung von Protagonist und Erzähler leistet durch den Einfall ironischen Sprechens, im Sinne der romantischen Ironie, wie es unten ausgeführt wird, ihr Übriges. 157 Diesen Standpunkt vertritt Thorsten Liesegang: »Auf der Reise des Protagonisten durch Deutschland und die Schweiz werden alle Orte zu auswechselbaren Nichtorten. Die Aufhebung topographischer Bezüge korrespondiert mit der Entleerung historischer Symbole und der Entsorgung eines der historischen Erkenntnis verpflichteten Bewusstseins. Geschichte kommt allenfalls als Anekdotenfundus ins Gespräch, als eine Aufreihung entleerter Klischees, bestenfalls mit Obskuritätswert.« (Thorsten Liesegang: Die Wiederkehr der Popliteratur als Farce. In: Krisis 25 (2002), S. 155–162, hier S. 157. http://www.krisis.org /2002/die-wiederkehr-der-popliteratur-als-farce/, abgerufen am 15. 04. 2022). 158 Die Anspielungen auf die Homosexualität des Protagonisten, die in der Forschung mehrfach thematisiert (vgl. dazu den Aufsatz von David Clarke: Dandyism and homosexuality in the

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Karneval im Fatherland – Christian Krachts Faserland

schaftlicher Schichten159 vorgeführt. Dabei bleiben die als negativ ausgestellten und zu stürzenden Verhältnisse im Text stets präsent, da sich Ambivalenz, die Bachtin als eine der zentralen Operationen des Karnevals versteht, durch Integration auszeichnet: »Die Ambivalenz ist integrativ, sie reflektiert auch die sie eigentlich ausgrenzende Ordnung der Monovalenz, die die Welt in einem permanenten Prozeß des Ausschließens und der Reduktion ›abarbeitet‹.«160 In diesem Sinn bleiben die Verfahren der modernistischen Sehnsucht nach Sinn verpflichtet, wenn sie letztlich auf Integration statt auf Zersplitterung aus sind. Subversive Verfahren der Infektion von Bedeutung lassen sich auf narrativer, inhaltlich-motivischer, diskursiver, textstrukturaler und literarisch-topischer Ebene aufzeigen, ohne dass sie selbst wiederum normativ würden.

1.3

Vom Unsinn zur »deutschen Semiose« und zurück – Stimmenkonkurrenz im Faserland

Vor dieser Folie einer verkehrten Welt müssen die in Faserland konkurrierenden Stimmen voneinander unterschieden werden: 1. Die Sprache des Protagonisten erweist sich – wie die ersten beiden Worte manifestieren – als unablässig bedeutungsaufschiebend und folgt so dem karnevalisierten Motiv des Umsturzes. 2. Dieser karnevalisierten Form der Sprachverwendung steht eine Sprachkonnovels of Christian Kracht. In: Seminar 41 (2005), S. 36–54) und gar als »verpaßtes Comingout« (Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2005, S. 113) gedeutet werden, können in der karnevalisierten Lesart als Mesalliance gelesen werden, die den heterosexuellen Diskurs als Norm entlarven. Dahingehend lassen sich Aussagen des Protagonisten auf der Hamburger Party deuten: »Warum tun alle bloß so schwul, das verstehe ich nicht« (FSL 46). Sowohl sein Freund Nigel als auch der unbekannte Eugen kommen dem Protagonisten körperlich ungebührlich nahe: »Nigel nimmt meine Hand. Das kommt mir irgendwie komisch vor, so als ob er dazu kein Recht hätte, außerdem ist seine Handfläche völlig naß« (FSL 45). Eugen »legt den Arm um meine Schultern« (FSL 101), »klopft [. . . ] mir auf die Schulter« (FSL 102) und »plötzlich faßt er mir an den Nacken« (FSL 107). Diese Annäherungen steigern sich bis zur eindeutig sexuellen Handlung: »[D]ann greift Eugen vorne an meinen Hosenbund und legt seine andere Hand auf meinen Hintern. […] und ich fühle, wie er an meinem Hintern herumnestelt und tatsächlich, ich lüge nicht, wie er versucht, mir durch die Hose hindurch seinen Finger in den Hintern zu stecken.« (FSL 109). 159 Der Protagonist erzählt von einem Taxifahrer, der ihm und seinem Freund Nigel von dessen »kratzigen Overstolz« (FSL 41) Zigaretten anbietet, um seine karnevalisierte Exzentrizität des Furzens vergessen zu machen: »Und jetzt gibt es so eine Art Unterschichts-Verbrüderung, obwohl der Taxifahrer genau weiß, daß wir niemals im Leben Overstolz rauchen würden.« (FSL 41). 160 Renate Lachmann: Vorwort. In: Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Übersetzt von Gabriele Leupold. Hg. von Renate Lachmann. Frankfurt am Main 1995, S. 7–46, hier S. 19f.

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Vom Unsinn zur »deutschen Semiose« und zurück

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zeption entgegen, die auf eindeutige Sinnstiftung abzielt und sich durch narrative Schließung auszeichnet. Sie findet sich in Faserland sowohl als Reproduktion nationalsozialistischen Sprechens als auch in der Form der nachahmenden Phraseologie deutscher Erinnerungskultur wieder. 3. Über verschiedene Motive oder situative Konstellationen brechen literarische und erinnerungstheoretische Diskurse in den Text ein, die unter parodistischen Vorzeichen nachahmend reproduziert werden. Dabei prallen bedeutungsstabilisierende und bedeutungsdestabilisierende Komponenten aufeinander. 4. Zudem geschieht eine Auseinandersetzung mit den hereinbrechenden Spuren der nationalsozialistischen Vergangenheit anhand der Alltagskultur, die dem Protagonisten (kognitiv, medial und sprachlich) zur Verfügung steht. Das bedeutet, dass jenes Inventar, aufgrund dessen der Roman als Pop-Literatur bezeichnet wird, in Konkurrenz zu etablierten Strukturen des kulturellen Gedächtnisses tritt. Diese verschiedenen Sprachkomponenten geraten beim Versuch des Protagonisten, sich der deutschen Vergangenheit sprachlich zu entledigen, permanent miteinander in Konflikt. Die gegenseitige Infizierung der Sprachkonzepte wird im Folgenden anhand der Beschreibung der durchreisten Welt, der Körperreaktionen des Protagonisten und seiner Versuche, aus seinem Faserland in heterotopische Narrative außerhalb deutscher (Sprach-)Gefilde zu flüchten, dargestellt. Zuvor sollen die beiden gegensätzlichen Pole dieser Stimmenvielfalt skizziert werden: die als karnevalesk zu bezeichnende stilistische Eigenart des Protagonisten sowie die von Stefan Bronner als »deutsche Semiose«161 bezeichnete Produktion hermetischer Bedeutung.

1.3.1 Karnevalisierte Gleichwertigkeit – Vom Unsinn Der Protagonist ist zugleich Beobachter und Kommentator verschiedener Formen des Sprachgebrauchs, beispielsweise wenn er über die Worte ›Neckarauen‹, ›Kurmuschel‹ oder ›Hafraba‹ nachdenkt. Er ist Re-Produzent unterschiedlicher Diskurse, die ihm unterlaufen und die er nicht kontrollieren kann, sowie Reflektorfigur, deren eigener Sprachgebrauch Bedeutung zersetzt. Das Textmaterial erscheint daher einerseits der selektiven Kontrolle des Protagonisten unterworfen. Der einzige Zugriff auf das Vaterland erfolgt über seine Steuerung bzw. über seinen Blick und seine beschränkte Erlebnisfähigkeit. Andererseits führt der Erzähler durch die Inhalte, die der Protagonist aufruft, und durch die spezifische Erzählweise Diskurse ein, die den Wissenshorizont der Hauptfigur übersteigen, so dass die Zeichen sich der erzählerischen Kontrolle des Protagonisten entziehen und auf der Ebene des discours ein semiotisches Textspiel eingehen. Die 161 Bronner, Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 97.

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Karneval im Fatherland – Christian Krachts Faserland

Eigenheit der Sprache, die der Protagonist verwendet, vor allem wenn es darum geht, Urteile zu fällen und seine Meinung zu äußern – sprich eine Konturierung dessen vorzunehmen, was als das Weltbild des Protagonisten bezeichnet werden könnte – führt zu einer permanenten Verunsicherung in der Einschätzung der Figur durch die Lesenden. Dies liegt daran, dass die Sprache des Protagonisten, wie oben erwähnt, gleichzeitig von bekräftigenden und einschränkenden oder zurücknehmenden Zusätzen durchsetzt ist.162 Häufig finden sich die entgegengesetzten Komponenten innerhalb eines Satzes, so dass dessen Semantik zum Unsinn tendiert. Dadurch wird eine klare Konturierung der Hauptfigur beinahe unmöglich: die Leser:innen bekommen nur eine unscharfe Vorstellung davon, was dem Protagonisten gefällt, wie er die Welt betrachtet und welche Dinge ihm wichtig sind: »Der Sprecher nimmt keine bestimmbare Position ein, die von einem kohärenten Ich zeugt, das Herr seines eigenen Diskurses ist.«163 Einige Beispiele sollen diese Funktionsweise der Sprache in Faserland verdeutlichen: Mit einem Satz wie »Sylt ist eigentlich super schön« (FSL 17) entzieht sich der Protagonist einem festzuschreibenden Urteil, weil ›eigentlich‹ auf der Wortebene semantisch mehrdeutig ist. Es kann sowohl eine einschränkende oder schwächende als auch verstärkende oder assertive Funktion haben. In diesem Satzkontext wird die Bedeutung von ›eigentlich‹ als abschwächender Modalpartikel deutlich. Bei solch einer Wortverwendung »kann von dem Satz mit dem entsprechenden Element weder auf die Wahrheit noch auf die Falschheit des einfachen Satzes geschlossen werden. […] Durch ihre [d.i. Modalpartikel, K.K.] Verwendung kann ein Sprecher die Übernahme der Verantwortung für den Wahrheitsgehalt des Restsatzes vermeiden.«164 Mit der Verwendung assertiver Modalpartikel – wie etwa ›tatsächlich‹ – hingegen kann ein »Sprecher […] mit ihrer Hilfe den Wahrheitsanspruch eines Satzes hervorheben«.165 Assertive Modalpartikel vermitteln aber keine wahrheitsbezogene Information, die über die der entsprechenden Sätze ohne sie hinausgeht, sind also [sic!] eigentlich redundant. Damit stellt ihre Verwendung einen Verstoß gegen die Grice’schen Maximen der Relevanz (Max. III: Sag nur Relevantes!) und der Modalität (Untermaxime IV, 3: Vermeide Weitschweifigkeit!) dar. Dadurch wird eine Implikatur ausgelöst, die darin besteht, dass der Wahrheitsanspruch unterstrichen wird.166

162 Interjektionen und Zusätzen mit zurücknehmender und einschränkender Funktion wie ›naja‹, ›eigentlich‹, ›nämlich‹, ›ja‹, ›vielleicht‹, ›meine ich‹ oder ›jedenfalls‹ stehen übertreibende und bestätigende Worte wie ›extrem‹, ›ziemlich‹, ›tatsächlich‹ oder ›wirklich‹ entgegen. 163 Bronner, Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 358. 164 Ludger Hoffmann (Hg.): Handbuch der deutschen Wortarten. Berlin u. a. 2007, S. 551f. 165 Ebd., S. 549. 166 Ebd., S. 549.

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Wenn beide Bedeutungen gleichzeitig präsent sind, so entsteht allein durch das Wort ›eigentlich‹ ein nicht stillzustellendes Oszillieren. Mit der assertiven Bedeutungskomponente soll die Wahrheit unterstützt werden, die durch dasselbe Wort unterminiert werden kann. Werden Worte als assertive Modalpartikel eingesetzt, brechen sie zudem die linguistischen Regeln durch die Tendenz zur Wucherung und Verschwendung. Beide Operationen zielen gerade über die bloße Bedeutung und die kommunikativen Funktionen von Sprache hinaus auf die Materialität der Zeichen.167 Im ersten Beispiel kommt zudem die Konfrontation von ›eigentlich‹ mit dem bestätigend-steigernden Syntagma ›super schön‹ hinzu. Ist Sylt nun super schön oder nicht? Sylt ist, so ließe sich der Satz paraphrasieren, ›grundsätzlich‹ schön – wäre da nicht… Worin dieses Etwas, das die Einschränkung hervorruft, besteht, bleibt ungesagt, scheint aber untilgbar.168 Liest man den Aufprall der beiden Bedeutungen – ›eigentlich‹ in diesem Fall als in sich oszillierend, das folgende Syntagma jedoch widerrufend und ›super schön‹ ein in seiner Intensität gesteigertes positives Urteil – als Äquivalent zu dem, was Deleuze als ›unmögliches‹ oder ›widersprüchliches Objekt‹ bezeichnet,169 verweist das Paradox schon zu Beginn des Romans auf die mögliche Lösung einer angemessenen Erzählung über die deutsche Vergangenheit: Die Sätze, die widersprüchliche Objekte bezeichnen, haben ihrerseits einen Sinn. Ihre Bezeichnung jedoch bleibt in jedem Fall unverwirklichbar; und sie verfügen über keine Bedeutung, die die Möglichkeitsart einer solchen Verwirklichung bestimmen würde. Sie bleiben ohne Bedeutung, das heißt absurd. Sie verfügen gleichwohl über einen Sinn […]. Das heißt, daß die unmöglichen Objekte […] ›heimatlose‹ Objekte sind, sich im Äußeren des Seins befinden, jedoch im Äußeren eine genaue und klare Stellung innehaben; sie gehören zum ›Außersein‹, sind reine, ideale und nicht in einen Dingzustand umsetzbare Ereignisse.170 167 Bronners Lesart, der ich mich in Teilen anschließe, referiert vor allem auf Gilles Deleuzes Logik des Sinns, wo Deleuze den Sinn als »Double des Satzes«, den »kein Satzmodus […] affizieren« (Deleuze, Logik des Sinns, S. 53) kann, bezeichnet. »Als Ausgedrücktes des Satzes existiert der Sinn nicht, sondern insistiert oder subsistiert im Satz« (ebd., S. 52). Bronner zufolge verweist der Satz »auf das neutrale Sinn-Ereignis« (Bronner, Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 356). 168 Der direkt nachfolgende Verweis auf ein Dahinter der Insel suggeriert eine Dichotomie von Oberfläche und Tiefe, die hier nicht das einzige Mal bemüht wird und die der semantischen Struktur von ›eigentlich‹ sehr gut entspricht: »Ich habe so ein Gefühl, als ob ich die Insel genau kenne. Ich meine, ich kenne das, was unter der Insel liegt oder dahinter, ich weiß jetzt nicht, ob ich mich da richtig ausgedrückt habe. Ich kann mich natürlich auch täuschen.« (FSL 17) Diese mögliche Erklärung, was an Sylt nun super schön ist (das Dahinter) ist aber durch den Nachsatz ›Ich kann mich natürlich auch täuschen‹ von der gleichen abrutschenden Semiose betroffen wie der Satz zuvor. 169 Die Existenz des ›unmöglichen Objekts‹ verbleibt hier auf der Ebene der Fiktion, da eine außerfiktionale Referenz unmöglich festzumachen ist. 170 Deleuze, Logik des Sinns, S. 56.

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Die von Deleuze als widersprüchliche Objekte bezeichneten Gegenstände, auf die der Satzinhalt referiert, können für die Struktur Faserlands als kontrafaktische bezeichnet werden: Satzinhalte referieren auf die reale Welt, tun dies jedoch in einer Weise, die die historischen Objekte abändert, dass die derart erzeugten Wirklichkeiten als Referenzen auf ideale oder mögliche Weltentwürfe verstanden werden können. Diese Struktur wird in der Analyse der alternativen Erzählung(en) erneut zur Sprache kommen. Ein weiteres Beispiel, der Satz »Hamburg ist eigentlich ganz in Ordnung als Stadt« (FSL 32) verdoppelt die Ambivalenz des ›eigentlich‹ durch jene des ›ganz‹. Allein stehend trüge ›ganz‹ die Bedeutung von ›umfassend, total, vollständig‹, verdoppelte so den bestärkenden Effekt. ›Ganz‹ tendiert im Syntagma ›ganz in Ordnung‹ jedoch zur Abschwächung.171 Eine erste Setzung wird zurückgenommen, wobei der Zurücknahme wiederum ein Zweifel anhängt, was den Versuch einer Sinndecodierung erneut befeuert und das Wechselspiel auf Dauer stellt. Auch die Sätze »Das hat mich nicht traurig gemacht, damals, aber irgendwie hat es das doch« (FSL 72) und »Ich habe das ja verstanden, was der Alexander damit meinte, aber eben auch wieder nicht« (FSL 74) verdeutlichen die Problematik des Protagonisten, zu eindeutigen Aussagen zu kommen. Im ersten Fall könnte der einschränkende Halbsatz den Hauptsatz negieren. Durch die Verwendung des einschränkenden ›irgendwie‹172 verliert er jedoch seine assertive Kraft und hält den Hauptsatz in einer oszillierenden Bedeutung. Im zweiten Beispiel wird Verstehen und Nicht-Verstehen in denselben Moment verlegt, so dass der Prozess des Verstehens in sich zerrüttet wird. Umfassendes, abschließendes Verstehen wird als Konstrukt ausgewiesen. Verstehen bleibt stets selektiv, einseitig und verschoben: Die paradoxe Struktur, die eine klare Identifizierung des Wortes mit einer Sache unterminiert, wird hier durch die antagonistische, dezentrierende Kombination verschärft. Durch die auseinanderstrebende Semantik der Adverbien wird die Bedeutungsebene bis zur Unkenntlichkeit verstellt. Mit anderen Worten: Sie wird beinahe gänzlich destruiert.173

Wenn der Protagonist diese Gleichzeitigkeit von Verstehen und Nicht-Verstehen in einen direkten Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit bringt, konstatiert seine Aussage eine diffuse Allpräsenz der deutschen Vergangenheit: »Ich habe das ja verstanden, was der Alexander damit meinte, aber 171 Das Syntagma ist in seinen Komponenten wiederum doppelt positiv, verstärken sich doch die Bedeutungen von ›ganz‹ – vollkommen, umfassend – und von ›Ordnung‹ – geregelter Zustand, sauber – und widersprechen so der Bedeutung des Syntagmas im Zusammenhang: ›in Ordnung‹ als Urteil über eine Stadt ist eher neutral mit leicht positiver Tendenz; wird das Adverb ›ganz‹ hinzugefügt, wirkt es abschwächend. 172 Im Sinne der Bedeutung ›(nur) in einer Hinsicht‹. 173 Bronner, Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 356.

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eben auch wieder nicht. Es gibt Momente, in denen ich alles genau verstehe […] und dann plötzlich entgleitet mir wieder alles. Ich weiß, daß es mit Deutschland zu tun hat und auch mit diesem grauenhaften Nazi-Leben hier« (FSL 74). Um dieser unbehaglichen Vergangenheit ihre Bedrohlichkeit zu nehmen, muss sie jeweils neu einem nicht-abschließbaren Deutungsversuch unterzogen werden. Diesem offenen Zugang durch sprachliche Uneindeutigkeit steht eine entgegengesetzte Sprachkonzeption gegenüber, die eindeutige und sichere Bezüge zwischen Dingen und Worten durch narrative Schließung herstellen will. In Faserland ist diese Sprachverwendung Indikator für eine konventionalisierte, reflexhafte und autoritär strukturierte Haltung zur deutschen Vergangenheit.

1.3.2 Karnevalisierte Reproduktion »deutscher Semiose« Der karnevalisierten Sprachverwendung des Protagonisten, die sich selbst an den Rand jeder festzuschreibenden Bedeutung bringt,174 steht eine Sprache gegenüber, die, »so wie sie dem Ich-Erzähler in Faserland auf seiner Reise fortwährend begegnet, […] vornehmlich Ausdruck von Macht, Repression, Lüge und Festschreibungen«175 ist. Dieser Sprachgestus verbindet sich mit der Thematisierung nationalsozialistischer Zeichen-Überreste sowie mit der Reproduktion einer erstarrten Vergangenheitsverhandlung, denen sich der Protagonist nicht zu entziehen vermag. Der Sprachgestus implementiert auf semantischer und grammatikalischer Ebene eine totalitäre und binäre Logik der Sprache176 und sorgt mit deren potentieller Anwesenheit für ein andauerndes Unbehagen. Hegemonie der Bedeutung ist Ziel dieses naturalisierenden, ideologischen Gebrauchs von Sprache. Die Form der semantischen Schließung, in der sich politisch-gesellschaftliche Machtstrukturen in (literarischer) Sprache niederschlagen, bezeichnet Michail Bachtin als die »zentripetalen Kräfte«177 einer

174 Die sprachlichen Verfahren in Faserland sind den Konzepten der différance und der Dissemination Jacques Derridas ähnlich. Siehe dazu Jacques Derrida: Die différance. In: Ders.: Randgänge der Philosophie. Hg. von Peter Engelmann. Wien 1999, S. 31–56: »Jeder Begriff ist seinem Gesetz nach in eine Kette oder in ein System eingeschrieben, worin er durch das systematische Spiel von Differenzen auf den anderen, auf die anderen Begriffe verweist.« (Ebd, S. 40); Jacques Derrida: Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt am Main 1983: »Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme, welches die Sprache konstituiert, und sei es nur, um ihm letzten Endes wieder anheimzufallen.« (Ebd., S. 17). 175 Bronner, Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 95. 176 Mit Roland Barthes ließe sich sagen, dass sich die nationalsozialistischen Zeichen den grundlegenden Charakter der Sprache, »von Natur aus assertiv, behauptend« (Barthes, Das Neutrum, S. 88) zu sein, zunutze machen. 177 Bachtin, Das Wort im Roman, S. 164.

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ideologisch gefüllte[n] Sprache […]. Deswegen bringt die Einheitssprache die Kräfte einer konkreten Vereinheitlichung und Zentralisierung des ideologischen Wortes zum Ausdruck, die in einem untrennbaren Zusammenhang mit den Prozessen der sozialpolitischen und kulturellen Zentralisation stehen.178

Solch naturalisierende Festsetzung von Bedeutung lässt sich als zentrales Verfahren nationalsozialistischer Ideologie ausmachen. So wird auch in Faserland »[d]as signifikante, narrative Modell […] immer wieder in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt, weil es wie jedes ideologische System durch Ausschluss und Einebnung operiert.«179 Mit Stefan Bronner möchte ich daher dieses Sprachmodell als »Ideologiemaschine Deutschland«180 respektive als »deutsche Semiose«181 bezeichnen: Die Ernsthaftigkeit der Ideologiemaschine Deutschland resultiert […] aus der redundanten Verbindung von Subjekt und Sprache, aus dem ideologischen Narrativ, das über das Nichts gelegt und schließlich verabsolutiert wird. Aus dieser Tatsache folgen die starre, dichotomische Struktur der Festschreibungen und letztlich auch die Ernsthaftigkeit, mit der die deutsche Semiose betrieben wird.182

Auf einen Vertreter der ›Ideologiemaschine Deutschland‹ trifft der Protagonist am Lufthansa-Verpflegungstisch des Frankfurter Flughafens: Ein Betriebsratvorsitzender, der sich gerade zaghaft ein Salamibrötchen besieht, guckt ganz kritisch, so mit zusammengezogenen Augenbrauen, als ob er das, was ich da mit der Lufthansa-Verpflegung tue, nicht gutheißen kann, und wenn ich ein Ausländer wäre und kein Jackett anhätte, wofür er einen halben Monatslohn hergeben müßte, dann hätte er bestimmt auch was gesagt. Und weil er so frech guckt und gar nicht aufhört damit, stopfe ich mir noch zwei Ballistos in die Tasche und noch zwei Joghurts und nehme mir auch noch acht weiße Plastiklöffel. […] Während ich das tue, starre ich dem Mann ins Gesicht, bis er wegguckt, denn konfrontiert werden mag er ja auch nicht, dieses SPD-Schwein. Dann merke ich, daß ich ganz furchtbar niesen muß, und da 178 179 180 181 182

Ebd., S. 164, Herv. im Original. Bronner, Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 150. Ebd., S. 96. Ebd., S. 97. Ebd., S. 96f. Bronners Ausgangspunkt sind subjektphilosophische Überlegungen, die er durch Lacans psychoanalytische Darstellung von Welt und Sprache erweitert. Bronner deutet eine von Dichotomie gezeichnete Sprachauffassung als stets vom Objekt klein a, vom Realen, vom nicht in Sprache Ausdrückbaren heimgesucht. Um diese Gefahr zu beherrschen, entstehe ideologisches Sprechen, das sich selbst absolut setze und das Inkommensurable negiere. Das Unbehagen an nationalsozialistischen Zeichen in Faserland sei eine Gestalt unter vielen, die »›Objekt klein a‹ annimmt. Einmal sind es die vermeintlichen Nazis, die das Bild stören, dann ist es die Ablehnung der Lebensmodelle von Freunden, die zur Entfremdung des Protagonisten führen. Der Roman weist immer wieder Elemente auf, die eine erfolgreiche Subjektivierung im Signifikanten unterbinden« (ebd., S. 74). Obwohl Bronner den Nationalsozialismus nur als eine Struktur unter anderen ansieht, bringt er auffällig häufig das ideologische Sprachmodell mit dem Nationalsozialismus in Verbindung.

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kommt es auch schon und ich niese wie ein Wahnsinniger auf das ganze blöde Sortiment der Lufthansa. Der Mann ist jetzt richtig erbost, und murmelt: So eine Frechheit oder irgend etwas ähnliches Belangloses, und ich starre ihn an und sage ganz leise, aber so, daß er es hört: Halt’s Maul, du SPD-Nazi. (FSL 57, Herv. K.K.)

Die Charakterisierung des Betriebsratvorsitzenden entspricht dem Klischee politischer Korrektheit (›guckt ganz kritisch‹; ›richtig erbost‹) und höflicher Zurückhaltung (›zaghaft‹). Der implizite Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit durch den Protagonisten unterstellt jenem zudem Nationalitäts- und Hierarchiedenken, das sozialen Status als Wertkategorie ansieht. Seine Empörung über die Überschreitung der stabilisierenden und Orientierung bietenden Regeln wird als eine Art Reiz-Reaktion dargestellt. Die Selbstbeschreibung des Protagonisten hingegen weist mehrfach auf dessen Grenzposition hin. Sozial steht er am äußersten, obersten Rand der Gesellschaft und kann sich deshalb als außerhalb der Regeln stehend inszenieren. Auch die Bezeichnung ›Wahnsinniger‹ versetzt ihn an den – allerdings dem Reichtum entgegengesetzten – Rand der Gesellschaft. Die sprachlichen und körperlichen Entgleisungen des Protagonisten zeigen sich als karnevalisierte Verfahren der Profanierung und der Exzentrizität.183 Die offensichtlichen Provokationen erweisen sich durch die Komposita SPD-Schwein und SPD-Nazi auch auf der Textebene als strukturell. Auf lexikalischer Ebene eignet sich der Text eine Alltagspraxis von Neonazis in Form der postmodernen Parodie an. Sie stellt eine aktivierende Verbindung zur Vergangenheit – oder bestehenden Texten, Praktiken oder Artefakten – her, welche das Referenzobjekt unter der Prämisse der Differenz wiederholt: »This is to say that parody belies the unity of experience it articulates by proliferating differences on a premise of identity«.184 Die Marke LONSDALE wird von Neonazis bevorzugt getragen, da sie 183 Wobei sich die Formulierung ›da kommt es auch schon‹ als sexuelle, orgastische Anspielung lesen lässt. 184 Valéria Brisolara Salomon: The claim of postmodern parody. In: Canoas 13 (2006), S. 69–74, hier S. 71. Im Gegensatz zu Hutcheons postmoderner Parodie, der noch immer ein gesellschaftskritischer Impetus sowie ein historisches Bewusstsein für das parodierte Materiel innewohnt, bezeichnet Frederic Jameson Parodie unter dem Siegel der Postmoderne als Pastiche oder ›blank parody‹, die in einem gleichgültigen Verhältnis zu seinem Bezugsmaterial steht: »Pastiche is, like parody, the imitation of a peculiar or unique, idiosyncratic style, the wearing of a linguistic mask, speech in a dead language. But it is a neutral practice of such mimicry, without any of parody’s ulterior motives, amputated of the satiric impulse, devoid of laughter […]. Pastiche is thus blank parody« (Frederic Jameson: Postmodernism, or, the Cultural Logic of Late Capitalism. Durham 1991, S. 17). Meine Verwendung des Begriffs der Parodie ist zudem aufgrund seiner Etymologie produktiv. Gérard Genette erinnert in Palimpseste daran, dass »[d]ie strengste Form der Parodie, die Minimalparodie, […] in der wörtlichen Wiederholung eines bekannten Textes [besteht], dem eine neue Bedeutung verliehen wird« (Ders.: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt am Main 1993, S. 29, Herv. im Original). Im Folgenden bezieht sich die Erwähnung des Begriffs der Parodie auf die in der Einleitung vorgenommene Definition.

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die Buchstaben ›NSDA‹ im Namen trägt. Steht der Schriftzug auf einem Pullover, lässt sich eine Jacke so offen darüber tragen, dass nur die Buchstabenfolge ›NSDA‹ zu sehen ist. In einer Karikatur dieser Aneignung einer Bekleidungsmarke durch Neonazis vollzieht der Text mit dem Wort des SPD-Nazis ein strukturähnliches Verfahren: Durch geschicktes Umstellen erhält man die Buchstabenfolge NSDAP. Brisanter Weise nutzt diese Nachahmung gesellschaftlicher Verfahren einen politischen Begriff zur Aneignung eines anderen, tabuisierten politischen Begriffs. So werden scheinbar sichere und eindeutige politische Positionen einer Bedeutungserosion unterzogen. Wer SPD-Mitglied ist, kann nicht mehr, quasi per Parteidefinition, ausschließen, Mitglied in der NSDAP gewesen zu sein. Implizit wird auf den Tatbestand hingewiesen, dass in der unmittelbaren Nachkriegspolitik unter Adenauer vielfach ehemalige Mitglieder der NSDAP unter neuer politischer Flagge noch immer an der Macht waren. Der Begriff ›Nazi‹ unterliegt einer Profanierung, indem das Kompositum SPDSchwein zum SPD-Nazi gesteigert und das Lemma ›Nazi‹ durch die Positionsersetzung, an der zuvor ›Schwein‹ stand, eine zusätzliche pejorative Komponente erhält. Die Semiose des Kompositums SPD-Nazi unterliegt einer Erosion, da es scheinbar eindeutige, gegenläufige politische Positionen gegenseitig infiziert. Moritz Baßler und Heinz Drügh beschreiben dies – zwar in einer Analyse von Die Toten, die Beobachtungen allerdings lassen sich schon in Faserland feststellen – als »eine ästhetische Struktur, die Gegenteiliges verbindet, eine Art coincidentia oppositorum.«185 Das bedeutet zugleich, dass die »klassische Ironie aber, das heißt […] [die] Äußerung des Gegenteils eines eigentlich Gemeinten«,186 zur Beschreibung von »Krachts Prosa […] schlicht unterbestimmt«187 ist. Die Komposita »Nazischwein« (FSL 41) und »SPD-Gewäsch« (FSL 103) variieren an späteren Textstellen ihre Zusammensetzung, sodass die einzelnen Signifikanten ›SPD‹, ›Schwein‹ und ›Nazi‹ in ihren Positionen im Paradigma zu rotieren beginnen. Anstatt »[d]as eine auswählen und das andere zurückweisen […]« und dadurch »Sinn hervor[zu]bringen«18872 – das Paradigma also stillzustellen – beginnen die Signifikanten zu wuchern und auf ihre jeweiligen Mit- und Gegenspieler im Paradigma zu verweisen und diese präsent zu halten. Oder um noch einmal Baßler und Drügh zu zitieren, bei der Poetik Krachts handelt es sich um eine »Hybridästhetik, die nicht auf organisch-natürliche, sondern auf verdrehte und nachhaltig seltsame Weise Verbindungen schafft – eine Seite ermöglicht die jeweils andere, indem sie sie zugleich desavouiert.«189 Die Auswir185 186 187 188 189

Baßler/Drügh, Eine Frage des Modus, S. 15. Ebd., S. 9. Ebd., S. 9. Barthes, Das Neutrum, S. 33. Baßler/Drügh, Eine Frage des Modus, S. 15.

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kungen im konkreten Beispiel hier sind Sinn-Aufschub, Bedeutungsschichtung und in deren Folge Bedeutungsentleerung. Darüber hinaus wirkt der ›SPD-Nazi‹ in seiner Prägnanz wie ein Markenname190, der in seiner doppelten Abbreviation parodistisch den ›Abkürzungswahn der Deutschen‹ aufruft: In Deutschland gibt es eine Art Abkürzungswahn, der von den Nazis erfunden worden ist. Gestapo und Schupo und Kripo, das ist ja klar, was das heißt. Aber es gab auch zum Beispiel die Hafraba, […], das heißt Hamburg-Frankfurt-Basel, und das war die Abkürzung für die Hitler-Autobahn. Ja, und Hanuta heißt natürlich, das glaubt man gar nicht: Haselnußtafel. (FSL 39)

Die Abkürzung ›Hafraba‹ schiebt die Bedeutung des Zeichens auf. Das Wort wirkt statt auf semantischer auf phonetisch-klanglicher Ebene und verweist auf einen ästhetischen Diskurs. Diese für die Sprache des Protagonisten positive Funktion des Aufschubs von Sinn zeigt sich hier im Dienst ideologischen Sprechens. Bronner liest den Abkürzungswahn als Indikator für die faschistoide Illusion eines Durchdringens und Erfassens der Dinge […], jene Illusion der Natürlichkeit der Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem. Die Abbreviation stellt eine Verharmlosung des ihr gewaltsam unterstellten Sinns dar, [und] verdeutlicht […] die Gefahr einer repressiven Bedeutungskonstitution. Die vom Erzähler-Ich hergestellte Nähe der Haselnusstafel zur ›Hafraba‹ lässt sich so als elementares Gefahren-Potential interpretieren, das latent in der Sprache schlummert. Das faschistoide Element der Sprache ist die zur Allegorie geronnene Gefahr des Subjekts, das bezeichnet und erfasst.191

Dieses Gefahrenpotential ist in Abkürzungen zu seinem Extrem verdichtet. Sie vermögen Bedeutung auf negative Weise zu diffundieren und dadurch eine euphemistisch-bürokratische Handhabung von Menschen und Dingen zu erleichtern. Sprachliche Verkürzung stellt zugleich eine Verkürzung des Zugriffs her: Was kategorisiert ist, kann besser gehandhabt werden.192 Bronner zeigt dies anhand der Abkürzung ›KZ‹,193 die allerdings in Faserland selbst nicht kritisiert 190 Einem Markennamen gleich produziert das Kompositum einen semantischen Überschuss und betont auf besondere Weise seine Bezeichnung (anstatt oder zusätzlich zum Referenten, der in diesem Fall sogar uneindeutig ist): »Der Signifikant […] drängt sich plötzlich vor« (Baßler, Der deutsche Pop-Roman, S. 88f.). 191 Bronner, Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 99, Herv. im Original. 192 Victor Klemperer betont in seinen parodistisch mit der Abkürzung LTI betitelten Aufzeichnungen zur Sprache des Nationalsozialismus: »[w]as jemand willentlich verbergen will, sei es vor anderen, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag.« (Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1975, S. 18). 193 »So beschönigt beispielsweise die bürokratische Abkürzung ›KZ‹ die Wirklichkeit einer Menschenvernichtungsanlage in doppelter Weise: Im Substantiv ›Konzentrationslager‹ findet eine erste Maskierung statt, da hier keine Menschen ›konzentriert‹, sondern interniert und ermordet werden. Die Abkürzung des Begriffs zieht schließlich eine zweite Verharm-

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wird. Diese Assoziation müssen die Leser:innen selbst leisten. Die Nichtthematisierung der Abkürzung wird hier poetologisch signifikant: Sie taucht in Faserland nur im Rahmen einer imaginierten Tätergeschichte auf, die sich der Protagonist für einen Taxifahrer erfindet. In diesem Kontext ist es gerade konsequent, die Abkürzung nicht kritisch zu beleuchten, da Inhalt und Form der Geschichte im Modus der deutschen Semiose präsentiert werden. Auch die Abkürzung ›Hafraba‹ zielt auf die nationalsozialistische Sprachverwendung über einen Umweg, da sie ursprünglich nicht aus dem Repertoire nationalsozialistischer Sprache stammt. Der »Verein zum Bau einer Straße für den Kraftwagen-Schnellverkehr von Hamburg über Frankfurt a.M. nach Basel« (kurz Hafraba e.V.) wurde schon 1926 gegründet. Selbst die Bezeichnung Hafraba wurde mit dem Plan der Nationalsozialisten, Verkehrswege zu bauen, zugunsten der Bezeichnung ›Reichsautobahn‹, deren ›richtige‹ Abkürzung ›RAB‹ lautete, verabschiedet.194 Dieser Effekt, Zeichen aus dem nahen Umfeld des nationalsozialistischen Themenfelds in den Diskurs darüber einzuspeisen und als Bestandteil dessen auszugeben, weist auf die historische Verschiebung von Zeichen hin. Die Idee nationaler Autostraßen wurde von den Nationalsozialisten okkupiert und mit Exklusivitätsanspruch vertreten. Kracht spielt damit auf die eigentliche, ursprüngliche Entstehung der Idee vor dem Nationalsozialismus sowie auf deren Korruption durch diese an.195 Dass in Faserland statt des ›KZs‹ die ›Hafraba‹ zur Sprache kommt, hat ästhetische Gründe: Das Signifikantenspiel geht über die potentielle Kritik an der Installation sprachlicher Abkürzungen hinaus. Über die textuell erzeugte Nähe zum Markennamen ›Hanuta‹ und deren Ähnlichkeit in der Wortstruktur – beide Worte bilden eine Alliteration und haben drei Silben – beginnen die beiden Worte sich in ihrer Bedeutung zu infiltrieren. Das Verfahren der Paronomasie erzeugt durch gegenseitige Affizierung ein semantisches Spannungsfeld, das zuverlässige Sinnzuschreibungen zusätzlich destabilisiert. Die Abkürzung ›Halosung, bzw. eine Diffusion, nach sich, da ›KZ‹ durch die Bürokratisierung plötzlich als verwaltungstechnischer Begriff eine ›Normalisierung‹ erfährt.« (Bronner, Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 99). 194 Vgl. Karl-Heinz Brackmann, Renate Birkenhauer: NS-Deutsch. »Selbstverständliche« Begriffe und Schlagwörter aus der Zeit des Nationalsozialismus. Straelen 1988, S. 148, 153; Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin, New York 1998, S. 533. 195 Fritz Todt, Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen, formulierte diesen Anspruch wie folgt: »Die Reichsautobahnen, wie wir sie jetzt bauen, haben nicht als von der ›HAFRABA‹ vorbereitet zu gelten, sondern einzig und allein als ›Die Straßen Adolf Hitlers‹.« (KarlHeinz Friedrich: »Tunlich geradlinig«. Die Gründung des Vereins »HAFRABA« 1926 und der Bau der deutschen Autobahnen. In: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv (2006), Heft 2. Dort zitiert als: Barch, R 4602/729, Bl. 79. http://www.bundesarchiv.de/imperia/md/content/bun desarchiv_de/oeffentlichkeitsarbeit/fach-publikationen/mitteilungenausdembundesarchiv /heft_2-2006__14._jahrgang.pdf, abgerufen am 11. 09. 2020.

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nuta‹ erschwert ohnehin den Zugriff auf seine Bedeutung. Im vorliegenden Kontext wird das Markenprodukt ferner um die Bedeutungskomponente der nationalsozialistischen Vergangenheit erweitert und negativ konnotiert, ›Hafraba‹ hingegen bekommt die Bedeutung eines massenproduzierten Genussmittels und wird – als häufig fälschlicherweise nationalsozialistischen Ursprungs gedeutetes Zeichen – profaniert. Beide Worte gehen eine karnevalisierte Mesalliance ein und werden zu austauschbaren Worten desselben Paradigmas.196 Damit wird der Fokus auf die Erzeugung von Bedeutsamkeit historischer Artefakte und Ereignisse gelenkt. Mit dem Verfahren der Infektion unternimmt der Roman einen Angriff auf die Hierarchisierungsstruktur des kollektiven Gedächtnisses, innerhalb dessen, so Jan Assmann, »ein[] klare[s] Relevanzgefälle [besteht], das den kulturellen Wissensvorrat und Symbolhaushalt strukturiert. Es gibt wichtige und unwichtige […] Symbole«.197 Das Wissen um die Bedeutung der Abkürzung ›Hafraba‹ wird demnach auf einer höheren Ebene angesiedelt sein als das Wissen um die Bedeutung von ›Hanuta‹. Faserland überführt dementgegen Dinge aus dem »profanen Raum […], die von den Archiven nicht erfaßt sind«198, in die kulturellen Archive. So werden Alltagsgegenstände oder Markenprodukte wie ›Barbourjacken‹ und ›Hanuta‹ »aufgewertet, aufgezeichnet und gespeichert«.199 Dies hat eine Verschiebung innerhalb des kulturellen Gedächtnisses zur Folge: Scheinbar unbedeutendes Alltagsmaterial drängt in das Archiv und konkurriert mit kulturell bedeutsamen Zeichen. Beide werden in den Rang kulturellen Erbes gehoben und im kollektiven Gedächtnis gespeichert. In der Terminologie Bachtins werden hier auf sprachlich-kultureller Ebene familiäre Kontakte erzeugt, wo sonst eine strenge Trennung vorherrscht:200 Alles, was durch die hierarchische Weltanschauung außerhalb des Karnevals verschlossen, getrennt, voneinander entfernt war, geht karnevalisierte Kontakte und Kombinationen ein. Der Karneval vereinigt, vermengt und vermählt das Geheiligte mit

196 Die Ähnlichkeit der Wortstruktur verwirklicht das von Roman Jakobson für eine dichterische Äußerung konstitutive Kippen des Äquivalenzprinzips von der Ebene des Paradigmas auf jene des Syntagmas (Vgl. Roman Jakobson: Linguistik und Poetik (1960). In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. Frankfurt am Main 1979, S. 83–121). Zugleich rückt ›Hanuta‹ in dasselbe (wertende) Paradigma der kulturellen Erinnerung ein. 197 Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders., Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1988, S. 9–19, hier S. 14, Herv. im Original. 198 Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Frankfurt am Main 1999, S. 56. 199 Baßler, Der deutsche Pop-Roman, S. 21. 200 Dieses Verfahren »setzt […] Zeichen in Bewegung, dass [sie] unbeachtet [ihrer] historischen Semantik nun spottend, subversiv wirken [können].« (Andrzej Kopacki: Christian Kracht, Tristesse Royale und die Möbiusschleife. In: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen (2008), S. 261–285, hier S. 270).

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dem Profanen, das Hohe mit dem Niedrigen, das Große mit dem Winzigen, das Weise mit dem Törichten.201

Diese Enttabuisierung, die Faserland durch den Motivwechsel vornimmt, wird erst wirksam vor dem Hintergrund der im kulturellen Gedächtnis impliziten, akzeptierten Hierarchie. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geschieht in Faserland anhand von aktuellem Gegenwartsinventar. Dies hat zur Folge, dass eine generationenübergreifende Kommunikation zum Scheitern verurteilt ist: Hamburg wacht auf, denke ich, und dann muß ich plötzlich an die Bombennächte im Zweiten Weltkrieg denken und an den Hamburger Feuersturm […] und ich würde gerne mit dem Taxifahrer darüber reden, aber er hat Mundgeruch, und außerdem riecht er alt und verwest, so wie ein Buch, das zu lange im Regen auf dem Balkon lag und jetzt schimmelt. (FSL 51)

Der Taxifahrer wird zu einem Vertreter der Kriegsgeneration stilisiert, die die als ›schimmelnd‹ beschriebene Nachkriegsliteratur repräsentiert: Das Buch steht metonymisch für die Nachkriegsliteratur, die durch den Versuch, den ›Schwelbrand der Erinnerung‹ zu löschen, ›naß‹ geworden ist und – aus der Perspektive der dritten Nachkriegsgeneration – ›schimmelt‹. [D]urch die Metapher des ›verschimmelten Buches‹ [wird] angedeutet, dass jene Vergangenheit in Gestalt von Zeitzeugen überhaupt nicht mehr erfahrbar, nicht ›lesbar‹ ist. Das steht in Verbindung mit der Sprachkritik, der Kritik an Worthülsen im Feuilleton (›Gewaltspirale‹), aber vor allem mit der Darstellung einer formelhaften Sprache in der Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit.202

Folgt man dieser Lesart, wird hier der Nachkriegsliteratur die Deutungshoheit entzogen. Dies lässt sich in der Begrifflichkeit des Karnevals als profanierende Erniedrigung des Königs lesen: Im Brauch der Erhöhung und Erniedrigung des Karnevalskönigs finden wir den Kern des karnevalistischen Weltempfindens: das Pathos des Wechsels und der Veränderung, des Todes und der Erneuerung. […] Die Erhöhung und Erniedrigung des Karnevalskönigs ist ein ambivalenter Brauch, der […] die fröhliche Relativität einer jeden Ordnung, Gewalt und Hierarchie ausdrückt. […] die Symbole der Macht […] [a]lles wird in den Stand der Relativität versetzt […]. Die symbolische Bedeutung dieser Dinge und Vorgänge erstreckt sich auf zwei Ebenen – während die realen Machtsymbole der außerkarnevalistischen Welt sich auf eine Ebene beschränken: schwer lastend, absolut und monolithisch-ernst.203

201 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 49. 202 Rink, Christian Kracht und die »Totale Erinnerung«, S. 251. 203 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 50f.

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Vom Unsinn zur »deutschen Semiose« und zurück

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Diese Formulierungen decken sich mit den Beschreibungen der deutschen Literatur Mitte der 1990er Jahre. Mit dem Erscheinen von Faserland und anderer Romane werden Stimmen laut, die einen Umbruch in der deutschen Literatur beschreiben, der als Absage an eine ernsthafte und realitätsferne Nachkriegsliteratur inszeniert wird. Iris Radisch spricht sogar von einer Zweiten Stunde Null: Die junge Generation dieser Stunde Null will keine epochalen Werke mehr schreiben, und das ist gerade ihre Stärke. Bestellungen nimmt sie keine mehr an und steht auch niemandem mehr zur Verfügung. Wie es aussieht, klappt sie im Buch der Literaturgeschichte ein neues Kapitel auf, ohne Last, ohne Begrenzung, ohne Verpflichtung – so frei, wie die Kunst immer sein wollte und wie sie es selten war.204

Dabei stimmt Faserland auf inhaltlicher Ebene dieser Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre im Feuilleton diskutierten Absage an die realitätsferne Nachkriegsliteratur zwar zu, ist selbst jedoch nicht einfach als Gegensatz in »Absetzung von der vergangenheits- und problemorientierten Nachkriegsliteratur«205 oder als deren Ende zu lesen, sondern als eine synthetisierende, ästhetisierte Fiktion einer deutschen Gegenwartserfahrung, welche die massen- und popkulturellen Alltagsphänomene ebenso integriert wie eine Verhandlung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Faserland reinszeniert diese Generationenkonfrontation, die einerseits den Disput über die Popliteratur der 1990er und zugleich die Debatte um einen angemessen Umgang mit dem Nationalsozialismus auch für die dritte und vierte Nachkriegsgeneration aufruft, ohne sich jedoch der Thematik der deutschen Vergangenheit zu verschließen. Seitens des wissenschaftlichen Erinnerungsdiskurses aber ist Faserland meist als unernste Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wahrgenommen worden. Wenn Faserland der Vorwurf traf, keine gelungene Erinnerungskultur zu betreiben, und das bedeutet beispielsweise in den Augen von Jens Birkmeyer, der sich auf Astrid Erlls Ausführungen zur Erinnerungskultur beruft, keine selbstreflexive Erinnerungsarbeit zu leisten, dann ist das eine Reaktion auf das Fehlen bestimmter Symbole der offiziellen, konventionalisierten Erinnerungskultur im Text. So gelinge es Kracht nicht, »den ›erfahrungshaftigen Modus‹, in dem das ›Erzählte als Gegenstand des alltagsweltlichen kommunikativen Gedächtnisses‹ erscheint, in einen ›reflexiven Modus‹ zu überführen, in dem die Erzählung erst ›eine erinnerungskulturelle Selbst-

204 Iris Radisch: Die Zweite Stunde Null. In: Die Zeit 07. 10. 1994. Thorsten Liesegang betont: »Die Aufhebung topographischer Bezüge korrespondiert mit der Entleerung historischer Symbole und der Entsorgung eines der historischen Erkenntnis verpflichteten Bewusstseins.« (Liesegang, Die Wiederkehr der Popliteratur als Farce). Auch Moritz Baßler spricht von den »schweren Zeichen deutscher Schuld« (Baßler, »Have a nice Apocalypse!«, S. 257). 205 Moritz Baßler: Pop-Literatur. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. III: P-Z. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2003, S. 123.

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Karneval im Fatherland – Christian Krachts Faserland

beobachtung ermöglicht.‹«206 Eine solche Aussage geht der Erzählkonstruktion auf den Leim: Statt im mündlichen Sprachstil des Protagonisten und in den aus der Erzählanordnung entstehenden reflexiven und produktiven Bewegungen des Textes einen Gegenentwurf zu einer schriftlich orientierten Kultur und die dadurch implizierte Weigerung, auf das kulturelle Gedächtnis zuzugreifen, zu erkennen, wird die ausgestellte Beschränktheit des Protagonisten für bare Münze genommen.207 Denn Faserland ignoriert und konterkariert gerade diese autorisierende, schriftkulturell geprägte Diskurshoheit und fliegt unterhalb des gesellschaftlichen Erinnerungsradars:208 Der Roman entzieht sich durch die Art seiner Verhandlung des Nationalsozialismus der »enormen Bedeutung des Erinnerungsdiskurses […] als stets zu vollziehender Selbstvergewisserungsakt und als Streben nach Deutungshoheit sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart«.209 Das bedeutet vor allem, dass der Erzähler aus Faserland gerade die offensichtlich für die deutsche Geschichte bedeutungstragenden, traumatischen Orte Deutschlands meidet.210 Spuren der Vergangenheit brechen vielmehr an jedem beliebigen Ort seiner Gegenwart ein, wodurch ein durch die Erinnerungskultur angestrebter Normalitätsdiskurs vereitelt wird. Statt die Erinnerung auf geregelte Rituale zu festgesetzten Zeiten und an bestimmten Orten zu beschränken, wird das ganze Land zu einem »Gedächtnisort[] wider Willen«211, der eine »Topographie des Terrors« aufweist.212 Analog zu Assmanns Bestimmung der Erinnerungsstruktur in Bezug auf Orte, die von Tätern besetzt sind, kann von einer »›mémoire involontaire‹, eine[r] ›rumorende[n] Erinnerung‹«213 gespro206 Jens Birkmeyer: Nicht erinnern – nicht vergessen. Das Gedächtnisdilemma in der Popliteratur. In: Ders., Cornelia Blasberg (Hg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten. Bielefeld 2006, S. 145–164, hier S. 164. Das Zitat im Zitat stammt aus Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart 2005, S. 168. 207 Auch Christian Rink kommt zu diesem Fehlschluss, wenn er dem Ich-Erzähler unterstellt, er zeige »keinerlei eigenes, reflektiertes Verständnis der ›Problematik‹ und […] überhaupt kein Bestreben, solch ein Verständnis zu erlangen« (Rink, Christian Kracht und die »Totale Erinnerung«, S. 251). 208 »Nicht weiter überraschend ist, dass die größte Provokation des Textes in den Verstößen gegen die political correctness besteht, wie er den Erinnerungsdiskurs beherrscht.« (Rink, Christian Kracht und die »Totale Erinnerung«, S. 249). Daniel Kehlmann bezeichnet Faserland hingegen als »eine brutale Provokation und sein Erzähler eine beständige Herausforderung des bürgerlichen Anstands, der eines der zentralen sozialen Tabus bricht« (Daniel Kehlmann: Bord-Treff und Neckarauen. Über »Faserland«. In: Text + Kritik (2017), Nr. 216: Christian Kracht, S. 20–23, hier S. 20). 209 Rink, Christian Kracht und die »Totale Erinnerung«, S. 246. 210 Er reist weder nach Auschwitz noch nach Dachau, das er von München aus leicht erreichen könnte. Auch die Täterorte Berlin oder Nürnberg liegen nicht auf seiner Reiseroute. 211 Assmann, Erinnerungsräume, S. 334. 212 Ebd., S. 334. 213 Ebd., S. 336.

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chen werden, die den Protagonisten heimsucht. Diese ›Erinnerung‹ ist jedoch weder biographisch noch familiär gebunden, sie speist sich vielmehr aus der Kombination aus erlerntem historischen (Halb-)Wissen, literarischen Topoi, freien Assoziationen und dem Versuch des Protagonisten, die ihm begegnenden Phänomene und Zeichen zu decodieren. Zugleich positioniert sich der Text damit in Opposition zur offiziellen Erinnerungskultur, die traumatische Orte und Gedenktage als abgeschlossene (Zeit-)Räume außerhalb von Gegenwart und Alltag inszeniert. Jahrestage werden rituell begangen und medial aufbereitet und erhalten so für die öffentliche Aufmerksamkeit einen klar umrissenen, begrenzten (Zeit-)Rahmen. Sonst aber bleiben diese Orte und Zeiten, im Sinne von Michel Foucaults Bestimmung der Heterotopie, außerhalb der Gesellschaft angesiedelt und unterliegen einer Musealisierung. Heterotopien sind für Foucault reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen.214

Die Konzentration des Gedenkens an einem von der Gesellschaft abgeschirmten, ausgelagerten Ort, der zudem als materiell-kausaler Garant die Geschichte verbürgen soll, führt gerade zum Ausschluss der Vergangenheit aus der Gegenwart. Damit werden binäre Oppositionen von Gegenwart und Vergangenheit sowie von profanem Alltag und sakralisiertem Gedenken zuerst installiert. Als vom Alltag abgetrenntes Geschehen wird Gedenken zugleich formalisierbar, ritualisierbar und kalkulierbar – allesamt Prozesse die, wie die Sakralisierung auch, das Geschehen auf Distanz halten.215 Dass die Idee der Distanzierung durch heterotopische (Erzähl-)Räume für den Protagonisten eine große Anziehungskraft ausübt, um den Zeichen der deutschen Vergangenheit zu entkommen, wird im Kapitel zu den heterotopischen Fluchten deutlich.

214 Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft. Frankfurt am Main 2006, S. 317–329, hier S. 320. 215 Vgl. dazu die Debatte über die Musealisierung von Gedenkorten, wie sie bspw. in Ruth Klügers weiter leben verhandelt wird (Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. München 1994, siehe dort vor allem S. 69ff.). Die Exklusivität durch Sakralisierung, solches »Bestehen auf der Einmaligkeit des Verbrechens« (ebd., S. 70), fordert die Rede von einer Zäsur und der Vorstellung einer Stunde Null erst heraus.

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1.4

Zeichendeutung

Entgegen einer punktuellen und kontrollierten Konfrontation mit der Vergangenheit, wie sie an Gedenkorten vollzogen werden kann, zeigt sich die Vergangenheit in der Topographie von Faserland als latent und zugleich potentiell allgegenwärtig. Die in die Gegenwart hineinreichenden medialen, architektonischen und literarischen Zeichen der nationalsozialistischen Vergangenheit werden vom Protagonisten permanent aufgespürt und in ständiger Konfrontation mit dem kulturhistorischen Zeichenvorrat verschiedener Diskurse und Motive abgeglichen. Die folgende Analyse zeigt vier verschiedene Zeichenarten, die vom Protagonisten wahrgenommen und verarbeitet werden: 1. mediale, 2. materiale, 3. fiktionale Zeichen und 4. groteske Körperzeichen.

1.4.1 Medialisierte Zeichen Der Kontakt mit nahezu jedweder Art von kulturellen Medien geschieht in Faserland fast ausschließlich passiv. Der Protagonist rezipiert (Pop-)Musik lediglich auf Partys, bestimmt aber selbst nicht die Musikauswahl. Andere Medien finden nur über assoziative Anspielungen in Form von erinnerten Episoden Erwähnung. Über schriftliche Medien erzählt er in der Vergangenheitsform, zumeist beruft er sich dabei auf Schullektüre oder Hörensagen aus unbekannter oder zweifelhafter Quelle.216 Die Reichweite seiner medialen Wahrnehmung ist von den Parametern seines Erinnerungsvermögens und den durch materielle Zeichen und augenblickliche Situationen hervorgerufenen Assoziationen bestimmt. Mediale Vermittlung und Präsenz des Nationalsozialismus werden überwiegend anhand filmischer Assoziationen wahrgenommen. Im Landeanflug auf Frankfurt fühlt sich der Protagonist an die filmische Darstellung der Ankunft Hitlers in Nürnberg aus Leni Riefenstahls Triumph des Willens ›erinnert‹. Angestoßen wird diese Assoziation gleich einer ›mémoire involontaire‹ durch eine plötzliche Sonnenreflektion auf den Flugzeugflügeln: Das Flugzeug kreist weiter über Frankfurt, taucht immer mal wieder durch die Wolken, dann glitzert das Sonnenlicht plötzlich auf den Flügeln, und ich sehe aus dem Fenster und muß daran denken, daß mich Landeanflüge immer an die großartige Anfangsszene aus Triumph des Willens erinnern, wo der blöde Führer in Nürnberg oder sonstwo landet, jedenfalls kommt er so von oben herab zum Volk. Ich meine, das ist ja ganz gut 216 So gibt der Protagonist Nigels Urteil über Ernst Jünger ohne kritische oder distanzierende Rahmung wieder: »Nigel hat mir nämlich mal erzählt, Ernst Jünger wäre so ein Kriegsverherrlicher […]. Auf jeden Fall soll Ernst Jünger ein halber Nazi gewesen sein« (FSL 63).

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Zeichendeutung

gemacht, so, als ob er von Gott heruntergesandt wird nach Deutschland, um da mal aufzuräumen. Die Deutschen haben das sicher geglaubt, damals, so schlau ist das gemacht. (FSL 65, Herv. K.K.)

In der darauf folgenden Beschreibung gesellschaftspolitischer Schulerziehung über den gegensätzlichen ästhetisch-ideologischen Gehalt der Filme von Leni Riefenstahl und Sergeij Eisenstein entlarvt der Text die seinerseits ideologische, weil einseitige und einfache Beurteilung, die der schulischen Vermittlung zugrunde liegt. Entgegen der schulischen »Deutsch-Leistungskurs-Diktion«217, »Eisenstein wäre ein Genie und Riefenstahl eine Verbrecherin, weil die Riefenstahl sich hat einspannen lassen von der Ideologie und der Eisenstein nicht« (FSL 65), konstatiert der Erzähler nur: »Das fand ich aber nicht« (ebd.). Der Text führt damit zunächst die rein ästhetische Perspektive der filmischen Inszenierung vor und verweist so auf die Neutralität filmischer Stilmittel, die erst durch die Verbindung mit nationalsozialistischer Propaganda korrumpiert werden. Mit dem kurzen Halbsatz ›so schlau ist das gemacht‹ setzt der Text einen Anker, der den Diskurs um den Einsatz ästhetischer Filmmittel zur Erzeugung spezifischer Eindrücke (wie Nähe-Distanz, Überlegenheit-Untergebenheit durch oben-unten-Oppositionen etc.) aufruft. Die brisante Frage, ob diese Stilmittel ideologisch korrumpierbar sind, wird durch den erzählten Vergleich implizit gestellt, jedoch nicht beantwortet. Der schulisch vermittelten, einfachen Lösung Eisenstein = Genie, Riefenstahl = Verbrecherin, erteilt der Protagonist – entgegen seiner sonst gewohnten, sprachlichen Unsicherheit in seinen Urteilen – eine sprachlich entschiedene Absage. Der Text impliziert die Untragbarkeit des Kurzschlusses, dass die Faszination der Filme Riefenstahls gänzlich durch die Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten erklärbar sein und zugleich verurteilt werden müsste und verweist auf die Notwendigkeit einer differenzierten Unterscheidung zwischen Ästhetik und Ideologie. Die detaillierte Auseinandersetzung mit und die nuancierte Begründung für den lapidar geäußerten Satz allerdings wird den Leser: innen überantwortet. Darüber hinaus gerät Wim Wenders Vorwendefilm Der Himmel über Berlin durch eine Assoziation des Protagonisten in das Gravitationsfeld des angestoßenen, latent bleibenden Diskurses: Später habe ich dann noch einen Film gesehen, der so anfängt, mit einem Flugzeug, meine ich, und das war Der Himmel über Berlin, und da habe ich mich immer gefragt,

217 Baßler, Der deutsche Pop-Roman, S. 114. Baßler betont, dass die »Deutsch-LeistungskursDiktion (des Erzählers, nicht Krachts) […] doch die Beschränktheit solcher Gedanken [d.i. die Kommentare zur NS-Vergangenheit, K.K.] hinreichend« (ebd., S. 114) ausweist.

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ob dieser schrecklich peinliche Wim Wenders sich das bei Riefenstahl abgeguckt hat, oder ob er das irgendwie ironisch meinte (FSL 65).218

Durch die Assoziation entsteht – wie im Fall von Hanuta und Hafraba – semantische Reibung: Beide Filme werden von der jeweils gegenseitigen Konnotation in Mitleidenschaft gezogen, so dass die Eindeutigkeit ihrer Bedeutung ins Wanken gerät. Ideologie und Ästhetik gehen bei Riefenstahl eine enge Bindung ein,219 so dass bei der Variation einer solchen Ästhetik in Wim Wenders Film die ideologische Ikonographie nationalsozialistischer Überhöhung mittransportiert wird. Diese vom Protagonisten für Wenders Film behauptete Anspielung kann wiederum von Wenders selbst als ironisches Zitat gesetzt worden sein. Der Begriff der Ironie meint hier nicht bloß die rhetorische Figur, nach der mittels Ironie auf den gegenteiligen Inhalt dessen, was gesagt wird, abgezielt wird, sondern ist in sich ambivalenter. Sie muss zusätzlich im Kontext des romantischen Ironiebegriffs, oder in der Formulierung Moritz Baßlers und Heinz Drüghs, als Vorbehaltlichkeit verstanden werden.220 Dies legt die Formulierung ›irgendwie ironisch‹ nahe, in der das Ironische markiert und zugleich derart relativiert wird, dass kein Oppositionsverhältnis zwischen Gesagtem und Gemeintem besteht, sondern beide Ebenen sich vielmehr semantisch infizierend verkomplizieren. Im vorliegenden Beispiel ist die Aussage des Protagonisten als parodistischer Kommentar des Erzählers zu lesen, wodurch die Bedeutung der ursprünglichen 218 Im Hinblick auf Krachts neuesten Roman Die Toten, der von den Bemühungen um eine »zelluloide Achse […] zwischen Tokio und Berlin« (Christian Kracht: Die Toten. Köln 2016, S. 30, Herv. Im Original) erzählt, bringt Susanne Komfort-Hein das Motiv der Wolken mit nationalsozialistischer Inszenierung in einen sinnfälligen Zusammenhang: »In der zweimaligen Schilderung von Nägelis Flug durch dichte, konturlose Wolken zum faustischen Pakt nach Berlin gewinnen die Wolken die Qualität unheimlicher Vorboten einer ästhetisierten politischen Welt und sind mehr als Illusionen eines Referenziellen.« (Susanne Komfort-Hein: Harakiri, Hitler und Hollywood: »Die Toten«. In: Text + Kritik (2017), Nr. 216: Christan Kracht, S. 67–74, hier S. 73. In Krachts Roman heißt es: »Der Filmregisseur Nägeli, aus Bern, saß unkomfortabel, aber aufrecht im Inneren des klapprigen Metallgehäuses eines Flugzeugs […] Wie seine Stirn feucht wurde, wie er nervös angespannt die Augen verdrehte – da er glaubte, das Nahen eines drohenden, bald sich erfüllenden, katastrophalen Unheils zu spüren […] stellte er sich immer und immer wieder vor, das Flugzeug würde jäh am Himmel aufblitzend auseinanderbersten. […] Nägeli war unterwegs von Zürich ins neue Berlin, dem Spleen dieser unsicheren, verkrampften, labilen Nation. Unter ihm zogen die fleckigen Wälder des Thurgaus vorbei, vorübergehend sah man den Bodensee aufblinken, dann entdeckte er dort unten die vereinsamten, menschenleeren Dörfer einer von Schatten befallenen fränkischen Tiefebene, immer nordwärts, über Dresden hinweg, bis konturlose Wolken erneut die Sicht verbargen.« (Kracht, Die Toten, S. 13f.). 219 »Mit narrativen Stilmitteln kombiniert Riefenstahl Plansequenzen und Dokumentaraufnahmen, so dass aus martialischen Massenszenen und einzelnen, vermeintlich zufälligen Randbegebenheiten die auf Selbstüberhöhung zielende Ikonographie des NS-Regimes hervorgeht.« (Eintrag zu Triumph des Willens auf filmportal.de. http://www.filmportal.de /film/triumph-des-willens_f09263246e624462bcbf25efac1d4037, abgerufen am 05. 04. 2022). 220 Siehe dazu Baßler/Drügh, Eine Frage des Modus, S. 9f.

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Zeichendeutung

Szene bei Riefenstahl ins Rutschen gerät: Wenn Krachts erzählerische Anordnung Riefenstahls Triumph des Willens reproduziert, versetzt er einerseits den Protagonisten in die Position des Führers und verschiebt andererseits die durch Riefenstahls geschaffene Inszenierung der Erhabenheit Hitlers profanierend in ein gegenwärtiges Bezugssystem, erzeugt damit also eine doppelt parodistische Geste im Sinne Linda Hutcheons, um die Korrosion von Bedeutung durch die im Zitieren abweichende Wiederholung auszustellen. Diese Reihung, die in einer karnevalisierten Mimesis endet, bildet einen Gegenpol zum wiederholenden Einsatz von Bildern und Worten im Nationalsozialismus, der wie Saul Friedländer beschreibt, im Gegensatz zum karnevalisierten Verfahren bedeutungsstützend wirkt: Schon ein erster Blick lehrt, daß es sich um die Rhetorik der Häufung, der ständigen Wiederholung, der Redundanz handelt: massiver Einsatz von Synonymen, Überfrachtung mit ähnlichen Attributen, schillerndes Spiel mit Bildern, die sich verknüpfen und unentwegt aufeinander verweisen, sind ihre typischen Merkmale. Das ist nicht die lineare Sprache der Verkettung von Argumenten und der Schritt für Schritt vorgehenden Beweisführung; das ist […] die zirkuläre Sprache der Invokation, der beschwörenden Anrufung, die immer wieder auf sich selbst zurückkommt und durch die ständige Wiederholung eine Art Hypnose erzeugt.221

Diese Form des Sprachgebrauchs setzt Wiederholung gerade nicht ein, um Sinn zu zersetzen, sondern um ihn stillzustellen und auf ein bestimmtes Gefühl abzuzielen. Eine solche Hypnose durch Wiederholung entlarvt der Text auch auf Seiten der deutschen Erinnerungskultur. Durch das Spiel mit dem schon erwähnten ›SPD-Paradigma‹ bringt der Text diese Wiederholungsstrukturen ins Rutschen. Während ich mit Menschen ins Taxi einsteige, die ich gar nicht kenne, sehe ich mich selbst gespiegelt in der Vitrine und dahinter dann das Plakat für den Film, der gerade läuft: Stalingrad. Ich muß wieder an den alten Mann mit den acht Fingern im Hotel denken, und dann sehe ich mich, wie gesagt, gespiegelt in der Vitrine, mein Kopf trägt plötzlich einen Stahlhelm, und in diesem Moment denke ich, daß das alles auch mir hätte passieren können und noch viel schlimmer und daß ich wahnsinniges Glück habe, im demokratischen Deutschland zu leben, wo keiner an irgendeine Front muß mit siebzehn. Das ist natürlich SPD-Gewäsch, was ich da denke, aber ich bin schließlich auch höllisch betrunken. (FSL 102, Herv. K.K.)

Der Einbruch der Vergangenheit, ausgelöst durch die Spiegelung des Protagonisten, wird reflexhaft abgewiesen, dieser Reflex aber in einer doppelten Verschiebung sogleich als ›SPD-Gewäsch‹ eines ›höllisch‹ Betrunkenen wieder verworfen. Seine Sprache bleibt damit außerhalb des Haftbaren und setzt zugleich 221 Saul Friedländer: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. Frankfurt am Main 2007, S. 56f.

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das begonnene Spiel des oszillierenden Paradigmas vom SPD-Schwein über den SPD-Nazi zum SPD-Gewäsch fort. Die Zuschreibungen entleeren sich ihrer Bedeutung, weil sie sich durch die Rotation kaum mehr unterscheiden lassen.222 Die Eingliederung der Gedanken des Protagonisten in das ›SPD-Paradigma‹ des Romans auf der Ebene des discours weist ihnen dieselbe, der Kritik ausgesetzte, Position zu, wie sie dem Verhalten des Betriebsratvorsitzenden zukommt: Das Nachdenken über die deutsche Vergangenheit bewegt sich in den absichernden Koordinaten politischer Korrektheit und formelhaften Sprechens. Dass der Protagonist sich selbst gespiegelt sieht, verweist erneut auf die Foucault’sche Bestimmung des Spiegels als Heterotopie. Beim Blick in den Spiegel wird der »Ort, an dem ich bin […] absolut real in Verbindung mit dem gesamten umgebenden Raum und zugleich absolut irreal […], weil dieser Ort nur über den virtuellen Punkt jenseits des Spiegels wahrgenommen werden kann«.223 Der doppelt medialisierte Zugang zur Kriegswirklichkeit Deutschlands – durch den intertextuellen Verweis auf den Film Stalingrad (1993) von Joseph Vilsmaier und die Spiegelung als Eröffnung eines irrealen Raums – wird durch den Spiegel als zu kritisierender, weil heterotopisch einfriedender Umgang ausgewiesen. Das filmische Medium suggeriert ebenfalls wie der Spiegel die Möglichkeit eines unmittelbaren Zugangs, der jedoch über die bestehende Kluft hinwegtäuscht. »Jeder hat Zutritt zu diesen heterotopen Orten, aber das ist letztlich nur Illusion. Man glaubt, den Ort zu betreten, und ist gerade deshalb schon ausgeschlossen.«224 Die mediale Vermittlung, wie sie in Faserland vorgeführt wird, dient daher keineswegs der tatsächlichen Auseinandersetzung, sondern der bloßen Reproduktion konventioneller Positionen. Auch hier wird, wie schon in der oben diskutierten Mimesis des Protagonisten als Führer durch die Parallelisierung mit der Szene aus Triumph des Willens, die reflexartige Identifikation mit dem tapferen Soldaten als Helden- oder Opfergeschichte als unangemessen ironisiert. In seiner Analyse des Films Stalingrad, vor dessen Plakat sich der Protagonist gespiegelt sieht, betont Dehli Robnik, wie sehr die Spielfilm-Erzählung des Vergangenen mit dessen Vergegenwärtigung in der sinnlichen Affektion durch das Bild einhergeht und […] wie heutige HistorienBlockbuster eine Ästhetik der Immersion, des Hineingestürzt- und HineingesaugtWerdens von Zuschauenden, [sic!] in Vergangenheit und des ›spürenden‹ Nacherlebens von Vergangenheit forcieren; dies geschieht im Wege einer Problematisierung der

222 »Sich unterscheiden und bedeuten ist ein und dasselbe« (Émile Benveniste: L’homme dans la Langue. In: Ders.: Problèmes de linguistique générale II. Paris 1974. S. 215–229, hier S. 223, zit. nach Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main 1998, S. 22). 223 Foucault, Von anderen Räumen, S. 321. 224 Ebd., S. 326.

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›Historisierung‹ vergangener Ereignisse, auf Kosten ihrer Einbindung in stabile, umfassende, kausal-lineare Erzählzusammenhänge.225

So stellt sich das bloße Nacherleben einer »ein Publikum ›traumatisierenden‹ Affekt-Ästhetik […] als eine Sackgasse im Umgang des populären Kinos mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Vernichtungskrieg im besonderen [dar].«226 Schulbildung und medialisierte, fiktionale Geschichtsvermittlung werden vom Protagonisten – entgegen der in der Forschung vertretenen Position, es handle sich bei der Figur in Faserland um eine beschränkte Erzählposition klassischer Rollenprosa – als unzulänglich ausgewiesen. Dass der Protagonist durchaus ein feines Gespür für die Absurdität konventioneller und stereotyper Deutschlandbilder hat, zeigt sich in seiner Beschreibung des »Lufthansa-Bordbuch[s]« (FSL 64), das nicht nur vollkommen überflüssig, sondern auch gnadenlos schlecht gemacht [ist]. Da stehen immer so Artikel über Uhrmachermeister aus Bayern drin oder über den letzten Kürschner in der Lüneburger Heide. Und das Ganze wird dann erbärmlich schlecht ins Englische übersetzt, und so stellt dann die Lufthansa der Welt Deutschland vor. (FSL 64f.)

Diese Repräsentation Deutschlands trifft im Kontext der in Faserland virulenten Themen nicht nur deren Alltagsferne, sondern zugleich das klischeebesetzte Bild eines typisierten Deutschlandbildes, dessen katastrophaler historischer Raum gänzlich negiert bleibt. Während die vorgestellten medialisierten Zeichen die Vergangenheit unzureichend oder gar nicht thematisieren, lässt sich die Vergangenheit aus den materiellen Zeichen nur noch durch Übersetzungsleistungen aufspüren.

1.4.2 Materielle Zeichen Während seiner Reise stößt der Protagonist mehrfach auf materielle Überreste des nationalsozialistischen Deutschlands. Seien es die »deutschen Bunker« (FSL 20) auf Sylt oder die Blohm&Voss Werft in Hamburg, »da wo sie früher die UBoote gebaut haben« (FSL 32f.) – die Vergangenheit wirkt – neben dem Über-

225 Dehli Robnik: Verschiebungen an der Ostfront. Zu Bildern des Vernichtungskrieges der Wehrmacht in bundesdeutschen Spielfilmen. In: Zeitgeschichte 31 (2004), H. 3, S. 189–203, hier S. 198. 226 Ebd., S. 199. Robnik konstatiert zudem: »In den Verflechtungen und Reflexionen von historischem und Kino-Ereignis werden die heroisch-sinnvolle Handlung und das Pathos des Überlebens destruktiver Geschichtserfahrung zu Parametern der Rezeption durch ein Publikum, das den Film ›aussitzt‹ und die affektive Erschütterung durch seine Bilder ›übersteht‹. Umfassendes Mit-Leiden erspart das Sich-Schämen.« (Ebd., S. 197).

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dauern nationalsozialistischer Symbolisierungen durch mediale Re-Produktionen und Kontinuitäten auf gesellschaftlicher und institutioneller Ebene – auch auf der materiellen Ebene in die Gegenwart hinein.227 Die nationalsozialistische Geschichte der Stadt München wird im Roman durch ein synekdochisch verdichtetes Zeichen komprimierend thematisiert. Erst durch den vom Protagonisten geschaffenen Diskurskontext wird es jedoch als solches lesbar. In der Münchner Bar Ksar, die der Protagonist mit Rollo besucht, ist der Journalist Uwe Kopf zugegen, den er als »ziemlich harte[n] Nazi« (FSL 120) bezeichnet: Wir stehen also im Ksar und plaudern, trinken ein Bier und so, und plötzlich sehe ich in der Ecke diesen einen Menschen sitzen und auf jemanden einschreien. Es ist Uwe Kopf, dieser Kolumnist, oder was auch immer er ist. Er hat eine Vollglatze, und das paßt ja auch ganz gut zu ihm, weil er ein ziemlich harter Nazi ist. Ich habe gehört, daß er im fränkischen Wald so eine homosexuelle Wehrsportgruppe hat, die den ganzen Tag mit Platzpatronen herumschießt und mit Kübelwagen herumfährt, und dann abends auf einer Waldhütte werden die jungen Neuzugänge von den Alten ordentlich eingewiesen in die Feinheiten des Nationalsozialismus. (FSL 120)

Weil es einen Tumult gibt, dem Rollo und der Protagonist entfliehen wollen und den der Protagonist auf die Anwesenheit Uwe Kopfs schiebt, verlassen die beiden die Bar »durch die braune Tür« (FSL 123, Herv. K.K.). Angestoßen durch die Zuschreibung des Protagonisten, ist nicht der Ort für die Deutung des Geschehens verantwortlich, sondern das narrativierte Geschehen strukturiert die Wahrnehmung des Ortes. Sensibilisiert für die nationalsozialistische Thematik wird die braune Tür textuell von diesem Diskurs affiziert. Serkan Güner betont, dass die braune Tür […] nicht viel Fantasie [verlangt], um die Farbe mit dem Nationalsozialismus in Verbindung zu bringen und es fällt um so mehr auf, als sonst […] keine Angaben über das Interieur gemacht werden. Die Strukturierung des Bewusstseins durch die Sinne und die Medien, gewissermaßen auch eine Manipulation, steuert in diesem Fall die Wahrnehmung.228

Obwohl der Protagonist von München keine Notiz nimmt, wird die Geschichte der Stadt während des Nationalsozialismus über das Motiv der Tür in den Text 227 Neben materiellen Überresten, deren Geschichte mit dem Kriegsgeschehen des Zweiten Weltkriegs verbunden ist, fallen dem Protagonisten die (nicht mehr vorhandenen) Lücken bzw. Ruinen auf. Diesen lokalisierbaren historischen Orten ist ihre vergangene Realität nicht mehr anzusehen. Vielmehr täuscht das Stadtbild vieler deutscher Städte über das Fehlen einer materiellen Kontinuität, auf die der Protagonist aufmerksam macht, hinweg. 228 Serkan Güner: Medien und Vertextungsstrategien in Giuseppe Culicchias Paso Doble und Christian Krachts Faserland: Ein transkultureller Vergleich. In: Vittoria Borsò, Heike Brohm (Hg.): Transkulturation. Literarische und mediale Grenzräume im deutsch-italienischen Kulturkontakt. Bielefeld 2007, S. 229–249, hier S. 242.

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eingespeist. Durch die Beschreibung, Uwe Kopf sei ein »ziemlich harter Nazi« (FSL 120), fällt die Vergangenheit in den Text ein und verdichtet sich in der Erwähnung der braunen Tür, die synekdochisch auf das Gebäude der Parteizentrale der NSDAP in München verweist, das den Beinamen ›Braunes Haus‹ trug.229 In einer Stadt, die »markante Ziele einer topographischen Geschichtsexkursion«230 bietet, verweigert der Protagonist den Blick auf die manifesten, materiellen Zeichen des Nationalsozialismus und kann der Vergangenheit dennoch nicht entgehen. Sie drängt sich stattdessen in Form von anderen materiellen (›braune Tür‹) und sprachlichen (›harter Nazi‹) Zeichen als symbolisches pars pro toto für die Geschichte Münchens in seine Erfahrungswelt. Das Wissen um die Bezeichnung Münchens als ›Hauptstadt der Bewegung‹ lässt auch die folgende Szene in das Gravitationsfeld des nationalsozialistischen Diskurses geraten: Mit Rollo zusammen besucht der Protagonist einen Rave, den er wie folgt beschreibt: »[D]as Gestampfe der Tanzenden […] hat alles immer nur eine Geschwindigkeit, aber die ist so absolut, daß es außerhalb dieser Welt nichts gibt.« (FSL 118, Herv. K.K.) Das Massenereignis, das sich wesentlich durch Bewegung der Beteiligten auszeichnet, wird so semantisch und strukturell mit Massenveranstaltungen der Nationalsozialisten parallelisiert. Die erwähnte Absolutheit korrespondiert mit dem Ziel nationalsozialistischer Massenereignisse, eine »Inszenierung der formierten Massen«231 hervorzubringen: »Die Leistung der nationalsozialistischen Ästhetik der Inszenierung besteht in der Aufhebung der Grenze zwischen Akteur und Zuschauer, wobei diese Entgrenzung durch ihre Beschränkung auf die, die dazugehörten, nochmals belegt wurde.«232 Die in Faserland beschriebene Entgrenzung der Tanzenden verweist erneut auf die Figur der kommunikativen und narrativen Schließung, die eine Verständigung verunmöglicht. Denn »[h]ier ist ein ganzer Haufen Menschen, die man überhaupt nicht ernstnehmen kann, aber auf eine bestimmte Art haben sie alle recht, viel mehr recht als Rollo oder ich. Ich weiß nur noch nicht, auf welche Weise sie recht haben.« (FSL 115) Dass diese »viel mehr recht als Rollo oder ich« (FSL 115) haben, liegt am Sprachkonzept, das der als absolut beschriebenen Bewegung strukturell ähnlich ist: Recht haben jenseits kommunizierter, diskursiv-argumentativer Erkenntnis kann nur, wer einer assertiven Sprachkonstruktion folgt, die davon ausgeht, dass Recht und Nicht-Recht sprachlich eindeutig festzumachen und zu unterscheiden sind. Nicht nur die Sprache, sondern auch die »eine 229 Vgl. dazu Andreas Heusler: Das Braune Haus. Wie München zur ›Hauptstadt der Bewegung‹ wurde. München 2008. 230 Ebd., S. 127. 231 Harald Welzer: Die Bilder der Macht und die Ohnmacht der Bilder. Über Besetzung und Auslöschung von Erinnerung. In: Ders. (Hg.): Das Gedächtnis der Bilder. Ästhetik und Nationalsozialismus. Tübingen 1995, S. 165–194, hier S. 169. 232 Ebd., S. 178.

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Geschwindigkeit […] ist so absolut, daß es außerhalb dieser Welt nichts gibt.« (FSL 118) Diese Absolutheit nimmt Rollo derart gefangen, »[e]r wippt tatsächlich mit dem Fuß zu dieser Technomusik« (FSL 118), dass es zum Abbruch der Kommunikation zwischen beiden kommt: »Ich will mit Rollo darüber reden, aber ich glaube nicht, daß er sich dafür interessiert.« (FSL 118) Neben der Anspielung auf die Totalität des Rave, die sich auf die nationalsozialistische Ideologie übertragen lässt, stellt der Protagonist eine weitere, explizitere – wenn auch assoziative – Verbindung zum nationalsozialistischen Diskurs her: Beim Betrachten des Raves sinniert der Protagonist über die mittelalterlichen Grausamkeiten, die […] im Osten alle nicht stattgefunden [haben]. Ich meine, wenn ich mir einen blutroten Horizont ausmale, mit so großen Rädern, die sich gegen den Himmel schwarz abzeichnen, und auf diesen Rädern liegen die Gefolterten, und über ihnen sausen die Krähen umher, dann ist das immer irgendwo bei Lüttich oder Aachen oder bei Gent. Das Mittelalter ist nicht in Warschau oder bei Wien. Diesen hellen Himmel gibt es ja nicht im Osten, dieses fahle Licht, das ist schon was Deutsches. (FSL 118)

Der Protagonist suggeriert eine Parallelisierung von Mittelalter und Nationalsozialismus, die sich durch die Beschreibung des Raves, der »ja auch etwas von diesen mittelalterlichen Flagellanten und Selbstansteckern an sich« (118) hat, zu einer Trias Rave-Mittelalter-Nationalsozialismus verdichtet.233 Mit der Aussage, die ganzen Grausamkeiten hätten im Osten gar nicht stattgefunden, schiebt der Text die beiden historischen Zeitebenen übereinander. Auf den Nationalsozialismus bezogen reproduziert die Aussage die Position von Holocaustleugnern. Durch die Überblendung der beiden Epochen wird das nationalsozialistische Deutschland metaphorisch als Mittelalter im Sinne eines dunklen Zeitalters ausgewiesen, dessen »blutrote[r] Horizont […] nie in Warschau oder bei Wien« (FSL 118) zu lokalisieren sei. Der Verweis auf »dieses fahle Licht, das […] schon

233 Plausibel ist diese assoziative Annäherung auch durch den von den Nationalsozialisten betriebenen Rückgriff auf das Mittelalter: »Spätestens nach dem verlorenen ersten Weltkrieg galt das Mittelalter auch als Vorbild und Folie für eine neu zu schaffende, nationale und volksverbundene Kunst der Gegenwart. Dabei wurde es […] von völkisch-konservativen Kreisen, die es, wie Paul Schultze-Naumburg in seinen Schriften Kunst und Rasse (1928) oder Kampf um die Kunst (1932), gegen die ›Entartungen‹ der modernen Kunst ins Feld führten« (Bruno Reudenbach, Maike Steinkamp: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Mittelalterbilder im Nationalsozialismus. Berlin 2013, S. VII–XII, hier S. VIII), in Anspruch genommen. Durch die vom Protagonisten zitierte Formulierung Alexanders, »ein Rave in Deutschland sei immer das heutige Pendant für etwas, das er Ragnarök genannt hat. Das sei so ein germanisches Endzeit-Ereignis« (FSL 118) wird einerseits auf die in der Edda heraufbeschworene Apokalypse, andererseits auf die durch die Nationalsozialisten begangene Germanisierung nordischer Mythologie hingewiesen.

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etwas Deutsches« ist, verortet den Ursprung aller verübten Grausamkeit in Deutschland – ganz unabhängig vom Ort ihrer Ausführung.234

1.4.3 Fiktionale Zeichen – Erfundene Geschichte(n) Als ›Geschichtenproduktionsmaschine‹, als die sich der Protagonist erweist und die beständig Assoziationen erzeugt und unentwegt an etwas denken muss, ist es ihm beinahe unmöglich, Dinge und Menschen, die ihm begegnen, nicht mit einer – meist erfundenen oder auf fragwürdigen Quellen basierenden – Charakterisierung, Beurteilung oder Geschichte auszustatten. Unablässig produziert er kurze Lebensskizzen verschiedener Figuren. Drei dieser Lebensgeschichten, in denen sich die andauernde Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus niederschlägt, werden im Folgenden analysiert. Interessant ist dabei, dass die erfundenen Lebensgeschichten kaum relativierende Sprachkomponenten aufweisen, wie es in der Rede des Protagonisten sonst der Fall ist. Über diese von ihm gestalteten Kleinstnarrative vermag er souverän in behauptenden Sätzen zu verfügen. Älteren Menschen, allen voran Taxifahrern, dichtet er in einer Abgrenzungsgeste überwiegend negative Kriegs- und Tätergeschichten an. Die durch filmische Vermittlung (Triumph des Willens und Stalingrad (FSL 65, 102)) angestoßenen Konfrontationen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, die dem Protagonisten selbst widerfahren, haben gleichfalls nur Täterfiguren zum Gegenstand, die bezeichnenderweise aber zum einen in der Hitlerparallele als Überhöhung, zum anderen in der Stalingrad-Episode als soldatisches Opfertum erzählt werden und damit eine mögliche Täterzuschreibung der eigenen Person umgehen. Einem Taxifahrer in Heidelberg sieht man es […] im Gesicht an, daß er einmal KZ-Aufseher gewesen ist oder so ein Frontschwein, der die Kameraden vors Kriegsgericht gebracht hat, wenn sie abends über den blöden Hitler Witze gemacht haben, oder daß er irgendein Beamter war, in einer 234 Die Rede vom ›deutschen Licht‹ parodiert die biologistische Rassentheorie des Nationalsozialismus, indem die naturalisierenden Tendenzen Aspekte der, ursprünglich antiken, Klimatheorie aufrufen, nach der klimatische Bedingungen für die unterschiedlichen Charaktereigenschaften verschiedener Völker verantwortlich sind und die im 18. Jahrhundert häufig als nationaler und rassischer Kampfbegriff eingesetzt worden ist. Siehe dazu: Gonthier-Louis Fink: Von Winckelmann bis Herder. Die deutsche Klimatheorie in europäischer Perspektive. In: Gerhard Sauder (Hg.): Johann Gottfried Herder 1744–1803. Hamburg 1987, S. 156–176. Und im Gegensatz zum nicht enden wollenden Licht in Heidelberg (»Draußen ist es noch richtig hell, und man hat so das Gefühl, daß es noch lange hell sein wird, so ein Licht ist das« (FSL 96)), der Stadt, deren heterotopische Inszenierung durch den Protagonisten als unberührt von den Auswirkungen der nationalsozialistischen Grausamkeiten imaginiert wird, weist das ›fahle Licht‹ zugleich metaphorisch auf die Absenz von Vernunft und Aufklärung hin.

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hölzernen Schreibstube in Mährisch-Ostrau, der durch seine Unterschrift an einem Frühjahrmorgen siebzehn Partisanen, ihre Frauen und ihre Kinder liquidieren ließ. (FSL 100)

Die einzige sprachliche ›Unsicherheit‹, die die Erzählung an dieser Stelle aufweist, liegt in der durch das ›oder‹ signalisierten Unentschiedenheit des Protagonisten, sich für eine der drei gleichermaßen grausamen Skizzen zu entscheiden: Fest steht aber ohne Zweifel, dass er hier ein Täternarrativ entwirft. Im Gegensatz dazu ist die Lebensgeschichte, die der Protagonist für den alten Hotelier in Heidelberg erfindet, dem mehrere Finger fehlen235 und dessen Lektüre des Wachtturms236 er zuerst fälschlicherweise mit dem Landser verwechselt, die eines guten, sich opfernden Soldaten237 an der Ostfront: Ich denke daran, daß die [fehlenden Finger] ihm sicher an der Ostfront abgefroren sind. Er ist als ganz junger Mann, so mit siebzehn, noch eingezogen worden, als im Grunde schon alles verloren war, […] und irgendwann bei einem gewaltigen Rückzugsmarsch hat er dann seine Finger nicht mehr gespürt. Er hat sich die Wollsocken ausgezogen, die er als Handschuhe über seinen Händen getragen hat, hat die Arme im Kreis gedreht, und als das nichts nützte, hat er auf seine Hände draufgepißt. Dann hat er richtig Angst bekommen, und er ist zum Sanitäter gegangen, und die haben gesagt: Höchste Zeit, Mensch. Das Schlimmste können wir gerade noch verhindern. Dann haben sie ihm die Finger abgesägt, ohne Narkose, in einem weißgrauen Zelt, bei einer kurzen Marschpause. Das ist seine Erinnerung an den Kaukasus. (FSL 93)

Der erste Satz weist noch das zur Beglaubigung eingesetzte, bestärkende ›sicher‹ auf. Danach fehlen sämtliche Bekräftigungen sowie Einschränkungen, die ausgedachte Lebensgeschichte wird zum Tatsachenbericht. Durch die Betonung, es sei ›seine Erinnerung an den Kaukasus‹, ermächtigt sich der Protagonist zum auktorialen Erzähler, der über einen Einblick in die Figuren und den Überblick über die historische Zeitdimension verfügt. Demgegenüber zeigt sich die erzählerische Erfassung der Gegenwart als brüchig und vorbehaltlich. All diese

235 Der Krieg scheint die einzige Folie zu sein, vor der der Erzähler das Körperzeichen einer Verletzung lesbar machen kann. 236 »[U]nd da sehe ich, daß er nicht den Landser liest, sondern ein Heft über irgend etwas Christliches. Wachtturm heißt das Heft, glaube ich, und es ist so ein Regenbogen darauf abgebildet.« (FSL 98). 237 Die Erwähnung der Landserhefte, die seit ihrem Erscheinen 1957 kriegsverherrlichende Geschichten verbreiten, unterstützen den durch die Geschichte aufgerufenen Mythos der guten und unfehlbaren Wehrmacht, die nicht an der Vernichtung der Jüdinnen und Juden beteiligt gewesen sein soll. Siehe dazu die kontroverse Debatte um die Wehrmachtsausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung von 1995 und 2001, die zuerst diesen Mythos schwächte. Siehe dazu etwa: Bogdan Musial: Der Bildersturm. Aufstieg und Fall der ersten Wehrmachtsausstellung. In: Bundeszentrale für politische Bildung 2011. http:// www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/53181/die-erste-wehrmachtsaus stellung?p=all, abgerufen am 05. 04. 2022.

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negativen, mit dem Krieg verwobenen Geschichten werden immer älteren Männern zugeschrieben. Frauen hingegen sind für den Protagonisten positiv besetzte Figuren.238 Für eine ältere Frau, die auf dem Flug nach Frankfurt neben ihm sitzt, denkt er sich ebenfalls eine Geschichte aus. Zunächst verbleibt er auf der Ebene der Beschreibung der sehr alte[n] Frau, die einen Siegelring trägt und eine Perlenkette, ganz eng um ihrem faltigen Hals. […] Die Frau ist, das sage ich mal so, von Sommersprossen direkt zu Altersflecken übergegangen, und das ist sicher kein so schlechter Übergang. (FSL 59f.)

Bis auf den Einschub ›das sag ich mal so‹ hält sich der Erzähler an seine visuellen Eindrücke. Dann wechselt der Erzählmodus hin zur von Beobachtungen ungedeckten Erzählung, die ohne einschränkende und relativierende Sätze auskommt: Sie hat sich immer geweigert zu fliegen, und jetzt muß sie es doch tun, weil ihr nicht mehr viel Zeit bleibt. – In Frankfurt wird sie nämlich ihren Anlageberater treffen oder ihren Rechtsanwalt, um dort die Sache mit ihrem Testament zu klären. Das hat sie bislang immer schriftlich gemacht, aber jetzt geht es nicht mehr schriftlich, weil sie mit ihrem Rechtsanwalt zusammen zu einer Bank muß, um dort persönlich ein paar Schriftstücke einzusehen. Das ist so eine Privatbank, innen ganz in Mahagoni und mit roten Samtvorhängen und mit vielen alten abgewetzten Brücken ausgelegt, damit die Angestellten keinen Lärm machen, wenn sie über den Fußboden laufen. – Die Bank gibt es schon seit 1790, und im Krieg wurde sie zerbombt, und deswegen befindet sie sich heute in einem häßlichen Neubau im Frankfurter Westend, aber von innen sieht man nicht, daß es ein Neubau ist, höchstens an den niedrigen Decken. (FSL 60)

Ohne sich auf Informationen stützen zu können, legt der Protagonist einen Tatsachenbericht vor, der sich sprachlich von seiner sonstigen Rede abhebt, da der Sprachduktus an der Wahrheit seines Berichts keinen Zweifel lässt. Im weiteren Verlauf zeigt sich, dass die Frau durch die Lektüre Ernst Jüngers und das Notieren jüdischer Namen in die Nähe der verhandelten NS-Vergangenheit rückt. Diese Informationen, aus denen der Protagonist eine auf Beobachtungen basierende Geschichte erdichten könnte, werden von ihm allerdings ohne weitere Kommentare erwähnt: Die Frau macht jedenfalls Notizen in einen Notizblock von Tiffany aus rotem Wildleder, und ich lehne mich leicht herüber, um zu sehen, was sie so schreibt, aber ich kann nur Zahlen erkennen, ziemlich hohe, und davor schreibt sie verschiedene Namen in Klammern: Gideon und Onkel Walter und Aaron und Gregor, und hinter Gregor schreibt sie ein kleines Fragezeichen. (FSL 68, Herv. K.K.)

238 Einem Mädchen bescheinigt er, dass es »alles verstanden hat, was es zu verstehen gibt. Das ist mir in dem Moment klar. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Ich weiß auch nicht, woher diese Erkenntnis kommt.« (FSL 49).

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Die Deutung der eingespeisten Zeichen wird durch deren Uneindeutigkeit bzw. ihre absichtliche Unmarkiertheit einer zuverlässigen Interpretation entzogen. Auch der Protagonist lässt diese Zeichen ungedeutet, beschreibt hier ungewöhnlich nüchtern, was er sieht. Nahe läge, im Kontext des vom Protagonisten imaginierten Termins der Frau bei einer Bank die Szene als Testamentschreiben zu deuten. Vor der Lesefolie der nationalsozialistischen Vergangenheit aber könnten die hohen Zahlen als Nummern umgekommener Verwandter der Frau aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern gelesen werden. Im Rahmen der Poetik des Textes entsteht ein ungesichertes Spiel, das sowohl die normale Situation des Testaments als auch die völlige Bedeutungsleere der Zeichen und die oben nahegelegte Lesart als mögliche Deutungen zulässt. Ein vereindeutigendes Auserzählen dieser Skizze im Modus eines auktorialen Erzählens aber käme der behauptenden Sprechweise ideologischer Konzepte nahe und beanspruchte die Hoheit für die Geschichte einer jüdischen Überlebenden des Holocaust.

1.4.4 Groteske Körper-Zeichen Je länger die Reise des Protagonisten andauert, desto häufiger sind die mit der NS-Vergangenheit verknüpften Assoziationen an die als grotesk erfahrene Phänomenalität von Körpern geknüpft. Der Protagonist vermag kaum andere Menschen in ihrer Gesamtheit zu beschreiben, vielmehr erscheinen sie ihm fragmentiert oder karnevalesk zersetzt. Besonders die für den Karneval relevanten Körperteile werden in seinen Beschreibungen hervorgehoben. Auf textstruktureller Ebene bedeutet die Unfähigkeit des Protagonisten, sich beispielsweise ein zusammenhängendes Bild von seinem Freund Alexander239 zu machen, den karnevalisierten Einspruch gegen Sinn- und Identitätsfestschreibung. Auch in der Beschreibung aller Personen, die der Protagonist als Nazis ausweist, hebt er die Attribute des grotesken Körpers hervor: Ab einem bestimmten Alter sehen alle Deutschen aus wie komplette Nazis. […] Da muß man nur in bestimmte Orte fahren, wo sehr viel Rentner sind, dann kann man das sehen. […] sie haben alle überdimensionale Nasen und Ohren, weil ja die Nasen und 239 Alexander wird als fragmentiert und »mit einer großen Nase« (FSL 71) beschrieben: »Obwohl, wie ich gerade daran denke, entsteht Alexanders Bild in meinem Gehirn nur so in Einzelteilen, da fügt sich nichts zusammen, es ergibt kein Ganzes, das ich mir vorstellen könnte, nur einzelne Teile seines Gesichtes oder seine Art zu gehen oder zu sprechen« (FSL 71, Herv. K.K.). Bachtin weist im Zusammenhang mit dem grotesken Körper auf das »Motiv des zerstückelten Körpers« (Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Übersetzt von Gabriele Leupold. Hg. von Renate Lachmann. Frankfurt am Main 1995, S. 359) hin.

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Ohren im Alter immer weiter wachsen. Und diese Rentner waren alle mal früher blond, das schwöre ich. […] Ich verstehe das nicht. Früher sahen sie nicht aus wie Nazis. (FSL 98ff., Herv. K.K.)

Der Text reproduziert parodierend die Idee der nationalsozialistischen Rassentheorie, indem der Protagonist der alten deutschen Bevölkerung aufgrund von Körpermerkmalen deren Nazisein zuschreibt. Die Fokussierung auf Nasen und Ohren als fragmentierte, physische Merkmale eines Nationalsozialisten ist als karnevalesk-ironisierender Meta-Kommentar lesbar: »Als Teile des Gesichts spielen in der grotesken Körperkonzeption […] Mund und Nase eine wesentliche Rolle.[…] für sie [d.i. die Groteske, K.K.] ist alles interessant, was hervorspringt, vom Körper absteht.«240 Die plakative Bezeichnung alter Menschen als ›Nazis‹ anhand von Körpermerkmalen zeitigt auch auf der Ebene des Sprachmaterials Konsequenzen. Über die implizite Gleichsetzung der Worte ›Rentner‹ und ›Nazi‹ öffnet sich die Bedeutung des Wortes ›Nazi‹ hin zur Beliebigkeit, entsteht doch über den Verlauf des Romans der Eindruck, die Bedeutung von ›Taxifahrer‹ sei ebenfalls ›Nazi‹,241 ganz zu schweigen von Betriebsratsvorsitzenden als ›SPD-Nazi‹. Diese unkontrollierte Ausdehnung des Begriffs ›Nazi‹ führt dazu, dass innerhalb des Romans in den Augen des Protagonisten »in diesem grausamen Nazi-Leben hier« (FSL 74) bald zu Recht »alle Deutschen […] komplette Nazis« (FSL 98) werden. Die Streuung der Bedeutung von ›Nazi‹ zeugt einerseits von dessen längst überstrapazierter Verwendung. Zugleich aber stellt das Verfahren die Unmöglichkeit aus, der deutschen Vergangenheit zu entrinnen, wenn alle Zeichen Gefahr laufen, auf dasselbe Signifikat zu verweisen. Impliziert ist in dieser Ausdehnung der Bezeichnung auf alle Deutschen ebenfalls die Debatte um die Frage nach der »stets halluzinierten [Präsenz] einer deutschen Kollektivschuld«242, die in ihrer grotesken Übertreibung ironisch gebrochen wird: Obwohl die Antwort zu einfach ist, alle der Mittäterschaft zu beschuldigen, lässt sich die Auseinandersetzung mit

240 Ebd., S. 358, Herv. im Original. 241 Der Taxifahrer in Hamburg ist »natürlich ein ziemlicher Faschist« (FSL 41). Auch dem Heidelberger »Taxifahrer, der mich zur Max-Bar bringt […] sieht man es im Gesicht an, daß er einmal KZ-Aufseher gewesen ist« (FSL 99). 242 Samuel Salzborn: Opfer, Tabu, Kollektivschuld. Über Motive deutscher Obsession. In: Michael Klundt, Ders., Marc Schwietring, Gerd Wiegel (Hg.): Erinnern, verdrängen, vergessen. Geschichtspolitische Wege ins 21. Jahrhundert. Gießen 2007, S. 17–42, hier S. 22. Richard von Weizsäcker weist in seiner Rede vom 8. Mai 1985 auf die notwendige Differenzierung von je individueller Schuldbarkeit hin: »Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich« (Richard von Weizsäcker: Rede zum 8. Mai 1985. In: Web-Archiv des Deutschen Bundestages 2006. http://webarchiv.b undestag.de/archive/2006/0202/parlament/geschichte/parlhist/dokumente/dok08.html, abgerufen am 05. 04. 2022).

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dem Umstand, dass Millionen Deutsche das System des Nationalsozialismus mitgetragen haben, nicht einfach abtun. Zugleich ist die grotesk vereinfachende Zuschreibung, die der Protagonist vornimmt, als kritischer Kommentar auf die dichotomische Unterteilung von Opfer und Täter zu verstehen, die nach wie vor viele gesellschaftliche ReizReaktionen beherrscht. Diese stereotyp-vereinfachende Wahrnehmung der Welt in Täter und Opfer stellt der Text anhand des Protagonisten reproduzierend aus. Dieser verfügt – an dieser Stelle – über keine anderen sprachlichen Mittel, seine Umgebung differenzierend zu deuten. Die möglichen Deutungsansätze auszudifferenzieren, der Provokation der Aussage zu widerstehen, um sich mit ihren Implikationen zu beschäftigen, bleibt den Leser:innen überlassen. Über diese sprachliche, körperliche und motivische Differenzierungslosigkeit werden in den Text Debatten über die moralische Vergleichbarkeit verschiedener Staats- und Kriegsverbrechen eingespeist. Die groteske Wahrnehmung des Protagonisten dient dabei als kritischer Einsatzpunkt, an dem die Brüchigkeit der vom Protagonisten präsentierten Welt deutlich wird. Auf Rollos Geburtstagsparty am Bodensee scheint Karins Mund ein solch groteskes Eigenleben zu führen, das »schon den Kern eines anderen Körpers darstell[t]«.243 So erinnert die Beobachtung den Protagonisten an die Geschichte seines aus Ungarn geflohenen Lehrers Solimosi: Ihr Mund bewegt sich wie von selbst, so als ob der Mund ein von ihr losgelöstes Wesen wäre, gar nicht ein Teil von ihr. Einfach nur so ein Ding, das sich bewegt, ohne Gesicht drum herum, und erst recht ohne Körper. Ihr Mund erinnert mich an den Mund von Herrn Solimosi, der Ungar war und sich so aussprach: Härr Schollmoschi. Er war Elektro-Arbeitsgruppenleiter. Das hieß bei uns wirklich so. Ein bißchen wie im Dritten Reich. (FSL 149, Herv. K.K.)

Bachtin beschreibt den grotesken Körper – der Beschreibung von Karins Mund ähnlich – als stets in Auflösung und Wandlung begriffen, so dass einzelne Körperteile sich »sogar vom Körper lösen […] [und] ein selbständiges Leben führen«244 können. Der Mund ist »der wichtigste Gesichtsteil […] in der Groteske […]. Er dominiert. Das groteske Gesicht läuft im Grunde auf einen aufgerissenen Mund hinaus«.245 In der Assoziationskette von Karins Mund zu Herrn Solimosis Biografie verbinden sich die unmittelbare Gegenwart mit individueller sowie überindividuell-historischer Vergangenheit, in der die groteske Körperauflösung den Zusammenhang zwischen verschiedenen historischen, von Fremdbestimmung geprägten Unterdrückungs- und Gewaltsystemen aufzeigt. Denn Karins Mund 243 Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 359. 244 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 17. 245 Ebd., S. 16.

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bewegt sich nicht nur »wie von selbst« (FSL 149) und verweist damit auf die später erwähnte Formulierung über ein technisiertes, sich selbst produzierendes Deutschland als »große[…] Maschine, die sich selbst baut« (FSL 161). Er leitet motivisch zur Lebensgeschichte des Lehrers Solimosi über, der Teil des Ungarischen Volksaufstands von 1956 gegen die sowjetische Besatzungsmacht gewesen und »nach irgendeinem Budapester Aufstand nach Deutschland geflüchtet« (FSL 149) sei. Seine Geschichte ist geprägt von Flucht, Verfolgung und Gewalt. Aufgrund seines unmittelbaren Interesses am ästhetisch-klanglichen Aspekt von Sprache muss der Protagonist beim Ausdruck ›Elektro-Arbeitsgruppenleiter‹ sogleich an den Sprachduktus des ›Dritten Reich[s]‹ denken. Solcherlei klangliche Sprachphänomene führen in Faserland häufig zu Sinnaufschub und Bedeutungsentleerung, aber auch – wie oben am Beispiel der Abkürzungen gezeigt – zur Vertuschung von Gewaltstrukturen. In jedem Fall gerät immer dann, wenn das Sprachmaterial in den Vordergrund tritt, die Kommunikation ins Stocken. Daher erzählt der Protagonist auch hier zunächst von Solimosis stets misslingender Kommunikation: Das Lustige an ihm war, daß ihn keiner verstand. Er machte den Mund auf, und es kam nur Unsinn heraus. Es klang wie wirres Zeug.246 […] Auf jeden Fall hat ihn nie jemand verstanden bis auf einen Schüler […]. Beim Sportunterricht mußte der Junge, dessen Name mir nicht mehr einfällt, immer übersetzen, was Herr Solimosi für Anweisungen gab. Laufä zu Polände hieß zum Beispiel: Lauft zur Polenlinde. (FSL 149)

Das Versagen eines sinnstiftenden Sprechens ist bei Karin und Solimosi gegensätzlich codiert: Karins Plappern verstärkt gerade ihre Schönheit, denn »[d]as ist wirklich das Gute an ihr, daß man hinhören kann oder nicht, und beides ist genau gleich viel Wert, im Endeffekt. […] Sie ist wirklich schön« (FSL 148–149).247 Bei Herrn Solimosi nimmt die Sprachohnmacht allerdings eine gegenteilige Wendung. Das reine Klangphänomen, das über weite Strecken des Romans positiven Charakter hat, wird hier in Form der ›Polände‹ zunächst als lustig empfunden, dann jedoch ins Negative gewendet. Im Gegensatz zu den Neckarauen,248 die zu

246 Der Text konterkariert in dieser Haltung zugleich die Rede von einem Unsagbarkeitstopos, wonach »Sprachzerstückelung als gesteigerte[r] Ausdruck einer grundsätzlichen Dissoziationserfahrung« (Peter Philipp Riedel: Über das Unsagbare in der Literatur. Zur Poetik von W.G. Sebald und Günter Grass. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 124 (2005), H. 2, S. 261–284, hier S. 277) fungiert. 247 Diese Struktur findet sich wiederholt in Faserland. So redet Eugen »etwas völlig Unzusammenhängendes, aber er trägt es so vor, daß alle […] still sind und zuhören« (FSL 101). Dem Taxifahrer in Zürich hört der Protagonist ebenfalls wegen seines »schönen italienischen Schweizerdeutsch« (FSL 163) gerne zu. 248 »Neckarauen. Das macht einen ganz kirre im Kopf, das Wort. So könnte Deutschland sein, wenn es keinen Krieg gegeben hätte und wenn die Juden nicht vergast worden wären. Dann wäre Deutschland so wie das Wort Neckarauen.« (FSL 90).

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Karneval im Fatherland – Christian Krachts Faserland

einem scheinbar positiven Shibboleth werden, trägt die Polenlinde eine klar zu bestimmende, negativ besetzte Bedeutung: An den Ästen dieser Linde wurden während des Zweiten Weltkrieges zwei polnische Fremdarbeiter aufgehängt, die es gewagt hatten, im Dorf einen Laib Brot zu stehlen. Die Polenlinde war seitdem der Umkehrpunkt für einen Dauerlauf der Salem-Schüler. Und der Herr Solimosi ordnete diesen Dauerlauf gerne an […]. Ich habe immer überlegt, ob der Lauf zur Polenlinde, […] nicht so eine Art Rache sein könnte, von Herrn Solimosi im Namen aller Slawen an uns Deutschen. Und ob ich nicht Buße tun könnte für die Verbrechen der Nazis, dadurch, daß ich zur Polenlinde und zurück laufe. Das habe ich tatsächlich gedacht, damals. (FSL 149f.)

Die ›Polände‹ kann für den Protagonisten kein positives Klangerlebnis entwickeln, da sich an das Wort diskursive außertextliche Bedeutungen knüpfen:249 Über die folgenreichen Anspielungen wird das Bedürfnis nach Vergangenheitsbewältigung auf Seiten des Tätervolkes reproduziert, wenn der Protagonist von der Idee erzählt, seine Buße körperlich ritualisiert abzuarbeiten, dies aber als ein vergangenes Erinnerungs- bzw. Schuldkonzept ausweist. Demgemäß bemerkt Andrzej Kopacki treffend, der Protagonist lege bezüglich seiner Erzählung über die Polenlinde eine »kognitive Ignoranz«250 an den Tag, wenn er von der Rache ›im Namen aller Slawen‹ spricht, wo im Roman lediglich von zwei polnischen Fremdarbeitern die Rede ist. Durch den Kurzschluss von der Gewalttat an den beiden polnischen Fremdarbeitern zu den ›Verbrechen der Nazis‹, die den Holocaust evozieren, erweitert sich die kognitive Ignoranz zu einer moralischen Ignoranz.251 Diese ausgestellte Ignoranz gegenüber den jeweils spezifischen historischen Ereignissen fordert von den Lesenden, zwischen der scheinbaren Provokation und ihrem kritischen Potential zu unterscheiden. In der Konfrontation von zwei Einzelschicksalen mit dem von Millionen systematisch getöteten Jüdinnen und Juden und der Geschichte Solimosis, der als politischer Flüchtling vor der ehemaligen sowjetischen Besatzungsmacht geflohen war, aber

249 Das Kompositum Polenlinde erinnert an das parallel gebaute Kompositum der Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff. Die Linde stellt in der Literatur üblicherweise das Symbol für Heimat und Heimkehr sowie für die Zusammenkunft und die Liebe dar. Über den später im Text evozierten Intertext zu Thomas Manns Zauberberg lässt sich ein weiterer Bezug herstellen: Schuberts Vertonung des Gedichts Der Lindenbaum von Wilhelm Müller aus dem Liederzyklus Winterreise (D 911) von 1823 ist eines der von Hans Castorp bevorzugten Lieder. In der obigen Szene aber wird die Linde gerade zum Gegenteil von Heimat und Heimkehr: Sie bedeutet Tod und Buße. 250 Kopacki, Christian Kracht, Tristesse Royale und die Möbiusschleife, S. 269. 251 In der moralischen Ignoranz des Protagonisten zeigt sich deutlich, dass er keine Vorstellung davon entwickeln kann, wofür zu büßen ist. Kopacki betont, dass der Erzähler sich »jeder an kognitiven und moralischen Beweisgründen reichen Debatte entzieht, weil er eben ein Ignorant ist und seinem Diskurs jede Axiologie abspricht« (Kopacki, Christian Kracht, Tristesse Royale und die Möbiusschleife, S. 269).

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Zeichendeutung

»[i]rgendwann […] zurück nach Ungarn [mußte], weil das Regime dort seine Familie bedrohte« (FSL 150), drängen sich erinnerungstheoretische Fragen nach der Vergleichbarkeit historischer Katastrophen auf. Das Nebeneinanderstellen dieser Geschichten erfordert gerade von den Lesenden eine ausgewiesene Differenzierung, wie sie etwa im Konzept der »multidirectional memory«252 von Michael Rothberg zum Ausdruck kommt. So wird mit Solimosis Geschichte, im Kontext der Erwähnung des Holocaust, auf die – noch keineswegs hinreichend gesellschaftspolitisch aufgearbeiteten – Gewalt- und Staatsverbrechen während des Kalten Kriegs auf Seiten der Sowjetunion hingewiesen. Die saloppe Haltung des Protagonisten ist daher nur vordergründig als Ignoranz lesbar. Dies wird deutlich, wenn in der Erzählung des Protagonisten das Motiv des grotesken Munds mit Gewalt- und Sexualitätsanspielungen überblendet wird: Ich starre weiter auf Karins Mund, und ich sehe Herrn Solimosis Mund, wie er in einem Keller der ungarischen Geheimpolizei auf und zu schnappt, in diesem Moment redet er auch viel, und die Geheimpolizisten verstehen ihn, aber es gefällt ihnen nicht, was er sagt und sie schlagen Herrn Solimosi deswegen auf den Mund, immer wieder. In diesem Moment beuge ich mich nach vorne, weil ich Karins Mund küssen will. Ich will diesen wunderschönen, dummen Mund küssen, aus dem nur sinnloses Geplapper herauskommt, leeres, wirres Zeug. (FSL 150f.)

Voyeuristische Gewalt und Sexualität werden mit einer Opfer-Täter-Dichotomie überblendet. Anhand der blonden, blauäugigen Karin wird deutlich, dass Sprach-(ohn-)macht historisch-kontextuell abhängig ist. Die textuelle Anordnung suggeriert die sexuelle Erregung des Protagonisten durch die Vorstellung von Gewalt, die Herrn Solimosi widerfährt. Die milde ›Gewalt‹, die der Protagonist verübt, ist, den Inhalt von Karins Rede zu ignorieren. Textuell werden in dieser Szene Schlagen und Küssen parallelisiert und der körperlichen Begegnung Gewalttendenzen eingeschrieben.

1.4.5 Groteskes Erinnern Dass es nicht zum Kuss zwischen ihm und Karin kommt, ist für Faserland programmatisch. Schon zu Beginn des Romans kommen die beiden sich näher, doch der Körper des Protagonisten reagiert auf diese Berührung mit Unbehagen: »Unterwegs streift Karins Hand ganz kurz meine Hand, und ich bekomme einen Hustenanfall« (FSL 22). Kurz darauf heißt es: »Dann küßt sie mich auf den Mund. 252 Michael Rothberg: Multidirectional Memory. Stanford 2009. Rothberg kontrastiert die Vorstellung von »›competitive memory‹ with a theory of ›multidirectional memory‹ that redescribes the public sphere as a field of contestation where memories interact productively and in unexpected ways« (ebd., Klappentext).

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Karneval im Fatherland – Christian Krachts Faserland

Sie schmeckt nach Champagner und nach warmer Haut. Ich schließe die Augen, aber dann wird mir schwindelig« (FSL 25). Der Körper fungiert hier als Medium und Ort der Auseinandersetzung und der Anbindung an das kulturelle bzw. kollektive Gedächtnis. Er wird zum Symptom für eine Diagnose der deutschen Befindlichkeit.253 Die körperlichen Handlungen und Reaktionen des Protagonisten lassen sich als Kreuzungspunkt zweier verschiedener Modelle lesen. Zum einen korrespondiert die Präsenz nationalsozialistischer Zeichen und deren konventionelle Verhandlung mit einer körperlichen Entgleisung des Protagonisten. Zum anderen zeigt er sich als grotesker (d. h. verkehrter) Wiedergänger des Assmann’schen Konzepts vom Körper als Gedächtnis- bzw. Erinnerungsmodell. Unter Rückgriff auf Augustinus’ Gedächtnismetapher des Magens bestimmt Aleida Assmann den Magen als Ort eines latenten Gedächtnisses: »Augustinus Bild vom Magen ist ein Bild für das Gedächtnis im Latenz-Zustand zwischen Absenz und Präsenz.«254 In diesem Stadium der Latenz brechen die Zeichen nationalsozialistischer Prägung, einer »›mémoire involontaire‹, eine[r] ›rumorende[n] Erinnerung‹«255 gleich, ein. Diese Form der plötzlichen, unkontrollierten Erinnerung taucht nach Assmann vor allem in Bezug auf Orte, die von Tätern besetzt sind, auf. Insbesondere das Bild des wiederkäuenden Kuhmagens als Medium der Erinnerung, der »ein Ort der Verarbeitung und Umsetzung, nicht des Konservierens«256 ist, erscheint in Faserland in verkehrter Weise. Der Mechanismus einer abschließenden Verarbeitung und Bewältigung der Erinnerungsinhalte wird beim Protagonisten durch eine stets verfrühte und zumeist umgekehrte Ausscheidung unterlaufen.257 Die permanenten Ausscheidungen, die im Roman thematisiert werden, werden als Merkmale des von Bachtin beschriebenen grotesken Körpers258 lesbar, so dass für Faserland von einer karnevalisierten Revolte auf körperlicher Ebene gesprochen werden kann. Bis auf die 253 Das gilt insbesondere auch für die bundesdeutsche Ästhetik, mit der das Land überzogen ist. Nicht zufällig kommt der Protagonist beispielsweise angesichts der Zugeinrichtung zu dem Schluss: »Heute ist alles so transparent, ich weiß nicht, ob ich mich da richtig ausdrücke, jedenfalls ist alles aus Glas und aus so durchsichtigem türkisen Plastik, und es ist irgendwie körperlich unerträglich geworden.« (FSL 27, Herv. K.K.). 254 Assmann, Erinnerungsräume, S. 167. 255 Ebd., S. 334. 256 Ebd., S. 166. 257 Passend dazu spricht Moritz Baßler von einer »halbverdauten Salembildung« (Baßler, Der deutsche Pop-Roman, S. 114) des Protagonisten. Überträgt man die Struktur der verkehrten Ausscheidung auf die erzähltheoretische Gesamtanlage des Romans, wird der Protagonist als Ausscheidungsprodukt des Landes lesbar. Er selbst reist durch den Körper des Landes und wird schließlich in die Schweiz ausgeschieden. 258 »Die wesentlichen Ereignisse im Leben des grotesken Leibes, sozusagen die Akte des Körper-Dramas [sind] Essen, Trinken, Ausscheidungen (Kot, Urin, Schweiß, Nasenschleim, Mundschleim) […] Zerfetzung, Zerteilung, Verschlingung.« (Bachtin, Literatur und Karneval, S. 17).

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Zeichendeutung

Scampi zu Beginn des Romans nimmt der Protagonist fast keine feste Nahrung zu sich. Ihm ist schon zu Beginn des Romans übel, er muss mehrfach erbrechen und zeigt eine hohe Aufmerksamkeit für Ausscheidungen aller Art. Wenn der Protagonist erbrechend und defäkierend durch sein Faserland reist, lassen sich diese grotesken Auswüchse des Körpers als metonymische Verschiebung des unentrinnbaren Unbehagens an der Vergangenheit interpretieren. Diese Abwehr manifestiert sich in konkreten Situationen, in denen es zum Körperkontakt mit anderen Menschen kommt. Dabei gibt es jedoch einen graduellen Unterschied. Karin, die durch ihre Beschreibung als blond und mit »ziemlich blaue[n] Augen« (FSL 16) plakativ als arisch dargestellt wird,259 kann er zwar nicht ohne körperliche Folgeerscheinungen berühren, er behält jedoch alle Körperausscheidungen bei sich. Im Gegensatz dazu fallen die Reaktionen bei Körperkontakten mit Mädchen, die jüdische Namen tragen, extremer aus. Dort reagiert der Körper des Protagonisten mit unkontrollierten Körperausscheidungen. Bei einem Besuch bei seiner Jugendliebe – die er »jetzt mal einfach Sarah« (FSL 35) nennt und damit der Lesart, Sarah sei jüdischer Herkunft, Vorschub leistet, sie jedoch zugleich durch die ausgestellte Fiktion unterminiert – stellt er, nachdem er von ihr einen Kuss bekommen hat, fest, »daß ich ins Bett gekotzt habe, aber das ist nicht alles, nein, ich habe auch noch ins Bett geschissen« (FSL 36). Auch bei Anne (deren Name eine Kurzform von Hannah ist) misslingt die Annäherung: »Ich hab einmal im P1 versucht, sie aufzureißen, und das ist damals ziemlich in die Hose gegangen, da ich betrunken war und kotzen mußte« (FSL 20, Herv. K.K.). Hier unterstützt die Wortwahl erneut den grotesken Körperausbruch und verschiebt ihn auf die sprachliche Ebene. Auch in der unkörperlich bleibenden Begegnung mit der alten Frau im Flugzeug kommt es zu einer doppelt metonymisch verschobenen Ausscheidung: Der Protagonist ›nässt‹ seine Barbourjacke mit den zuvor am Flughafen gehorteten und nun auslaufenden Jogurts ein.260 Die umgekehrte Verdauung des Protagonisten repräsentiert die zum Zwang gewordene Notwendigkeit des ritualisierten und instrumentalisierten Erinnerns in der Nachkriegsliteratur und -kultur auf parodistische Weise und entlarvt die Vorstellung einer abschließenden Bewältigbarkeit durch stereotype, abstrakte

259 Karin ist darüber hinaus auch der Name von Görings erster Frau (Carin), nach der dieser seinen Herrensitz nordöstlich von Berlin in Groß Schönebeck benannte (»Carinhall«). Dadurch ist der Name Karin in ein Bedeutungsnetz nationalsozialistischer Bezüge verflochten. Diese Suggestion wird jedoch durch den Zweifel des Protagonisten an der Echtheit von Karins Augenfarbe zurückgenommen: »Ob das gefärbte Kontaktlinsen sind?« (FSL 16) Das verweist auf die trügerische Sicherheit, die das Decodieren scheinbar eindeutiger Zeichen erzeugt. 260 »[…] da merke ich, wie mein Hintern ganz feucht wird, als ob ich mir in die Hose gemacht hätte« (FSL 63).

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Karneval im Fatherland – Christian Krachts Faserland

Erinnerungsrituale als »kulturelle Verdauungsstörung«.261 Lustempfinden in Faserland ist daher nicht nur mit Gewalt, sondern auch mit Ausscheidungen verbunden. Das Schmecken der Ausscheidungen Anderer ist die einzig gelingende ›Körperberührung‹ mit Anderen: Ich sehe aus dem Fenster […] und ich muß daran denken, wie ich mich früher immer aus dem Zugfenster gelehnt habe, den Kopf im Fahrtwind, bis die Augen tränten, und wie ich immer gedacht hab, wenn jetzt jemand auf der Toilette sitzt und pinkelt, dann fliegt die Pisse von unter dem Zug nach oben und zerstäubt in Fahrtrichtung ganz fein auf mein Gesicht, so daß ich es nicht merke, nur daß ich dann eben so einen Urinfilm auf dem Gesicht habe, und wenn ich mir mit der Zunge über die Lippen fahren würde, dann könnte ich das schmecken, die Pisse von Fremden. Da war ich zehn, als ich das gedacht habe. (FSL 27)

Auch in der folgenden Episode scheint eine Annäherung nur über einen doppelten Umweg zu gelingen. Die motivische Trias von Lust – Ausscheidungen – Körpernähe mit der Verkehrung von Mund und Unterleib zeigt sich auch bei einem Flirt im Café Eckstein in Frankfurt. Dort empfindet der Protagonist beim Anblick der »extrem weißen Zähne« (FSL 84) eines Mädchens ein[en] kleine[n] angenehme[n] Schauer […] der gleiche Schauer übrigens, den ich auf öffentlichen Pissoirs bekomme, wenn ich auf die Duftwürfel pisse und dann den süßlichen Geruch der Duftwürfel, gemischt mit dem etwas schärferen Geruch des Urins, einatme. Der gleiche Schauer ist das. Er beginnt irgendwo in der Wirbelsäule hinten und saust dann hoch und endet in den Ohren, und dann muß ich mich immer so wohlig schütteln. Ich schüttle mich also (FSL 84).

Nach dem Prinzip des Karnevals stellen die körperlichen Ausscheidungen das Verbindungsglied zwischen dem Menschen und dem Kosmischen dar. Durch sie hat der einzelne Mensch Anteil an dem ihn übersteigenden Ganzen: »Kot und Urin verkörperlichen die Materie, die Welt und die kosmischen Elemente, sie bringen sie in intime Nähe zum Menschen, machen sie körperlich-begreiflich, denn diese Materie und dieses Element werden vom Körper selbst produziert und ausgeschieden. Urin und Kot verwandeln kosmisches Entsetzen in Karnevalsheiterkeit.«262 Dass die Annäherung im Café Eckstein zunächst Erfolg zu haben scheint, ist nicht nur der Assoziation von körperlichen Ausscheidungen geschuldet. Der Flirt spielt sich überdies über das Medium des Spiegels ab und verweist hier schon deutlich auf die kommende Fluchtbewegung in heterotopische Räume.263 Die Annäherung kann nur über den Spiegel gelingen, da er nach 261 Assmann, Erinnerungsräume, S. 176. Vgl. dazu die Debatte anlässlich der Rede Martin Walsers zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998. 262 Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 377, Herv. im Original. 263 »Während ich mir das so überlege, bemerke ich, wie eines von den Mädchen am Tisch immer in den Barspiegel sieht, und zwar durch den Spiegel mir direkt in die Augen« (FSL 84).

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Heterotopische Fluchten

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Foucault die Heterotopie schlechthin darstellt. Heterotopien stehen in »Beziehungen mit allen anderen Orten […], aber so, dass sie alle Beziehungen, die durch sie bezeichnet, in ihnen gespiegelt und über sie der Reflexion zugänglich gemacht werden, suspendieren, neutralisieren oder in ihr Gegenteil verkehren«.264 In diesem Fall ist der heterotopische Ort auf ein utopisches Moment hin geöffnet, scheint in diesem Raum doch eine Annäherung möglich. Im Moment, in dem der Protagonist »zu dem Mädchen an den Tisch gehen und [s]ich vorstellen« (FSL 85) will, scheitert sein Unternehmen an der tatsächlichen Präsenz seines – ehemaligen – Freundes Alexander. Von Alexanders Auftauchen und dessen Ignoranz265 gänzlich aus der Bahn geworfen, flieht er »dann ziemlich schnell […] aus Frankfurt« (FSL 87)266 – nicht ohne Alexanders Barbourjacke als beschützenden Ersatz267 für seine eigene verbrannte zu stehlen. Seine Flucht treibt ihn an weitere, heterotopisch inszenierte Orte.

1.5

Heterotopische Fluchten

Aus dem von nationalsozialistischen Zeichen durchsetzten Deutschland versucht der Protagonist einen dreifachen erzählerischen Ausweg zu finden: 1. In Heidelberg entflieht er in eine romantisierende Heterotopie, die sich als von Ironie gezeichnet entpuppt. 2. Mit seiner Weiterreise in die Schweiz versucht er Deutschland räumlich zu entfliehen. Dort wird er zum exilierten Thomas-MannPilger, dessen Jüngerschaft jedoch scheitert. 3. Die dritte Flucht bleibt eine imaginäre, kontrafaktische Exil-Erzählung, in der der Protagonist erneut versucht, Hoheit über seine Narration zu gewinnen. Alle drei Fluchten zielen auf eine Auflösung aus der (sprachlichen) Verstrickung mit der deutschen Vergangenheit.

264 Foucault, Von anderen Räumen, S. 320. 265 »Das haut mich natürlich um. […] weil ich da ja überhaupt nicht drauf vorbereitet bin, ihn zu treffen meine ich. Das Beste kommt jetzt aber noch: Er sieht mich nicht. Er sieht mich überhaupt nicht, das muß man sich mal vorstellen.« (FSL 85). 266 Auch wenn er das sogleich in Abrede stellt, es durch sein Leugnen jedoch umso eindeutiger wirkt: »Nicht weil es so deprimierend gewesen ist, das mit Alexander, sondern weil ich überhaupt nicht wußte, was ich in dieser Stadt soll.« (FSL 87). 267 »Die Barbourjacke ist schön warm, auch wenn kein Futter drinnen ist, und ich stecke die Hände in die Außentaschen« (FSL 86).

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Karneval im Fatherland – Christian Krachts Faserland

1.5.1 Romantische Ausflucht: Heidelberg In Heidelberg fantasiert sich der Protagonist ein heterotopisch-kontrafaktisches Deutschland, das frei von nationalsozialistischer Vergangenheit sein soll, sich den Lesenden jedoch im Zeichen romantischer Ironie offenbart. Angestoßen durch Matthias Horx sinnierendes »Ah […] Heidelberg. Old Heidelberg« (FSL 90) und um nicht länger mit Horx Zug fahren zu müssen, steigt der Protagonist in Heidelberg aus. Einem Mantra gleich begleitet ihn dieser Satz und leitet seine Beschreibung der Stadt ein: »Old Heidelberg. Das geht mir durch den Kopf, und nachdem ich Matthias Horx auf Wiedersehen gesagt habe, murmele ich es ein paar mal so halb laut vor mich hin. Old Heidelberg, Old Heidelberg. Hier steige ich aus.« (FSL 90) Das Wort ›Old‹ verweist auf einen kulturellen Raum der Vergangenheit. Das Kompositum ›Old Heidelberg‹ ist zudem ein Intertext zu Joseph Victor Scheffels Gedicht Alt Heidelberg, das die Stadt als Mythos inszeniert.268 In Scheffels Gedicht wird der Stadt ein Exklusivitätsstatus zugesprochen und deren naturverbundene Idylle inszeniert: »Alt-Heidelberg, du feine, […] Kein’ andre kommt dir gleich. […] Dein Name mir so traut.«269 Vor diesem intertextuellen Hintergrund liefert der Protagonist bei seiner Ankunft pseudohistorische Erklärungen über den städtebaulichen, gegenwärtigen Zustand Heidelbergs: Die Amerikaner wollten Heidelberg nach dem Zweiten Weltkrieg zu ihrem Hauptquartier machen, deswegen ist es nie zerbombt worden, und deswegen stehen die ganzen alten Gebäude noch, so, als ob nichts geschehen wär, außer natürlich dem miesen Pizza Hut und irgendwelchen Sportartikelläden, und eine riesige Fußgängerzone gibt es natürlich auch. Der Bahnhof aber, der ist noch ein richtiger Bahnhof, so aus den fünfziger Jahren, und wenn man herauskommt, dann leuchtet einen so eine gigantische Weltkarte aus Neon an, auf der steht irgend etwas von Heidelberger Druckmaschinen, führend in der Welt. (FSL 90)

Die positive Beschreibung der Stadt als intakt und vom Krieg unberührt, erweist sich sogleich durch das einschränkende ›außer natürlich‹ als trügerisch. Der Protagonist lässt sich davon jedoch nicht beirren. Wie die Vergangenheit bzw. die Erinnerung aufscheint, so leuchtet in der Reklame für die Heidelberger Druck268 Wilhelm Meyer-Försters Schauspiel Alt-Heidelberg von 1901 basiert auf Scheffels Gedicht. Das konservative, überkommene und starre Standeszugehörigkeiten zementierende Stück war – auch über verschiedene Adaptionen hinweg – ein internationaler Erfolg. Ernst Lubitsch bearbeitete das Schauspiel Meyer-Försters für einen gleichnamigen Stummfilm im Jahre 1927. Auch in den USA wurde das Stück unter dem Titel The Student Prince als Musical, von dem amerikanischen Komponisten Sigmund Romberg konzipiert, seit 1924 am Broadway aufgeführt. 269 Joseph Victor Scheffel: Alt-Heidelberg. In: Helmuth Kiesel (Hg): Heidelberg im Gedicht. Zwölf Gedichte und Interpretationen. Frankfurt am Main, Leipzig 1996, S. 79.

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maschinen auch metonymisch das Medium der Geschichtsschreibung auf und beansprucht durch den Slogan ›führend in der Welt‹ Hoheit und Exklusivität der Deutung. Statt sich mit dieser gigantischen Welt der Schriftkultur auseinanderzusetzen, konfrontiert der Protagonist diese Perspektive mit der explizit mündlich-klanglichen Kultur, die in Faserland auf Potentialität und alternative Geschichtsentwürfe hinweist.270 Der im Text folgende Satz ist einerseits abschließender Art, wenn er als die vorigen stadtgeschichtlichen Ausführungen beschließender, lakonischer Kommentar aufgefasst wird: »Das ist nun Heidelberg« (FSL 90). Da vor dem Satz aber ein Absatz steht, ist er als eröffnender Satz andererseits dem beginnenden Absatz zugeordnet. Dort präsentiert der Protagonist eine alternative Beschreibung Heidelbergs, die auf Naturbeschreibungen setzt und dem ephemeren Gehörsinn den Vorrang gibt. Das Wort ›Neckarauen‹ scheint für den Protagonisten »semantisch nicht kontaminiert«271 und vermag durch seine klangliche Qualität eine andere, alternative Wirklichkeit zu beschwören: Das ist nun Heidelberg, und es ist wirklich schön dort im Frühling. Dann sind die Bäume schon grün, während überall sonst in Deutschland noch alles hässlich und grau ist, und die Menschen sitzen in der Sonne an den Neckarauen. Das heißt tatsächlich so, das muß man sich erst mal vorstellen, nein, besser noch, man sagt das ganz laut: Neckarauen, Neckarauen. Das macht einen ganz kirre im Kopf, das Wort. (FSL 90)272

Die Vorstellung eines vormodernen Naturraums mobilisiert hier die Idee eines anderen Deutschlands. Gewährleistet wird der Zugang zu dieser anderen Welt in der durch Wiederholung erzeugten Zersetzung der Semantik zugunsten rein klanglicher Qualitäten. Die ›Neckarauen‹ werden so zum romantischen Zauberwort, gleich der Beschwörung in Eichendorffs Gedicht Die Wünschelrute: »Schläft ein Lied in allen Dingen,/Die da träumen fort und fort,/Und die Welt hebt an zu singen,/Triffst du nur das Zauberwort«.273 Das Wort übernimmt damit die von Foucault formulierte Funktion einer Eingangsbedingung von Heterotopien, die »stets ein System der Öffnung und Abschließung voraus[setzen], das sie isoliert und zugleich den Zugang zu ihnen ermöglicht. […] man muss Eingangs- und Reinigungsrituale absolvieren«274, um sie betreten zu können.

270 Dass diese alternative Kultur und Geschichte durch die Mündlichkeit ephemeren Charakter aufweist, entspricht der Struktur der Potentialität. 271 Bronner, Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 94. 272 Daniel Kehlmann fasst diese Stelle als »eine späte Bestandsaufnahme der psychischen Verheerungen, die die deutschen Verbrechen in den Seelen bewirkt haben, in den Seelen der Generationen« (Kehlmann, Bord-Treff und Neckarauen, S. 20) auf. 273 Joseph von Eichendorff: Sämtliche Gedichte und Versepen. Frankfurt am Main 2007, S. 271. 274 Foucault, Von anderen Räumen, S. 325.

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Die Beschreibungen Heidelbergs stehen zudem in der Tradition des von Joseph von Eichendorff in Halle und Heidelberg mehr erfundenen als real existierenden Bilds eines idyllisch-romantischen Heidelbergs: Insbesondere aber gab es dazumal in Heidelberg einen tiefen, nachhaltenden Klang. […] Heidelberg ist selbst eine prächtige Romantik; da umschlingt der Frühling Haus und Hof und alles Gewöhnliche mit Reben und Blumen, und erzählen Burgen und Wälder ein wunderbares Märchen der Vorzeit, als gäbe es nichts Gemeines auf der Welt.275

In diese konjunktivische Heterotopie bricht jedoch die tatsächliche Geschichte in der Form des ausschließenden Einschlusses ein: »So könnte Deutschland sein, wenn es keinen Krieg gegeben hätte und wenn die Juden nicht vergast worden wären. Dann wäre Deutschland so wie das Wort Neckarauen.« (FSL 90) Der Holocaust wird zur negativen Bedingung des alternativen Geschichtsentwurfs.276 Georg Mein betont, dass dieser eine »Entgleisung des gesamten europäischen Systems der tragenden Referenzen«277 darstellt. In einer kulturgeschichtlichen Genealogie sei das Judentum, vereinfacht gesagt, die Referenz der christlichen Religion und Kultur. In dem Maße, in welchem die Nationalsozialisten die Jüdinnen und Juden systematisch vernichteten, beraubten sie sich ihrer eigenen kulturellen Referenz.278 Was bleibt, ist eine rekursive Gründung auf den verbliebenen negativen Resten dieser kulturellen Referenz: der Holocaust. Diese Struktur entspricht dem Mechanismus der Heterotopie. Als einschließender oder bedingender Ausschluss kann die vom Protagonisten erzählte Heterotopie keinen Ausweg aus dem durch die Vergangenheit kontaminierten Deutschland gewährleisten. Diese wechselseitige Bedingung aber vermag er nicht zu erkennen. Er kommt vielmehr, der durch die Neckarauen evozierten romantischen Idylle aufsitzend, zu dem fatalen Schluss, dass in Heidelberg ein unmittelbares, von Ironie freies Sprechen möglich ist und dass, in den Worten Eichendorffs, ›es

275 Joseph von Eichendorff: Halle und Heidelberg. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Band 5. Hg. von Hartwig Schultz. Frankfurt am Main 1993, S. 416–452, hier S. 430. 276 Unterstützt wird die Ansicht des Protagonisten durch seine Bemerkung, in Heidelberg sei es »noch richtig hell, und man hat so das Gefühl, daß es noch lange hell sein wird, so ein Licht ist das. So ein Licht gibt es gar nicht in Norddeutschland.« (FSL 96) Die Lichtmetapher zielt – vor allem mit der Abgrenzung zum Norden, wo der »Himmel riesengroß [ist] und er erdrückt einen fast« (FSL 103) und wo Unwetter nur als »Wagner-Nazigewitter« (FSL 103) denkbar sind – auf die Präsenz von Aufklärung und Vernunft ab. 277 Georg Mein: Filiation im Faserland. Die Negation der Väter als Opfer der Söhne. In: HansChristoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.): Figurationen von Adoleszenz: Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane II. Bielefeld 2009, S. 15–32, hier, S. 26. 278 Kracht selbst spricht in einem Interview von der »grausamen Selbstamputation« der Deutschen. (Thomas Lindemann: Christian Kracht und die nackte Angst. In: Die Welt 13. 10. 2008).

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nichts Gemeines auf der Welt‹ geben könne.279 Das veranlasst ihn dazu, erstmals alle Sozialbeziehungen positiv zu bewerten: »Alle sind sehr, sehr nett. Ich glaube, keiner meint es ironisch« (FSL 101). Mit diesem Satz entsteht ein expliziter Bruch zwischen Protagonist und Erzähler: Während der Protagonist dem unmittelbaren Anschein unterliegt, weil »es sieht so friedlich aus von hier oben, so wunderschön betulich alles. Wenn ich betulich sage, dann meine ich das wirklich ernst, und nicht zynisch, so wie das vielleicht hier jetzt klingt« (FSL 96), distanziert sich der Erzähler in diesem Augenblick von seiner Figur und unterläuft die ausgesagte Negation von Ironie durch explizit ironisches Verkehren des Inhalts. Die Ironie fällt durch ihre vom Protagonisten postulierte Negation gerade in den Text ein. Die Überbetonung eines ungebrochenen, »wirklich ernst[en]« (FSL 96) Sprechens verstärkt den ironischen Effekt. Ähnlich der Beobachtung über die potentielle Schönheit der Neckarauen, grundiert auch hier das Ausgeschlossene die Bedeutung des Folgenden. Für Andrzej Kopacki hat diese Figur die Funktion eines »Trick ›sous rature‹, das heißt, eines durchgestrichenen Schriftzugs, der jedoch seine Verbindlichkeit nicht verliert«.280 Der Protagonist verfestigt durch die wiederholte Nennung des Wortes ›Ironie‹ deren Präsenz im Text: »Vielleicht merke ich die Ironie einfach nur nicht.« (FSL 102) In diesem Bruch treten histoire und discours auseinander. Der Protagonist vermag, von seinem allwissenden Erzähler-Ich verlassen,281 nicht in Distanz zu dem von ihm evozierten Bild Heidelbergs zu treten.282 Der Einbruch des Karnevals nimmt in Heidelberg die Form romantischer Ironie an. Beide haben die »gleiche Grundstruktur von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung […]. Das Groteske negiert 279 Unterstützt wird diese Tendenz durch die Suggestion einer Entwicklung des Protagonisten. Während er zuvor kaum in Berührung mit den von ihm durchreisten Räumen gekommen ist, betont er in Heidelberg, dass »die Bäume […] so über dem Taxi entlangstreichen« (FSL 103, Herv., K.K.). Die durch das Verb ›entlangstreichen‹ angedeutete Berührung wird durch die Präposition ›über‹ sogleich wieder relativiert. Obwohl der Protagonist zwar passiv bleibt und sich fortbewegen lässt, sind Geschwindigkeit und Zeitempfinden in Heidelberg verändert: In Heidelberg »gleitet [das Taxi] durch die Straßen, ganz anders als Taxis sonst, die eigentlich immer nur fahren, nicht gleiten« (FSL 91, Herv., K.K.). Zuvor hatte er die Welt in kinematographischer Geschwindigkeit und Distanz beschrieben: »Links und rechts der Straße rast Sylt an uns vorbei« (FSL 17, Herv., K.K.); »Draußen rauscht Frankfurt vorbei« (FSL 74, Herv., K.K.). 280 Kopacki, Christian Kracht, Tristesse Royale und die Möbiusschleife, S. 271. 281 Der Satz »Ich denke in dem Moment noch, daß es eine gute Entscheidung ist« (FSL 102), bestätigt die aufscheinende Differenz zwischen Protagonist und Erzähler. Der Erzähler öffnet die Erzählung auf die Zukunft hin durch die im Wort ›noch‹ implizite Vorahnung und erweist sich in diesem Augenblick als auktorialer Erzähler. Der ironische Ton der Erzählers ist in den Zweifeln des Protagonisten nun nicht mehr zu überhören: »In solchen Momenten denke ich immer, ich bin extrem leicht zu ködern. Naja.« (FSL 105). 282 Daher ist der homosexuelle Übergriff Eugens für den Protagonisten zutiefst verstörend. Die homosexuelle Annäherung lässt sich unter der Prämisse einer heteronormativen Sexualitätsvorstellung als eine karnevalisierte Form der Familiarisierung und der Mesalliance lesen.

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ebenso wie das Ironische Ernst, Eindeutigkeit und Autorität und favorisiert Lachen, Vieldeutigkeit, Ambivalenz, Offenheit, Instabilität, Dynamik«.283 Damit exerziert Faserland an seinem Protagonisten, was es von Beginn an durch den Einsatz der Karnevalisierung betreibt: Die Absage an abschließende Selbst- und Weltkonzeptionen: »Indem Ironie das Medium, worin das Individuum sich selbst und seine Welt entwirft, sprachlich durch einen Diskurs der Uneigentlichkeit verfremdet, konterkariert es gleichfalls die darin repräsentierten Selbstund Weltentwürfe«.284 Für die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit bedeutet das die Herausforderung einer alternativen Erzählung, die sich der Konfrontation nicht verweigert. Eine kompensatorische Heterotopie, wie sie der Protagonist für Heidelberg entwirft, muss daher zum Scheitern verurteilt sein. In der Schweiz hingegen scheint der Protagonist zunächst zu einer Erzählung zu kommen, die in einem angemessenen Verhältnis zur deutschen Geschichte steht.

1.5.2 Das andere Deutschland: Die Schweiz Die Schweiz stellt für den Protagonisten die Realisierung der kompensatorischen Heterotopie dar, die Heidelberg für ihn nicht aufrechterhalten konnte. Hier muss er keinen alternativen Geschichtsentwurf skizzieren, da es in Zürich »nie einen Krieg [gab]. Das sieht man der Stadt sofort an. […] Das Feine an der Schweiz ist, daß […] hier nichts plattgebombt worden ist« (FSL 155). Architektur und Infrastruktur sind Garanten für die Kontinuität von Geschichte, da der Asphalt »nicht aufgerissen worden ist im Krieg, sondern die Füße der Menschen seit Jahrzehnten trägt.« (FSL 155f.) In der idyllisierten Schweiz erscheint alles verändert. Sogar der Umgang mit der deutschen Sprache ist hier unverstellter: »Die Straßen haben merkwürdige Namen. Mythenquai heißt eine Straße, und ich denke daran, wie charmant und antiquiert die Dinge hier klingen, so, als würden die Schweizer mit der deutschen Sprache ganz anders umgehen, aus dem Innersten der Sprache heraus, meine ich.« (FSL 163). Während die Schweiz sich geographisch außerhalb der Grenzen Deutschlands befindet, verortet der Prot283 Christiane Leiteritz: ›Selbstschöpfung und Selbstvernichtung‹ – Die Subversion des abendländischen Subjekts durch Ironie und Groteske. In: Paul Geyer, Claudia Jünke (Hg.): Von Rousseau zum Hypertext. Subjektivität in Theorie und Literatur der Moderne. Würzburg 2001, 39–63, hier S. 58. 284 Ebd., S. 40. Christoph Kleinschmidt spricht im Interview mit Krachts Verleger Helge Malchow vom »Verfahren der romantischen Ironie, das bei Kracht eine weitere Drehung erhält, an eine Grenze geführt wird, an der sie wiederum kippt« (Helge Machow, Christoph Kleinschmidt: Hermeneutik des Bruchs oder Die Neuerfindung frühromantischer Poetik. Ein Gespräch. In: Text + Kritik (2017), Nr. 216: Christan Kracht, S. 34–43, hier S. 40).

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agonist sie sprachlich im Zentrum, vielmehr als Zentrum des Deutschen und versteigt sich zu dem Schluss, die Schweiz sei »eine Lösung für alles« (FSL 159).285 In der Schweiz scheint daher auch ein gänzlich anderes Raum- und Zeitmaß zu gelten. So setzt das achte Kapitel mit einer narrativen Ellipse von zwei Tagen ein, die der Protagonist schon in Zürich verbracht hat: »Seit zwei Tagen wohne ich im Hotel Baur au Lac in Zürich.« (FSL 155)286 Die Stadt eröffnet sich ihm als konkreter geographischer Raum. Er »spazier[t] also die Bahnhofstraße hoch und [sieht sich] die Schaufenster an« (FSL 155). Er beschreibt die Stadt und die Menschen, so dass das Erzählen nicht länger an das unmittelbare Erleben gebunden zu sein scheint. Statt sich in einer modernen Großstadt wiederzufinden, konstruiert der Protagonist aus den sich ihm präsentierenden Zeichen einen ästhetisierten Raum unversehrter Vergangenheit, der Geborgenheit verspricht. »Diese Wappen sind mir alle fremd, aber sie sind hübsch« (FSL 160). Hier ersetzt Ästhetik inhaltlich-semantisches Verstehen. Demgemäß kann der Erzähler auch in seiner Sprache auf die einschränkenden und verstärkenden Sprachpartikel verzichten, wenn er schlicht konstatiert: »Zürich ist schön. […] Die Häuser […] haben so etwas Mittelalterliches, ein bisschen wie Heidelberg« (FSL 155).287 So erinnert Zürich, wie Patrick Bühler und Franka Marquardt in ihrem Aufsatz »Das ›große Nivellier-Land‹? Die Schweiz in Christian Krachts Faserland«288 zurecht 285 Ein mit Die Schweiz betitelter Text aus Krachts Sammelband New Wave entwirft die Schweiz ebenfalls als Lösung. Dort spricht Joachim Bessing von der »Last des deutschen Gepäcks, das ich mit mir bringe, […] wenn ich das endlich abwerfen könnte und mich endlich ganz erlöst in die Arme der Schweiz fallen lassen könnte« (Christian Kracht: Die Schweiz. Ein Gespräch mit Joachim Bessing. In: Ders.: New Wave. Ein Kompendium 1999–2006. Köln 2006, S. 165– 177, hier 176). Auf die Nachfrage Krachts »Was würdest du eher verschwinden lassen: Deutschland oder die Schweiz?« antwortet Bessing: »Die Bundesrepublik, darauf könnte ich verzichten« (ebd.). Er spricht aus, was der Protagonist von Faserland durch das Aussetzen seiner Erzählung am Ende des Romans erreichen will. 286 Die einleitenden Sätze der vorigen Kapitel betonen meist die schnelle Flucht aus der zuvor bereisten Stadt, wobei sich die Dringlichkeit der Abreise von Mal zu Mal steigert: Während das erste Kapitel noch damit beginnt, dass der Erzähler »bei Fisch-Gosch in List auf Sylt steh[t]« (FSL 15, Herv. K.K.), im zweiten Kapitel eine verzögernde Leerstelle eines ganzen Tages eingeschoben ist – »Am nächsten Tag nehme ich doch erst den Abendzug nach Hamburg, ohne Karin noch mal gesehen zu haben« (FSL 27) – beschleunigt sich die Abreisegeschwindigkeit in Frankfurt: »Ich bin dann ziemlich schnell weg aus Frankfurt« (FSL 87). Dies führt in Heidelberg dazu, dass der Erzähler die gesamte Flucht aus der Stadt nicht mehr erinnert: »Wie ich genau aus Heidelberg rausgekommen und schließlich in München angekommen bin, das ist mir immer noch ein Rätsel« (FSL 113). 287 Über diese Zuschreibung werden Heidelberg und Zürich erneut in Verbindung gebracht. Dass das Mittelalter für den Protagonisten jedoch gerade nicht im Süden angesiedelt ist und zudem eher negative Zuschreibungen erhält, zeigt einmal mehr die Ambivalenz der Zeichen, der er sich nicht entziehen kann. 288 Patrick Bühler, Franka Marquardt: Das ›große Nivellier-Land‹? Die Schweiz in Christian Krachts Faserland. In: Johannes Birgfeld, Claude D. Conter (Hg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Köln 2009, S. 76–91.

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bemerken, »in seiner Kleinheit und Appetitlichkeit eher an eine Puppenstube als an eine ernstzunehmende Großstadt«.289 Denn alles ist in dieser Idylle »in Häppchen zu haben, in ganz leckeren Häppchen, und obwohl ich mir nichts aus Essen mache, habe ich das Gefühl, ständig hungrig zu sein.« (FSL 155) So zeigt der Protagonist Bereitschaft, Dinge, Nahrung und Informationen erstmals aufzunehmen. Auch der zuvor beinahe gänzlich verweigerten Lektüre zeigt er sich offen gegenüber, wenn er sich eine Zeitung kauft. »Ich weiß nicht, warum ich sie kaufe. Vielleicht weil Deutschland auf einmal nicht mehr da ist« (FSL 157). Die Ferne Deutschlands ermöglicht ihm Anschluss an das kulturelle Gedächtnis, weil er erhofft, hier nicht mehr auf die schweren Zeichen der deutschen Vergangenheit zu stoßen. Auch die physische Distanz, die er die ganze Reise über zu den bereisten Städten hielt, wird kleiner. Schon auf dem Weg in die Schweiz gibt er seine Passivität auf und fährt selbst mit dem – von Rollo gestohlenen – Porsche über die Grenze. In Zürich bewegt er sich zu Fuß fort und die klimatischen Bedingungen wirken sich positiv auf sein Befinden aus. Dort scheint die Sonne und er kann sich für einen Augenblick der identifikatorischen Funktion des Wetters hingeben: »Weil die Sonne so schön scheint, ärgere ich mich nicht mehr« (FSL 156).290 Die jahrelang vergeblich geübten Rauchringe gelingen und helfen ihm sogar über die aufkommenden Sprachbarrieren hinweg: Der Kellner »versteht nicht, was ich will, und ich mache noch einen Rauchring, und dann versteht er plötzlich doch, was ich meine« (FSL 157). Die Erfahrung, nicht verstanden zu werden, kann durch geformte Zeichen materieller, wenn auch ephemerer Art, ausgeräumt werden.291 Diese Kommunikationsform steht im Gegensatz zu den 289 Ebd., S. 78. 290 In Krachts Gespräch mit Joachim Bessing über Die Schweiz zeigt sich, dass die Idee des Protagonisten, die Schweiz unterläge gänzlich anderen sprachlichen wie ideologischen Parametern als Deutschland, oder in den Worten Bessings in Die Schweiz sie sei »gewissermaßen autark« (Kracht, Die Schweiz, S. 168), intertextuell sogleich zurückgenommen und korrigiert wird: »BESSING: […] Klimatisch liegt die Schweiz risikoreich. Und so autark auch wieder nicht, nicht so autark auf jeden Fall, wie es für sie wünschenswert wäre. Ich erinnere mich an Urlaube in Leukerbad, wo der Schnee plötzlich diese rote Färbung bekam, von dem herübergewehten Sand aus der Sahara. KRACHT: Na gut, im Wetterbereich ist vielleicht eine gewisse Abhängigkeit da. BESSING: Das Wetter bleibt riskant.« (Ebd., S. 168) Die Schweiz, die als Ausweg aus dem zerrütteten Deutschland stilisiert wird, erweist sich auf einer klimatischen Ebene, die für Faserland von zentraler Bedeutung ist, als abhängig. Entgegen der Annahme, die Schweiz sei vielleicht »eine Lösung für alles« (FSL 159), kann durch die intertextuelle Referenz erneut eine Missdeutung des Protagonisten verzeichnet werden. 291 Im Gegensatz zum diffusen und assoziationsträchtigen Rauch sind die Rauchringe strukturiert und weisen eine klare Form auf. Sie fungieren insofern als kontrollierte Aussage des Protagonisten, die ihn zugleich als Deutschen ausweisen, bemächtigt er sich doch eines Zeichens, das auf Brand und Zerstörung verweist. Dabei betont er, dass »es wirklich furchtbar einfach [ist]. Man muß nur die Zunge benutzen, und zwar muß man sie so leicht nach vorne schnalzen lassen, im Mund« (FSL 157). Dieses Zitat erinnert an die in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten von der Figur Brashinsky und dem Ich-Erzähler

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gefährlichen und gewaltbringenden Sprachbarrieren des Lehrers Solimosi. So zeigt sich die Schweiz als realisierte Utopie, die nicht im Konjunktiv beschrieben, sondern auf sprachlicher wie materieller, städtebaulicher Ebene verwirklicht ist. Und doch bleibt der Protagonist in seinem Sprechen über die Schweiz auf Deutschland bezogen: Ich denke daran, daß die Schweiz so ein großes Nivellier-Land ist, ein Teil Deutschlands, in dem alles nicht so schlimm ist. Vielleicht sollte ich hier wohnen, denke ich.292 Die Menschen sind auch auf eine ganz bestimmte Art attraktiver. […] Alles erscheint mir hier ehrlicher und klarer und vor allem offensichtlicher. Vielleicht ist die Schweiz ja eine Lösung für alles. (FSL 159)

Alle Beschreibungen haben die Form des Vergleichs, deren Inhalt komparativ auf Deutschland bezogen ist. Der hier beschworene Mythos Schweiz ist, wie Bühler und Marquardt unter Rückgriff auf einschlägige Literatur zeigen, weder neu293 noch ein ausschließlich deutscher Blick auf die Schweiz.294 Zentral für die spezifisch deutsche Perspektive ist die Vorstellung der Schweiz als verlorenem Paradies, das dem eigenen Land räumlich nicht (mehr) zugehörig ist, gedanklich aber als Teil dessen vereinnahmt wird. So erfüllt die Schweiz die Funktion einer kompensatorischen Heterotopie, die »in Verbindung und dennoch im Widerspruch zu allen anderen Orten«,295 in diesem Fall zu Deutschland, steht.296 In

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benutzte Rauchsprache: »Das Sprechen war sehr gegenständlich; die Emotionen, die die Worte begleiteten, waren farbig und aromatisch in ihrer Intensität. Ich bemerkte, dass ich die Worte, Sätze und Gedanken im Raum nach vorne schieben, ja in gewisser Weise projizieren, einfach in den physischen Raum hineinstellen konnte. Ich konnte es mir nicht erklären, aber es funktionierte« (Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Köln 2008, S. 125). In dieser Geste installiert der Text eine Vorstellung von Heimkehr, die von Peter von Matt als »Schlüsselmotiv« (Peter von Matt: Jenseits von mythischer Verklärung und kritischer Entlarvung. Vorschlag für eine neue Aufmerksamkeit auf die Art und Weise, wie die Schriftsteller über ihr Land schreiben. Schaan 2007, S. 10) der Schweizer Literatur bezeichnet wird. Auch die mögliche Deutung des Romanendes als Selbstmord entwirft die Schweiz als letzte Heimstätte. Schon August Wilhelm Schlegel sieht in der Schweiz »ein stehen gebliebenes Bruchstück des alten Deutschlands, ein Spiegel dessen, was wir sein sollten« (August Wilhelm Schlegel: Umriße, entworfen auf einer Reise durch die Schweiz. In: Ders.: Vermischte und kritische Schriften. Sämtliche Werke Band 8. Hg. von Eduard Böcking. Leipzig 1846, S. 154–176, hier S. 155). Vier Eckpunkte stützen nach Uwe Hentschel diesen Mythos Schweiz: »das Naturerhabene, das Patriarchalische, die ländliche Idylle und die bürgerliche Freiheit.« (Uwe Hentschel: Mythos Schweiz. Zum deutschen literarischen Philhelvetismus zwischen 1700 und 1850. Tübingen 2002, S. 365). Foucault, Von anderen Räumen, S. 320. Dass die Schweiz für einen Deutschen jedoch keine Heimat auf Dauer darstellen kann, stellt der Schweizer Kracht in Die Schweiz klar: Für alle, die von der Schweiz angezogen werden, »die vielleicht kommen und etwas am Gesamtbild neu anstreichen dürfen und es dadurch

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diesem ausschließenden Einschluss wird in Faserland die Schweiz als ›ordentlicher‹ Teil Deutschlands präsentiert. Dass dieser Geste zugleich eine Abgrenzungsfunktion zugrunde liegt, betonen Bühler und Marquardt zurecht: Neben ihrer traditionellen Funktion als Projektionsfläche erfüllt die Schweiz in Faserland also noch einen zweiten Zweck: In ihrer Niedlich- und Beschaulichkeit, ihrer amüsanten Antiquiertheit und mit ihrem leicht zurückgebliebenen Charme stellt sie nicht nur das ›bessere Deutschland‹ dar, sondern bietet auch die seltene Gelegenheit, sich gerade als Deutscher – trotz allem – endlich mal besser zu fühlen.297

Diese widersprüchliche Haltung der Aneignung bei gleichzeitiger Abgrenzung zeigt sich auch im Zugriff des Protagonisten auf die Literatur. In Zürich kommt er erneut auf seine Schulbildung zu sprechen, diesmal anlässlich der Information, daß das Grab von Thomas Mann in der Nähe von Zürich liegt, oben, auf einem Hügel über dem See. Thomas Mann habe ich auch in der Schule lesen müssen, aber seine Bücher haben mir Spaß gemacht. Ich meine, sie waren richtig gut, obwohl ich nur zwei oder so gelesen habe. Diese Bücher waren nicht so dämlich wie die von Frisch oder Hesse oder Dürrenmatt (FSL 162).

Dass neben Thomas Mann die Schweizer Autoren Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt namentlich genannt werden – und mit Hermann Hesse ein anderer deutscher Wahlschweizer, der als Gegenpol zu Thomas Mann in Stellung gebracht werden kann – weist deutlich auf das Bedürfnis hin, die Schweiz als Teil der deutschen Kultur ohne eigenständige literarische Errungenschaften wahrnehmen und besetzen zu können. Doch schon bevor er seinen Entschluss fasst, das Grab von Thomas Mann zu suchen, zerstört der Einbruch der Realität die Illusion, Deutschland endgültig entflohen zu sein: In der »deutsche[n] Tageszeitung« (FSL 157) zeigt sich der kulturelle Raum der Schrift auf der Ebene der histoire und des discours von der ›deutschen Geschichte‹ gezeichnet: Und dann lese ich den Artikel über den Millionärssohn, der während einer Party am Bodensee ertrunken ist. Ich sehe immer wieder Rollos Namen auf der Seite. […] Der rote Sirup klebt mir am Mund. Ich denke an Rollos Wagen, der am Flughafen steht und daran, wie lange der da jetzt wohl stehen wird. Das ist das erste, woran ich denke. Ich reiße den Artikel aus der Zeitung heraus, falte ihn und stecke ihn in die Tasche meines Jacketts. Dann […] stehe [ich] auf und marschiere die Straße hinunter (FSL 158).

Hier findet das Gefühl des Ankommens ein Ende, wenn der Protagonist in seine alte, vom Nachkriegsdeutschland geprägte Haltung verfällt, die sich an seinem Gang manifestiert: Statt zu schlendern, »marschiere [ich] die Straße hinunter« (FSL 158). Durch die Lektüre bricht das hinter sich gelassene Deutschland und bereichern« (Kracht, Die Schweiz, S. 177) ist sie nur ein Provisorium, denn »dann werfen wir sie wieder heraus« (ebd., S. 177). 297 Bühler/Marquardt, Das ›große Nivellier-Land‹?, S. 83.

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mit ihm das ›Vergehen‹ des Protagonisten wieder ein. Dieser hatte wohl als letzter mit Rollo vor dessen Selbstmord gesprochen, unfähig und unwillig, Rollo zu helfen oder ihn von seinem Vorhaben abzuhalten. Auf die Konsequenzen seiner unterlassenen Hilfeleistung deutet der Protagonist durch ein kurz aufblitzendes, proleptisches Schuldgefühl voraus: »Ich fühle mich ungefähr eine Sekunde lang schuldig, weil ich nichts gesagt habe. Das geht aber schnell vorbei, weil ich weiß Gott besseres zu tun habe als mir wegen Rollo ein schlechtes Gewissen zu machen.« (FSL 140). Auch der Hinweis auf den roten Sirup am Mund des Protagonisten als Symbol für Blut unterstreicht seine Mitschuld an Rollos Tod. Als wiederum proleptisches Eingeständnis liest sich die Erklärung über die ›Abfertigung‹ von Rollos gestohlenem Wagen: »Den Porsche habe ich vor zwei Tagen am Züricher Flughafen geparkt. Die Schlüssel habe ich ins Handschuhfach gelegt […]. Ich denke, daß ich alles richtig gemacht habe. Sogar das Lenkrad habe ich mit einem Tuch abgewischt, obwohl ich mir dabei idiotisch vorgekommen bin« (FSL 156, Herv. K.K.). Die Tatenlosigkeit des Protagonisten zeugt so von der metonymisch verschobenen, stellvertretenden Schuld an den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, die auch von der Schweizer Regierung in Form passiver Unterlassung begangen wurden. Spätestens mit Adolf Muschgs Text Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt befindet sich die Schweiz literarisch keineswegs mehr außerhalb des Vergangenheitsdiskurses. Wenn der Protagonist von Zürich behauptet, »[h]ier gab es nie einen Krieg« (FSL 155), mag das zwar für die Materialität der Stadt gelten, für die politische Haltung der Schweiz trifft dies jedoch nicht zu. So nimmt der Text auf der Ebene der histoire vorweg, was der damalige Schweizer Bundespräsident Jean-Pascal Delamuraz auf die Aufforderung hin, »für die Opfer von Auschwitz mitzuhaften«298, 1996 formulierte: »Auschwitz liegt nicht in der Schweiz.«299 Mit dieser distanzierenden Aussage sei ein wahrer geographischer Tatsachenbestand geäußert, wie Muschg in seiner Reaktion auf Delamuraz Aussage feststellt, auf politischer Ebene aber bedeute dies eine Verweigerung des Eingeständnisses der eigenen Verstrickung in die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs und eine Absage an die Idee Europas:300 »Der Satz, Auschwitz liege nicht in der Schweiz, bedeutet auch: die Schweiz gehört nicht zu Europa, sie nimmt nicht teil an der 298 Adolf Muschg: Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt. In: Ders.: Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt. Frankfurt am Main 1997, S. 7–24, hier S. 7. 299 Ebd., S. 7. 300 »Zum ersten Mal in Jahrzehnten ist die Schweiz News, leider auf der Skandalseite: der Musterbub als Mordshehler, der Saubermann als Zuhälter; wahrlich, das haben wir nicht gewollt. Wer wartet noch auf eine starke, eine mutige Geste der Schweiz? Man wartet nur auf ihre Unwirksamkeit, auf ihre Verspätung. […] Die Tränen, die uns jetzt die Scham auspressen kann, sind diejenigen, die uns nicht gekommen sind, als wir feststellen mußten, daß Auschwitz nicht nur überall lag, sondern auch in der Schweiz« (ebd., S. 15).

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Zivilisation, die bei uns selbst beginnt.«301 Denn die Schweiz ist für die Abweisung von über 30 000 Jüdinnen und Juden verantwortlich. So fordert Muschg in seinem Aufsatz zur Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung in die deutsche Geschichte auf: »[W]äre Auschwitz wenigstens dann, als wir wissen konnten, wie viele Menschen wir dorthin weggewiesen hatten, ein Ort der Schweizer Geschichte geworden«.302 Der Protagonist wird zum Wiedergänger dieser Schweizer Tradition, der eigenen Beteiligung durch Tatenlosigkeit den Anstrich einer neutralen Gesinnung zu verleihen.303 Der Rückgriff auf die deutsche und auf die Schweizer Literatur verweist wiederum auf die sprachliche wie politische Unausweichlichkeit der NS-Vergangenheit. Dadurch ändert sich die Wahrnehmung des Protagonisten: War zuvor vieles »furchtbar einfach« (FSL 157), wird plötzlich das Laufen »ganz schön anstrengend« (FSL 159). Die Kirchentür bleibt ihm verschlossen, wenn er »jetzt mal hinein[gehen will], vielleicht wegen Rollo« (FSL 159), und auch die Zeichen werden unzuverlässig: Ins Niederdorf geht es »hinauf« (FSL 158). Seine ursprüngliche Verhaltensweise bricht in der von der nationalsozialistischen Vergangenheit vermeintlich unberührten Schweiz durch304, und auf der Suche nach Thomas Manns Grab schleichen sich Einschränkungspartikel und reduzierende Urteilsadjektive, die zu Beginn des achten Kapitels aus der Sprache des Protagonisten verschwunden waren, wieder ein: »Das kann doch einfach nicht wahr sein. Ich finde das blöde Grab von Thomas Mann nicht.« (FSL 164, Herv. K.K.) Auf dem Weg zum Friedhof bemerkt der Protagonist, dass »[e]s […] jetzt ernsthaft Abend« (FSL 164) wird. Diese Formulierung weist die Dämmerung als bedrohlich aus und steht dem romantischen Konzept der Nacht als Erfahrungsraum erhöhter Empfindung und Wahrnehmung, dem der Protagonist am Bodensee noch zugeneigt ist,305 entgegen. Obwohl die aufgerufenen Konzepte 301 Ebd., S. 11. 302 Ebd., S. 12. 303 Muschg legt das offen, wenn er betont, »›[g]esinnungsneutral‹ wollte sich die offizielle Schweiz nicht schelten lassen; sie wich nur, wenn die Gesinnung etwas kostete beziehungsweise ihr Gegenteil etwas einbrachte, in die bequemere ›politische Neutralität‹ aus« (ebd., S. 20). 304 So steckt er sich im Taxi eine Zigarette an, obwohl es »irgendwie […] nicht so richtig [passt], hier zu rauchen« (FSL 156) und beschwert sich über den Taxifahrer, dem er kurz zuvor noch wegen seines Dialektes gern zugehört hatte: »Wenn es ein Nichtrauchertaxi ist, dann soll er es doch sagen, anstatt so strafend in den Rückspiegel zu schauen« (FSL 163). 305 »Ich denke, daran, […] daß ich diese Stunde, in der das Licht nachläßt und man aufnahmefähiger wird für ganz komische Dinge, wunderbar finde. […] dann wird man empfänglich für Schatten […] dann bekomme ich immer so eine halbwache Vorahnung von, na ja, etwas Kommendem, etwas Dunklem. […] Es liegt hinter den Dingen« (FSL 134). Die Wendung ›hinter den Dingen‹ findet sich in Rilkes Schrift Über Kunst im Zusammenhang mit der Nennung Gottes. Dort spricht er von dem »Gott, der hinter den Dingen ist, dort, wo es ganz warm und dunkel wird.« (Rainer Maria Rilke: Über Kunst. In: Ders.: Gesammelte

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ihm keine Handlungsmöglichkeiten mehr eröffnen, wirken deren Strukturen im Bedürfnis, hinter die Dinge blicken zu können, nach. Die Dämmerung als Raum für die mögliche Erfahrung des Anderen zeigt sich in Faserland als unerreichbare Verlockung. Statt »der geheimnisvolle Ort, wo sich der Akt der Transzendenz ereignet«306, zu sein, verwehrt die Nacht dem Protagonisten in Zürich den Zugang zum Gedenkort der bürgerlich-literarischen Tradition. Seine Suche nach Thomas Manns Grab in der Dunkelheit – deren Erfolg hätte lesbar werden können als, Thomas Mann in seinen Exilreden nachahmenden, Widerstand – wird zur ironischen Farce, in der Lesen und Erkennen karnevalesk deformiert und ad absurdum geführt werden: Ich laufe umher und suche, aber es wird immer dunkler. […] Ich beuge mich hinunter und versuche zu lesen, was da steht. Es hat keinen Zweck. Ich sehe nichts mehr. Das Kerzchen ist nicht hell genug. Das kann doch einfach nicht wahr sein. Ich finde das blöde Grab von Thomas Mann nicht. Jetzt ist es fast Nacht. Ich setze mich an den Rand eines Grabes, um erstmal in Ruhe eine Zigarette zu rauchen. Der Hund, der vorhin gebellt hat, streunt dort hinten herum, bei den etwas neueren Gräbern, dort, wo die Blumen etwas frischer sind. Ein großer schwarzer Hund. Ich kann ihn fast nicht erkennen. (FSL 164)

Das Auftauchen des Hundes lenkt ihn zunächst von seinem Versuch, die Grabinschriften zu lesen, ab. Dieser Hund, der »[e]igentlich […] nur der Schatten eines Hundes [ist], der sich bewegt« (FSL 165), entpuppt sich als ein Doppelgänger des Hundes vom Beginn des Romans. Auf Sylt hatte der Protagonist einen Hund dabei beobachtet, wie er »eine große Kackwurst neben einen Tisch setzt. Der Hund kackt komischerweise halb im Stehen, und ich kann genau erkennen, wie ein Viertel der Wurst an seinem Hintern kleben bleibt« (FSL 17, Herv. K.K.). Dieselbe Aufmerksamkeit für die Exkremente des Hundes – der in der Literatur als Motiv der Treue gilt – legt der Protagonist bei der Beobachtung des Hundes auf dem Friedhof an den Tag: »Der Hund setzt sich hin, und er kackt tatsächlich auf eines von den Gräbern. Das kann ich genau erkennen, ich schwöre es« (FSL 165, Herv. K.K.). Obwohl sein Sehsinn beim Entziffern der Schrift versagt (»Ich sehe nichts mehr« (FSL 164)), sieht er die karnevalisierte Ausscheidung und die ›Kotschrift‹ des Hundes sehr wohl. Durch die Ähnlichkeit der Szenen, die sich in der Wiederholung der Beschreibung zeigt, bilden beide Szenen eine Rahmung, die den Protagonisten, statt in neue geografische und geistige Räume zu führen, wieder an den Anfang seiner Reise versetzt.

Werke in fünf Bänden. Bd. 5. Hg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski und August Stahl. Frankfurt am Main, Leipzig 2003, S. 42–49, hier S. 46). 306 Gisela Dischner: Nacht und Umnachtung bei Novalis, Hölderlin und Nelly Sachs. In: Ariane Huml (Hg.): ›Lichtersprache aus den Rissen‹. Nelly Sachs – Werk und Wirkung. Göttingen 2008, S. 63–76, S. 67.

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Karneval im Fatherland – Christian Krachts Faserland

Beim Versuch, den Hund zu verscheuchen, fällt mir ein, daß der Hund vielleicht auf Thomas Manns Grab gekackt haben könnte, und ich stehe auf und laufe in die Richtung, in die ich das Kerzchen geschleudert habe. Die Plastik-Grableuchte liegt da, aber der große schwarze Hund ist verschwunden. Ich gehe zu dem Grabstein hin und fahre mit den Fingern über die Inschrift. (FSL 165)

Der Hund wird zum doppelten Verführer, wenn er den Protagonisten an ein beliebiges Grab führt, dessen Inschrift sich »wirklich nicht so an[fühlt] wie der Name von Thomas Mann. Schade. Streichhölzer habe ich keine mehr. Ich hätte gern gesehen, wer da begraben liegt« (FSL 165). Die Materialität, welcher der Protagonist einen Namen entlocken möchte, verweigert ihm die Decodierung von Bedeutung. Der Versuch, auf den Tastsinn auszuweichen, um das Zeichen zu decodieren, scheitert nicht zuletzt daran, dass es nichts zu decodieren gibt. Denn das metonymisch verschobene materielle Zeichen ist nicht ›lesbar‹, da der Protagonist – fehlgeleitet vom defäkierenden Hund – im übertragenen Sinn des Wortes in den Kot des Hundes greift, wenn er vermutet, dieser habe auf das Grab Thomas Manns defäkiert307, und das eine sich mit dem anderen überlagert: Kot und der Name Thomas Manns – vielleicht sogar, die mit dem Namen verbundenen kulturhistorischen Werte – werden ununterscheidbar. Die Lektüre verfehlt daher nicht nur ihren Sinn, sie verfehlt zugleich ihren Gegenstand. »So könnte also eine Aussöhnung mit der bürgerlichen Kultur stattfinden, doch die Absicht wird zunichte gemacht. […] Die geplante, pathetisch inszenierte Besichtigung einer Helden-Grabstätte wird parodiert, das Pathos ironisch zerstört.«308 Auch der kulturelle Anschluss an die literarische Exil-Tradition bürgerlichen Widerstands erweist sich durch den karnevalisierten Umsturz verstellt. »Der Kampf mit der kosmischen Angst stützte sich niemals auf abstrakte Hoffnungen, auf die Ewigkeit des Geistes, sondern auf das Materielle im Menschen selbst. Der Mensch konnte sich sozusagen die kosmischen Elemente […] aneignen, weil er sie in seinem eigenen Körper fand.«309 Statt auf den literarischen Geist Thomas Manns zu vertrauen, verleitet der defäkierende Hund den Protagonisten dazu, der bloßen Materialität vor jeder Überführung in geformte Zeichen den Vorzug zu geben. Denn »[i]m menschlichen Körper wird Materie schöpferisch, originell, hier ist sie aufgerufen, den ganzen Kosmos zu besiegen, die Materie des ganzen Kosmos

307 Obwohl er offenkundig eine Vorstellung davon hat, wie sich der Name von (!) Thomas Mann anfühlt. 308 Jürgen Röhling: Vergangenheitsbewältigung in den Zeiten der Pop-Literatur. Zu einem Erfolgsroman der neunziger Jahre. Christian Krachts Roman Faserland. In: Graz˙yna Barbara Szewcvyk (Hg.): Einheit versus Vielheit. Zum Problem der Identität in der deutschsprachigen Literatur. Katowice 2002, S. 170–187, hier S. 185. 309 Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 378, Herv. im Original.

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zu organisieren. Im Menschen gewinnt die Materie historischen Charakter.«310 Dass die Materie hier noch nicht einmal menschlich ist, parodiert, in einer zusätzlichen Wendung, das karnevalisierte Prinzip. Hier zeigt sich »genau jene Struktur, mit der Kracht das Material reflexiv verwendet: Alles, was zitiert wird, wird auch gleichzeitig durchgestrichen«311 und durch karnevaleske Verfahren entthront. Die Nacht in Faserland vermag, trotz der Sensibilität des Protagonisten für die Dämmerung, nicht das bei Hölderlin und Novalis skizzierte Bild der Nacht zu revitalisieren: Wenn bei Hölderlin »[d]er Abstieg des Dichters in die Nacht […] ihn in den rauschhaften Zustand des heiligen Wahns (mania) [versetzt], von dem er in ›heiliger Nüchternheit‹ (Hölderlin) zurückkehrt, um die dichterische Aufgabe des Erinnerns zu vollbringen«312, so verwandelt sich in Faserland der heilige Wahn in den profanen Ärger über den »idiotischen Hund« (FSL 165) und das nicht gefundene Grab. Mehr noch, nach den vielen Hinweisen auf die kommende Dunkelheit ist es zwei Seiten vor dem Ende des Romans immer noch erst »fast Nacht« (FSL 164), so dass der Eindruck entsteht, der Protagonist versuche, durch seine Erzählung die Dunkelheit ein ums andere Mal hinauszuschieben. Die poetische Pilgerschaft im Zeichen des Erinnerns ist zum Scheitern verurteilt, denn, zieht man das mnemotechnische Bild der Erinnerung als Abschreiten eines Raums heran, misslingt auch der Weg vom Friedhof zurück, weil der Protagonist sich zu verlaufen scheint: »ich […] gehe durch das Friedhofstor wieder hinaus und marschiere den Hügel hinab, zum See. Ich hatte gedacht, der Weg wäre kürzer. Die Straße macht immer wieder eine Kurve, wie mir scheint, immer in die falsche Richtung« (FSL 165). So endet die Reise in einer profanierenden Wiederholung eines literarischen Topos: Angekommen am Züricher See lässt er sich von einem Fährmann auf den See rudern. Dass er dem Mann zweihundert Franken dafür gibt, evoziert den griechischen Mythos des an den Fährmann zu zahlenden Obolus, um über den Fluss gesetzt zu werden und ins Reich der Toten zu gelangen.313 Durch das verheißungsvolle »Bald […]. Schon bald«314 (FSL 166) 310 Ebd., S. 411, Herv. im Original. Dies geschieht vor allem über die »heitere Materie« (ebd., S. 377, Herv. im Original) Urin und Kot: »Wie der Kot gewissermaßen ein Mittleres zwischen Körper und Erde ist […], so ist der Urin ein Mittelding zwischen Körper und Meer. […] Kot und Urin verkörperlichen die Materie, die Welt und die kosmischen Elemente, sie bringen sie in intime Nähe zum Menschen, machen sie körperlich-begreiflich, denn diese Materie und dieses Element werden vom Körper selbst produziert und ausgeschieden. Urin und Kot verwandeln kosmisches Entsetzen in Karnevalsheiterkeit« (ebd., S. 377, Herv. im Original). 311 Jahraus, Ästhetischer Fundamentalismus, S. 18. 312 Dischner, Nacht und Umnachtung bei Novalis, Hölderlin und Nelly Sachs, S. 66. 313 Ob es sich in dieser Szene um eine mehr oder weniger deutliche Anspielung auf einen möglichen kommenden Tod oder Selbstmord des Protagonisten handelt, wird in der Forschungsliteratur kontrovers diskutiert. Vgl. zu einer Darlegung der vielfältigen literarischen Anspielungen dieser Szene den Aufsatz von Kopacki, Christian Kracht, Tristesse Royale und die Möbiusschleife, vor allem S. 273.

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wird die erhoffte Ankunft und die Aussicht auf ein Verweilen in Ruhe in die Zukunft aufgeschoben. Das Heimkehrer-Motiv wird evoziert und mit seinem Aufrufen zugleich ausgehöhlt, wenn das Ende des Romans semantisch über sich hinaus weist und einen Abschluss verweigert.

1.5.3 Die andere Erzählung: Auf dem Zauberberg Obwohl mit der Fahrt auf den See der Roman zu einem Ende kommt, ist die Fluchtbewegung des Protagonisten ins Unendliche verlängert. Ein letzter Fluchtversuch, den der Erzähler vor seiner Fahrt auf den See hinaus unternimmt, soll hier noch analysiert werden, da dieser Ausweg aus der deutschen Vergangenheit erzählerischer Natur ist. Im letzten Kapitel erfindet der Protagonist eine im Konjunktiv erzählte Fantasie, die eskapistische Züge trägt. Sie knüpft an die im Roman zuvor schon erzählten Tagträume des Protagonisten von einem Leben mit der Schauspielerin Isabella Rossellini an. Dabei tritt er in die literarischen Fußstapfen Thomas Manns. Als Wiedergänger Hans Castorps aus dessen Zauberberg imaginiert er sich ein Leben mit Isabella Rossellini und den gemeinsamen Kindern in den Bergen: Dort oben müßte man wohnen, auf einer Bergwiese, in einer kleinen Holzhütte, am Rande eines kalten Bergsees, […] und ich könnte so tun, als würde ich alles wissen. Ich könnte ihnen alles erklären, und die Kinder könnten niemanden fragen, ob es denn wirklich so sei, weil sonst niemand da oben wäre. Ich hätte immer recht. Alles, was ich erzählen würde, wäre wahr. Dann hätte es auch einen Sinn gehabt, sich alles zu merken. Ich würde ihnen von Deutschland erzählen, von dem großen Land im Norden, von der großen Maschine, die sich selbst baut, da unten im Flachland. (FSL 160f.)

Durch den Mann’schen Intertext wird der Krieg in Deutschland auf Dauer gestellt, denn im Zauberberg heißt es: »Es ist das Flachland, es ist der Krieg«.315 Im Gegensatz zum Flachland herrscht auf dem (Zauber-)Berg eine eigene Ordnung von Raum und Zeit: »Man ändert hier seine Begriffe«.316 Eine solche Begriffsänderung vollzieht auch der Protagonist aus Faserland, indem er die »Materialität des Zeichens ›Nazi‹«317 durch das Wort ›Nationalsozialisten‹ abändert. Die Variation ist allerdings lediglich eine des Signifikanten. Das Signifikat der angekündigten Erzählung bleibt die deutsche Vergangenheit. Statt sich, wie erhofft, von der deutschen Geschichte befreit zu haben, prägt diese seine konjunktivische 314 Die Wendung ›Schon bald‹ assoziiert im Zusammenhang mit dem Motiv des Todes Goethes Gedicht Ein Gleiches, das sich durch seinen Untertitel Wanderer’s Nachtlied II als ein Derivat ausweist, weil es auf ein voriges Gedicht anspielt, dessen Nachfolge es lediglich darstellt. 315 Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt am Main 1991, S. 980. 316 Ebd., S. 16. 317 Kopacki, Christian Kracht, Tristesse Royale und die Möbiusschleife, S. 271.

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Erzählung, die sich als verdichtend-variierende Wiederholung der vorangegangenen sieben Kapitel erweist: Ich würde ihnen von Deutschland erzählen, […] von der großen Maschine, die sich selbst baut, da unten im Flachland. Und von den Menschen würde ich erzählen, von den Auserwählten, die im Innern der Maschine leben, die gute Autos fahren müssen […], während um sie herum alle dasselbe tun, nur eben ein ganz klein bißchen schlechter. Und daß die Auserwählten nur durch den Glauben weiter leben können, sie würden es ein bißchen besser tun, ein bißchen härter, ein bißchen stilvoller. Von den Deutschen würde ich erzählen, von den Nationalsozialisten mit ihren sauber ausrasierten Nacken, von den Raketenkonstrukteuren, die Füllfederhalter in der Brusttasche ihrer weißen Kittel stecken haben, fein aufgereiht. Ich würde erzählen von den Selektierern an der Rampe, […] von den Gewerkschaftern, die immer SPD wählen, als ob wirklich etwas davon abhinge (FSL 160f., Herv. K.K.).

Im Zitatkontext kommt es erneut zu einer Bedeutungskontamination nationalsozialistischer Konnotationen. So vermögen die weißen Kittel an die medizinischen Experimente während des Nationalsozialismus zu erinnern – und der Füllfederhalter verweist metonymisch auf die Schrift als »eines der gefährlichsten Repressionswerkzeuge […]. Schrift fungiert hier als das Mittel, das Machtgefüge festigt und repressiv, nicht kommunikativ, funktioniert. […] (Die Unterschrift – der Name als Festschreibung des Subjekts – als die Autorisierung des Genozids).«318 Die mündliche Erzählung des Protagonisten wird durch ihre Form zum Gegenentwurf einer auf Schrift basierten Kultur. Die Strukturanalogie der imaginierten Erzählung in Faserland zu Thomas Manns Situation im Exil während des Zweiten Weltkriegs lässt die konjunktivische Erzählung zur Protesterzählung im Medium der Stimme werden. Thomas Mann wandte sich aus dem Exil ab 1940 durch von der BBC ausgestrahlte Radioansprachen mit dem Titel Deutsche Hörer! an seine Landsleute. Während seine Reden zunächst von einem BBC-Mitarbeiter vorgelesen wurden, hat Mann ab 1941 die Ansprachen selbst eingelesen. Bernd Hamacher schreibt über ihn: »Das gedruckte Wort konnte seine deutschen Leserinnen und Leser nicht mehr erreichen, daher wertete er den Rundfunk gegenüber der Schrift als neues, zeitgemäßes und wirkungsvolles Medium im apokalyptischen Kampf gegen den ›Feind der Menschheit‹, wie er Hitler schon 1939 nannte, auf.«319 Obwohl Thomas Mann und der Protagonist aus Faserland sich jenseits der Landesgrenzen be318 Bronner, Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen, S. 151. 319 Bernd Hamacher: Thomas Manns Medientheologie. Medien und Masken. In: Christine Künzel, Jörg Schönert (Hg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Würzburg 2007, S. 59–78, hier S. 75. Das Radio als Medium der Mündlichkeit wird somit auf engste Weise mit Thomas Manns Widerstand gegen den Nationalsozialismus aus einer Position im Exil heraus verknüpft und stellt eine Gegenstimme zu der Hitlers dar.

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finden, versuchen sie durch eine nicht abreißende Erzählung Kontakt zum eigenen Land aufrechtzuerhalten. Bemerkenswert ist das parallele Motiv oder Bild des von Hitler installierten Systems als Maschine Deutschland: Ich suchte mit meinen schwachen Kräften hintan zu halten, was kommen musste […]: den Krieg – an dem eure lügenhaften Führer Juden und Engländern und Freimaurern und Gott weiß wem die Schuld geben, während er doch für jeden Sehenden gewiss war von dem Augenblick an, wo sie zur Macht kamen und die Maschine zu bauen begannen, mit der sie Freiheit und Recht niederzuwalzen gedachten.320

Auch im Selbstverständnis der Mann’schen Ansprachen lassen sich Parallelen zur Haltung des Protagonisten bezüglich seiner konjunktivischen Erzählung herstellen. Über Thomas Manns Auffassung seiner Reden schreibt Bernd Hamacher: »Vom Selbstverständnis der Reden her geht es um den Kampf zwischen wahrem und falschem Offenbarungsanspruch«.321 Ganz ähnlich postuliert der Protagonist seine Allmacht und Allwissenheit: »[I]ch könnte so tun, als würde ich alles wissen. Ich könnte ihnen alles erklären, und die Kinder könnten niemanden fragen, ob es denn wirklich so sei, weil sonst niemand da oben wäre. Ich hätte immer recht. Alles, was ich erzählen würde, wäre wahr.« (FSL 160) Diese sprachliche Setzung der eigenen Deutungshoheit soll den von Beginn an scheiternden Versuch, die eigene Erzählung zu beherrschen, kompensieren.322 In seiner Fantasie gelingt es ihm, eine Erzählung zu stiften, die seiner Kontrolle unterliegt. Doch seine Erzählung ist nur potentiell in ihrer Uneingelöstheit beherrschbar, weil die Kontrolle innerhalb der Ankündigung der künftigen Erzählung lediglich behauptet werden kann. Sobald die Erzählung ihre Realisierung erfährt, beginnt sie sogleich, sich erneut zu verselbstständigen, was im von beiden Erzählern benutzten Bild der »großen Maschine, die sich selbst baut« (FSL 161), zum Ausdruck kommt.

320 Thomas Mann: Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland aus den Jahren 1940– 1945. Frankfurt am Main 2001, S. 44, Herv. K.K. 321 Hamacher, Thomas Manns Medientheologie, S. 75. 322 Dieser sprachlichen Setzung entspricht die Erzählung des Protagonisten, sich selbst als unverrückbaren Ursprung zu denken. In einem Urlaub sei er an einen Schwulenstrand geraten und habe beim Blick auf das Meer eine Art erleuchtete Ruhe gefunden: »Ich zeige mit dem Finger auf den Dampfer, bewege mich dabei nicht und kann sehen, wie das Schiff sich in Relation zu mir bewegt. […] es ist ein bisschen so, als finde man seinen Platz in der Welt. Es ist kein Sog mehr, kein Ohnmächtigwerden angesichts des Lebens, das neben einem so abläuft, sondern ein Stillsein. Ja, genau das ist es: Ein Stillsein. Die Stille.« (FSL 145) Dass dieses zur Ruhe kommen gerade in einem homosexuell konnotierten Raum unter musikalischer Begleitung von Freddy Mercurys I want to break free geschieht, weist eindeutig auf die ironische-karnevaleske Geste des Textes hin. Denn das Wort ›Ohnmächtigwerden‹ erzeugt einen Kurzschluss zur Ohnmacht, die dem Protagonist angesichts der homosexuellen Annäherung Eugens widerfährt.

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Verfolgt man die Ankündigung weiter, zeigt sich, dass die Aufzählung dessen, wovon der Protagonist zu erzählen ankündigt, nicht zu Ende ist. Er fährt fort: »Ich würde auch erzählen von den Männern, die nach Thailand fliegen, weil sie so gerne mächtig und geliebt wären […]. Von den Kellnern würde ich erzählen, von den Studenten, den Taxifahrern, den Nazis, den Rentnern, den Schwulen, den Bausparvertrags-Abschließern […]« (FSL 161). Alle Benennungen der Dinge und Menschen, von denen er zukünftig erzählen will, werden nur einmal genannt, die einzige Ausnahme bilden die ›Nationalsozialisten‹, die er in der Wiederholung abkürzend als ›Nazis‹ bezeichnet. Damit bricht der vom Protagonisten beanstandete ›Abkürzungswahn‹ wieder in dessen Rede ein. Die Variation des Begriffs zeigt sich lediglich als Variation des Zeichens im Sinne einer schlechten Redundanz, die »die zirkuläre Sprache der Invokation, der beschwörenden Anrufung, die immer wieder auf sich selbst zurückkommt«,323 evoziert. Der Protagonist aber kann seine Sprache nicht neu erfinden. Die Idee einer ›gereinigten‹ Sprache, die frei von semantischer Kontamination der nationalsozialistischen Vergangenheit ist, ruft die unmittelbar nach dem Krieg unternommenen, vergeblichen Versuche eines literarischen Kahlschlags auf. Die Penetranz, mit der in Faserland die nationalsozialistischen Zeichen und Worte präsent bleiben, weist darauf hin, dass es gerade nicht neuer Worte, sondern vielmehr einer neuen Poetik bedarf, um mit dem bestehenden Material angemessen umzugehen. Dabei spielt der Konjunktiv eine zentrale, mehrdeutige Rolle. Die grammatische Form des Konjunktivs ist in sich gespalten, da er gleichzeitig ein tatsächliches, materielles Erzählen (Äußern von Sachverhalten) und dessen Aufschub (als grammatikalische Form) ausstellt. Im genauen Blick auf die konjunktivische Ankündigung (die ich zur besseren Übersicht für das Folgende E 2 nennen möchte) zeigt sich der poetische Ansatz der karnevalesken Wucherung. Sie erfüllt drei verschiedene Funktionen: Der Konjunktiv schiebt erstens die zugesagte, imaginierte Erzählung (E 3) ins Zukünftige, Potentielle auf. Der Protagonist inszeniert nicht nur die Erzählung, sondern auch sich selbst – im Sinne einer modernistischen Figurenkonzeption wie etwa bei Musil – als Möglichkeitsmensch, von dem es in Musils Der Mann ohne Eigenschaften heißt, dass er »in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven«324 lebt. Zweitens ist diese Ankündigung eine Verdopplung und Wiederholung der sieben vorangegangenen Kapitel des Romans (E 1).325 Drittens ist die

323 Friedländer, Kitsch und Tod, S. 57. 324 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 2007, S. 16, Herv. K.K. 325 Christoph Kleinschmidt liest diese Stelle als eine Art Selbstverkennung, wenn er sagt: »Wie in einem Zerrspiegel reflektiert er [d.i. der Erzähler, K.K.] somit die eigene Situation, ohne sich wirklich erkennen zu können.« (Christoph Kleinschmidt: Von Zerrspiegeln, Möbius-

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Karneval im Fatherland – Christian Krachts Faserland

Ankündigung (E 2) ihrem Inhalt nach nichts Anderes als die zugesagte zukünftige Erzählung (E 3) selbst. Damit verdreifacht sie das vom Protagonisten bisher Erzählte. Die ersten sieben Kapitel des Romans aber werden durch die potentielle Erzählung in ihrer Bedeutung und Position relativiert und im selben Atemzug erst legitimiert: »Alles, was ich erzählen würde, wäre wahr. Dann hätte es auch einen Sinn gehabt, sich alles zu merken« (FSL 160). E 1 wird in seiner zeitlichen Position destabilisiert, denn die ersten sieben Kapitel sind möglicherweise die zukünftige Erzählung. Als Leser:innen befanden wir uns also – einem sogenannten »Mind-Game«326 oder »mindfuck«327 ähnlich – entweder längst schon in der zukünftigen Erzählung oder werden an dieser Stelle wieder an den Anfang des Romans gesetzt und können die vorangegangenen sieben Kapitel als diese zukünftige Erzählung lesen. Die Lektüre wird so, wie das Erzählen des Protagonisten auch, in eine Kreis- oder Spiralbewegung versetzt, aus der es kein Entrinnen gibt. In der sich wiederholenden und zugleich in die Potentialität verschobenen Erzählung des über sieben Kapitel Ausgeführten setzt der Text die unablässige Geschichtenproduktion einem ›perpetuum mobile‹ gleich auf Dauer.328 Die verdreifachte Rede und das Ende des Romans bieten jedoch eine alternative Möglichkeit zur Kreisbewegung an, um der unbehaglichen Vergangenheit zu entgehen. Sie bestünde darin, zu schweigen: Das wäre aber alles eigentlich auch etwas, das der Vergangenheit angehören würde, dieses Erzählen da oben an dem Bergsee. Vielleicht bräuchte ich das alles nicht zu erzählen, weil es die große Maschine ja nicht mehr geben würde. Sie wäre unwichtig, und da ich sie nicht mehr beachte, würde es sie nicht mehr geben, und die Kinder würden nie wissen, daß es Deutschland jemals gegeben hat, und sie wären frei, auf ihre Art. (FSL 161f.)329

326 327 328

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Schleifen und Ordnungen des Déja-vu. Techniken des Erzählens in den Romanen Christian Krachts. In: Text + Kritik (2017), Nr. 216: Christan Kracht, S. 44–53, hier S. 47). Thomas Elsaesser: The Mind-Game Film. In: Warren Buckland (Hg.): Puzzle Films. Complex Storytelling in Contemporary Cinema. Oxford, Malden 2009, S. 13–41, hier S. 13. Siehe dazu Jonathan Eig: A beautiful mind(fuck): Hollywood structures of identity (2003). In: Jump Cut. A Review of contemporary media 2003. https://www.ejumpcut.org/archive/jc 46.2003/eig.mindfilms/, abgerufen am 05. 04. 2022. Ähnlich verfährt Melvin Jules Bukiets Roman After, dessen letztes Wort »Again« (Melvin Jules Bukiet: After. New York 1996, S. 384) lautet und damit die »endlose Re-präsentation dieser Bilderwelten mit all ihren endlosen Möglichkeiten der Re-interpretation« (Susanne Rohr: ›Playing Nazis‹, ›mirroring evil‹: Die Amerikanisierung des Holocausts und neue Formen seiner Repräsentation. In: Amerikastudien/American Studies 47 (2002), Nr. 4, S. 539–553, hier S. 551) auf Dauer stellt. Mit diesen Worten endet der Roman keineswegs. Vielmehr ist der Protagonist während seines Tagtraums zurück ins Hotel gelaufen, wo er sich »in einen der Sessel« (FSL 162) setzt und dort »eine Weile herum[sitzt]« (ebd.), bevor er sich auf die Suche nach dem Grab Thomas Manns macht.

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Christian Krachts Faserland – Fazit

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Die konjunktivische Rede des Protagonisten ist demnach Sinnstiftung und -verleugnung gleichermaßen. Der Ausblick auf eine Welt, in der auch das Erzählen über die deutsche Vergangenheit dieser angehören würde, blitzt momenthaft aus dem Erzählen hervor und suggeriert die Möglichkeit, »frei« (FSL 162) zu sein. Mit dem Satz »und sie wären frei, auf ihre Art« (FSL 162) endet zwar die imaginierte Erzählung vom Leben auf dem Berg – der Roman jedoch geht weiter und erteilt damit dem erstrebten Schweigen ebenso wie der Vorstellung des Freiwerdens von der Vergangenheit eine Absage. Zuletzt bleibt die Erzählung (E 1 und E 2) in ihrem Negieren (»Vielleicht bräuchte ich das alles nicht zu erzählen, weil es die große Maschine ja nicht mehr geben würde«) als literarische in Kraft und bestätigt so einmal mehr die Qualität literarischen Sinnaufschubs. Dieser Aufschub von Sinn verweist zugleich auf die Vorbehaltlichkeit und Kontingenz des deutschen Nachkriegsdiskurses. Moritz Baßler sieht in Krachts parahistorischer Erzählung eine Poetik der Befreiung vom historischen Syntagma der deutschen Geschichte, ›wie sie wirklich gewesen‹, zugunsten alternativer Verläufe, die dieses Syntagma nicht etwa als neue, wahrere Wahrheit ersetzen (das wäre Geschichtsklitterung bzw. Martin Walser), sondern mit Bedeutung aufladen und in seiner Kontingenz sichtbar machen.330

1.6

Christian Krachts Faserland – Fazit

Obwohl der Roman Faserland zwischen zwei Buchdeckel passt, ist sein Text niemals zu Ende. Er verweigert sich einer Festsetzung, wenn die Erzählung durch den Konjunktiv einerseits verdreifacht und andererseits auf das Zukünftige verschoben wird. Auch eine mögliche Ankunft des Protagonisten in der Mitte331 des Sees und das – dadurch möglicherweise implizierte – Ende seines Lebens werden ihm durch die letzten Worte »Schon bald« (FSL 166) in eine unbestimmte Zukunft aufgeschoben. Weder sprachliche, räumliche noch existentielle Fluchten werden dem Protagonisten gewährt. Damit wird heterotopischem, kompensatorischem und finalem Denken in Faserland eine Absage erteilt. Statt des einschließenden Ausschlusses der deutschen Vergangenheit in Ritualen, Gedenkorten und Sprachformeln installiert der Roman ein karnevaleskes Erzählen, das niemals sicher ist vor dem Einbruch der Vergangenheit inmitten der alltäglichen 330 Baßler, Definitely Maybe, S. 117. 331 Die Mitte des Sees ist im Gegensatz zum durchweg negativ besetzten und als »Mitte von Deutschland« (FSL 67) bezeichneten Frankfurt semantisch neutral. Durch das flüssige Element des Wassers lässt sich eine Mitte zwar rechnerisch ermitteln, ein tatsächliches, physisches Erreichen ist stets mit minimaler Bewegung und Abweichung verbunden. Damit korrespondiert die Beschaffenheit von Wasser dem im Roman beständig erzeugten und positiv konnotierten, sprachlich-strukturellen Bedeutungsaufschub.

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Karneval im Fatherland – Christian Krachts Faserland

Gegenwart und fordert zu einer unablässigen, beweglichen Auseinandersetzung heraus. So gilt für die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit des Nationalsozialismus, was der Protagonist über einen Taxifahrer sagt: Gleich Scheherazade vermag der Text einer Festschreibung der nationalsozialistischen Vergangenheit und deren Verhandlung nur zu entgehen, wenn er selbst variiert, verdoppelt, wiederholt und wuchert, kurz: »redet, als gäbe es kein Zurück mehr« (FSL 41).

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Diskurspop – Thomas Meineckes Hellblau

»Wer zuviel Gewicht legt auf die Gedächtniskraft des Ortes, läuft Gefahr, den umgestalteten Ort, den Ort der Besucher, mit dem historischen Gedenkort, dem Ort der Häftlinge, zu verwechseln.«332 »Und zwar geht es darum, bei Ort einen Ort zu finden, der euch nach dem Besuch in Birkenau und Auschwitz im Gedächtnis geblieben ist, … Gefühl, – ja ein Gefühl das ihr hattet bei der Besichtigung der Gedenkstätte, – da möchte ich euch bitten, euch auf ein Gefühl zu konzentrieren. Und bei Wunsch – auch ein Wort oder einen kurzen Satz zu formulieren, den ihr für die Zukunft habt, nachdem ihr die Gedenkstätte besucht habt.«333

»Hellblau ist mein Buch über den Holocaust. Es ist jedoch sehr interessant, dass es von der Kritik als solches nicht wahrgenommen worden ist.«334 Dieser Kommentar von Thomas Meinecke ist symptomatisch für den nach wie vor herrschenden ästhetisch-literarischen Diskurs über den Holocaust: Er ist über spezifische Schlagworte, Bildlichkeit und Motive derart vorstrukturiert, dass die Verhandlung des Themas unter neuen poetischen Gesichtspunkten gar nicht in den Fokus des Diskurses geraten kann. Zentrale Bezugsrahmen für die Thematisierung der jüdischen Geschichte bzw. des Nationalsozialismus und des Holocaust bilden in Thomas Meineckes Roman Hellblau335 1. die atlantische Küste vor den North Carolina vorgelagerten Outer Banks, an der Wracks des deutsch-amerikanischen U-Boot-Kriegs versunken liegen, insbesondere die Insel Ocracoke, auf der Tillmann, eine der Hauptfiguren, sich während der Erzählzeit aufhält; 2. die Beschäftigung mit Ronald Reagans Besuch in Bitburg auf dem Friedhof, auf dem sich neben Soldatengräbern auch Gräber von SS-Mitgliedern befinden; die Thematisierung von Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeiter und Überlebende der Konzentrationslager sowie den historischen Einfluss antisemitischer Tendenzen am Beispiel von Henry Ford; das Interesse für antisemitische Gewalthandlungen und deren Kontextualisierung im historischen Verlauf; 3. die Herkunft und Biografien der Figuren sowie ihre Bewegungen und Aufenthaltsorte im Roman; 4. die Musikdiskurse über Techno, Jazz und Klezmer, in denen sich transatlantische Bewe332 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 333. 333 Leiter der Jugendbegegnungsstätte Klaus Herold zu einer Gruppe Schüler nach der Besichtigung des Konzentrationslagers Auschwitz in Robert Thalheims fiktionalem Film Am Ende kommen Touristen (2007), 13:36–14:00. 334 Thomas Ernst: Literatur und Subversion: Politisches Schreiben in der Gegenwart. Bielefeld 2013, S. 228, Fußnote 223. 335 Thomas Meinecke: Hellblau. Frankfurt am Main 2001. Nachweise im Folgenden im Fließtext unter der Sigle ›H‹.

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Diskurspop – Thomas Meineckes Hellblau

gungen und kulturelle Austauschprozesse niederschlagen und in denen das Aufeinandertreffen und Mischen afroamerikanischer und jüdischer Identität und Kultur zum Thema wird. Bedeutsam werden die Themenkomplexe jedoch nicht durch ihre bloße Thematisierung, sondern vielmehr durch die Koordinaten – diskursiver, räumlicher und figurentechnischer Art –, in die der Roman sie einbindet. Durch den Fokus auf die Verschränkung jüdischer Identität mit anderen Kulturen – allen voran der afroamerikanischen Kultur – und ihrem ko-konstruktiven Verhältnis, gibt Hellblau den Blick auf eine alternative Gewichtung des jüdisch(-amerikanisch)en kulturgeschichtlichen Narrativs frei. Dabei wird sich zeigen, dass Jens Birkmeyers Vorwurf der Popliteratur gegenüber, lediglich über einen »verengten Gedächtnisraum«336 zu verfügen, in dem der Nationalsozialismus zwar thematisiert werde, aber lediglich als Austragungsort einer Abrechnung mit der moralisierenden 68-er Generation diene, zurückgewiesen werden muss: Der in Hellblau eröffnete ›Gedächtnisraum‹ wird sich als ungewohnte Diskurse durchkreuzend und damit als anders strukturiert erweisen, als es unter erinnerungstheoretischer Perspektive zu erwarten wäre. Birkmeyer schreibt in Anlehnung an Moritz Baßlers These, die Popliteraten seien Archivisten von Gegenwartskultur337: Die Archivisten wollen nicht vergessen, aber sie können nicht erinnern, weil ihre Larmoyanz eine politische und intellektuell begründete ernsthafte Strategie der Geschichtserschließung nahezu ausschließt. Diese Pose verwehrt den fälligen Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis.338 Stattdessen verständigt man sich auf die Zwergform eines ironisch-anekdotischen Gedächtnisses, das sich selbst als pädagogisch-penetriertes Aufklärungsopfer stilisiert. Erinnerung bezieht sich nicht auf die zu erschließende und anzueignende Geschichte, sondern miniaturisiert sich auf das Format von Erinnerungspolaroids eines langweiligen Abitreffens.339

336 Jens Birkmeyer: Nicht erinnern – nicht vergessen. Das Gedächtnisdilemma in der Popliteratur. In: Ders., Cornelia Blasberg (Hg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten. Bielefeld 2006, S. 145–164, hier S. 158. 337 Siehe dazu Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2005. 338 Eine Bewegung, die auch in Faserland auszubleiben droht. Dort aber, so meine Lektüre, ist die Verweigerung, am kulturellen Gedächtnis teilzunehmen, durch zwei Faktoren bedingt: Kracht inszeniert sicherlich die von Birkmeyer skizzierte dandyhafte Beschäftigung mit Geschichte. Zugleich aber markiert diese Weigerung die Möglichkeit lektürereflexiver Auseinandersetzung mit dem vorherrschenden Setting des kulturellen Gedächtnisses. Erinnern, das wäre eine Schlussfolgerung, muss nicht auf eine bestimmte, kulturell anerkannte Weise passieren. Der Roman weist darauf hin, dass Sprechweisen sich ändern und bestimmte Bilder und Strukturen, mittels deren offiziell erinnert wird, für nachfolgende Generationen nicht mehr anschlussfähig sind. 339 Birkmeyer, Nicht erinnern – nicht vergessen, S. 158.

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Pop fungiert in dieser Argumentation als »Archiv des Vergessens, Weglassens, Vermeidens und Ausblendens«.340 Meineckes spezifisches Verfahren der Einbindung von Geschichte durch Zitat und Sample erzeugt hingegen das Potential, auf Vergangenes in spezifisch – neu – funktionalisierter Weise zuzugreifen: »Dabei vergegenwärtigt Pop durchaus real Vergangenes: Im Zitat. Im Sample. Wobei ein Sample auch Erinnern auslöst.«341 Die Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Diskurs über den Nationalsozialismus folgt einer Neuverknüpfung der Thematik mit gegenwartsrelevanten und für die gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse anschlussfähigen Diskurse. Eckhard Schumacher bezeichnet deshalb dieses Streben nach Gegenwärtigkeit als »Versuch, eine Form von Signifikanz zu produzieren, die ein gegenwartsdiagnostisches Potential freilegen kann, ohne es durch Erklärungen, Meinungsbekundungen oder andere Verständnishilfen zugleich wieder zum Stillstand zu bringen.«342 Genau diesen Stillstand vermeidet Hellblau um jeden Preis, wenn zum einen Pop Meineckes Auffassung nach »gar nicht ohne Referenz Pop sein«343 kann, und wenn Meinecke zum anderen ein internationales Figurenpersonal und den atlantischen Erzählraum zu den Koordinaten des fiktionalen Universums von Hellblau macht. In der Erzählanordnung lassen sich drei verschiedene Erzählstimmen ausmachen, denen die einzelnen Textabschnitte – mehr oder weniger zuverlässig durch Ansprachen der anderen Figuren, thematische Motive oder Orts- bzw. Handlungsbeschreibungen – zugeordnet werden können: Tillmann, Yolanda und Cordula. Alle anderen Figuren kommen nur mittelbar durch die Erzählstimmen zu Wort. Die Figurenkonstellation lässt sich wie folgt umreißen: Tillmann kommt aus Mannheim, verbringt aber in der erzählten Zeit des Romans ein Jahr an der amerikanischen Ostküste, auf der Inselgruppe Outer Banks vor der Küste North Carolinas. Dort hat er seine Freundin, die jüdisch-amerikanische Studentin Vermilion kennengelernt, die »an der Duke University über die chassidischen Juden von Williamsburg, Crown Heights und Borough Park« (H 44) promoviert und mit der er im »Net House« (H 84) auf der Insel Ocracoke lebt und arbeitet. Von diesem Ort nimmt der in Hellblau geführte Diskurs über den Black Atlantic seinen räumlichen Ausgang. Schon das ›Net House‹ verweist durch seinen Namen auf die netzartige Struktur des Romans. Auch die Wahl einer Insel, 340 Ebd., S. 159. 341 Thomas Meinecke: Ich als Text (Extended Version). In: Ute-Christine Krupp, Ulrike Janssen (Hg.): Zuerst bin ich immer Leser. Prosa schreiben heute. Frankfurt am Main 2000, S. 14–26, hier S. 19. 342 Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt am Main 2003, S. 14. 343 Meinecke, Ich als Text (Extended Version), S. 19.

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an der Grenze von Land und Wasser, ist programmatisch zu lesen. Zudem kommt im Roman mehrfach die brüchige Küstenlinie der Inselkette zur Sprache. Der Leuchtturm des Ortes, eigentlich Inbegriff eines Orientierungspunktes, wird während der Romanhandlung um einige Meter ins Innere der Insel versetzt. Buchstäblich sind hier Grenzen und Maßstäbe nicht länger stabil, sondern der Erosion (durch Wasser und Wind) ausgesetzt. Die Verschiebung und Auflösung kategorialer und ordnender Markierungen macht auch bei den Figuren nicht Halt: So wird Tillmann von seiner Freundin als feminin (vgl. z. B. H 44, 48, 117, 121, 165) und in weiblichen Posen beschrieben und zudem »Venus« (H 86) genannt. Er trägt auffällig häufig weibliche Kleidung.344 Von seiner Exfreundin Cordula wird sein Körper zudem als »eher barocke[…] Formen« (H 151) bildend beschrieben. Cordula studiert und wohnt in Berlin mit ihrem neuen Freund Heinrich, dem ehemaligen Mitbewohner Tillmanns. Mit Yolanda arbeitet Tillmann an einem gemeinsamen Buchprojekt, das unter wechselndem Titel im Roman erwähnt wird.345 Sie lebt und studiert in Chicago. Neben den drei Figuren, welche die drei Erzählperspektiven darstellen, sind noch einige weitere Figuren, etwa die beiden erwähnten Figuren Heinrich und Vermilion, aber auch Lee und Shanice an dieser ›Forschungsgemeinschaft‹ beteiligt. Die diskursiven Koordinaten des Romans sind durch eine bestimmte Wahrnehmungshaltung geprägt, die eng mit Meineckes Verständnis von Pop zusammenhängen. Im Folgenden wird Meineckes Auffassung von Pop skizziert.

2.1

Thomas Meineckes Pop-Verständnis

Meineckes Auffassung von Pop lässt sich als Projekt formulieren, dessen Anliegen es ist, eine Kartographie der Gegenwart zu erstellen.346 Diese Inventarisierung Meineckes zeichnet statt der bei Baßler erwähnten Alltagsgegenstände gegenwärtige, die Welt strukturierende Diskurse und gesellschaftspolitische und kulturelle Verfahren mimetisch derart nach und auf, dass sie eine kondensierte, neue, fiktionale Realität erzeugen. Als mimetischer Vollzug ist das Verfahren zugleich Teil dessen, was es untersucht: 344 Tillmann merkt über sich selbst an: »Mein Körper ist, für einen Mann, wenig behaart.« (H 67). 345 Von den Figuren werden unterschiedliche Titelvorschläge gemacht. Sie lauten: »Abtauchen« (H 74), »Wasserflugzeug« (H 126), »Displaced Persons« (ebd.), »Downtown Atlantis« (H 261). 346 »Pop hat etwas Archivarisches, etwas Kartographierendes« (Thomas Meinecke im Gespräch mit Wilfried Eckl-Dorna: »Im Prozess liegt die Arbeit«. In: Die Zeit 10. 12. 2001. Zitiert nach Katharina Picandet: Zitatromane der Gegenwart. Frankfurt am Main 2011, S. 271).

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Thomas Meineckes Pop-Verständnis

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Pop ist eine Praxis […] Ein Mittel. Ein analytisches Verfahren, mit vorgefundenen Oberflächen auf politisch produktive Weise umgehen zu können. Eine Wahrnehmungstechnik. Pop ist Lesen. Diagnose, aber nicht Prognose. Nicht wissen, sondern Fragen. Im standardisierten Koordinatensystem: Nicht maskulin, sondern feminin. Dabei ein allen zugänglicher Code. Und ausgesprochen selbstreferentiell.347

Pop ist für Meinecke demnach als eine Weise der Weltwahrnehmung zu verstehen. Als Wahrnehmungspraxis ist sie eng mit einer teilnehmenden Haltung zur Welt und zum eigenen Ich verbunden. Nicht umsonst betitelt Meinecke einen Erzählband von 2006 mit dem Begriff der Feldforschung.348 Feldforschung als wissenschaftliche Methode der Anthropologie bedeutet dabei für den Forscher gleichzeitig »›in‹ but not ›of‹ the other culture«349 zu sein. André Menke beschreibt Meineckes Verfahren der Feldforschung als »exploratives Herantasten an eine potentiell stets fremde Welt in einem Prozess der graduellen Familiarisation hin zu einem neuen, dann wieder: eigenen, aber vielleicht etwas besseren Text.«350 Die Bewegung von der untersuchenden Person zum Material und wieder zurück ist von Dynamik und Veränderung geprägt. Auch Diedrich Diederichsen betont in seiner schon 1996 vorgenommenen deskriptiven Definition von Pop diesen Aspekt, wenn er anmerkt, dass Pop »immer Transformation [ist], im Sinne einer dynamischen Bewegung, bei der kulturelles Material und seine sozialen Umgebungen sich gegenseitig neu gestalten und bis dahin fixe Grenzen überschreiten: Klassengrenzen, ethnische Grenzen oder kulturelle Grenzen.«351 Diese Überschreitung von hegemonialen und kulturellen Grenzen liegt auch der Feldforschungs-Methode zugrunde. Die partielle Involviertheit des ›Forschenden‹ führt zu einer Begegnung unterschiedlicher Weltsichten von Forschendem und zu Erforschendem. Die von Diederichsen genannte Dynamik gilt in Hellblau insbesondere für die Identitätsvorstellung der Figuren: Sie erfahren sich als vom Diskurs, den sie untersuchen, affiziert und in ihrer Subjektposition herausgefordert. Wie im postkolonialen Diskurs Bhabhas bildet die Popkultur bei Meinecke […] einen ›third space‹, in dem das Problem der Identitätsfindung von zentraler Bedeutung ist. […] Der popkulturelle Zwischenraum wird als einer verstanden und beschrieben, der voll ist von zugleich fremden und vertrauten, missverständlichen und hoch signifi-

347 Meinecke, Ich als Text (Extended Version), S. 25. 348 Thomas Meinecke: Feldforschung. Frankfurt am Main 2006. 349 C. W. Watson: Introduction. The Quality of Being There. In: Ders. (Hg.): Being There. Field Work in Anthropology. London 1999, S. 1–23, hier S. 2. 350 André Menke: Die Popliteratur nach ihrem Ende. Zur Prosa Meineckes, Schamonis, Krachts in den 2000er Jahren. Bochum 2010, S. 38, Herv. im Original. 351 Diedrich Diederichsen: Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch. In: Charis Goer, Stefan Greif, Christoph Jacke (Hg.): Texte zur Theorie des Pop. Stuttgart 2013, S. 185–195, hier S. 188.

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kanten Botschaften, in dem das Ich sich als Instanz ständiger Interpretationsbemühungen zu erkennen gibt.352

Die permanente Neuerfindung und Repositionierung des popkulturellen Subjekts wird im Popkontext nicht als negativ empfunden. Sie korrespondiert vielmehr der dem Popverständnis Diederichsens zugrundliegenden »positive[n] Beziehung zur wahrnehmbaren Seite der […] umgebenden Welt, ihren Tönen und Bildern. […] Die Revolte ergibt sich aus einem großen Ja (zu Leben, Welt, Moderner Welt)«.353 Diese positive Beziehung hat zur Folge, dass Pop ein für alle zugängliches Phänomen ist, sofern man bereit ist, eine bestimmte Praxis auszuüben. Diese Praxis wiederum folgt bestimmten Regeln, die sich als Code bestimmen lassen: »Pop tritt als Geheimcode auf, der aber gleichzeitig für alle zugänglich ist.«354 Durch den niedrigschwelligen Zugang zur Popkultur und die Vielfältigkeit popkultureller Phänomene in ihren subkulturellen Ausdifferenzierungen ist Popkultur ein Bereich, in dem Bedeutungsrezeption und -produktion in permanentem Verhältnis zueinander stehen. Wenn Pop für Meinecke also heißt, »Wahrnehmungsmuster [zu] erschaffen, am diskursiven Wirklichkeitsbegriff mit[zu]arbeiten«,355 dann liegt in seiner sammelnden Bestandsaufnahme eine produktive Komponente, aus der Neues entstehen kann. Bringt man diese Grundannahmen des Meinecke’schen Popverständnisses in einen denkerischen Zusammenhang mit den von Maurice Halbwachs in Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen formulierten Gelingensbedingungen gesellschaftlicher Erinnerung, lassen sich produktive Anknüpfungspunkte finden. Halbwachs behauptet: »Man kann sich nur unter der Bedingung erinnern, daß man den Platz der uns interessierenden Ereignisse in den Bezugsrahmen des Kollektivgedächtnisses findet. Eine Erinnerung ist umso reicher, je größer die Anzahl jener Rahmen ist, in deren Schnittpunkt sie auftaucht.«356 Mit seinem Verfahren des Samplings und der Modulation verfolgt Meinecke gerade die Herstellung neuer Bezugsrahmen. Er verändert den Fokus, mit dem die Thematik von Nationalsozialismus und Holocaust perspektiviert, erinnert und in einen bedeutungsvollen Bezug gesetzt werden kann. Anstelle der verschwin352 Charis Goer: Cross the Border – Face the Gap. Ästhetik der Grenzerfahrung bei Thomas Meinecke und Andreas Neumeister. In: Text + Kritik (2003), Nr. 10 Sonderband: PopLiteratur, S. 172–182, hier S. 173. 353 Diederichsen, Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch, S. 190. 354 Ebd., S. 190. 355 Nadja Geer: Pop-Denken: Gegenwartsfetischismus oder Rückkoppelungseffekt? In: www. pop-zeitschrift.de 10. 10. 2012. https://pop-zeitschrift.de/2012/10/10/pop-denkengegenwart sfetischismus-oder-ruckkoppelungseffektvon-nadja-geer10-10-2012/, abgerufen am 05. 04. 2022. 356 Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin, Neuwied 1966, S. 368.

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Thomas Meineckes Pop-Verständnis

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denden Rahmen – etwa bildungspolitisch erwarteter Inhalte historischen Wissens – setzt Meinecke neue, nicht minder produktive Rahmen, die das Erinnern und Thematisieren des Nationalsozialismus in einen für die Gegenwart relevanten Kontext versetzen: »Wenn schon erinnern, dann vergegenwärtigen. Geschichten der Gegenwart schreiben. Die Geschichte der Gegenwart schreiben. Die den Prozeß der Geschichtsschreibung reflektiert. Und sogleich ihr Verfallsdatum mit ausstellt. Im doppelten Sinn von ausstellen.«357 Meineckes Ansatz impliziert damit, dass eine hermetische Erinnerungskultur des Holocaust, die in den immer gleichen Bahnen reproduziert wird, ihr Verfallsdatum erreicht hat, wenn sie nicht an gegenwärtig relevante Diskurskonstellationen anknüpfbar ist. Anliegen von Meineckes literarischer Diskursverdichtung ist daher die Aufdeckung neuer, unbekannter, möglicherweise verloren gegangener Referenzen, die alternative Möglichkeitssinne freisetzen und die tatsächlichen Verhältnisse herausfordern. Auf der Ebene des Arrangements stellt Meinecke in Hellblau Fundstücke nebeneinander, die durch ihr Aufeinandertreffen semantische Interferenzen provozieren. Das textuelle Verfahren in Hellblau zeigt viele Ähnlichkeiten zum theoretischen Diskurs über Techno sowie zu dessen Praxis. Er dient in Hellblau einerseits als Modell für die poetische Struktur des Romans und wird andererseits für die Figuren zum selbstreflexiven Modell einer politischen, pluralisierten und antihegemonialen Form von Sinnstiftung und Identitätskonstruktionen: Tatsächlich erkenne ich […] in Techno progressives, emanzipatives bis revolutionäres, das Öffentliche und das Private neu arrangierendes, meinetwegen als links zu bezeichnendes Potential. Wenn der vielbeschworene […] Mainstream der Minderheiten eine strukturell aus unzähligen, mitunter mikroskopisch kleinen, im einzelnen womöglich den Eindruck von Geringfügigkeit bis Folgenlosigkeit erweckenden Ein- und Ausschlüssen bestehende Pop-Kultur von bisher nicht bekannter Kompliziertheit hervorgebracht hat, läßt sich eben darin auch ein soziales Äquivalent zu dem von Szepanski beschriebenen digitalen, binär kodierten Klang-Ereignis erkennen. Nennen wir es getrost: Repolitisierung durch Mikroprozesse. (H 114)358

357 Meinecke, Ich als Text (Extended Version), S. 18. 358 »Die populäre Kultur – vor allem die Technomusik – ist für die Protagonisten von Hellblau der Mikrokosmos für den Makrokosmos der ethnischen Gruppierungen und ihrer differenten Auslegungen von Bräuchen und Mythen. Was in der intimen Privatgemeinschaft einer nahezu unbekannten Technogruppierung den wenigen Hörern als wichtig und bedeutend erscheint, funktioniert im Makrokosmos weltpolitischer und historischer Entwicklungen nach dem selben System, nur unter den Augen einer größeren Öffentlichkeit.« (Sascha Seiler: »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen 2006, S. 313f.).

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Diskurspop – Thomas Meineckes Hellblau

Techno-Musik soll, gemäß der politischen Lesart in Hellblau, als außer- oder paralinguistisches System359 weniger anfällig sein für hierarchisierende und hegemoniale Strukturen. Sie ermöglicht damit andere Formen der Sinn- und Bedeutungsstiftung, die nicht auf einem repressiven Sprachcode basieren und dadurch einen pluralisierten Zugang zu Welt- und Identitätskonstruktionen ermöglichen. Das poetische Verfahren des Romans ergibt sich aus dem hergestellten Zusammenhang zwischen dem Techno-Motiv, Meineckes Autorposition und JeanFrançois Lyotards sprachtheoretischem Denken über die Möglichkeit eines angemessenen Sprechens nach Auschwitz. Die kulturell und diskursiv distinkten, einander fremden Konzepte weisen strukturelle Ähnlichkeit auf, die einen alternativen Zugang zum Diskurs über den Umgang mit der deutschen Vergangenheit eröffnen.

2.2

Techno als Modell für das poetische Verfahren von Hellblau

Mit dem außerdiegetischen Bezug Meineckes zur Popkultur durch seine Tätigkeit als DJ und der unablässigen innerdiegetischen Referenz der Figuren zur Technomusik ist ein Interpretationsraum eröffnet, dessen sich die Forschungsliteratur gern und ausführlich bedient.360 Verlockend ist die Rede vom Autor als 359 Bonz schreibt Meinecke eine Position zu, nach der »Techno einem Zustand der Sprache entspricht, in welchem diese Bedeutungen noch nicht artikuliert, sondern erst an sich zieht, zur Artikulation gerade erst ansetzt. Als hegemoniale Ordnung fungiert hier eine Vorstellung von der Sprache als Gefängnis, als die Wirklichkeit in ihrer Artikulation hervorbringender und sie insofern determinierender Diskurs.« (Jochen Bonz: Sampling. Eine postmoderne Kulturtechnik. In: Christoph Jacke, Eva Kimminich, Siegfried J. Schmidt (Hg.): Kulturschutt. Über das Recycling von Theorien und Kulturen. Bielefeld 2006, 333–353, hier S. 349f.). Ganz ähnlich formuliert Meinecke die Parole »Raus aus dem Wort-Knast« (Thomas Meinecke: 2 Plattenspieler, 1 Mischpult. In: Marin Kagel, Gudrun Schulz (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts. Vechta 2001, S. 188–190, hier S. 189, zit. nach Kirstin Frieden: Neuverhandlungen des Holocaust. Mediale Transformationen des Gedächtnisparadigmas. Bielefeld 2014, S. 171). 360 Als Mitglied des sogenannten »›Suhrkamp-Pop‹« (Jörgen Schäfer: »Mitteilungen aus der Wirklichkeit«. Zum Verhältnis von Pop und Literatur in Deutschland seit 1968. In: Text + Kritik (2003), Nr. 10 Sonderband: Pop-Literatur, S. 7–25, hier S. 7) wird Meinecke von der Forschung als eines der »Beispiele einer hochreflektierten, formbewussten und durchaus experimentellen Gegenwartsliteratur« (Hubert Winkels: Grenzgänger. Neue deutsche PopLiteratur. In: Sinn und Form 51 (1999), H. 4, S. 581–610, hier S. 603) eingeschätzt, ein Urteil, mit dem Winkels und andere Rainald Goetz, Andreas Neumeister und Thomas Meinecke von den sogenannten KiWi-Pop-Autoren abgrenzen. Die avancierte Pop-Fraktion von Suhrkamp wird häufig als Nachfolge der (Pop-)Literatur der 1960er Jahre, insbesondere von Rolf Dieter Brinkmann und Hubert Fichte, betrachtet. Die literarischen Verfahren dieser geadelten Popliteratur werden beispielsweise von Ulf Poschardt mit der »Praxis der innovativen Avantgarden der klassischen Moderne« (Ulf Poschardt: DJ-Culture. Discjockeys und

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DJ, um den Ton der Meinecke’schen Romane zu beschreiben. Unterstützt werden solche Analysen durch Meineckes Äußerungen über seinen Schreibprozess: »Beim literarischen Schreiben gehe ich noch mehr im Sinne von Pop vor als beim Schreiben von Songtexten, weil ich dort so schreibe, als ob ich Platten auflegen würde.«361 Wie Katharina Picandet anschaulich ausgeführt hat, greift die vielzitierte Rede vom Autor als DJ für Hellblau vor allem auf der produktionsästhetischen Ebene. Sie betont zurecht, dass die Rede von der Musikalität eines Satzes und die Beschreibung von Meineckes Texten durch Begriffe wie ›tracks‹ oder ›samples‹ stark metaphorisch [ist]: Die lineare Schriftsprache kann eben nicht zwei Texte gleichzeitig darstellen, jedenfalls können sie nicht gleichzeitig gelesen werden, wie sie gehört werden könnten; auch rhythmische Verzögerungen und Beschleunigungen sind eindeutig nur im gehörten Text auszumachen.362

Die sprachliche Phänoebene des Texts aber funktioniert nicht nach den Verfahren von Techno: Es finden keine Überlagerungen statt, die Grammatik der Sprache bleibt intakt.363 Die ›Übersetzung‹ medienspezifischer Eigenheiten von Musik in Literatur findet daher in der strukturellen Sukzessivität von Literatur ihre Grenzen. Yolanda markiert an einer metareflexiv lesbaren Stelle die grundsätzliche Verschiedenheit der Medien Musik und Sprache. In diesem Kontext legt sie Tillmann eine Hierarchisierung zugunsten der Musik in den Mund: »Du wirst sowieso einwenden, daß die Musik der Sprache immer voraus sein wird. Und immer schon voraus gewesen ist.« (H 277) Die für die Musik (und auch im Film mögliche) typische vertikale Schichtung verschiedener Ebenen wird in Hellblau in ein schnelles, manchmal abruptes Nacheinander wechselnder, oft assoziativ und auf den ersten Blick nicht zusammenhängender Themen über-

Popkultur. Stuttgart 2015, S. 382) verglichen und in die »Tradition der polyphonen Literatur« (ebd., S. 386) gestellt. In Bezug auf die Musikthematik gehe es vor allem »um eine ganz bestimmte Position, die von Meinecke, aber auch etwa von Rainald Goetz, Kathrin Röggla und anderen vertreten wird. Die Engführung von Pop-Diskurs und PoststrukturalismusTheorien ist also keine Eigenart Meineckes, sondern beruft sich auf eine Debatte, die in diesen Zeitschriften [über Techno-Musik, K.K.] durchaus seit längerem geführt wird.« (Picandet, Zitatromane der Gegenwart, S. 263). 361 Thomas Meinecke: »Ich finde Musik eigentlich besser als Literatur«. Gespräch mit Martin Büsser. In: testcard. Beiträge zur Popgeschichte (1999), Nr. 6: Pop-Texte, S. 131–135, hier S. 134. 362 Picandet, Zitatromane der Gegenwart, S. 247, Fußnote 726. 363 Es wäre erzähltheoretisch durchaus möglich, zwei thematisch disparate Sätze so miteinander zu verschränken, dass sie ineinander übergehen wie es etwa Ulrich Peltzer in Bryant Park (2002) vornimmt. Aber auch bei Peltzer bleiben die beiden verschiedenen Erzählstränge, obwohl sich semantische Spannungen ergeben, graphisch voneinander getrennt und werden so eindeutig markiert.

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Diskurspop – Thomas Meineckes Hellblau

setzt.364 Der Roman nimmt durch seine Typographie eine restlose Enthierarchisierung seines Materials vor. Zitate unterschiedlichster Provenienz – Zeitungsmeldungen, Reden, wissenschaftliche Texte, Artikel aus Musikzeitschriften – stehen unmarkiert neben Paraphrasen und Verschriftlichungen, Emails, Briefen, Dateien und Kommentaren der Figuren. Statt Kapitel strukturieren lediglich Absätze den Roman. Zitate werden nicht durch Anführungszeichen kenntlich gemacht, auch andere Hervorhebungen, etwa von Titeln oder Bandnamen, finden sich nicht im Text.365 Meinecke selbst kommentiert dazu: »Spannend daran sind jene Momente, in denen nicht klar auszumachen ist, welches Versatzstück welcher Quelle entstammt. In denen sich vermeintlich Disparates zur Synthese mischt. In denen das Zitat seine Anführungszeichen verliert.«366 Der Verlust der Anführungszeichen lässt sich als Äquivalent zu den beiden zentralen Einheiten der elektronischen Musik, dem Sample und dem Loop lesen. Elektronische Musik zeigt, im Gegensatz zu Musikstilen wie Rock, R&B und in Teilen auch HipHop, die eher auf Handlung, Narration und Melodie der Musik setzen, die Tendenz zu abstrakten, dekonstruktiven, anarrativen und rein rhythmischen Strukturen. Grundlegend für diese anarrative Position ist die Voraussetzung, dass Musik konstitutiv nicht-denotativer Natur ist. Überwiegend finden sich solche Musikauffassungen in elektronischer Musik vor allem im Techno und den sogenannten Afrofuturismen eines Sun Ra, bei der Technoformation Underground Resistance und anderen. Mit der Aufwertung von anarrativen, sogenannten posthumanen musikalischen Aspekten geht zugleich die Ausarbeitung eines neuen Verständnisses von musikalischem Hören und Verstehen einher, das der elektronischen, computerproduzierten Musik angemessener erscheint.367 Die Vorstellung nicht-denotativer Musik dient als Orientierungspunkt für die Sprach- und Weltauffassung der Figuren in Hellblau.368 364 Der gleichzeitigen, parallelen Schichtung von Bedeutung begegnen die Leser:innen von Hellblau in Form des sogenannten Signifying als (gegenläufige) Mehrdeutigkeit eines Einzelwortes. Siehe dazu das Kapitel Signifyin(g) Monkeys. 365 Klammern, die auf Einschübe hinweisen, werden ausgeschrieben und so ins Schriftbild integriert ohne aufzufallen: »In Klammern: Womöglich kommt daher auch der altertümliche, auf eine maskuline Herkunft schließen lassende Begriff der Lesbierin.« (H 170, Herv. K.K.). 366 Meinecke, Ich als Text (Extended Version), S. 23. 367 Siehe dazu die Studie More Brilliant Than The Sun: Adventures In Sonic Fiction von Kodwo Eshun. Eshun unternimmt den Versuch, ein Beschreibungsvokabular für die Bedeutung musikalischer Phänomene jenseits von konventionellen narrativen und denotativen Ordnungen zu finden – insbesondere im Hinblick auf das Verstehen afroamerikanischer und afrodiasporischer Musik: »Part of the point is very much to reverse traditional accounts of Black Music. Traditionally, they’ve been autobiographical or biographical, or they’ve been heavily social and heavily political. My aim is to suspend all of that, absolutely, and then, in the shock of these absences, you put in everything else, you put in this huge world opened up

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Techno als Modell für das poetische Verfahren von Hellblau

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Technomusik besteht aus meist schon existierendem akustischem Material, das bearbeitet, beschleunigt, verlangsamt, geschichtet, zerstückelt und in neuen Konstellationen zusammengesetzt wird. Statt einem künstlerischen Prinzip der autorbasierten (Neu-)Schöpfung zu folgen, wird der DJ zu einer Art Werkzeug: »Computer Style is the alphabet gone digital, typography remodelled, remixed and encrypted. The writer becomes DJ Hype’s computerizer.«369 Die kurzen Melodie- oder Rhythmusabfolgen werden durch Wiederholungen zu sogenannten Loops370 umfunktioniert und fungieren als Grundmuster eines Stückes. Das Loop ist damit zunächst ein Zitat, das durch Wiederholung einerseits seine Zitatfunktion verliert, andererseits seinen Verweischarakter als solchen niemals ganz einbüßt. Diedrich Diederichsen beschreibt die Erinnerungsfunktion des Loops wie folgt: Dem Zitat wird also aufgebürdet, nicht wie bisher auf das Abwesende einfach nur zu verweisen, sondern das Abwesende – die verlorene Einheit, den Ursprung – in die Präsenz der Musik hineinzuholen. […] Das Loop fungiert paradoxerweise als Spur und Konstruktion einer kollektiven Erinnerung im Hier und Jetzt. Nur so ist der Modus zu erklären, in dem die Samples von konkreter und allgemeiner Vergangenheit sprechen. […] Das Erinnerte, die Assoziation wird im Loop aus dem Zitat herausgetanzt, aber da seine Verweisstruktur natürlich nicht vollständig getilgt werden kann und soll, gerinnt die eigene Zeit teilweise zur Zukunft gegenüber diesem Präsens und gegenüber dieser Präsenz der Vergangenheit.371

Schon das Loop steht also in einem Spannungsverhältnis zwischen vergangenem Zitat, gegenwärtiger Präsenz und einem Entwurf von Zukunft. Über das Loop als Grundmuster werden in der Technomusik weitere Rhythmen gelegt, so dass sich ein Nebeneinander verschiedener Tempi, Tonklänge und Rhythmen ergeben kann. Dieses Verfahren wird als Sampling bezeichnet. Meinecke beschreibt Sampling folgendermaßen:

368 369 370 371

by a microperception of the actual material vinyl. […] So I’m looking at all these Sonic Fictions, I’m looking at all the different levels of science that exist within the material object.« (Kodwo Eshun: More Brilliant Than The Sun: Adventures in Sonic Fiction. London 1998, S. 179). Gleichzeitig betont Eshun jedoch, dass humane und posthumane Musikauffassungen keineswegs als Gegensätze anzusehen seien: »At the Century’s End, the Futurhythmachine has 2 opposing tendencies, 2 synthetic drives: the Soulful and the Postsoul. But then all music is made of both tendencies running simultaneously at all levels, so you can’t merely oppose a humanist rub with a posthuman Techno.« (Ebd., S. -006 [sic!]). Die Thematisierung von Techno als entsubjektivierend, abstrakt, rhythmisiert etc. findet sich in Hellblau an folgenden Stellen: H 21, 101, 110f., 114, 143, 248, 324, 327, 335. Eshun, More Brillant Than The Sun, S. 073. Wenn kurze Ausschnitte aus einer Melodie als Loop eingesetzt werden, wird die narrative Dimension der ursprünglichen Melodie auf die Strukturdimension gekippt, ganz ähnlich dem poetischen Prinzip von Roman Jakobson. Diedrich Diederichsen: Hören, Wiederhören, Zitieren. In: Spex 1 (1997), S. 43–46, hier S. 45f.

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Beim Sampling gibt es eine Gleichzeitigkeit verschiedener Elemente. Mehrere Schichten sind möglich. Unter Montage stelle ich mir mehr eine Art analoges Nach-einanderSchneiden vor. Bei dem, was ich jetzt Sampling nenne, kannst du – etwas übertrieben – nur eine Silbe lang auf eine andere Ebene gehen, darunter liegt aber noch die Syntax von etwas ganz anderem.372

Der Rückgriff auf linguistische Begriffe findet in der Definition des Samples bei Sascha Kösch ein semiotisches Äquivalent. Kösch grenzt das Sample mittels semiotischer Begriffe vom Zitat ab: »Während Samples […] eine Wiederholung des Signifikanten darstellen, sind Zitate der Versuch einer Wiederholung des Signifikats.«373 Die Wiederholung im Techno-Sample – und die dadurch erzeugte Variation, die sich in sprachwissenschaftlichen Begriffen als Arbeit am Paradigma beschreiben lässt – rückt die Materialität der Zeichen in den Vordergrund, was zur Folge hat, dass Bedeutungszuschreibungen durch die Wiederholungsdichte ins Rutschen geraten. Von der Musik in die Literatur übersetzt hieße dies, dass beispielsweise in Hellblau die permanente Thematisierung dessen, was jüdisch oder schwarz ist, nicht nur die Aufmerksamkeit auf die Worte ›schwarz‹ und ›jüdisch‹ lenkt, sondern zugleich deren scheinbar starre Bedeutung mit jeder variierenden Nennung und Wiederholung – ganz im Sinne der Derridaschen Dissemination – zugleich bestätigt und verändert, verschoben und erweitert wird. Dies gilt nicht nur für die Sprachanalysen, welche die Figuren im Roman unablässig vornehmen, sondern auch für die Figuren selbst: Die Überführung in diese sprach- und zeichenwissenschaftliche Begrifflichkeit erscheint mir deshalb sinnvoll, weil sich in Anlehnung an sie auch der Effekt ausdrücken lässt, den die Dynamik der Zirkulation von Differenzen im Subjekt zeitigt. Er besteht in der ständig erneuerten, wiederholten Identifikation des Subjekts mit diesem System.374

Das produzierende Subjekt im Techno fungiert zwar als assoziatives Zentrum, steht jedoch zugleich in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis zum Material, das wiederum den Rahmen für dessen Konturierung abgibt. Kösch spricht von einer »›dynamischen Ontologie‹ des Techno«, in der eine »permanente NeuIdentifikation«375 der beteiligten Subjekte stattfindet. Das Material wird im computerbasierten Produktionsprozess aufgewertet, da dessen Struktur zum zufallsbasierten Ko-Konstrukteur des neuen Tracks, der neuen Textstelle wird, oder in den Worten Tillmanns: »Sound wird generativ, in und durch sich selbst.« (H 335) Im Generativ-Werden des Sounds ist der Autor nicht länger Herr über 372 Charlotte Brombach, Ulrich Rüdenauer: Gesampeltes Gedankenmaterial. Der Romancier Thomas Meinecke im Gespräch. In: Frankfurter Rundschau, 21. 03. 1998. 373 Sascha Kösch: Ein Review kommt selten allein… In: Jochen Bonz (Hg.): Sound-Signatures. Pop-Splitter. Frankfurt am Main 2001, S. 173–189, hier S. 181. 374 Bonz, Sampling, S. 341. 375 Ebd., S. 346.

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seine Schöpfung. Meinecke steht mit seiner Skepsis gegenüber der Vorstellung eines souveränen Subjekts ganz im Zeichen des Technodiskurses und der Technopraxis:376 »Nach wie vor größtes Mißtrauen vor dem angeblichen Genie und seiner sogenannten Eingebung. […] Meine prophylaktische Arbeitshypothese: Das autonome Subjekt ist abgeschafft.«377 Dieses Subjekt-Material-Verhältnis liegt sowohl Meineckes Produktionsprozess des Romanschreibens als auch den Suchbewegungen der von ihm konzipierten Figuren in Hellblau zugrunde. Deren Lektüre(-verfahren) bestimmen den Kontext der vorgestellten Diskurse und die Verknüpfungsweise, also das poetische Verfahren des Romans. Heinrichs Forschung beispielsweise basiert auf Zeitungsausschnitten, die er, entfernt an die Cut up-Methode der Beat Generation erinnernd, aus Journalen, Zeitschriften und Zeitungen ausschneidet und sammelt: Heinrich bittet mich um seine Papierschere. […] Akribisch schneidet er einen Leitartikel über die Ambivalenz des deutschen Philosemitismus aus einer um etwa ein Jahr zurückliegenden Ausgabe der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung. […] Heinrich und seine merkwürdigen Ausschnitte. Tatsächlich basieren fast alle seine Untersuchungen auf Zeitungsausschnitten. (H 57)378

Heinrich wird zum intradiegetischen Doppelgänger Meineckes, der stets darauf hinweist, dass er nichts erfinde, sondern lediglich gefundenes Material und aktuelles Weltgeschehen nebeneinanderlege: »Grenzenloses Grauen vor der originellen Idee.«379 Das Verfahren der zufallsbasierten Stichwortsuche findet im 376 Diese Auffassung lässt Technomusik zum adäquaten Ausdrucksmittel der afro-amerikanischen Kultur werden, in der das Konzept des Autors niemals so stark präsent gewesen ist. Diese Position führt Meinecke durch einen Kommentar von Renée Green im Gespräch mit Diedrich Diederichsen in das Diskursuniversum von Hellblau ein: »[F]ür den afro-amerikanischen Kritiker gilt nämlich, daß man keinen Autor umbringen kann, der nie als Autor überhaupt etabliert war.« (Diedrich Diederichsen & Renée Green: Konversationen. In: Diedrich Diederichsen (Hg.): Yo! Hermeneutics! Schwarze Kulturkritik. Pop, Medien, Feminismus. Berlin, Amsterdam 1993, S. 9–23, hier S. 13). 377 Meinecke, Ich als Text (Extended Version), S. 20. 378 Auch der Hinweis auf die Instandhaltung seiner ›Werkzeuge‹ fehlt nicht: »Heinrich: Wir sollten die Schere unbedingt mal wieder zum Schleifen bringen. Auch sein Klebestift ist total eingetrocknet.« (H 229). Von Cordula werden diese Werkzeuge zudem ihres Zwecks entfremdet und anderweitig genutzt: »Ich […] nehme meinem Freund die Schere aus der Hand und reinige mir ganz vorsichtig die Fingernägel damit.« (H 172). Auch hier wird gewissermaßen ein gelooptes Zeichenmaterial (Signifikant) in verschiedene semantische Kontexte (Signifikat) in Form unterschiedlicher Nutzung der Schere versetzt. 379 Meinecke, Ich als Text (Extended Version), S. 23. Dass dieser Geste der Demut zugleich eine Ermächtigung innewohnt, darauf muss bei Meineckes theoretischer Affinität zum Poststrukturalismus kaum hingewiesen werden, da Meinecke sehr wohl um die wirklichkeitsprägende Funktion von Diskursen weiß. Er beteiligt sich mit seiner Literatur an einem Umarbeiten der Realität durch die von ihm erzeugte Fiktion, die allerdings seinem Material nach wiederum eben jener Realität entnommen ist. Meineckes literarisches Verfahren

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Roman selbst Erwähnung: »Vermilion […] fragt sich, welche Vokabel Yolanda heute morgen wohl in ihre Suchmaschine eingegeben haben mochte.« (H 314) Die Stichworte bilden dabei rhizomatische Knotenpunkte, an die sich unter der assoziativen Verknüpfung von Ähnlichkeit und Vergleich Diskursschichten anlagern: »Während das ›wie‹ die Möglichkeit der steten Fortsetzung in Richtung des nächsten Stichworts andeutet, steht der Text – zumindest für den Moment – unter einem gemeinsamen Thema (›als‹).«380 Sowohl die Suchbewegung der Figuren als auch der Produktionsprozess Meineckes spiegeln sich im Rezeptionsprozess der Lesenden. Nicht umsonst betont Meinecke, seine »Texte nicht als Autor, sondern gleichsam als Leser zu schreiben. Den Prozeß meines Lesens schriftlich wiederzugeben. Gefundenes Material, das ich nicht einmal richtig verstanden haben muß, über das ich eben nicht Herr und Meister bin, durch mich hindurchfließen zu lassen.«381 Produktions- und Rezeptionsprozess werden in Hellblau zum Gegenstand eines Experiments, das den Konstruktionscharakter von Bedeutungsprozessen offenlegt. Meineckes Texte »entfalten über Verfahren des Zitierens und der Materialmontage ein performatives Potential, das den Akt des Schreibens ebenso wie die Möglichkeiten der Lektüre als das Ergebnis einer Versuchsanordnung erkennbar werden läßt, deren Ausgang strukturell offen bleibt.«382 Wie im Techno weicht bei Meineckes Literatur kontrollierte Narrativität und Melodie zufallsgesteuertem Groove und Rhythmus. Die idealisierte konventionelle Vorstellung eines narrativen Erzählverlaufs von Anfang, Mitte, Spannung, Höhepunkt und Auflösung verabschiedet Meinecke zugunsten einer akribischen Aufzeichnung von diskursiven Konstellationen. Denn für Meinecke dient Handlung in der Literatur […] der Ablenkung vom Text, von seinem Gehalt, auch seiner Funktion. Handlung erzählt nicht vom Narrativen des Textes, sondern sie gaukelt der Leserin […] vor, dass hier etwas passiert. Dass nicht von Sprache und ihrer Konstruiertheit die Rede ist, was ja das eigentlich Tolle an Texten ist (dessen Äquivalent besonders die Musik in ihrer sozusagen konkreten Abstraktheit super zu leisten vermag).383

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verweist damit auf die wechselseitige und zirkuläre Beeinflussung von Diskurs und Wirklichkeit, bzw. die gleichzeitige diskursive Arbeit an der medialen Inszenierung und Konturierung von Wirklichkeit durch verschiedene Disziplinen oder, in der Terminologie Luhmanns, durch verschiedene Systeme. Menke, Die Popliteratur nach ihrem Ende, S. 41f. Meinecke, Ich als Text (Extended Version), S. 23. Schumacher, Gerade Eben Jetzt, S. 205. Thomas Meinecke: Handlung lenkt ab. In: Spex-Anzeiger (Oktober 1999), Nr. 227, S. 35. »Ich will definitiv etwas ganz anderes erzählen als ein Rocker und dulde deshalb auch keine narrativen Ablenkungsmanöver wie Handlung, Spannungsbogen und Klimax, keinen Anfang und kein Ende, keine Auf- oder gar Erlösung« (Meinecke, Ich als Text (Extended Version), S. 24).

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Die sprachliche wie strukturelle Sperrigkeit von Meineckes Text dient der Aufmerksamkeitsverschiebung. Die Anordnungsweise wird zum Inhalt des Romans. Statt auf Ereignisse zu fokussieren, lenkt Hellblau die Aufmerksamkeit der Lesenden permanent auf die unablässige Konstruktionsarbeit von Sprache und die daraus resultierende Weltkonstruktion hin. Dabei kommt der Roman nicht umhin, gleichzeitig Diskursaufzeichnung und -erzeugung zu betreiben. In dieser Vermengung von Beobachtung und (Re-)Produktion liegt der Übergang vom Schreiben über Pop hin zum Pop sein. Es geht Meinecke darum, »eine so differenziert wie möglich modulierte Strecke Text herzustellen. Der [sic!] sich eben nicht souverän mit Pop beschäftigt, sondern vielmehr selbst Pop ist.«384 Damit steht Hellblau im Zeichen popkultureller und postmoderner Literatur, die sich nicht außerhalb der von ihr verhandelten Welt situiert, sondern sich in ihr verortet, ohne dadurch automatisch von den herrschenden Bedingungen vereinnahmt zu werden, so dass jede kritische Perspektive unmöglich würde: In implicitly contesting in this way such concepts as aesthetic originality and textual closure, postmodernist art offers a new model for mapping the borderline between art and the world, a model that works from a position within both and yet within neither, a model that is profoundly implicated in, yet still capable of criticizing, that which it seeks to describe.385

Hellblau ist ein Roman, der nicht primär von etwas handelt, sondern einen »Codewechsel [vollzieht] – der vom neutralen Ausführen einer Überlegung hin zur Mimesis an einer Sprache führt, von deren kulturellem Ort der Inhalt des Textes an dieser Stelle handelt«.386 In Kauf zu nehmen ist damit das potentielle Affiziertwerden durch die Diskurse, die durch ihre Ausstellung und Reproduktion einer kritischen Lektüre zugänglich gemacht werden sollen. Die Figuren zitieren und befragen Texte, die unterschiedlichen Bereichen entstammen. Ihre Art, Fragen und Kommentare an die Texte heranzutragen, bildet eine eigene Diskursformation aus, die selbst bestimmten (impliziten wie expliziten) Regeln und Begrenzungen unterliegt.387 Die Figuren werden ebenso wie die im Roman bereisten (Aufenthalts-)Orte zu Kreuzungspunkten von Diskurssträngen.388 Dabei findet jedoch zuvorderst Be384 Meinecke, Ich als Text (Extended Version), S. 24. 385 Linda Hutcheon: The Politics of Postmodernism: Parody and History. In: Cultural Critique (1986/1987), Nr. 5, S. 179–207, hier S. 180. 386 Jochen Bonz: Das Kulturelle. München 2012, S. 86. 387 Meinecke bezeichnet seine Romane daher als ›Science fiction‹: »Wenn der Begriff nicht vergeben wäre, fände ich die Bezeichnung ›Science Fiction‹ sehr treffend, denn es geht um Wissenschaft und Fiktion, ohne dabei das eine gegen das andere auszuspielen.« (Peter M. Boenisch: »Mein Text weiß mehr als ich«. In: Süddeutsche Zeitung 09. 10. 2001). 388 Die Erwähnung Krakaus anlässlich Normans Reise dorthin wird beispielsweise zum Anlass, eine mit der Stadt verbundene assoziative Liste von Personen zu erstellen, die eine Bezie-

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schreibung und Einordnung von gefundenem Material statt. Die Figuren diskutieren kaum ihre Standpunkte, sondern wägen allenfalls verschiedene Positionen ab, graben Materialien aus und stellen an das Material bestimmte Fragen. Hellblau kann daher »nicht als philosophischer oder Essayroman bezeichnet werden, trotz der Unterordnung der erzählerischen Aspekte unter den Diskurs, denn es werden keine philosophischen Thesen oder Probleme wirklich erörtert oder diskutiert«.389 Mit der Betonung von Techno als alternative Sinnstiftungsinstanz, die sprachlich-kognitiven Weltzugängen andere, assoziative, emotionale oder rhythmische beistellt, bezieht sich Cordula auf die Rhetorik religiösen Glaubens. Dem »Fan-Diskurs über die afrikanisch-amerikanische Techno-Musik« (H 112) schreibt sie »eine durchaus religiöse Komponente« (H 112) zu: »Wenn wir zwar Fragen stellen, aber keine Antworten mehr erwarten dürfen, wird musikalische Begeisterung gleichsam zur Glaubensfrage: Wir glauben an Techno. An die heilende Kraft der Musik. Albert Ayler 1969: Music is the healing force of the universe.« (H 112f.) Dieser Registerwechsel lässt André Menke Meineckes Arbeitsweise als [b]einahe historisch [bestimmen], weil am Ende alle Fäden immer nur in einem aktuellen Text zusammenlaufen, ohne ein sie verbindendes Gesamttheorem oder ein abrundendes narratives Fazit nach sich zu ziehen – die Aktualität des eigenen Textes steht notwendigerweise über dem Ergründen historischer ›Wahrheiten‹, die trotz gegebener Detailfülle in der Präsentation nicht den Brennpunkt dieser ›Feldforschung‹ bilden; dieser liegt vielmehr in einem Durchforsten des (auch inoffiziellen, illegitimen) Materials der Geschichte und in seiner Verknüpfung.390

Gegenwärtigkeit wird in Hellblau damit zu einer spezifischen Erfahrungskategorie, die Historisches als Erlebtes an das augenblickhafte Involviertsein anzubinden versucht und damit der theoretisierenden Diskursivität ein Gegengewicht hinzufügt. Samples sind wie die Literatur Meineckes konstitutiv von Plötzlichkeit und Unerwartetheit geprägt: »[D]er plötzlich einbrechende Lärm […] stört nicht,

hung zu Krakau haben: »Nikolaus Kopernikus, der unser noch immer gültiges Weltbild entwarf, […] hat hier studiert.« (H 311) Es folgen die Namensnennungen Joseph Conrad, Wisława Szymborska, Tadeusz Kantor, Krzysztof Penderecki – hier mit dem Zusatz »Komponist des vielzitierten Oratoriums Dies Irae für die Ermordeten von Auschwitz, aber auch einer 4. Symphonie für die französische Regierung sowie einer 5. Symphonie im Auftrag der Regierung Süd-Koreas« (H 311) – Roman Polan´ski, Andrzej Wajda, Sławomir Mroz˙ek und Papst Karol Wojtyłas Geliebte (H 311f.). So wird anhand einiger – vorübergehender – Einwohner Krakaus ein kurzer Einblick in die Weltgeschichte gegeben, die, so ließe sich provokativ formulieren, unser ›noch immer gültiges Weltbild‹ bzw. unsere Weise Geschichte zu schreiben herauszufordern vermag. 389 Picandet, Zitatromane der Gegenwart, S. 284. 390 Menke, Die Popliteratur nach ihrem Ende, S. 38.

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sondern bestätigt die Form, ihre prinzipielle Offenheit für neue Schichten, wechselnde Hintergründe, Polyrhythmik.«391 Im Roman sind es Tillmann und Yolanda, die in Bezug auf den TechnoDiskurs für eine assoziative Haltung der Mutmaßung als produktivste Form des Erkenntnisgewinns einstehen. Tillmann schreibt: »Mutmaßungen über Techno: Ich habe den Eindruck, daß diese der Gewinnung kultureller Erkenntnisse weitaus zuträglicher sein können als das sogenannte Wissen, auch Fachwissen« (H 103). Diese assoziativ zu nennende Produktion und Produktivität von Techno-Musik zieht aufgrund ihrer Struktur einen ähnlich assoziativen Diskurs nach sich, der auf der Ebene des Fantums allerdings fest in poststrukturalistische Theorien – vor allem durch die Rezeption von Deleuze und Guattaris Mille Plateaux in der Techno-Szene selbst392 – eingewoben ist. Tillmanns Aussage lässt sich außerdiegetisch als Antwort auf eine Aussage Yolandas lesen, die sich zwei Abschnitte vorher im Roman findet. Intradiegetisch wird jedoch nahegelegt, dass Tillmann von den Überlegungen Yolandas nicht weiß. Es findet zumindest keine explizite Auseinandersetzung statt. Kommuniziert wird in einer impliziten narrativen Metalepse mit der Leser:in als dritter Gesprächspartner:in. Yolanda merkt an: Ich finde es zwar aufregend, daß sich der Diskurs über Techno maßgeblich mittels Mutmaßungen fortschreibt, nicht alle davon kommen mir aber produktiv vor. Sogar Tillmann macht hin und wieder fragwürdige Bemerkungen wie: Ich hätte wetten können, daß Ectomorph ein schwarzer Act ist. (H 101).

Die Formulierung ›Ich hätte wetten können‹ markiert die Schwelle, an der die produktiven Mutmaßungen in eine Vorurteilsstruktur umschlagen. Yolanda unterstellt Tillmann ›strukturellen Rassismus‹, den Tillmann allerdings im Verlauf des Romans stolz glaubt abgelegt zu haben: An meiner ungebrochenen Begeisterung für die beseelte Musik des Kaukasiers Dan Curtis […] stellte ich, nicht ohne zu erstaunen, fest, daß es mir mittlerweile so gut wie egal ist, ob Techno beziehungsweise House Music schwarzer oder weißer Herkunft ist. Ich habe diesen inneren Fortschritt sofort an Yolanda, die mir immer vorwarf, daß meine fast ausschließliche Begeisterung für afrikanisch-amerikanische Musik strukturell rassistisch sei, weitergemeldet. (H 208) 391 Diedrich Diederichsen: Sampling in der Pop-Musik. In: Hans Ulrich Reck, Mathias Fuchs (Hg.): Sampling. Wien 1996, S. 44–50, hier S. 45f. 392 Dies gilt insbesondere für Achim Szepanskis Label Mille Plateaux: »Ein weiteres markantes Beispiel für ein explizit politisches Selbstverständnis von Techno-Akteuren, das zugleich auf ein teilweise hohes Maß theoretischer Reflexion innerhalb der Szene hinweist, stellt das Frankfurter Label Mille Plateaux von Achim Szepanski dar, dessen Veröffentlichungen einen konzeptionellen Zusammenhang zum Poststrukturalismus von Gilles Deleuze herstellen.« (Timo Kaul: Techno. In: Thomas Hecken, Marcus S. Kleiner (Hg.): Handbuch PopKultur. Stuttgart 2017, S. 106–110, hier S. 107).

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In Hellblau werden nicht nur Diskurse, sondern zugleich die Erzählstimmen, die die Diskurse vorbringen, einer akribischen Kritik unterzogen. Die Arbeit an der Mikrostruktur, die sich dann auf die Verhältnisse der Makrostruktur übertragen lassen soll, findet ihr sprachliches Äquivalent in einer Aufmerksamkeit der Figuren für die Wortverwendung in spezifischen Kontexten. So lassen sich sowohl das politische Potential von elektronischer Techno-Musik als auch die in den Diskursen unterschwellig operierenden Gegenströmungen entdecken: »Eigentümliches Wort: Eigentlich. Zumal im Zusammenhang dieses das sogenannte Eigene, das vermeintlich autonome Subjekt, nicht selten sehr raffiniert dekonstruierenden Genres namens Techno.« (H 101) Dass Sampling und Modulation spezifischen – durchaus auch vom Zufall bestimmten – Mustern folgen müssen, um nicht beliebig zu werden, zeigt Heinrichs vergeblicher Versuch, alles mit allem [zu] mischen, was ihm aber nicht recht gelingen will. Was hat er nun im Sinn, wenn er auf seinem linken Plattenteller Maurizio laufen hat und, gleichzeitig hörbar, auf dem rechten Albert Ayler? Das läßt sich in Worten eben gar nicht ausdrücken, sagt Heinrich und stellt unsere Anlage, sichtlich verunsichert, auf Kopfhörerbetrieb um. (H 32)

Das Meinecke’sche Sampling zielt auf eine Form der palimpsestartigen Verknüpfung, in der sich verschiedene Diskurse, Themen und Wurzelstränge von einem Satz zum anderen auftun, ergänzen, schließen und gegenseitig unter neuen Perspektiven lesbar machen und die für alle in Hellblau angespielten Themen gilt. Der Themenkomplex des Nationalsozialismus stellt keine Ausnahme dar. Er bildet einen von vielen verschiedenen »Wurzelknoten des Meineckeschen Rhizoms«393, stellt jedoch keineswegs die in Hellblau auftretenden Popverfahren still, wie es Axel Dunker suggeriert: Insofern markiert Auschwitz den Punkt innerhalb von Meineckes Konstrukt, der das ganze Gewebe aus dem Selbstgenügsam-Spielerischen, als das es vielleicht erscheinen könnte, herausholt und dem Buch die Dignität des überaus Ernsthaften verleiht.394

Die Opposition von Ernsthaftigkeit und Unterhaltung wird aber von Hellblau gerade nicht in den Mittelpunkt gestellt. Die Thematik erweist sich in ihrer Relevanz für eine gegenwärtige Kultur als genauso abhängig von einer sinnstiftenden Anschlussfähigkeit wie andere kulturell-historische Ereignisse. Im Roman steht sie im Geflecht transatlantischer, geschlechtlicher und rassen393 Axel Dunker: Auschwitz im Pop-Roman. Thomas Meineckes Hellblau. In: Torben Fischer, Philipp Hammermeister, Sven Kramer (Hg.): Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Amsterdam, New York 2014, S. 187–196, hier S. 192. 394 Ebd., S. 193. Baßler führt, allerdings mit kritischer Intention, ein ähnliches Argument vor: »Alle öffentliche Erinnerung, selbst die der Nachgeborenen, blieb auf Nationalsozialismus, Krieg und Shoah bezogen und gewann aus diesem Bezug ihre Legitimität. Gegenwart hieß: Nach Auschwitz – schlechte Zeiten für Pop.« (Baßler, Der deutsche Pop-Roman, S. 46).

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Lyotard im Clubhaus

ideologischer Themen, die mittels popkulturellem Material verhandelt, befragt und sichtbar gemacht werden. Der Zugang, den Hellblau zum Thema Nationalsozialismus wählt, findet gerade innerhalb der Verweis- und Bedeutungsstruktur alltäglicher Popkultur statt. Durch dieses Vorgehen lässt sich Hellblau als eine mögliche Antwort lesen auf die von Jean-François Lyotard aufgeworfene Frage nach einer angemessenen Sprache und Philosophie nach Auschwitz, die die historischen Ereignisse weder dem Vergessen anheimstellt noch sie in ein reibungsloses Narrativ integriert.

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Lyotard im Clubhaus

Versucht man die durch die Techno-Theorie angestoßenen Verfahren, derer sich Meinecke in Hellblau bedient, mit dem theoretischen Diskurs über Auschwitz kurzzuschließen, so fällt auf, dass sowohl Meinecke als auch Jean-François Lyotard sich mit dem Phänomen der Verknüpfung (von Sätzen, Themen, Materialien) beschäftigen.395 Meineckes Begriff des Samplings, bei dem man »nur eine Silbe lang auf eine andere Ebene gehen [kann,] darunter liegt aber noch die Syntax von etwas ganz anderem«396, erweist sich im positiven Sinn offen für unkonventionelle Verknüpfungen. Seine Rede von der darunterliegenden Syntax, die eine Silbe lang verlassen werden kann, verweist auf die Ebene der regelgeleiteten Ordnungsstruktur, denen bestimmte Sprachen und – im weiteren Sinn verstanden auch – Diskurse bzw. in Jean-François Lyotards Begriff: Diskursarten, folgen. Hierin liegt die Verbindungslinie zu Lyotards sprachphilosophischen Überlegungen über den Umgang mit dem Holocaust. Sein Ausgangspunkt in Der Widerstreit ist die Frage nach einem angemessenen – und noch – möglichen Sprechen ›nach Auschwitz‹. »Der Gegenstand des Widerstreits sind also Sätze und deren Verkettungen, die sich in Diskursen oder, mit Wittgenstein formuliert, […] in Sprachspielen niederschlagen«.397 Dabei sind nach Lyotard verschiedene Diskursarten398 auszumachen, die »nicht ineinander [zu] übersetzen«399 sind. Mit 395 In meiner Darstellung der grundlegenden Gedankengänge von Lyotards Philosophie des Widerstreits beziehe ich mich auf Jean-François Lyotard: Der Widerstreit. Übersetzt von Joseph Vogl. 2. korr. Auflage. München 1989 und Jean-François Lyotard: Streitgespräche oder: Sprechen »nach Auschwitz«. Aus dem Französischen übertragen, herausgegeben und eingeleitet von Andreas Pribersky. Grafenau 1998 sowie auf die klare und übersichtliche Zusammenfassung von Sven Kramer: Auschwitz im Widerstreit. Zur Darstellung der Shoah in Film, Philosophie und Literatur. Wiesbaden 1999, dort vor allem S. 89–106. 396 Brombach/Rüdenauer, Gesampeltes Gedankenmaterial. o. S. 397 Kramer, Auschwitz im Widerstreit, S. 92. 398 Die Diskursarten bezeichnet Lyotard im französischen Original mit ›genre‹ als Abkürzung für »genres de discours« (Jean-François Lyotard: Le Différend. Paris 1983, S. 12). Beide

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Diskurspop – Thomas Meineckes Hellblau

›Auschwitz‹ kommt es für Lyotard zur hypothetischen »Zerschlagung des spekulativen Diskurses«.400 Das bedeutet für Lyotard eine grundlegende Kritik an Hegels Philosophie, insbesondere seiner spekulativen Dialektik, nach der die Philosophie der letzte Diskurs ist, in dem sich alle Phänomene und Sachverhalte darstellen, ausdrücken und aus einer Metaperspektive vereinen lassen. In der Spekulation im Hegelschen Sinn wird, so Lyotard, »[d]ie Zwei der dialektiké, Stoff für Paralogismen und Aporien, […] dem Einen, dem dialektischen Endzweck untergeordnet.«401 Auschwitz kann kein spekulatives Resultat im Sinne Hegels abgewonnen und damit keinem vernünftigen Denken restlos zugänglich gemacht werden.402 Kommunikatives Handeln denkt Lyotard im Gegensatz zu Habermas’ Konsenstheorie403 derart verfasst, »daß Sprechen Kämpfen im Sinne des Spielens ist und daß Sprechakte einer allgemeinen Agonistik angehören.«404 Das ist die Voraussetzung für Lyotards zentralen Begriff des Widerstreits. Lyotard definiert ihn als »Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen an-

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Formulierungen tragen »eindeutig poetologische oder rhetorische Konnotationen, etwa im Sinne von dt. ›Gattung‹ oder ›Genre‹« (Lyotard, Der Widerstreit, S. 13), so Joseph Vogl, der Übersetzer der deutschen Fassung des Widerstreits. Ebd., S. 10. Diese postmoderne Perspektive Lyotards, die vehement gegen jede mögliche Gefahr einer Totalisierung vorgehen will und die in der radikalen Vereinzelung und, in ihrem Radikalismus ernst genommen, in der Unfähigkeit, miteinander kommunizieren zu können mündet, mildert Wolfgang Welsch durch einen Mittelweg zwischen Lyotards Radikalismus und Poppers Universalsprache des Kritischen Rationalismus. In seiner Auffassung von Vernunft ist es möglich, Pluralität und Alterität als relevante Komponenten mitzudenken: »Die vernünftige Betrachtung fördert vielmehr die Eigenlogik der jeweiligen Argumentationen zutage und hält dazu an, ihr Rechnung zu tragen. Sie tritt allen Übergriffen, Majorisierungen oder gar Totalisierungen entgegen.« (Wolfgang Welsch: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt am Main 1996, S. 877) Um aber zu einem Dialog kommen zu können, den Lyotard doch eigentlich auch einfordert, müssen »Übergänge und Verflechtungen zwischen« (Peter V. Zima: Moderne/Postmoderne. Tübingen, Basel 2001, S. 389, Herv. im Original) den verschiedenen Diskursarten Lyotards angenommen werden. Kramer, Auschwitz im Widerstreit, S. 97. Lyotard, Streitgespräche, S. 8. »Das Modell ›Auschwitz‹ bezeichnet also die Erfahrung eines Sprechens, das dem spekulativen Diskurs Halt gebietet. Dieser wäre ›nach Auschwitz‹, d. h. ›in Auschwitz‹ nicht mehr fortsetzbar. Hier wäre eine Name ›in‹ den wir nicht mehr denken würden, oder nicht zur Gänze. Es wäre also kein Name in dem Sinn, in dem Hegel ihn versteht, jene Gestalt des Gedächtnisses, die die Fortdauer des res sichert, wenn der Geist ihre Zeichen zerstört hat.« (Lyotard, Streitgespräche, S. 14). Siehe dazu Jürgen Habermas: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: Ders., Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt am Main 1971, S. 101–141. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hg. von Peter Engelmann. Wien 1986, S. 40.

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Lyotard im Clubhaus

wendbare Urteilsregel fehlt.«405 Ein Widerstreit kann daher nicht in einen Rechtsstreit überführt werden, da dies zu Unrecht führen würde: »Ein Unrecht resultiert daraus, daß die Regeln der Diskursart, nach denen man urteilt, von denen der beurteilten Diskursart(en) abweichen.«406 In Auschwitz treten nun die beiden Parteien von Tätern und Opfern derart auseinander, dass deren Sprechakte keinerlei gemeinsame Grundlage mehr aufweisen.407 Dieser radikale Widerstreit, der in Auschwitz aufbricht, führt zu der Verunmöglichung von Erfahrung. Wenn ›nach Auschwitz‹ das ›Resultat‹ fehlt, so mangels Bestimmung. ›Auschwitz‹ hätte keinen spekulativen Namen, weil es der Eigenname einer Meta-Erfahrung oder gar einer Zerstörung von Erfahrung wäre. Welche Bestimmung fehlte ›Auschwitz‹, damit daraus eine Erfahrung mit einem ›Resultat‹ erwüchse? Wäre es die der Unmöglichkeit eines Wir? In den Lagern hätte es kein Subjekt in der ersten Person Plural gegeben.408

Lyotard bezeichnet im Französischen das, was Joseph Vogl in der deutschen Übersetzung des Widerstreits unglücklich mit ›Metaerfahrung‹ übersetzt – unglücklich, weil die Vorsilbe ›Meta-‹ doch wiederum einen Wechsel der Ebenen suggeriert, mit dem eine Hierarchisierung einhergeht, – als Para-Erfahrung409. Die Vorsilbe ›Para-‹ kann etymologisch sowohl neben(her) als auch (ent)gegen bedeuten. Mit dieser Denotation bezeichnet Lyotard daher ein Phänomen, das 405 Lyotard, Der Widerstreit, S. 9. 406 Ebd., S. 9. 407 Die Figur, die Lyotard zur Verdeutlichung heranzieht, basiert auf einem gemeinsamen Verständnis von Recht, nach dem derjenige, der sich in der verurteilenden Position befindet, gleichermaßen von der Verurteilung grundsätzlich betroffen sein kann, sofern er sich nicht rechtens verhält. Das »Du sollst sterben« der Täter aber kann in keiner Weise auf sie selbst zurückprojiziert werden, da die Grundlage des Todes gerade kein rechtlicher Grund, sondern vielmehr ein nicht geteilter Grund, nämlich das jüdisch sein, ist. »Opfer sein bedeutet, nicht nachweisen zu können, daß man Unrecht erlitten hat. Ein Kläger ist jemand, der geschädigt wurde und über Mittel verfügt, es zu beweisen. Er wird zum Opfer, wenn er diese Mittel einbüßt. Er büßt sie ein, wenn sich etwa der Urheber des Schadens unmittelbar oder mittelbar als dessen Richter erweist. Dieser Richter besitzt die Machtbefugnis, seine Zeugenaussage als falsch zurückzuweisen, oder die Möglichkeiten, ihre öffentliche Kundgabe zu verhindern. […] Im allgemeinen wird der Kläger zum Opfer, wenn jedwede Darstellung des Unrechts, das er erlitten zu haben behauptet, unmöglich wird.« (Lyotard, Der Widerstreit, S. 25). 408 Ebd., S. 168. Michael Bachmann übersetzt die Formulierung des ›namenlosen Namen[s]‹, mit der Lyotard Auschwitz bezeichnet als »Widerständigkeit gegen Benennung« (Michael Bachmann: Der abwesende Zeuge. Autorisierungsstrategien in Darstellungen der Shoah. Tübingen 2010, S. 25). 409 »›Auschwitz‹ n’aurait pas de nom spéculatif parce qu’il serait le nom propre d’une paraexpérience ou même d’une destruction de l’expérience« (Lyotard, Le Différend, S. 145). In der deutschen Fassung der Streitgespräche übersetzt Andreas Pribersky ›para-expérience‹ auch mit »Sprech-Erfahrung, Para-Erfahrung« (Lyotard, Streitgespräche, S. 15). »Hat ›Auschwitz‹ nicht deshalb keinen Namen, weil es der Eigenname einer Paraerfahrung ist, der Erfahrung der Unmöglichkeit des ›wir‹?« (Ebd., S. 31).

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durch das (Hegelsche) Konzept von Erfahrung nicht erfasst werden kann. In der Konsequenz bedeutet dies: [D]ie Abwesenheit eines Konsensmechanismus bedeutet, daß die Begriffe, die das spekulative Medium der Philosophie bilden, an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit geführt werden. Sie können im Falle des Widerstreits das Geschehene nicht allgemeingültig erfassen; die vom spekulativen Diskurs vorausgesetzte Einheit der Vernunft läßt sich nicht realisieren. Daraus folgt, daß der Widerstreit, der sich an die Ermordung der Juden knüpft, ›im Rahmen der Regeln der Erkenntnis nicht darstellbar‹ ist.410

Folglich lehnt Lyotard die Idee eines alle anderen Diskurse umfassenden und kommentierenden Meta-Diskurses ab. Der Philosophie wird keine hervorgehobene Rolle gegenüber anderen Diskursarten [mehr] zugestanden […]. Jedenfalls kann sie keinen Meta- oder Meisterdiskurs führen, wenn jene Diskursregel fehlt, die alle anderen umschließt. Sie findet sich nicht – urteilend – über, sondern – streitend – in den Konflikten wieder.411

Die »Heterogenität der Diskursarten«412 ist demnach unumgehbar.413 Wenn für Lyotard Auschwitz das Ereignis markiert, das weder durch den Vernunftdiskurs noch in den Begriffen von Erfahrung erfasst werden kann, weil es sich dabei um eine »Para-Erfahrung«414 handelt, heißt dies keineswegs, dass nicht über Auschwitz gesprochen werden kann. Es bedeutet lediglich, dass die Parameter der Sinnstiftung und die Koordinaten eines Systemdenkens dem Ereignis – und vor allem seinen Opfern – nicht gerecht werden können. Lyotards Anliegen zielt daher darauf, eine neue Diskursart zu finden: »Die Frage, die Auschwitz stellt, ist die nach der Textur des Textes, der ›an‹ Auschwitz ›schließt‹.«415 Ein erster Ansatzpunkt für eine Lösung bietet Lyotards Rückgriff auf Theodor W. Adorno. Dessen Argumentation dient Lyotard als Zwischenschritt in seiner Kritik an Hegel.416 So liefert ihm Adornos Negative Dialektik wichtige Ansatzpunkte zur Kritik Hegels, gleichzeitig aber bleibt er skeptisch gegenüber Adornos Überführung von Auschwitz in das, was Adorno eine »lesbare Konstellation«417 nennt. Konstellation stellt für Adorno ein Verfahren dar, das zur Annäherung an die Erkenntnis von Sachverhalten führen soll, die in der Sprache (noch) nicht 410 Kramer, Auschwitz im Widerstreit, S. 94, das Zitat im Zitat findet sich in Lyotard, Der Widerstreit, S. 107. 411 Kramer, Auschwitz im Widerstreit, S. 93. 412 Ebd., S. 92. 413 Dies gilt damit auch für Lyotards philosophischen Text selbst. Vgl. Lyotard, Der Widerstreit, S. 13. 414 Ebd., S. 15. 415 Ebd., S. 16. 416 Gleichzeitig ist Lyotard sich in seinem Urteil über Adornos Umgang mit Auschwitz uneins. 417 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Gesammelte Schriften Band 6. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 2003, S. 399.

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Lyotard im Clubhaus

begrifflich erfasst werden können. Hintergrund dieser Bemühungen ist Adornos kritische Haltung gegenüber begrifflicher Erkenntnis im Allgemeinen418 und seine Vorsicht gegenüber einer begrifflichen Vereinnahmung von ›Auschwitz‹ im Besonderen. Schon in den Philosophischen Frühschriften betont Adorno die Notwendigkeit der Abkehr von einem Systemdenken, das Begriff und Sache unter dem Begriff vereinen will. Damit geht eine grundlegende Kritik an philosophischer Metaphysik einher.419 Sie ist für ihn nur in der Form von Konstellation(en) möglich: Während ich Ihnen Themen der Metaphysik wie Sein, Seinsgrund, Nichts, Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, Werden, Wahrheit, Geist nennen kann, läßt sich ihr voller Begriff – wie jeder nachdrückliche – nicht in einer Verbaldefinition geben, sondern nur in der konkreten Behandlung der Probleme, deren Konstellation den Begriff der Metaphysik bildet.420

Für Adorno gilt es, sich der Welt der Phänomene, Dinge und Erfahrungen zwar durch die Hilfe von Begriffen anzunähern und sie zu erhellen, gleichzeitig aber die Grenze begrifflichen Erfassens anzuerkennen und in der sprachlichen Begriffsarbeit das darin nicht Erfasste mitzudenken: Was aber an Wahrheit durch die Begriffe über ihren abstrakten Umfang hinaus getroffen wird, kann keinen anderen Schauplatz haben als das von den Begriffen Unterdrückte, Mißachtete und Weggeworfene. Die Utopie der Erkenntnis wäre das Begrifflose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.421

Um dem Wirklichen in seiner jeweiligen situativen und konstellativen Besonderheit gerecht zu werden, plädiert Adorno für eine sprachlich-begriffliche Annäherung an die Verhältnisse der Wirklichkeit in ›kleinen Formen‹. Das Verfahren beschreibt Adorno als Versuchsanordnung, in der Komponenten stets

418 In Hegels Worten sind »[w]ahre Gedanken und wissenschaftliche Einsicht […] nur in der Arbeit des Begriffs zu gewinnen. Er allein kann die Allgemeinheit des Wissens hervorbringen, welche […] gebildete und vollständige Erkenntnis, [und] die zu ihrer einheimischen Form gediehene Wahrheit [ist], – welche fähig ist, das Eigentum aller selbstbewußten Vernunft zu sein.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Werke Band 3. Frankfurt am Main 1986, S. 65). 419 »Denn längst hat Deutung von aller Frage nach dem Sinn sich geschieden […]. Wenn Philosophie lernen muß, auf die Totalitätsfrage zu verzichten, dann heißt das vorab, daß sie lernen muß, ohne die symbolische Funktion auszukommen, in welcher bislang, wenigstens im Idealismus, das Besondere das Allgemeine zu repräsentieren schien« (Theodor W. Adorno: Die Aktualität der Philosophie. In: Ders.: Philosophische Frühschriften. Gesammelte Schriften 1. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1973, S. 325–344, hier S. 336). 420 Theodor W. Adorno: Metaphysik. Begriff und Probleme (1965). Nachgelassene Schriften Abteilung IV: Vorlesungen Band 14. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1998, S. 25. 421 Adorno, Negative Dialektik, S. 21.

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neu angeordnet, übereinander gelegt und positioniert werden, bis ein lesbares Bild entsteht: Und wie Rätsellösungen sich bilden, indem die singulären und versprengten Elemente der Frage so lange in verschiedene Anordnungen gebracht werden, bis sie zur Figur zusammenschießen, aus der die Lösung hervorspringt, während die Frage verschwindet –, so hat Philosophie ihre Elemente, die sie von den Wissenschaften empfängt, so lange in wechselnde Konstellationen, oder […] in wechselnde Versuchsanordnungen zu bringen, bis sie zur Figur geraten, die als Antwort lesbar wird […]. Aufgabe der Philosophie ist es nicht, verborgene und vorhandene Intentionen der Wirklichkeit zu erforschen, sondern die intentionslose Wirklichkeit zu deuten, indem sie kraft der Konstruktion von Figuren, von Bildern aus den isolierten Elementen der Wirklichkeit die Fragen aufhebt, deren prägnante Fassung Aufgabe der Wissenschaft ist.422

Konstellation bedeutet daher eine Annäherung durch Umkreisen des Sachverhaltes, der nicht direkt bezeichnet und nicht sogleich in eine geordnete intentionsgesteuerte Struktur überführt werden kann und soll. Es geht Adorno also um »ein Denken, das seine eigene Bewegung der Bewegung der Gegenstände anmessen könnte, ohne dass es in solcher quasi-mimetischen Annäherung seine Autonomie aufgeben müßte«.423 Die sich daraus ergebenden Folgen für die Auffassung des (Autor-)Subjekts lassen sich bei allen drei Autoren (Adorno, Lyotard und Meinecke) feststellen: Ebenso wie sich Meinecke als Leser inszeniert und darauf beharrt, dass das »autonome Subjekt […] abgeschafft«424 ist, sprengt »das Theorem von der Heterogenität der Diskursarten […] den Subjektgedanken auf, so daß den philosophischen Text keine Moderatoreninstanz mit Meisterdenkerfunktion mehr dominiert.«425 Lyotard führt demgemäß in Der Widerstreit eine Figur A. ein, die sich einerseits als Textfunktion Autor benennen lässt (und damit eine Distanz zur Person Lyotard herstellt), andererseits als Adressat bezeichnet werden kann, hat Lyotard doch im Konzept des »Leser[s] (den ersten, den A., inbegriffen)«.426 Auch Adornos Auffassung der Konstellation versetzt den Denkenden in ein verändertes Verhältnis zu seinem Gegenstand, das – ähnlich wie Meineckes Position, nicht gänzlich über sein Material zu verfügen können – sich den Gegenständen quasi-mimetisch anzunähern versucht. Lyotard geht es ebenfalls um einen Balanceakt, mittels dessen Auschwitz in eine »›lesbare Konstellation‹ der Mikrologien Adornos«427 überführt werden kann, einerseits ohne in seiner Bedeutung stillgestellt oder einseitig festgesetzt zu 422 423 424 425 426 427

Adorno, Die Aktualität der Philosophie, S. 336. Gerhard Schweppenhäuser: Theodor W. Adorno zur Einführung. Hamburg 2013, S. 67. Meinecke, Ich als Text (Extended Version), S. 20. Kramer, Auschwitz im Widerstreit, S. 93. Lyotard, Der Widerstreit, S. 11. Lyotard, Streitgespräche, S. 18.

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Lyotard im Clubhaus

werden, andererseits aber ohne in Beliebigkeit zu verfallen.428 Bemerkenswerterweise bedient sich Lyotard in seinem Nachdenken über ein Sprechen ›nach Auschwitz‹ an einer markanten Stelle musikalischer Begriffe, die auf ein Jenseits von Bedeutung verweisen: Es gäbe nicht einmal einen Geist, den des Volkes und den der Welt nicht, die ein ›wir‹ sind) [sic!] fähig sich des Namens ›Auschwitz‹ wiederum zu bemächtigen, ihn zu denken und sich darin zu denken. Der Name bliebe leer, in einem mechanischen, vom Begriff verlassenen Gedächtnis. So wäre dieser Name anonym. Und ›nach Auschwitz‹ hieße kein Wiederaufleben, sondern die Wiederholung eines Metrum [sic!], das von keiner Betonung mehr gegliedert wäre: und es würde nichts besagen.429

Nach diesen Ausführungen zur strukturellen Nähe, die sich zwischen Lyotards Anliegen eines Diskurses ›nach Auschwitz‹ und dem Verfahren der Verknüpfung von Hellblau im Rückgriff auf Technomusik herstellen lässt, soll im Folgenden die Weise in den Blick genommen werden, mittels derer in Hellblau Auschwitz, der Zweite Weltkrieg und der Nationalsozialismus thematisiert, verbunden und produktiv gemacht werden. Diesem Überblick folgt der ›Umweg‹, den Hellblau in seiner Annäherung an die Thematik über die Debatte von ethnischer, nationaler und individueller Identität anhand der Verschränkung von Fragen nach jüdischer und afro-amerikanischer Identität geht. Der atlantische Kulturraum zeigt sich als vertikaler Raum hybrider Kulturentwürfe schwarzer, jüdischer und amerikanischer Identitäten. Er bietet im Gegensatz zu einer hermetischen Vorstellung jüdischer Identität eine alternative Erzählung jüdischer Teilidentität, die sich nicht darin erschöpft, Jüdinnen und Juden als Opfer des Holocaust zu erinnern, sondern vielmehr deren vielfältigen kulturellen Leistungen im Bereich der amerikanischen Musikkultur gedenkt und sie stark macht.430 So wird aus der notorischen Frage in Hellblau, welche Musiker oder anderen Persönlichkeiten jüdischer oder amerikanischer Herkunft, weißer oder schwarzer Hautfarbe sind, eine Art Inventar der Erinnerung. Die Nennung einer großer Anzahl von Namen 428 »›Modell‹ und ›namenloser Name‹ bezeichnen Versuche, ein Denksystem ›nach Auschwitz‹ über seine Berücksichtigung des Realen (des différend, des Nichtidentischen) zu autorisieren; in Adornos berühmter Formulierung als Denken, das, ›um wahr zu sein […] auch gegen sich selbst denken‹ muss.« (Bachmann, Der abwesende Zeuge, S. 25). 429 Lyotard, Streitgespräche, S. 36. 430 Das ist im Hinblick auf die von den Nationalsozialisten angestrebte physische und kulturelle Auslöschung der jüdischen Bevölkerung samt deren kollektiven Gedächtnis von Relevanz. Die Suche nach einem kulturellen Austausch steht im Gegensatz zu Hitlers Auffassung der Jüdinnen und Juden als kulturlos: »Daher aber ist das jüdische Volk bei allen scheinbaren intellektuellen Eigenschaften dennoch ohne jede wahre Kultur, besonders aber ohne jede eigene. Denn was der Jude heute an Scheinkultur besitzt, ist das unter seinen Händen schon meist verdorbene Gut der anderen Völker.« (Adolf Hitler: Volk und Rasse. In: Ders.: Mein Kampf. Eine kritische Edition. Hg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel. München, Berlin 2016, S. 734–860, hier S. 785).

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Diskurspop – Thomas Meineckes Hellblau

mehr oder weniger bekannter Persönlichkeiten knüpft an das Pop-Verfahren des Archivierens und des Erzeugens von Listen an und wendet es als eine Gegenstrategie zur Figur der Auslöschung an: Die Nennung von Namen ist ein Zeichen gegen das von der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik inszenierte Narrativ des ›schmutzigen Juden‹. Damit widersetzt sich der Roman der Reduktion jüdischer Geschichte auf eine Teleologie zu Auschwitz hin und gibt der jüdischen Kultur eine neue Form der erinnernden Identität zurück.

2.4

Konzentrische Annäherungen an ›Auschwitz‹

Die gesellschaftspolitischen Nachwehen des Holocaust registriert und dokumentiert Hellblau anhand von Nachrichtenmaterial und Debattenkulturen. Meineckes Figuren zeigen großes Interesse für diese massenmediale Tendenz zur Einfriedung bestimmter Themen und Topoi. Ihr Interesse entspringt meist biografischen Konstellationen: Heinrich, der seine Magisterarbeit über Reagans Besuch in Bitburg 1985 schreibt, ist ebenso wie Yolanda in Bitburg aufgewachsen. Yolanda ist zudem, als Tochter einer Deutschen und eines schwarz-amerikanischen Soldaten, der nach dem zweiten Weltkrieg in Bitburg stationiert war, selbst afro-amerikanische Deutsche und Repräsentantin des deutsch-afro-amerikanischen Diskurses. Ähnliches gilt für Vermilion, die als amerikanische Jüdin auf der Figurenebene die Thematik des Judentums verkörpert. Das Figurensetting wie das von den Figuren gesammelte und von Meinecke arrangierte Material repräsentiert so performativ einen pluralisierten Diskurs, der den Holocaust als historisches Ereignis und in seinen bis in die Gegenwart reichenden Nachwehen als gesellschaftspolitisch und kulturell virulent ausweist. Dabei legt der Text verschiedene Strategien im gesellschaftspolitischen Umgang mit der Thematik frei: Anhand der Debatte um Entschädigungszahlungen seitens deutscher Industriefirmen an jüdische Überlebende stellt der Roman die Tendenz zur diminuierenden und pejorativen Rede von Altlasten aus. Auschwitz wird dabei als überkommener historischer Rest angesehen, dessen noch ausstehenden bis in die Gegenwart andauernden juristische und gesellschaftliche Richtigstellungen als pedantisch abgewiesen werden. Der Roman decodiert dabei zugleich die politisch in Stellung gebrachte Verwendung des ›Superzeichens‹ Auschwitz: Es wird als einmaliges, heiliges Ereignis gegen alltägliche, gesellschaftlich prekäre Geschehnisse ins Feld geführt, um diese zu entwerten. Dies geschieht beispielsweise angesichts der Verharmlosungstendenzen, die die deutschen Verantwortlichen – in diesem Fall die Hauptstadtpolizei – in Bezug auf antisemitische Anschläge praktizieren. Im Vergleich zur Judenvernichtung lassen sich das Beschmieren und Inbrandsetzen eines »Berliner S-Bahn-Waggon[s], in dem sich

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Konzentrische Annäherungen an ›Auschwitz‹

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eine von Schülern eingerichtete Ausstellung über die Ausgrenzung der Juden aus dem Alltagsleben der Nazi-Zeit befand« (H 105) als »ganz normale Akte von Vandalismus« (H 105) abtun. Auch die fortwirkende topische Verknüpfung von kapitalistischem Fordismus mit der Verwaltungsstruktur nationalsozialistischer Todeslager wird zum Thema: Für den »ökonomistischen Antikapitalismus der Postlinken […] war sogar Auschwitz-Birkenau nichts als ein kapitalistischer Industriebetrieb in letzter Konsequenz, eine fordistische Fabrik« (H 287).431 Der damit verbundene Topos der verhängnisvollen Verbindung von Wirtschaft und Krieg, bzw. technischem Fortschritt und Vernichtung liegt der von Tillmann zitierten Aussage zugrunde, wonach »Hitler die Invasion Polens niemals erwogen hätte, wenn er nicht über die fortschrittliche Technologie von General Motors verfügt hätte.« (H 105) Durch das akribische Sammeln und Aufzählen politischer Nachrichten werden die gesellschaftspolitischen Versäumnisse deutlich, wenn beispielsweise zur Sprache kommt, dass die während des Nationalsozialismus für die medizinischen Experimente zu Augenfarben verantwortlichen »Kaiser-Wilhelm Institute […] in Max Planck-Institute umbenannt« (H 155) wurden, ohne dass die geschichtlichen Verstrickungen der Institutionen je deutlich ›aufgearbeitet‹ worden sind. In der steten Suche nach Vorfällen, die bis in die Gegenwart hineinreichen, setzt der Roman – ohne dies zu explizieren – gegenwärtige und vergangene Verhältnisse in eine Austauschbeziehung; wenn er die deutsche Asylpolitik immer wieder in den Fokus rückt oder, wie an folgender Stelle, die langen Schatten der nationalsozialistischen Gewalttaten verfolgt:

431 Folgt man dieser in Hellblau vielfach ausgelegten Spur, die immer wieder Henry Fords Antisemitismus und seine Hitler-Begeisterung betont, im Zusammenhang mit der ebenfalls erwähnten Stiftung Zukunft braucht Erinnerung, in die einige der zu Entschädigungszahlungen aufgeforderten Firmen laut Hellblau eingetreten sind, wird man auf der Webseite Zukunft-braucht-Erinnerung.de fündig. Dort findet sich ein Eintrag zur Wannseekonferenz, der die These diskutiert, die Nationalsozialisten erhielten für den industriell geplanten Massenmord »Inspiration im Vorfeld durch das Gedankengut von Henry Ford« (Stefan Loubichi: Wannsee-Konferenz (20. Januar 1942) – Der dunkelste Tag der deutschen Geschichte. In: Zukunft braucht Erinnerung. Das Online-Portal zu den historischen Themen unserer Zeit 27. 03. 2015. https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/wannsee-konferenz20-januar-1942-der-dunkelste-tag-der-deutschen-geschichte/, abgerufen am 05. 04. 2022). Dort heißt es: »Gegenstand der Wannseekonferenz war die Organisation eines ›effizienten Massenmordes industrieller Prägung‹. Von vielen Historikern wird in diesem Zusammenhang im Übrigen argumentiert, dass die Nazis sich im Vorfeld der Wannseekonferenz von der Fließbandmethode eines Henry Ford hatten inspirieren haben [sic!] lassen, welcher seine Anregungen wiederum aus den Chicagoern [sic!] Schlachthöfen bezog.« (Ebd.) Auch hier werden Mutmaßungen, die durch historische Indizien gestützt werden, herangezogen, um eine Parallele zwischen der Fordschen Fließbandmethode, den Chicagoer Schlachthöfen und der Feststellung, wie »›effizient‹ die Fließbandmethode in den Konzentrationslagern aber war« (ebd.), herzustellen.

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Diskurspop – Thomas Meineckes Hellblau

[A]m 23. Juni 1999, [ist] ein achtundsiebzigjähriger Mann der Beihilfe zum grausamen Mord an Juden für schuldig befunden worden. Von einer Bestrafung habe das Landgericht Braunschweig aber abgesehen. Die Begründung des Urteils durch den Richter: Wir müssen zu seinen Gunsten davon ausgehen, daß der Angeklagte zum Tatzeitpunkt zwanzig Jahre alt war, und deshalb das Jugendstrafrecht anwenden. (H 36)

Ohne expliziten Kommentar wird die Unzulänglichkeit von Gerichtsbarkeit angesichts der grausamen Gewalt- und Mordtaten während des Zweitens Weltkriegs ausgestellt, wodurch der von Lyotard beschriebene Widerstreit beispielhaft deutlich wird. Die Poetik des Romans zielt weder auf das Erfassen oder Bewältigen der historischen Ereignisse noch auf die Erzeugung von Emotionen und Nähe über Erlebnisangebote, sondern vielmehr auf die Herstellung eines Netzwerkes, das vereinzelte Wirklichkeit deutbar macht und diskriminierende Strukturen aufdeckt – vor allem auch im Ausweis ihrer Banalisierung sowie ihrer ernüchternden Kontinuität über die Zeit hinweg. Die Annäherungen an den diskursiven, historischen, geografischen Ort ›Auschwitz‹, die Hellblau vornimmt, bleiben stets indirekte, über mindestens eine, wenn nicht gar mehrere Instanzen vermittelte, Berührungen. Alle Annäherungen bewegen sich auf konzentrischen Kreisen um den Ort und die »Zeitschaft«432 Auschwitz herum, die so diskursiv und im Kontext unterschiedlicher, gegenwärtiger Konstellationen in den Blick kommt. Was den realen Ort Auschwitz angeht, bildet die Erzählung Normans von seiner Reise durch Polen den innersten Kreis. Physisch kommt Norman, der im Roman keine eigene Erzählperspektive erhält, dem geographischen Ort am nächsten: Auschwitz und Birkenau sind nur dreißig Meilen von hier entfernt, erklärt Norman, aber er kann sich einfach nicht dazu durchringen, dorthin zu fahren. Ich spielte mit dem Gedanken, mir einen Mietwagen zu nehmen und alles auf eigene Faust anzuschauen, sagt er, die unterschiedlichen Lager, die Gehöfte der SS, die Überbleibsel der BunaWerke, doch die Leute hier warnten mich vor dem katastrophalen Zustand der Land-

432 Der Begriff der Zeitschaft stammt von Ruth Klüger. Die Literaturwissenschaftlerin hat den Begriff in ihrer Autobiographie weiter leben geprägt, um dem Problemkomplex der RaumZeit-Verhältnisse des Ortes Auschwitz gerecht(er) zu werden. Klügers Begriff verweist auf einen bestimmten Augenblick in der Zeit an einem bestimmten Ort (auf eine Situation im Gegensatz zu einer rein räumlichen Konstellation), zu dem es jedoch keinen Zugang mehr gibt, weil die vergangene Zeit des Ortes nicht einholbar ist: »Das KZ als Ort? Ortschaft, Landschaft, landscape, seasacape – das Wort Zeitschaft sollte es geben, um zu vermitteln, was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher.« (Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. München 1994, S. 78). Der Besucher der Gedenkstätte trifft gerade nicht die historische Situation an, in welcher die Verbrechen in der Vergangenheit verübt wurden, sondern nur noch die räumliche Konstellation. Es lässt sich nicht einmal behaupten, es handele sich um denselben Ort.

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Konzentrische Annäherungen an ›Auschwitz‹

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straßen; sie behaupteten, ich würde für jede Strecke mehrere Stunden brauchen. Außerdem würde ich mich mit Sicherheit verfahren. (H 310)

Das Signalwort ›katastrophal‹ und die Formulierung ›ich würde für jede Strecke mehrere Stunden brauchen‹ erzeugt unmittelbar Assoziationen zu den Umständen, unter denen die Jüdinnen und Juden von den Nationalsozialisten in das Vernichtungslager transportiert wurden: nicht Stunden, vielmehr tagelang in Viehwaggons gesperrt. Die Beschwerlichkeit aber gilt gegenwärtig als Grund, gerade nicht dorthin zu fahren. Als katastrophal wird der Zustand der polnischen Straßen bezeichnet, nicht aber etwa die bevorstehende Erfahrung oder gar die Erfahrungslosigkeit, auf die man an diesem Ort treffen könnte. Um all die Unwägbarkeiten aufs Geringste einzudämmen, so erzählt Norman weiter, gibt es natürlich Pauschalangebote, zu denen ich mich, sagt Norman, ebensowenig entschließen kann, bei denen Omnibusse zunächst Krakaus Hotels nach amerikanischen respektive israelischen Touristen abklappern und anschließend sowohl Auschwitz als auch Birkenau ansteuern, wo du dann das komplette Programm, von der Ausstellung bis zu den Gaskammern, mitnehmen kannst. An der Rezeption des Hotels liegt ein Prospekt aus, dessen erste Worte, wenn du ihn aufschlägst, Welcome to Poland lauten, unmittelbar gefolgt von dem berüchtigten Ortsnamen Auschwitz-Birkenau über einem Farbfoto, auf dem sich, vor strahlend blauem Himmel, der schmiedeeisernde Schriftzug Arbeit macht frei lesen läßt. […] Wenn du Studierender bist und deinen Ausflug zur Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau mit der Besichtigung der Salzmine von Wieliczka zusammenlegst, kostet dich das weniger als die Hälfte des regulären Preises. Sowohl das Konzentrations- und Vernichtungslager als auch das Bergwerk wurden 1978 auf die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes gesetzt. (H 310f.)

Die räumlich nächste Nähe wird durch Normans Erzählung mit der größtmöglichen geistigen und einer doppelt narrativ vermittelten Distanz kurzgeschlossen: Der Ort wird ›pauschalisiert‹ erfahrbar gemacht – und dadurch einem Massenpublikum zugänglich, das bei der Rezeption in einer sicheren, weil gerahmten Distanz verbleiben kann. Schließlich ist die Pauschalreise eingebettet und – in den Worten Lyotards – gänzlich reibungslos mit dem sonstigen Alltag verkettet: ein aufkommender Widerstreit wird durch die Rahmung eingefriedet. Der Text reproduziert die Einfriedung und Betäubung durch seinen sprachlich nivellierenden und erzählerisch distanzierenden Duktus: Es ist Yolanda, die von Norman erzählt, der wiederum nur einen schriftlich präsentierten Text liest und erlerntes faktisches Wissen aufzählt. Der Bericht Normans schlägt vom distanzierten Extrem bloßer Wiedergabe in das andere Extrem subjektiver Emotionalität um. Er spricht davon, dass seine Nerven sich in den letzten Jahren spürbar verschlechtert [hätten], […] bereits die Schilderungen einzelner Schicksale aus der Nazi-Zeit brächten ihn immer häufiger, oft vor den Augen Anwesender, zum Weinen, und während er, […] den Rundgang durch das Konzentrationslager Flossenbürg noch einigermaßen unbeschadet überstanden habe,

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Diskurspop – Thomas Meineckes Hellblau

könne er sich vorstellen, Auschwitz-Birkenau 2000 ganz einfach nicht mehr gewachsen zu sein. (H 313)

Normans Aussage verkommt zu einem billigen Effekt einer falsch verstandenen emotionalen Auseinandersetzung mit der Thematik. Sie beeinträchtigt sein eigenes Wohlbefinden und wird daher in einer den Opfern und Überlebenden gegenüber anmaßenden Abwehrreaktion als psychisch zu belastend abgewiesen. Eine ähnliche Abwehrstrategie im Deckmantel der Auseinandersetzung vollzieht Tillmann, wenn er betont, »daß in meinem Leben, selbst hier auf den Outer Banks, kein Tag vergeht, an dem mir nicht mindestens einmal das Wort Auschwitz, und mit diesem der gesamte gleichnamige Komplex, durch den Kopf schießt.« (H 287) Sebastian Wogenstein deutet dies als »palimpsestartige Präsenz der Vergangenheit, die durch die Gegenwart hindurch scheint und der zweiten deutschen Nachkriegs-Generation den Ort des Terrors gleichsam als Wort-Kugel durch den Kopf jagt.«433 Im Gefolge der wohlwollenden Lesart Wogensteins könnte Tillmanns Aussage als Ausdruck der Präsenz des Nicht-Anknüpfbaren im Sinne Lyotards gedeutet werden. Die Beiläufigkeit, mit der der Satz fällt, ließe sich im Sinne des Sklovskijschen Konzepts der Entautomatisierung als Irritation lesen. Im ›Materialwust‹ des Romangefüges aber geht ein solch einzelner Satz eher unter und lässt sich in das unverbundene Netzwerk des Materials einfügen. Die Aussage wird, da ihr keine sprachliche Verknüpfung folgt – vor allem auf Figurenebene – eher zu einem Abwehrmechanismus, der eine intensivere Auseinandersetzung durch die Behauptung einer nicht weiter explizierten Präsenz in Permanenz unterbindet. Selbst diese postulierte Permanenz wird iterativ zusammengefasst und damit in ihrer Penetranz narrativ gebändigt. Auf der Ebene des Materials erzeugte eine singulative Erzählweise eine größere Irritationskraft. Weder eine sprachlich bekennende aber abstrakt bleibende Nüchternheit noch die emotionale Verausgabung reichen als Einzelaussagen über eine subjektiv-emotionale Reiz-Reaktion hinaus und stellen demnach keine angemessene Verknüpfung dar. Der Roman zeigt so, dass eine unmittelbare, persönliche Auseinandersetzung, bleibt sie isoliert, zu keiner angemessenen Verhandlung wird. Es bleibt meines Erachtens dabei unentscheidbar, ob es sich bei diesen ›Schwächen‹ der Figurenkonstruktionen um selbstbewusste Metareflexionen des Textes bzw. Meineckes oder eher um einen blinden Fleck in der Anlage des Romans handelt. Gerade weil das von Meinecke gewählte Figureninventar als politisch korrekt zu bezeichnen ist, mutet es seltsam an, dass die direkt zu Auschwitz getroffenen Aussagen im Roman einerseits von zwei deutschen männlichen, weißen Figuren andererseits in höchst problematischer, weil erin433 Sebastian Wogenstein: Topographie des Dazwischen: Vladimir Vertlibs Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur, Maxim Billers Esra und Thomas Meineckes Hellblau. In: Gegenwartsliteratur 3 (2004), S. 71–96, hier S. 90.

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nerungsopportunistischer Weise getätigt werden. Was die unmittelbare Erfahrung der historischen ›Zeitschaft‹ Auschwitz betrifft, sind die in Hellblau montierten Briefe – meist von Holocaust-Überlebenden – an Ronald Reagan in der Folge seines Besuchs in Bitburg 1985 jenes Material, das der ›Para-Erfahrung‹ Auschwitz am nächsten kommt. Häufig bekennen die Schreibenden, dass sie Überlebende sind und rücken damit das historische Ereignis in die Umlaufbahn des Romans. Doch auch hier kommt die Unmöglichkeit zum Ausdruck, die Diskrepanz zwischen der gegenwärtigen Erfahrung beim Besuch der Gedenkstätten und dem historischen Ort der Gewalt und des Todes zu überbrücken. So benennt ein Briefschreiber das Befremden angesichts des Eindrucks einer Idylle in Bergen-Belsen, die das historische Ereignis nicht herausgibt: Looking over Bergen-Belsen from the vantage point of the reviewing stand, it was hard to conceive that this had once been one of Europe’s most horrific killing grounds. […] The overall impression of Bergen-Belsen was one of silent desolation, of blankness. Rather than bringing grief and anger to the fore, the place had a rather tranquilizing, numbing effect. One felt moved to profound melancholy, but not to action or revelation. (H 53)

Hier wird explizit von der beruhigenden und eher betäubenden Wirkung eines Besuchs gesprochen, so dass es vor Ort gar nicht zu einer Auseinandersetzung kommen kann. Die Beschreibung provoziert die drängende Frage nach einem produktiven, nicht nur konventionell und politisch motivierten Umgang mit der Vergangenheit. Die einmontierten Briefe stellen kritische Stimmen dar, die den Besuch Reagans auf dem Soldatenfriedhof Kolmeshöhe kommentieren. Dieser gab Anlass zu einer großen öffentlichen Debatte über die Agenda, mit welcher der 40. Jahrestag des Kriegsendes zu begehen sei. Politisch ging es um eine Stabilitätsbildung der transatlantischen Beziehungen zwischen Deutschland und Amerika,434 die durch den gemeinsamen Besuch des Soldatenfriedhofs, auf dem allerdings auch 49 SS Soldaten begraben waren, erreicht werden sollte. Die Debatte um einen zunächst geplanten, zurückgenommenen und dann doch realisierten Besuch eines Todeslagers wurde in der amerikanischen Öffentlichkeit heftig geführt. Reagans Besuch in Bergen-Belsen stand so unter dem Stern eines Zugeständnisses an die öffentliche Meinung und wurde als politischer Beschwichtigungsakt deutbar, der zugleich den Reflex des Verschweigens reproduziert. Der in Hellblau zitierte Kommentar macht die Bedeutsamkeit des Kontextes deutlich, durch den die Rede Reagans eine negative Färbung erhält: 434 »Vorbild für den geplanten Versöhnungsakt auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg war die Geste der deutsch-französischen Aussöhnung auf dem Schlachtfeld von Verdun.« (Maren Röger: Bitburg-Affaire. In: Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld 2007, S. 227–229, hier S. 228).

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Reagan’s speech seemed to echo the emptiness around him. […] He avoided any mention of the poiling Bitburg controversy which had forced him to change his earlier decision not to go to a concentration camp. Under other circumstances, Reagan’s speech, with its explicit recognition that the victims of Bergen-Belsen died solely because they were Jews, might have had resonance in the Jewish Community. In this situation, with the SS graves of Bitburg the next stop on the presidential itinerary, the speech at Bergen-Belsen seemed a vain and morally vacuous attempt to rhetorically square a circle. (H 54)

Reagans Worte hätten, unter anderen Umständen, das Potential zu großer Wirkung haben können, im Kontext des Gedenkens aber an die gemeinsamen Kriegsopfer auf dem Soldatenfriedhof Kolmeshöhe, unter denen auch Mitglieder der SS waren, wirken sie wie der Versuch einer Schadensbegrenzung. So ist in einem der eingefügten Briefe zu lesen: A President of the Unites States should not be honoring the remains of the butchers of Europe. […] Adding a visit to a former concentration camp site ist welcome but does not bear on the visit to the Bitburg cemetery. One cannot memorialize sadistic killers and compensate for it by honoring their victims as well. (H 36)

Deutlich werden in dieser Aufbereitung der Thematik die unterschiedlichen Interessenslagen. Seitens der Politiker war die Beziehungsfestigung von größerer Bedeutung als die Erinnerung und das Gedenken an die Opfer. »Die gemeinsame Zukunft und nicht die Vergangenheit sollte im Mittelpunkt des Versöhnungsbesuches stehen, so die Verlautbarungen aus Reagans Planungsstab.«435 Die Rede Reagans wird als schließende Geste politischer Einfriedung ausgestellt, die zu keiner Auseinandersetzung oder Anknüpfung einlädt und gegen die lediglich protestiert werden kann. Meineckes Version der transatlantischen Beziehung stellt ein Gegenkonzept zu einer solch politischen Versöhnungserzählung dar,436 die lediglich die soldatischen Täter beider Lager in den Blick nimmt und sie als Opfer des Kriegs stilisiert. Der wechselseitige Einfluss zwischen der deutschen Technogruppe Kraftwerk und der Detroiter Technoszene eröffnet einen – zunächst unpolitischen – kulturellen Raum transatlantischer Austauschbewegungen. Diese ermöglichen ein neues Konturieren jüdischer Kultur, die nicht bei einer reduktiven Verlusterzählung stehenbleibt, sondern sie als eine produktive, lebendige und gegenwartsgerichtete Kultur ausweist. Dass Meinecke den Haupthandlungsort nach Amerika legt, verweist dabei auf Strukturanalogien verschiedener diasporischer Erfahrung sowie auf die Verflüssigung von Kulturkonzepten, die sich zudem als ko-konstruktiv erweisen. Die 435 Ebd., S. 228. 436 Statt um reibungslose Versöhnung bemüht zu sein, geht es vielmehr, ganz im Sinne Lyotards, zunächst um das Aufzeigen des bestehenden und nicht zu beseitigenden Widerstreits.

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antisemitische Erzählung spiegelt sich in der afroamerikanischen Diskriminierung und umgekehrt. Gleichzeitig aber – und das ist die positive Leistung, die der Roman erbringt – stellt Hellblau der Verlust-, Vernichtungs- und Bekämpfungserzählung jüdischer und afroamerikanischer Geschichte eine andere, alternative – ganz positive – Erzählung kultureller Schöpfung entgegen. Dieser transatlantische Raum, in dem Erzählungen schwarzer Sklaven von Verlust und Neuerfindung, afrodiasporischer und jüdischer Identitätssuche sowie der Erweiterung kultureller Selbstbilder durch Musik parallel existieren, wird im Folgenden analysiert.

2.4.1 Der atlantische Kulturraum als Kreuzungspunkt kultureller Bewegungen Die Küste North Carolinas mit ihrer vorgelagerten Inselkette der Outer Banks – Tillmanns Wohnort während der erzählten Zeit – wird zum räumlichen und kulturellen Untersuchungsgegenstand, dessen Koordinaten historisch synchron und diachron ausgelotet werden. Es geht nicht um die ›amerikanische‹, ›jüdische‹ oder ›afrikanische‹ Kultur, sondern vielmehr um kulturelle Erzeugnisse, Ideen und Erscheinungen, deren ko-konstruktive Entstehungsweisen der Roman nachspürt und offenlegt. Zentral ist dabei die ethnisch-rassische Frage nach der Hautfarbe, insbesondere nach den verschiedenen Bestimmungen schwarzer, weißer und jüdischer Kultur. ›Wer ist schwarz?‹ ist dabei eine ebenso legitime Frage437 wie ›Was ist schwarz, welche Musik, welche Kulturtechnik ist als schwarz zu bezeichnen?‹ Parallel dazu verlaufen Fragenkomplexe zur jüdischen Kultur und Identität sowie zu Geschlechteridentitäten. Paradigmatisch dafür ist der folgende Satz: »Wahrscheinlich gibt es kaum Deutsche, in deren Adern nicht auch jüdisches Blut fließt. Ich denke kurz über die hierzulande weitverbreitete soziale Praxis nach, selbst blasseste Juden nicht als weiß zu klassifizieren.« (H 31) Der begrifflichen Grenzauflösung korrespondiert eine Auflösung bzw. Verschiebung herkömmlicher Koordinaten zur Bestimmung nationaler, vor allem horizontal verlaufender Grenzziehungen durch die Etablierung von Herkunftserzählungen vertikaler Natur. Demgemäß betont der Roman den »unfreiwilli-

437 Eine Frage, die in Hellblau vor allem in Bezug auf Mariah Carey und RuPaul exzessiv verhandelt wird: »Welche Farbe hat Mariah Carey?« (H 10); »Yes, she is, triumphierte Shanice mit einem Luftsprung. Und damit war Mariah Carey schwarz.« (H 11); »1990 gewann sie einen weißen Grammy als beste Pop-Sängerin, 1992 einen schwarzen American Music Award als beliebteste R&B-Künstlerin.« (H 12); »RuPaul sagt: Who says black people have to be black? […] People say: Wer nicht ganz weiß ist, ist schwarz. Mariah Carey sagt: I am Black« (H 11f.).

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ge[n] Seeweg [schwarzer Sklaven] nach Amerika« (H 62)438, aus dem die TechnoFormation Drexciya in Anlehnung an den Atlantis-Mythos einen Unterwasserweltmythos entstehen ließen: Die über Bord geworfenen schwangeren Sklavinnen gebaren ihre Kinder unter Wasser, die zu sogenannten Drexciyanern wurden. Mit dem Wasser als ihrem fluiden Ausgangspunkt lassen sich die Drexciyaner keinem bestimmten Land zuordnen. Gleichzeitig durchkreuzt die vertikale Dimension die Justierung und Segmentierung von Landesgrenzen und -flächen.439 Das von Paul Gilroy entwickelte Konzept des Black Atlantic bietet die Folie für die Pluralisierung von Herkunftserzählungen, die nebeneinander existieren und sich gegenseitig mitkonstruieren. Dabei geht es Gilroy darum to repudiate the dangerous obsessions with ›racial‹ purity which are circulating inside and outside black politics […] [and to] plea against the closure of the categories with which we conduct our political lives […]. The history of the black Atlantic yields a course of lessons as to the instability and mutability of identities which are always unfinished, always being remade.440

Ebenso bedeutsam für seine Untersuchungen zur multiperspektivischen Auffassung schwarzer Identität ist the diaspora concept which was imported into Pan-African politics and black history from unacknowledged Jewish sources. I suggest that this concept should be cherished for its ability to pose the relationship between ethnic sameness and differentiation: a changing same. I also argue that exchanges between blacks and Jews are important for the future of black Atlantic cultural politics as well as for its history.441 438 Dem steht – im Roman keineswegs direkt miteinander in Verbindung gebracht – der Kommentar Yolandas zur Seite: »Der heutige Stand der Wissenschaft, daß vor Kolumbus nicht nur die Wikinger, sondern auch Afrikaner bereits in Amerika gelandet sind; und zwar aus freien Stücken, wie mir Yolanda versichert. Die archäologisch wie serologisch erwiesene Vermischung von Afrikanern mit Eingeborenen Mittelamerikas zwischen 800 vor Christus und dem Anbruch der Neuzeit. Die bereits aus dem sechzehnten Jahrhundert stammende These, die amerikanischen Indianer seien Nachkommen der verlorenen Stämme Israels.« (H 61). 439 Die Tendenz zur Vertikalität zeigt sich auch in den Hobbies der weiblichen Figuren in Hellblau: Cordula ist Taucherin (H 32), Vermilion Fliegerin (H 282). 440 Paul Gilroy: The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. London, New York 1993, S. xi. 441 Ebd., S. xi. Tina M. Campt beschreibt den Black Atlantic als kulturellen Raum, in dem Austauschbeziehung und Zirkulationen Gegennarrationen zu nationalen und territorialen Identitätserzählungen ermöglichen: »In einem wichtigen Sinne kann der Black Atlantic daher als der Raum begriffen werden, innerhalb dessen diese flottierenden trans- und interkulturellen Bewegungen […] in Erscheinung treten und eine transnationale, mit multiplen und sich kreuzenden Zeitlichkeiten versehene Kartographie umreißen […], welche die Zirkulationen und den Austausch zwischen Schwarzen Kulturen und dem Westen abbildet. Diese komplexen Zirkulationen sind in ihrer Wirkung zutiefst gegennational (counter-national), weil sie neben der Gebundenheit territorial definierter Iden-

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Dem Topos, die amerikanische Kultur und deren Mythen verdankten sich zu großen Teilen dem Einfluss jüdischer Kultur,442 fügt Meinecke die in Hellblau diskursiv wieder und wieder erzeugte Einsicht hinzu, dass die amerikanische Kultur gleichzeitig immer auch afro-amerikanische – und man könnte hinzufügen indigo-amerikanische – Kultur (gewesen) ist. Die Entstehung kultureller Erzeugnisse lässt sich in ihrer Komplexität nur durch die Gleichzeitigkeit mehrerer Erzählungen erklären. Sie sind, in Anlehnung an Stuart Halls Bestimmung von diasporischer Identität, grundsätzlich hybrid.443 Die Überkreuzung von jüdischer und afro-amerikanischer Kultur bis hin zur ununterscheidbaren Vermischung wird in Hellblau unablässig vorgeführt und ausgestellt. In einem der Abschnitte werden Teile des Vorworts und die erste Konversation zwischen Diedrich Diederichsen und der schwarzen Künstlerin Renée Green aus dem von Diederichsen 1993 herausgegebenen Sammelband Yo! Hermeneutics! Schwarze Kulturkritik. Pop, Medien, Feminismus zitiert. Ich gebe nicht die – unübersichtlichere – Version aus Hellblau wieder, sondern zitiere aus dem Original: DD: Was hältst du von so einem Sammelband? Ich dachte gerade, was ich wohl denken würde, wenn ich hier einen Band mit Texten von Adorno, Benjamin und Löwenthal finden würde und er hieße ›Jewish-German Theory‹? RG: Ja, das wäre ungewöhnlich. DD: Welches Label würde man denn den Leuten geben, die in diesem Sammelband zusammenkommen? RG: Vermutlich ›Cultural Studies‹, darunter würde man es im Laden finden. Außerdem noch bei ›Black Studies‹ und ›Critical Theory‹. […] DD: Wir haben uns ja lange überlegt, wie wir dieses Buch nennen sollten. Afroamerikanische Theorie? Das träfe auf Paul Gilroy nicht zu, der aus England kommt, und auf Todorov nicht, der nicht schwarz ist. RG: Man sollte vielleicht African Diasporic sagen. Es ist ja generell problematisch, irgend etwas als schwarz zu bestimmen wie, zum Beispiel, Black Popular Culture. Also, wie Stuart Hall ganz richtig fragte: Was ist das ›Schwarze‹ in ›Schwarze Pop-Kultur‹? Was qualifiziert eine künstlerische Praxis als schwarz? […] Black bezeichnet ja eine Fülle von titäten auch einengende und repressive Ansprüche und Interessen von Konzepten der Nation, des Nationalismus und der nationalen Staatsbürgerschaft grundlegend in Frage stellen.« (Tina M. Campt: Schwarze deutsche Gegenerinnerung. Der Black Atlantic als gegenhistoriographische Praxis. In: Dies., Paul Gilroy (Hg.): Der Black Atlantic. Berlin 2004, S. 159–177, hier S. 175). 442 Ein Topos, der vor allem in Bezug auf Hollywood virulent ist, da die großen Studiogründer Hollywoods – so beispielsweise Carl Laemmle (Universal), Schmuel Gelbfisz (Goldwyn), Louis B. Mayer (MGM), Adolph Zukor (Paramount), Harry Cohn (Columbia) und die Brüder Harry, Sam, Albert und Jack Warner (Warner Bros.) – jüdische Emigranten waren. 443 »The dispora experience as I intend it here is defined, not by essence or purity, but by the recognition of a necessary heterogeneity and diversity; by a conception of ›identity‹ which lives with and through, not despite, difference; by hybridity.« (Stuart Hall: Cultural Identity and Diaspora. In: Jonathan Rutherford (Hg.): Identity: Community, Culture, Difference. London 1990, S. 222–237, hier S. 235, Herv. im Original).

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Identitäten, die eine komplexe, gemischte und widersprüchliche Kultur widerspiegeln. […] Unser Blut ist so vermischt wie unsere Kultur und um diese Tatsache kommt man nicht herum.444

Mehrfach werden hier schwarze und jüdische Kultur sowohl auf metadiegetischer Ebene durch den Kommentar Diederichsens als auch auf diegetischer Ebene durch die Anordnung der Sätze miteinander in Beziehung gebracht. Die Wortwahl ›Label‹ verknüpft die Problematik der Etikettierung445 von Menschengruppen aufgrund von ethnischen, biologischen oder körperlichen Eigenschaften mit dem in Hellblau präsenten Musik-Diskurs. Zugleich verknüpft Diederichsens Überlegung zur Sammelbezeichnung ›Jewish-German Theory‹ für eine Gruppe jüdischer, deutschsprachiger Autoren im Zusammenhang einer Rede über schwarze Kultur den Rassendiskurs Amerikas mit dem Antisemitismus in Deutschland. Diese Verknüpfung wird durch die grammatikalische Mehrdeutigkeit der Frage nach einer angemessenen Bezeichnung erzeugt. Diederichsens Fragen nach ›so einem Sammelband‹, und danach, welches Label man den Leuten geben würde, die in ›diesem‹ Sammelband zusammenkommen, beziehen sich beide eigentlich auf den von Diederichsen geplanten Band Yo! Hermeneutics,446 in dem sich das von Meinecke zitierte Gespräch abgedruckt findet. Zwischen die Fragen aber schiebt sich Diederichsens Überlegung zum Labeling eines fiktiven Sammelbands jüdisch-deutscher Autoren, die die semantischen Bezüge durch die grammatikalische Anordnung mehrdeutig werden lässt. Die Antwort Greens, diesen Band würde man unter dem Stichwort Black Studies finden, vereindeutigt die Semantik, ist es doch wenig einleuchtend, einen Sammelband jüdischdeutscher Autoren mit ›Black Studies‹ zu überschreiben. Grammatikalisch aber kann sich ›diesem‹ gleichermaßen auf den vorliegenden Band Yo! Hermeneutics und auf den von Diederichsen erwähnten fiktiven Sammelband jüdisch-deutscher Autoren beziehen. Im zweiten Fall ist ›diesem‹ (grammatikalisch ist das der jüdisch-deutsche Sammelband, ist er doch dem Pronomen ›diesem‹ am nächsten) in Abgrenzung zu ›jenem‹ (grammatikalisch wäre damit der zuerst genannte (entferntere) Band, nämlich der vorliegende, gemeint) verwendet. Liest man die Textstelle und entscheidet sich für letztere Lesart, wird die Bezeichnung ›Black 444 Diederichsen & Green, Konversationen, S. 9f.; (H 295). 445 Der soziologische Ansatz des labeling approach (deutsch als Definitionsansatz bezeichnet) »wendet sich gegen Ansätze, welche abweichendes Verhalten als gegeben ansehen und nur noch nach den Ursachen im Verhalten des Devianten fragen« ([Art.] labeling approach. In: Lexikon zur Soziologie. Hg. von Werner Fuchs-Heinricht, Rüdiger Lautmann, Otthein Rammstedt und Hanns Wienhold. 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Opladen 1994, S. 388). 446 Und wäre damit eine Ausweitung der Anwendung von Demonstrativpronomen für gegenwärtige Zeitangaben auf Raumangaben: ›Diesem‹ hieße in diesem Fall ›gegenwärtig‹ (zeitlich) oder der vorliegende Band (räumlich).

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Studies‹ für jüdische Autoren gültig und überträgt die in Hellblau aufgezeigte, mit ›Blackness‹ verbundene Semantik einer (farblichen) Markierung als (Norm-) Abweichung (in Bezug auf die Hautfarbe, der ethnischen und rassischen Identität etc.) auf die jüdische Kultur und rekurriert damit auf eine Praxis, die für Jüdinnen und Juden unter dem Nationalsozialismus ebenso galt. Das erzeugt eine chiastische Überkreuzung von Identitätszuschreibungen, die auf die grundlegende Hybridität von Identitätsverständnissen subjektiver, ethnischer und nationaler Art verweist: Die Geschichte jüdischer Identität in Amerika wird lesbar vor der Folie afro-amerikanischer Identitätsnarrative und umgekehrt. Entsprechend findet sich einige Seiten vorher der einmontierte Ausschnitt aus einem Artikel der ZEIT, in dem Schwarzsein als negative Markierung bezeichnet wird:447 Ich habe gelernt, daß Weiß eine Kontrastfarbe ist. Es hebt eine andere Farbe hervor. Es ist neutral, du kannst alles dazu tragen. Es ist die Abwesenheit von Farbe; so wurde es mir erklärt. Vermilion: Bestimmt von einem Weißen. Anwesenheit von Farbe erscheint demnach als Abweichung und legitimiert den Ruf nach Ordnungskraft. (H 293)

Vermilions abschätziger Kommentar ist kritisch zu verstehen, unterliegt jedoch zugleich ihrer eigenen Vorurteilsstruktur, wenn sie die Aussage als Herrschaftsinstrument einem Weißen unterstellt. Da die Rassenbinarität von Schwarz-Weiß sich als leitende Koordinate in ethnischen Fragen zeigt, ist das Jüdische stets außerhalb oder im undefinierten Dazwischen angesiedelt. Hellblau erweitert so den leitenden, hierarchisch strukturierten Binarismus von schwarz und weiß auf die Trias schwarz-weiß-jüdisch hin, so dass die leitende Kategorie der Weißheit als das »Unmarkierte […] [, das] tendenziell als das Normale [gilt], was – wie die Semiotik Roland Barthes’ oder die feministische Linguistik lehren – immer auch ideologische Implikationen birgt«,448 zugunsten von Beobachtungen über gegenseitige Beeinflussung kultureller Identitäten aufgegeben wird. (Jüdische) Identitäten werden pluralisiert und ihr semantischer Kern verflüssigt. Dabei werden nicht nur kausale Reihenfolgen von Eigenem und Fremden in Frage gestellt, sondern auch die Festsetzung einer bestimmten Lesart durch die Konfrontation verschiedenen Materials in Zweifel gezogen. Bedeutsam ist die Vorstellung eines spezifischen Diaspora-Konzepts mit »its ability to pose the relationship between ethnic sameness and differentiaion: a changing same.«,449 aus der entgegengesetzte Formen von Identitätserzählungen resultieren. Hellblau versammelt einerseits Reproduktionen kursierender Debatten über die Fremd- und Selbstzuschreibung jüdischer Identität und versucht andererseits 447 Heike Faller: Was ist schwarz? In: Die Zeit 29. 06. 2000. Der Artikel berichtet von zwei ehemals Blinden, einer Weißen und einem Schwarzen, die wieder sehen können und nun ihr Verhältnis zu den Hautfarben beschreiben. 448 Baßler, Definitely Maybe, S. 106. 449 Gilroy, Black Atlantic, S. xi.

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durch die Ansammlung unterschiedlichen Materials dem Klischee seine Wirkkraft abzutrotzen, ohne dass eine solche Beschreibung zu einer Fixierung werden muss. Vermilion beispielsweise untersucht die Kultur der streng orthodoxen Jüdinnen und Juden New Yorks, die als Klischee ihrer selbst erscheinen. Sie selbst weist ebenfalls eine übertriebene Aufmerksamkeit für sprachliche Eigenheiten des Jüdischen auf. Auch das topische Motiv der Effeminierung jüdischer Männer450 zieht sich durch den Roman. Vermilion erprobt den Rollentausch, wenn sie Tillmann immer wieder mit Frauenkleidern ausstaffiert und ihm zudem die Rolle des Juden aufdrängt: »Ich sei ihr erster nicht beschnittener Freund. Dabei habe sie gerade mich zunächst für einen Juden gehalten.« (H 165) Dies kulminiert in einer Szene, die Züge einer Vergewaltigung Tillmanns durch Vermilion annimmt. Im Gegensatz dazu werden Jüdinnen und Juden in Bezug auf das Koordinatensystem Jazz in Hellblau als kulturelle Übersetzer bezeichnet: »Jazz erscheint somit als die nationale Identität stiftende Übersetzung der musikalischen Grammatik einer Rasse durch die Mitglieder einer anderen Rasse; die Juden gleichsam als Rassenübersetzer« (H 316). Im Kontakt von ethnischen Identitäten auf dem Feld der Musik entstehen hybride Formationen, durch welche die eigene kulturelle Identität über den Umweg einer Konfrontation mit anderen ethnischen und kulturellen Identitäten erst ein Profil erhält: Jüdische Repräsentationen schwarzer Musik sind logisch keine ursprünglich schwarze Musik, und doch etablierte Gershwins Oper [d.i Porgy and Bess] eine aberwitzige Schule afrikanisch-amerikanischen Kunstgesangs südlicher Zunge: Ein jüdischer Komponist lehrte die schwarzen Künstler des Nordens, wie sie authentisch negroid zu singen hatten. (H 236)

All diese Beschreibungen haben das Ziel, die Idee eines – ursprünglichen – herrschenden Sprechens im Sinne einer reinen Sprache oder Ethnie nach und nach aufzulösen. In den kaskadenartigen Beschreibungen in Hellblau verrutschen die Zuschreibungen und Bezeichnungen unmerklich, als unterlägen sie einer Modulation: Waren es gerade noch die weißen Juden, die sich gegenseitig als ›Nigger‹ bezeichnen, ist es umgekehrt der weiße Klarinettist Mezz Mezzrow, der sich selbst ›White Negro‹ nennt und »die ethnische Identität eines Schwarzen so sehr verinnerlicht [hat], daß er davon ausgeht, alle Leute, denen er begegnet, müßten ihn auch äußerlich unweigerlich für einen Schwarzen halten.« (H 317) Auch die akribische Frage danach, welche Hautfarbe RuPaul und Mariah Carey haben, moduliert die Thematik der Rassenbinarität als Variationen anhand der beiden Persönlichkeiten. 450 »Zu welchem Zweck, frage ich mich, faßt Vermilion beide jüdischen Geschlechter als weiblich auf ? Allein, um dem politischen Dilemma des Binarismus zu entgehen? Meine Freundin scheint das Sexuelle sui generis im Femininen verankert zu haben.« (H 165).

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Indem Kategorisierungen durch Mehrfachbezeichnungen und Ausdehnung der Referenten bis zur Nivellierung synonymisiert werden, gerät das gesamte System von Zuschreibungen ins Wanken. In Mae Wests »mehrspurig kodierte[r] Identität« (H 168) kulminieren für Tillmann »nicht nur […] schwarz und weiß, sondern auch […] männlich und weiblich sowie homo- und heterosexuell zugleich« (H 168). So arbeiten sich die Figuren – ebenso wie Meinecke selbst – am performativsetzenden Charakter von Sprache ab: »Tillmann beschwerte sich darüber, daß das deutschsprachige Rechtschreibprogramm von Microsoft Word zwar den Terminus dunkelhäutig kennt, die Vokabel hellhäutig aber beanstandet. Fazit: Sprache sei eben immer die Sprache der Herrschaft.« (H 189) Damit stehen die Vorgehensweisen der Figuren im Zeichen postmoderner, dekonstruktiver Sprachkritik: Postmodernism self-consciously demands that the ›justifying premises and structural bases‹ of its modes of ›speaking‹ be investigated to see what permits, shapes, and generates what is ›spoken.‹ According to one important, but often neglected aspect of the Saussurian model, language is a social contract: everything that is presented and thus received through language is already loaded with meaning inherent in the conceptual patterns of the speaker’s culture.451

Einerseits (ver-)führt sprachliches Bezeichnen dazu, die Bezeichnung zu einer festen Bestimmung werden zu lassen und die Wirklichkeit zu überformen, weswegen es angebracht ist, »unsere Verwendung der Begriffe des Eigenen, Fremden und Anderen einmal [zu] überprüfen, Tillmann.« (H 143). Andererseits führen die akribischen Versuche der Figuren, ethnische oder rassische Zuschreibungen sprachlich zu unterlaufen, zu Syntagmen, deren widersprüchliche Semantik, wie beispielsweise in der auf Norman Mailer zurückgehenden Bezeichnung des »jüdische[n] White Negro« (H 316), Gefahr läuft, derart mehrdeutig zu werden, dass sich keine semantische Zuschreibung mehr sinnvoll vornehmen lässt. Gleichzeitig schützt eine verflüssigende Bezeichnung nicht davor, binäre Oppositionen zu reinstallieren. Mailers Ausgangspunkt für sein Konzept des »White Negro« als Hipster ist die »psychic havoc of the concentration camps and the atom bomb upon the unconscious mind«452 Aus dieser seelischen Verwüstung erwächst eine neue Art psychischer Verfasstheit des Menschen, die sich an der geistig-körperlichen Konstitution des Schwarzen orientiert, um überleben zu können. Mailers Konstruktion basiert dabei auf der doppelten Abweisung und Vernichtung des Jüdischen und Weiblichen in der eigenen Identitäts- und Körperkonstruktion und reproduziert in der Figur 451 Hutcheon, The Politics of Postmodernism: Parody and History, S. 183. 452 Norman Mailer: The White Negro. In: Dissent (Herbst 1957). https://www.dissentmagazi ne.org/online_articles/the-white-negro-fall-1957, abgerufen am 05. 04. 2022.

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körperlicher Ermächtigung durch die Vorstellung männlicher Virilität zugleich die nationalsozialistische Rassenvorstellung unter umgekehrten Vorzeichen. Die misogyne Tendenz aber bleibt im binären Gestus des Ausschlusses virulent.453 In den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts markierte der jüdische White Negro jedenfalls eine zentrale Figur der subkulturellen Intelligenz. Und während jüdische Hipster wie die Klarinettisten Artie Shaw oder Mezz Mezzrow den ungeschliffenen Jive Talk der schwarzen Bevölkerung Harlems und der South Side Chicagos für ihre bohemistischen bis avantgardistischen Zwecke emulierten, baute, im ethnischen Gegenzug, darin Slim Gaillard verwandt, der schwarze Pianist Willie the Lion Smith, der sich selbst als Juden bezeichnete und den depressiven Artie Shaw wie einen verlorenen Sohn in Harlem aufnahm, zunehmend jiddische Floskeln in seine öffentlichen wie privaten Auftritte ein. Wobei das Jiddische seinerseits auch das Andere des Hebräischen bedeutete: Die Sprache des Marktplatzes, der Küche, der Weiber. Der schwarze Slang der Straße dagegen ist, glaube ich, immer, im herkömmlichen Sinn, männlich. Siehe: Die lesbischen Königinnen des Blues. Auch: Die autonomen Flittchen des Rap. (H 316f., Herv., K.K.)

Die Grenzen dieses diskursiven Sprachspiels der Dissemination, das über Analogien bis ins schier Unendliche fortgesetzt werden kann, werden von den Figuren punktuell aufgezeigt: Bei aller Liebe zu Mae West; ein Drama wie The Pleasure Man, in dem Effeminiertheit und Homosexualität gleichgesetzt werden, mache politisch keinerlei progressiven Sinn. Mit Ausnahmen, wende ich ein, zum Beispiel Jean Genets multipel transgressives Stück Die Neger. (H 275)

Relevant, so suggeriert der Kommentar Yolandas, werden transgressive Gesten erst, wenn sie mehr als eine bloß provokative Überschreitung darstellen und, beispielsweise wie Genets Stück Die Neger, eine fragwürdige kulturelle Praktik, in diesem Fall jene der Black Face Minstrelsy, auf der Bühne durch Umkehr kritisch ausstellen: Bei Genet sind es Schwarze, die Schwarze spielen und damit auf der Ebene der Präsentation eine symbolische Deutungshoheit über die Erzählung ihrer ethnischen Identität zurückerhalten. Hellblau operiert mit dem auf Dauer gestellten Infragestellen von sprachlichen Zuschreibungen stets auf der Schwelle produktiver Gegenbesetzung als 453 Siehe dazu den Aufsatz von Andrea Levine: The (Jewish) White Negro: Norman Mailer’s Racial Bodies. In: MELUS 28 (Sommer 2003), Nr. 2, S. 59–81: »Within ›The White Negro‹ I have argued, Mailer simultaneously evokes and silences the specter of the vulnerable Jewish body, while more insistently proclaiming the contemptible status of the feminine. These two aspects of the essay in fact work in concert; Mailer’s elisions of the feminine with the formally schooled and the sensually repressed – and the broader cultural associations between Jewishness, effeminacy, and scholarly pursuits – enable Mailer to use his deprecation of the feminine to facilitate both the hipster’s disaffiliation with Jewishness and his concomitant identification with black masculinity.« (Ebd., S. 72).

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politische Strategie und der Gefahr des Leerlaufs. Eine spezifische Form der subversiven Gegenbesetzungsstrategie, die aus der indigenen-afrikanischen Kultur stammt, wird von Tillmann selbst in den Roman – erneut über die Referenz auf ein Musikstück – eingeführt. Es handelt sich um das Konzept des Signifying Monkey von Henry Louis Gates Jr., das als Übernahme von Sprachhandlungen herrschender Diskurse und Klassen unter verkehrten Vorzeichen zu verstehen ist. Als Allegorie für die Figur des uneigentlichen Sprechens ist der Signifying Monkey ein Äquivalent zur karnevalesken Erzählordnung, wie sie uns in Faserland schon begegnet ist. Der Einsatz rhetorischer Mittel stellt die Funktionsstelle dar, durch die eine narrative, spekulative, bedeutungstragende Schließung, oder in den Worten Hegels: eine aufhebende Synthese, grundsätzlich erschwert oder gar aufgehoben werden kann. Im Verfahren des Signifying werden fixierte Bedeutungen durch Mehrdeutigkeit unterminiert.

2.4.2 Signifyin(g) Monkeys Tillmann spielt auf seiner Boom Box den Song The Signifyin’ Monkey von Johnny Otis. Sein begleitender Kommentar stellt eine Verbindung zum gleichnamigen literaturtheoretischen Konzept des Signifyin(g) aus der afro-amerikanischen Literaturwissenschaft her: In der Boom Box: The Signifyin’ Monkey, jene afrikanisch-amerikanische narrative Figur, die, so Henry Louis Gates Jr., zwischen zwei Sprachräumen lebt, das zweistimmige Wort beherrscht, in der zweiteiligen nicht jugendfreien Version von Johnny Otis, White Negro, im Jahr 1968 eingespielt unter dem Pseudonym Snatch and the Poontangs. Siehe auch Michail Bachtin: Literatur und Karneval, 1985. (H 332).

Das Signifying ist eine aus der Sprachpraxis schwarzer Sklaven entsprungene »Theorie der Interpretation von Bedeutungsprozessen«.454 Durch die schwarze Sprachpraxis subversiver Mimikry der (weißen) Herrschaftssprache bei gleichzeitiger semantischer Re-Codierung wird der Prozess der Signifikation mittels »rhetorischer Stilmittel wie Ironie, Metaphern, Übertreibungen, durch die sich Dinge indirekt ausdrücken lassen« verunsichert.455 Als »eine Technik des indi-

454 Henry Louis Gates Jr.: Das Schwarze der schwarzen Literatur. Über das Zeichen und den ›Signifying Monkey‹. In: Diedrich Diederichsen (Hg.): Yo! Hermeneutics! Schwarze Kulturkritik. Pop, Medien, Feminismus. Berlin, Amsterdam 1993, S. 177–189, hier 177. 455 Christine Regus: Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Ästhetik – Politik – Postkolonialismus. Bielefeld 2009, S. 148. »Mimikry im Sinne des Signifying Monkey [ermöglichte] […] jenseits des Zugriffsbereichs der Hegemonialmacht Loyalität, Solidarität und Informationsaustausch« (ebd.).

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rekten Arguments, des indirekten Überzeugens«456 ist die Figur des Signifying Monkey »selbst […] diese Technik, er ist Stil und die Literarizität der literarischen Sprache selbst […], denn ›signifying‹ bezieht sich auf eine Art und Weise des Sprechens, nicht auf das, was gesagt wird.«457 Dem Konzept liegt die fiktivfiktionale Figur des Signifying Monkey zugrunde, der aus den Erzählungen der Yoruba Mythologie stammt, die sowohl in Nigeria und Dahomey in Afrika als auch in Brasilien und den USA, auf Kuba und Haiti ihre Verbreitung gefunden hat. Der Signifying Monkey hält in diesen Erzählungen seinen Widersacher, den stärkeren Löwen, durch rhetorische Sprachverwendungen und uneigentliches Sprechen stets zum Narren: Der Signifying Monkey lebt in den Zwischenbereichen der Diskurse, verdreht die Wörter und spielt mit ihnen, er bildet Wortfiguren und zeigt die Ambiguitäten der Sprache auf, indem er ihr ihre Eigentlichkeit nimmt. Der Signifying Monkey ist also unsere Trope der Wiederholung und Umkehrung […]. In der Sprache der Schwarzen bezieht sich Signifying also auf die Form des bildlichen, uneigentlichen Sprechens selbst.458

Dem Signifying wohnt als uneigentlichem Sprechen stets ein parodistischer Zug inne. Gates unterscheidet unter Rückgriff auf Ralph Ellison (als Beispiel) und Michail Bachtin (als theoretische Grundlage) zwei Arten der Parodie: Die »Parodie der Form bzw. Pastiche«459 ahmt entweder die rhetorische Struktur mit abweichendem, absurdem Inhalt nach460 oder ist als Variation der formalen Struktur denkbar, bei der die Anspielung in der Abweichung liegt.461 Die zweite Art der Parodie beschreibt Gates als »narrative[…] Signifikation bzw. kritische […] Parodie«462, die »als technischer Angriff auf alle bisherigen stilistisch-rhe456 Roger D. Abrahams: Deep down the Jungle… Negro Narrative Folklore from the Streets of Philadelphia. Chicago 1970, S. 52, zit. nach Gates Jr., Das Schwarze der schwarzen Literatur, S. 180. 457 Gates Jr., Das Schwarze der schwarzen Literatur, S. 181. 458 Ebd., S. 178, Herv. K.K. Gates Jr.’s Definition des Signifying stützt sich auf eine Reihe vorgängiger Bestimmungen des schwarzen Signifyings. Siehe etwa Geneva Smitherman: Talkin’and Testifyin’. The Language of Black America. Boston 1977; dies.: Black Talk. Boston, New York 1994; Claudia Mitchell-Kernan: Signifying, Loud-Talking and Marking. In: Thomas Kochman (Hg.): Rappin’ and Stylin’ Out. Communication in Urban Black America. Urbana, Illinois 1972, S. 315–335; Roger D. Abrahams: Deep Down in the Jungle … Negro Narrative Folklore from the Streets of Philadelphia. Chicago 1970. 459 Gates Jr., Das Schwarze in der schwarzen Literatur, S. 184. 460 Diese Beschreibungen ähneln der in der Einleitung vorgestellten Konzeptionalisierung der postmodernen Parodie durch Linda Hutcheon. Sie bezeichnet die »direct parody« (Hutcheon, The Politics of Postmodernism: Parody and History, S. 189) als »repetition with ironic distance« (ebd., S. 189). 461 »Diese Art der formalen Wiederholung, die gleichzeitig variiert wird, spielt im Jazz eine wesentliche Rolle. […] Ähnlichkeit kann also durch Unähnlichkeit raffiniert erzeugt werden.« (Gates Jr., Das Schwarze in der schwarzen Literatur, S. 184). 462 Ebd., S. 185.

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torischen Verfahren verstanden werden«463 kann. Gates greift auf Bachtins Bestimmung des zweistimmig-dialogischen Wortes464 zurück, das sich durch strukturelle Mehrdeutigkeit auszeichnet. Es stellt bei Bachtin das dritte von drei verschiedenen »Typen des Prosawortes«465 dar und ist wiederum in drei Unterarten eingeteilt, die Bachtin begrifflich nicht immer scharf voneinander trennt: Stilisierung (a) und Parodie (b) sind schwächere Formen des zweistimmigen Wortes, deren Grundzug im Gegensatz zum stärkeren dialogischen, polemischen Wort (c) eher Passivität ist. Gemeinsam aber ist allen drei Arten des dritten Worttyps (zweistimmig-dialogisch), dass in ihnen zwei verschiedene Stimmen zu finden sind, die unterschiedliche Verhältnisse zueinander einnehmen können. Gehen die Tendenzen der beiden Stimmen (oder in linguistischen Begriffen: Konnotationen, Kontexte, Anspielungen) in einem Wort zu weit auseinander, kommt es »zu einer inneren Dialogisierung des parodistischen Wortes«,466 kurz: zu semantischer Mehrdeutigkeit. Je stärker die beiden semantischen oder pragmatischen Gehalte opponieren, desto mehr wird die Parodie zur Polemik: »Wenn die Parodie einen wesentlichen Widerstand des fremden Wortes spürt, wenn sie dessen Kraft und Tiefe empfindet, dann ergänzt sie sich durch Töne einer versteckten Polemik.«467 Diese Art der sprachlichen – und performativ-inszenatorischen – Mimikry machen die Figuren in Hellblau unablässig in der Geschichte der afro-amerikanischen und jüdischen Kultur ausfindig. Explizit formuliert eine der Figuren dies anhand der kulturellen Unterhaltungspraktik der ›Blackface Minstrelsy‹, die zunächst eine Unterhaltungskultur von Weißen für Weiße darstellte. Weiße traten, mit schwarz angemalten Gesichtern, als Schwarze auf. Der folgende Kommentar aus Hellblau verschränkt dabei die Geschichte der afro-amerikanischen schwarzen Bevölkerung, die in den Black Minstrelsy-Shows durch Weiße stereotyp nachgeahmt wurden, mit dem sozialen Aufstieg jüdischer Amerikaner: Die Ironie an der Sache ist nun, daß der Erfolg der Juden in der Unterhaltungsindustrie einerseits darauf basierte, daß sie, vornehmlich zur Unterhaltung der Weißen, diese damit gleichsam umarmend, schwarzes Kulturgut adaptierten, andererseits, eben mit 463 Ralph Ellison: Shadow and Act. New York 1964, S. 117, zit. nach Gates Jr., Das Schwarze der schwarzen Literatur, S. 186. 464 Der erste Worttyp ist das »direkt und unmittelbar gegenständlich gerichtete[…] Wort, das eine benennende, mitteilende, ausdrückende oder darstellende Funktion hat […] [und] auf unmittelbares gegenständliches Verständnis gerichtet ist« (Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Übersetzt von Alexander Kämpfe. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1985, S. 109). Der zweite Worttyp ist das »dargestellte oder objekthafte[…] Wort« (ebd., S. 109). 465 Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Übersetzt von Adelheid Schramm. Frankfurt am Main 1985, die drei Typen bespricht Bachtin auf S. 222–228. 466 Ebd., S. 125. 467 Ebd., S. 125.

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Hilfe dieser harmlosen Adaption, die soziale Leiter bis zu ihrer Anerkennung durch die Weißen, und zwar als gleichfalls Weiße, emporklimmen durften. (H 318)

Die ethnische Konstellation im Amerika in den letzten zweihundert Jahren wird in Hellblau dergestalt skizziert, dass die mimikryhafte Aneignung verschiedener Kulturen untereinander einerseits vor keiner denkbaren Aneignung Halt macht und andererseits zu einem Projekt einer gemeinsamen geteilten Kultur führt, wenn die Erzählstimme konstatiert, daß sich amerikanische Juden im frühen zwanzigsten Jahrhundert, auch außerhalb ihrer zunehmenden Erfolge in der kaukasischen Blackface Minstrelsy, gern gegenseitig mit Nigger ansprachen: Nigger Benny, Nig Rosen, Niggy Rutman, Nigger Ruth. Nigger als jüdischer Spitzname, der auf die Möglichkeit anspielte, daß die Juden selbst einmal von viel dunklerer Hautfarbe gewesen sein konnten und daneben, durchaus positiv gefaßt, als Selbstbezeichnung von White Negroes jüdischer Abstammung kursierte, die an der kulturellen Konstruktion genuin amerikanischer Musik, vom Coon Song über Ragtime bis zum Jazz, beteiligt waren. (H 315f.)

Dass die stereotype Nachahmung scheinbar afro-amerikanischer, schwarzer Musik und Kultur durch Weiße in Form der Coon Songs und der Blackface Minstrelsy wiederum durch die schwarze Pop-Kultur rück-angeeignet und zum Grundstein für die amerikanische Popkultur wurde,468 bedeutet dabei eine doppelte Umkehr- bzw. Aneignungsbewegung,469 die den Blues als genuin schwarze Musik in ihr Recht setzt.470 Solche Anpassungs- und Übernahmebewegungen lassen sich sowohl auf Seiten der schwarzen als auch der jüdischen Bevölkerung beobachten. Dabei entstehen Austauschbewegungen zwischen den beiden – jüdischen und schwarzen – Diasporen, die im atlantischen Raum und in Amerika (aufeinander-)treffen. Die Übernahme von charakteristischen oder als stereotyp bestimmten Aspekten anderer ethnischer Identitäten findet hier auf der Ebene der Gruppen statt, die sich beide »im gleichen Mißverhältnis zur herrschenden angloameri468 »When ragtime made its stunning leap from African American underclass culture into mainstream fashion, it provided the first real professional opportunities for a wide range of black performers; however, every prospect was mitigated by systemic racism.« (Lynn Abbott, Doug Seroff: Ragged, but Right. Black Traveling Shows, ›Coon Songs‹, and the Dark Pathway to Blues and Jazz. Mississippi 2007, S. 11). 469 Dass dabei jeweils unterschiedliche Intentionen im Spiel waren, sollte nicht übersehen werden. Siehe dazu beispielsweise die sozialhistorischen Perspektiven auf die Minstrelsy Shows. Als Vorreiter: William Edward Burghardt Du Bois: Black Reconstruction in America (1935). Oxford 2007. 470 »The blues performance was a communal affirmation and celebration of the group’s culture, and because this group’s culture was created in opposition to white culture, it was a ritual of negation as well« (Fred J. Hay: »Blues What I Am«: Blues Consciousness and Social Protest. In: Kenneth J. Bindas (Hg.): America’s Musical Pulse. Popular Music in Twentieth-Century Society. Westport, London 1992, S. 13–21, hier S. 19).

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kanischen Gesellschaft« (H 317) befinden. Auch Gates spricht vom polemischen oder parodistischen Wort im Kontext inner-afro-amerikanischer Literaturbezüge. Die Figuren in Hellblau stöbern jedoch auch Formen des umgekehrten Signifying auf, in dem die Herrschaftssprache durch den Zusatz schwarzer Sprachkultur bereichert wird. Yolanda zitiert aus Henry Millers Nachwort zu Mezz Mezzrows Biografie Really the Blues: In seinem Nachwort zu Really the Blues schreibt Henry Miller an Mezzrows Biographen Wolfe […]: Jeder amerikanische Schriftsteller der weißen Rasse kann aus Ihrem Buch eine große Lehre ziehen. Meines Wissens geschieht es hier zum ersten Mal in der modernen Zeit, daß eine so herrliche Arbeit zur Bereicherung der englischen Sprache beiträgt. Vielleicht legen Sie sich darüber noch nicht Rechenschaft ab, aber Sie haben, wie Dante für die italienische Sprache, Rabelais für die französische und Shakespeare für das klassische Englisch, viel geleistet für die trostlose, abgedroschene Sprache der Weißen. Cross Signifying, sozusagen, Tillmann. Signifying: Andeuten, erkennen lassen, zu erkennen geben. Für Mezz: Sich erkenntlich zeigen. (H 145)

Ähnlich wird der Stichwortgeber des Signifying im Roman, Johnny Otis, eingeführt: Mein Freund Johnny Otis ist biologisch ein Weißer, aber in jeder anderen Hinsicht vollkommen schwarz. Sein Leben ist das eines schwarzen Menschen, der sich mit anderen schwarzen Menschen verbunden hat, um gegen die Außenwelt zu kämpfen, die feindselige, ungerechte Welt des weißen Establishments. (H 72)

Auch auf der Ebene der Figuren findet Signifying statt. Vermilion kehrt die nationalsozialistische Ausgrenzungspraxis um, wenn sie ihren Davidstern an einer Kette um den Hals zur Schau trägt (H 15). Der Davidstern findet auf diegetischer Ebene häufig Erwähnung und wird so zur positiv-markierten Auszeichnung ihrer selbst als Jüdin. Sie verkehrt damit die übliche hegemoniale Praxis, nach der nur dasjenige erinnert und markiert wird, das aus Sicht der Herrschenden zur Abgrenzung von den positiven Qualitäten der Herrschenden dient – niemals aber im Hinblick auf eine Bestimmung, die dem ausgeschlossenen Gegenüber eine Form der eigenen, von der Perspektive der Unterdrücker unabhängigen Identität gewähren würde. Dass solche Gegenbesetzungsversuche auch in entgegengesetzter Richtung passieren und keineswegs immer auf der positiven Seite der Subversion verbleiben, zeigt sich an der in Hellblau erwähnten Übernahmestrategie des weißen DJ Richie Hatwin, der sich dadurch, dass er sich »den räuberischen Slogan The Future Sound of Detroit« zu eigen machte, »bei der schwarzen Szene Detroits unbeliebt gemacht« (H 102) hatte: Hatwin selbst erkennt seine damalige Position heute als durchweg problematisch an: Suburban white guy taking over the guy’s turf. Als er mit seinen Künstlern im europäischen Rotterdam gastierte und dabei mit Kenny Larkin den einzigen afrikanischen

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Amerikaner seines Katalogs in Detroit zurückgelassen hatte, skandierten die Rotterdamer Hooligans zu seiner hochgepitchten Musik voller Begeisterung ihren antisemitischen, gegen das jüdische Amsterdam gerichteten Schlachtruf: Joden, Joden. Später entwickelte Richie Hatwin einen eleganten minimalistischen Stil, der jeden Nazi auf beiden Seiten des Atlantiks sofort vergraulte. Der grundsätzliche Argwohn seiner schwarzen amerikanischen Kollegen hingegen blieb ihm bis heute erhalten. (H 102f.)

Auch im Zusammenhang mit der Diskussion um die »stilisierte Germanophilie« der Gruppe Dopplereffekt, die »womöglich eine faschistoide sei« (H 101), schreibt Yolanda dementsprechend von »Gegenübersetzungstechniken, deren nicht unproblematisches Oszillieren es jedenfalls dringend einmal näher zu untersuchen gilt« (H 101f.). Solch doppelte Rückkopplungseffekte stellen sich etwa bei der Übernahme von Diskurshandlungen ein. Angesichts der bei Rex Sepulvedas »ins Vinyl geritzte[n] sexistische[n] Texte« (H 249) fragt Cordula »[i]nwiefern diese, wie aus Detroit immer zu hören ist und wie es vor allem die dortigen Electro-Leute unermüdlich für ihre betont unartigen Titel zu reklamieren pflegen, nicht wörtlich zu nehmen sein sollen« (H 249).

2.4.3 Experimentelle Weltherrschaft Eine parodistische Neubesetzung von semantisch konnotierten Worten aus dem Diskurs um den Holocaust findet sich in Hellblau im Zusammenhang mit einer Bemerkung zum innovativen Detroiter Techno-Klang. Die Rede ist vom R&B Label Chess Records: Chess Records, mit seinen späteren Sublabel Checker, Cadet und Argo, wie es die ganze Welt von einem kleinen Straßenladen in der South Side Chicagos aus eroberte, mit einem, was nie zuvor gehörte Hallräume, innovative Übersteuerungen sowie die generelle Elektrifizierung des Blues betraf, geradezu unglaublich rumorenden Sound, den die beiden polnischen Juden mit Hilfe legendärer Experimente erzielten; etwa einem von der Decke ihres improvisierten Hinterzimmer-Studios baumelnden Abflußrohr oder einem in die enge Toilettenkabine gehängten Mikrophon. (H 69)

Die Signalwörter ›legendäre[…] Experimente‹, ›baumelndes‹ und ›gehängten‹ erinnern, unter dem Wurzelstrang ›Auschwitz‹ gelesen, an den Galgen in Auschwitz sowie an die medizinischen Experimente der Nationalsozialisten an den Gefangenen der Todeslager. Meinecke betreibt eine Art »Frequency Hopping« (H 140), wenn er zur Beschreibung neuer, noch nie dagewesener Technoklänge der Brüder Chess ein Vokabular verwendet, das eine Schnittmenge zum semantischen Feld des Zivilisationsbruchs nationalsozialistischer Gewalttaten aufweist. In der Nomenklatur des Gatesschen Signifying vollzieht der Text hier eine formale Parodie, indem er einen in Bezug auf die Gewalttaten der Nazis in

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den Konzentrationslagern völlig unpassenden Inhalt, die Erzeugung gänzlich neuer Technoklänge, anstelle des eigentlichen Inhalts setzt. Hier entsteht – ähnlich wie in Faserland – eine Infizierung, mehr noch aber eine Umcodierung von nationalsozialistisch geprägter Konnotation. Die sprachliche Darstellung, die Meinecke wählt, ist eine Form der ermächtigenden Aneignung. Durch die Verwendung dieser Worte zur Beschreibung von Techno-Klängen wird die unterschwellige Konnotation in ihr Gegenteil verkehrt. ›Experiment‹, ›Hängen‹ und ›baumeln‹ werden hier in einer Geste der Befreiung genutzt – nicht ohne in der Ambivalenz gegenseitiger Bedeutungsanreicherung zu verbleiben, so dass hier vom Changieren der Bedeutung gesprochen werden kann. Eine ähnliche Rhetorik weist das von Tillmann übersetzte (vgl. H 43) ›Manifest‹ der World Power Alliance auf. Allein die Bezeichnung ›World Power Alliance‹ evoziert Assoziationen an Hitlers Willen zur Weltmacht, den er in Mein Kampf zum Ausdruck bringt. Doch nicht nur der Name der World Power Alliance weckt Assoziationen zur Rhetorik des Nationalsozialismus. Auch der Inhalt des Manifests zeigt Anklänge totalitärer Formulierungen: The World Power Alliance was formed somewhere in Detroit, Michigan U.S.A. on May 22, 1992 at 4:28 PM by various elements of the world underground legions. The alliance is dedicated to the advancement of the human race by way of sonic experimentation. The World Power Alliance was designed to bring the worlds minds together, to combat the medicore audio and visual programming being fed to the inhabitans of Earth, this programming is stagnating the minds of the people, building a wall between races and world peace. This wall must be destroyed, and it will fall. By using the untapped energy potential of sound, the W.P.A. will smash this wall much the same as certain frequencies shatter the glass. Brothers of the underground, transmit your tones and frequencies from all locations of this world and wreak havoc on the programmers. THIS IS WAR! LONG LIVE THE UNDERGROUND.471

Die Rede vom ›advancement of the human race‹ evoziert Hitlers Rassenpolitik472 und auch die Erwähnung von Experimenten erzeugt Assoziationen zu den experimentellen Versuchen medizinischer Natur durch die Nationalsozialisten. In der Beibehaltung der rhetorischen Mittel wie der Kampfrhetorik, der Rede von der Vervollkommnung und der Notwendigkeit von Experimenten für den Fortschritt, kehrt die World Power Alliance jedoch die Inhalte um: Statt Ordnung soll ›havoc‹ verbreitet werden, Ziel ist es Mauern zu zerstören ›to bring the worlds minds together‹. Neben dieser inhaltlichen Umkehr sind auch die Verfahren entgegengesetzt: Während Hitler vermehrt auf Bodenpolitik setzt, geht es der 471 Underground Resistance: Programming. http://www.gabbers-gegen-rassismus.de/ur-prog ramming.html, abgerufen am 11. 09. 2018. 472 Vgl. dazu Anahid S. Rickmann: »Rassenpflege im völkischen Staat«: Vom Verhältnis der Rassenhygiene zur nationalsozialistischen Politik. Dissertation Universität Bonn 2002. https://hdl.handle.net/20.500.11811/1857.2, abgerufen am 05. 04. 2022.

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W.P.A. um eine akustische Strategie, die jenseits sichtbarer und räumlich abgrenzbarer Dimensionen verläuft. Und auch Tillmann versucht eine positive Interpretation des Gelesenen vorzunehmen: »World Power als Erbe der ehemaligen Black Power […] Power hier weniger mit Macht, sondern mit Kraft, Stärke, Vermögen, und wenn mit Gewalt, dann allenfalls mit revolutionärer Gewalt, zu übersetzen.« (H 44)

2.5

Himmlers ›Stimmen der Völker‹

Wenn wir Meineckes Diskursroman als sprachliches Äquivalent zur elektronischen Musik lesen, die, so Cordula Achim Szepanski paraphrasierend, »nicht länger Repräsentation [sei], sie kopiere nichts, sei nichts als eine frei flottierende Form, ein Reales, das sich selbst präsentiere« (H 335), so stellt sich für die Thematik von Nationalsozialismus und Holocaust die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz. Kommt der Verhandlung von Holocaust und Nationalsozialismus noch diskursive Bedeutung zu, aus der sich gesellschaftliche Folgen ergeben oder handelt es sich tatsächlich um bloßes Spiel ohne semantische, historische oder politische Rückbindung? Folgen wir Jochen Bonz’ Untersuchungen über das Kulturelle, so entbehren Musikrichtungen »aus afroamerikanischen, afrodiasporischen Genres wie dem Jazz, dem HipHop und Techno Music«473, die Kodwo Eshun primär als »music with no words«474 bezeichnet, einer Form der symbolischen Ordnung. Ihr Sinn erzeugt sich jenseits von sprachlich fassbaren Bedeutungen. Rückbindung an eine symbolische Ordnung geschieht durch das Einbrechen welthaltiger, aus Vergangenem ausgewählten Zitaten in Samples: »Mit dem Auftreten des Samples ist eine Atmosphäre entstanden. Das heißt nicht, die Situation wäre lesbar geworden. Aber etwas SinnÄhnliches hat sich eingestellt: Die Situation umfasst nun eine Umgebung.«475 Kommen wir an dieser Stelle kurz auf die Ausführungen zu Lyotards Philosophie zurück. In den Streitgesprächen bezeichnet er im Anschluss an Adorno Auschwitz als »ein Name dieses Unlesbaren«.476 Als Unlesbares, keiner unmittelbaren Erfahrung Zugängliches, soll es aber dem Anspruch Lyotards nach, in eine »›lesbare Konstellation‹ der Mikrologien Adornos«477 überführt werden. Für Hellblau lässt sich die Antwort formulieren, dass der popmusikpraktische Kontext diejenige Mikrologie darstellt, innerhalb der Auschwitz in eine lesbare Konstellation versetzt werden kann. Dabei bildet die Thematik, entgegen der 473 474 475 476 477

Bonz, Das Kulturelle, S. 96. Eshun, More Brilliant Than The Sun, S. 178. Bonz, Das Kulturelle, S. 97. Lyotard, Streitgespräche, S. 18. Ebd., S. 18.

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Himmlers ›Stimmen der Völker‹

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Annahme Axel Dunkers, gerade nicht »den Punkt innerhalb von Meineckes Konstrukt, der das ganze Gewebe aus dem Selbstgenügsam-Spielerischen, als das es vielleicht erscheinen könnte, herausholt und dem Buch die Dignität des überaus Ernsthaften verleiht.«478 Vielmehr findet die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit gerade innerhalb popkultureller Diskurse statt und ist, soll sie gegenwartsrelevant sein, nur in Konstellationen möglich, die gegenwärtiges Interesse auf sich ziehen. Die radikale Vermeidung eines abschließenden Fazits der Untersuchungen, die die Figuren vornehmen, rückt den Text in die Nähe dessen, was Lyotard fordert: Eine Thematisierung und Anknüpfung, die ›nichts besagt‹: »Und ›nach Auschwitz‹ hieße kein Wiederaufleben, sondern die Wiederholung eines Metrum, das von keiner Bedeutung mehr gegliedert wäre: und es würde nichts besagen.«479 Der Text bietet vielmehr durch das Anhäufen von thematischem Material unterschiedlicher Herkunft, Position und Ideologie verschiedene Möglichkeiten zur Verbindung desselben zu einer politischen und ethnischen Positionierung, die von den Leser:innen selbst vorgenommen werden muss. Hellblau präsentiert eine Idee zur Lösung des Lyotardschen Bedürfnisses, einen Diskurs nach Auschwitz zu gestalten, der das Geschehnis auf eine Weise an unsere sprachliche Lebenswelt anknüpft und mit ihr verbindet, ohne in einen spekulativen Diskurs mit einem festgelegten Resultat zu verfallen, der sich begrifflich, moralisch und ontologisch ermächtigen würde. Gleichzeitig liefert diese Form der Anknüpfung keine sprachlich-eindeutige Signifikanz, sondern verbleibt – um mit Bonz’ Kulturansatz des Zwischenraums als Präsenz und Atmosphäre zu sprechen – im Rahmen einer augenblickhaften atmosphärischen Verdichtung, in der Konstellationen480 relevant werden. Das hieße zugleich, dass Meinecke den Widerstreit, von dem Lyotard spricht, gerade nicht auflöst. Die ›Lösung‹, die Hellblau anbieten kann, liegt demnach in seinem grundlegenden Verweischarakter, der das sprachlich – oder anderweitig – Konstatierte immer schon auf einen anderen, neuen Kontext weiterverwiese und damit eine letzte Aussage über die Einordnung der Geschehnisse verweigert. Eine solche Verhandlung erfordert wissende und zur Aktivität bereite Leser:innen, die die Fähigkeit mitbringen, von geschichtlichen Ereignissen Analogien zu gegenwärtigen, politisch-gesellschaftlichen Strukturen zu ziehen, um das Gefahrenpotential gesellschaftlicher Ausgrenzungs- und Gewaltstrukturen und die sie begleitenden Verharmlosungs- und Beschwichtigungsdiskurse zu erkennen. In der folgend zitierten Stelle aus Hellblau laufen die für diese Arbeit zentralen Fäden aus Hellblau zusammen. Es handelt sich um ein Zitat aus der Rede 478 Dunker, Auschwitz im Pop-Roman, S. 193. 479 Lyotard, Streitgespräche, S. 36. 480 ›Konstellation‹ wird hier sowohl im Adornoschen Sinn als auch als eine einmalige je spezifische (raum-zeitlich verankerte) gegenwärtige Situation verstanden.

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Diskurspop – Thomas Meineckes Hellblau

Heinrich Himmlers vom 4. Oktober 1943 vor der SS, das Tillmann bei seinen Recherchen findet. In dieser Rede kommt Himmler ausdrücklich auf die Vernichtung der Jüdinnen und Juden zu sprechen: Die Judenevakuierung Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit auch ein ganz schweres Kapitel erwähnen. Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden. […] Es war eine, Gottseidank in uns wohnende Selbstverständlichkeit des Taktes, dass wir uns untereinander nie darüber unterhalten haben, nie darüber sprachen. Es hat jeden geschaudert und doch war sich jeder klar darüber, dass er es das nächste Mal wieder tun würde, wenn es befohlen wird und wenn es notwendig ist. Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – ›Das jüdische Volk wird ausgerottet‹, sagt ein jeder Parteigenosse, ›ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.‹ Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.481

Dieses Zitat ist eines der bekanntesten im Hinblick auf den Umgang der Nationalsozialisten mit dem Holocaust und eines der wenigen, in denen die Vernichtung der Jüdinnen und Juden überhaupt Erwähnung findet. Meinecke bzw. Tillmann aber zitiert gerade nicht diese Stelle der Rede, sondern einen Abschnitt, der unter dem Titel ›Gemüt am falschen Platze‹ zu finden ist: Am 4. Oktober 1943 sprach in der polnischen Stadt Posen der SS-Reichsführer Heinrich Himmler die folgenden Worte zu seinen SS-Truppen: Es ist grundfalsch, wenn wir unsere ganze harmlose Seele mit Gemüt, wenn wir unsere Gutmütigkeit, unseren Idealismus in fremde Völker hineintragen. Das gilt, angefangen von Herder, der die Stimmen der Völker wohl in einer besoffenen Stunde geschrieben hat und uns, den Nachkommen damit so maßloses Leid und Elend gebracht hat. (H 322)

Warum zitiert Meinecke/Tillmann diese Stelle und verweist so nur indirekt über den Eigennamen Himmler auf den in eloquente Rhetorik gekleideten, brutalen Kern der nationalsozialistischen Überzeugungen?

481 Heinrich Himmler: Rede des Reichsführers SS bei der SS-Gruppenführertagung in Posen am 4. Oktober 1943. http://www.1000dokumente.de/pdf/dok_0008_pos_de.pdf, abgerufen am 05. 04. 2022.

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Himmlers ›Stimmen der Völker‹

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Meinecke betreibt hier parodistisches Signifying, das nur zu verstehen ist, wenn der Rezipient selbst die in Hellblau stets vorgeführte De- und Re-Kontextualisierung vornimmt. Zunächst ermöglicht der Text den Leser:innen über das Stichwort ›Himmler‹ und die gelieferten Zeitangaben, die Gesamtheit der Rede zu konsultieren. Wer die Rede schon kennt, weiß auch um die viel zitierte Stelle über die Judenvernichtung. Wer hingegen keine Kenntnis über Himmlers Rede besitzt, muss, um die Stelle produktiv zu machen, dem Vorbild der Figuren folgen und dem ausgelegten Hinweis nachgehen, sich informieren und die eigene Lektüre über den Roman hinaus fortsetzen. Indem Meinecke Himmlers Kommentar zu Herder zitiert, verwandelt sich der gewählte Ausschnitt der Rede durch den bereitgestellten Kontext von Hellblau im Sinne eines Signifyings in ein zweistimmig-dialogisches Wort. Die ursprüngliche Proposition Himmlers erhält eine parodistische Gegenrede, die sich durch den Kontext des in Hellblau gesammelten Materials in die Worte Himmlers als Konnotation einschreibt. Dann ist es gerade nicht mehr ›grundfalsch‹, sondern grundrichtig, was der Roman über 300 Seiten diskursiv re-produziert: das eigene kulturelle Erbe mit und durch den Einfluss anderer Kulturen zu bereichern. Betont wird gerade durch den Titel der Herder’schen Sammlung, was Himmler vermeiden, Meinecke hingegen forcieren möchte: Die Vielstimmigkeit kulturellen Austauschs und die Unmöglichkeit der Zurückführung kulturellen Guts auf einen eindeutigen Ursprung. Das ist jedoch nur eine Ebene der ironisch-parodistischen Umkehr. Gates Rückgriff auf Bachtins »innere[…] Dialogisierung des Wortes«482 in seiner Bestimmung des Signifying kann hier das Verhältnis der verschiedenen Stimmen, die in der textlichen Aussagesituation auftreten, näher beleuchten. Bachtin schreibt: »In letzter Konsequenz führt diese Tendenz zum Zerfall des zweistimmigen Wortes in zwei Wörter, in zwei durchaus abgesonderte selbstständige Stimmen.«483 Durch die Auswahl gerade dieser Textstelle aus Himmlers Rede verwandelt sich das Zitat in eine Parodie im Bachtinschen Sinn, in der ein doppelt fremdes Wort, insgesamt also drei verschiedene Stimmen zu vernehmen sind: Durch die Versetzung des Zitats aus Himmlers Rede (a) in den Kontext von Hellblau klingt Herders Vielstimmigkeit (b) trotz ihrer Negation Himmlers hindurch mit. Ihr Konzept ist durch die Nennung aufgerufen. In Meineckes Rede (c), also Tillmans Zitat der Himmler-Rede, stehen sich Himmlers Bestreben einer Reinheit von Wort, Rasse und Körper und Herders polyphone Liedsammlung gegenüber und werden zugleich vom ironischen Duktus des Meinecke’schen Textes kommentierend überlagert. Himmlers Stimme bleibt in der Eigentlichkeit

482 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 125. 483 Ebd., S. 126.

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Diskurspop – Thomas Meineckes Hellblau

ihrer Worte präsent, wird aber sowohl durch den Kontext karikiert als auch ironisch in ihr Gegenteil verkehrt. Die Erzählinstanz ›Meinecke‹ (die den Inhalt und die Abfolgen der den verschiedenen Erzählerfiguren zugewiesenen Kapitel anordnet) kontextualisiert das Himmler-Zitat mit einer Filmbeschreibung Yolandas, in der »das sehr kleine weiße Mädchen Shirley Temple unglaublich groovy mit dem langen schwarzen Entertainer Bill Bojangles Robinson aus Richmond, Virginia, tanzt.« (H 323) Die mehrfache Parallelisierung, die immer wieder im Roman assoziativ zwischen Jüdinnen und Juden und Schwarzen einerseits sowie an dieser Stelle zusätzlich mit der nationalsozialistischen Ahnenforschung und dem »sprunghaft angestiegenen Interesse afrikanischer Amerikaner an der Erforschung ihres Stammbaums« (H 323) andererseits vorgenommen wird, konfrontiert Ideologie und Realität miteinander: Der Stammbaum hat nicht mehr die Funktion eines Kontrollmechanismus zum Ausweis der eigenen Reinheit wie im Nationalsozialismus, sondern wird zum Werkzeug für die Suche nach der eigenen individuellen Herkunftserzählung. Folgt man dem Stichwort ›Herder‹ in Hellblau weiter, so findet man eine weitere Stelle, an der Herder erwähnt wird. Dessen »Definition authentischer Volkstümlichkeit« (H 318) wird durch die in Hellblau erzeugte Konstellation in einen zu befragenden Zusammenhang mit dem »Erfolg der Juden in der Unterhaltungsindustrie« (H 318) durch deren Fähigkeit zur kulturellen Mimikry gebracht: Die Ironie an der Sache ist nun, daß der Erfolg der Juden in der Unterhaltungsindustrie einerseits darauf basierte, daß sie, vornehmlich zur Unterhaltung der Weißen, diese damit gleichsam umarmend, schwarzes Kulturgut adaptierten, andererseits, eben mit Hilfe dieser harmlosen Adaption, die soziale Leiter bis zu ihrer Anerkennung durch die Weißen, und zwar als gleichfalls Weiße, emporklimmen durften. Inwiefern, fragt Tillmann, soll all das nun eigentlich etwas mit Johann Gottfried Herders Definition authentischer Volkstümlichkeit zu tun haben? (H 318)

Nimmt man die Frage Tillmanns »[i]nwiefern […] all das nun eigentlich etwas mit Johann Gottfried Herders Definition authentischer Volkstümlichkeit zu tun haben [soll]?« (H 318) ernst und verfolgt Herders lebenslanges Projekt einer Sammlung von Liedern unterschiedlicher Völker skizzenhaft nach, ist zunächst bemerkenswert, dass Herders textuelles Verfahren demjenigen Meineckes ähnelt: Herders Denken bewegt sich nicht in wohltemperierten und disziplinär abgegrenzten Bahnen. Vielmehr funktioniert es nach Art eines Schwammes, der verschiedene Arten Wassers in sich aufsaugt, will sagen: sich bei vielfältigen Wissensquellen bedient. […] Daraus folgt, dass diese Besonderheit auch strukturprägend für seine Kulturtheorie ist, in der sich die genannten Disziplinen zu einem keineswegs spannungsfreien Diskurs-

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Himmlers ›Stimmen der Völker‹

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konglomerat verdichten, das auf ganzheitliche Erfassung seiner Gegenstandsbereiche ausgerichtet ist.484

So stellt beispielsweise Herders Briefwechsel über Ossian eine ähnliche Art des Diskurs- und Verweissystems dar wie es die Figuren in Hellblau produzieren. Hier wie dort werden Bibliotheken konsultiert und Material aus zweiter und dritter Hand angehäuft: Die brieflichen Alter Egos, die sich Herder im Briefwechsel über Ossian schafft, scheinen jedenfalls eher den Typus des ›Büchergelehrten‹ zu verkörpern. Sie tauschen sich fast ausschließlich über ihre gelehrten Lektüren aus […]: ›Sie können nachschlagen und sehen!‹, ruft der eine zum anderen. Die bibliothekarischen Voraussetzungen der eigenen Volksliedbegeisterung werden im Briefwechsel über Ossian also laufend angesprochen und sogar ironisch gebrochen.485

Die Kooperation im Hinblick auf wissenschaftliches Forschen und Schreiben, das durchwoben ist von Einschüben aus dem Leben der Autoren, findet sich sowohl in Herders mit Carolin Flachsland gemeinsam erarbeiteten Projekt des Silbernen Buches, als auch im gemeinschaftlichen Projekt von Tillmann und Yolanda in Hellblau. Jenseits verfahrenstechnischer Ähnlichkeiten teilt Meinecke mit Herder eine große Skepsis gegenüber Begrifflichkeiten wie dem Nationalen.486 In seiner Vorrede ›Ausweg zu Liedern fremder Völker‹ zum vierten Buch der Alten Volkslieder umreißt Herder die Idee einer ethnografisch sortierten Sammlung unter der Fragestellung, »wie dieser nationale Begründungsrahmen des Volkslieds wenn nicht gesprengt, so doch wenigstens infrage gestellt werden kann.«487 484 Hinrich Ahrend: Johann Gottfried Herder und die außereuropäische Welt – Anthropologie und Antikolonialismusdebatte. In: Ders., York-Gothart Mix (Hg.): Raynal – Herder – Merkel. Transformationen der Antikolonialismusdebatte in der europäischen Aufklärung. Heidelberg 2017, S. 75–91, hier S. 78. 485 Kaspar Renner: »Ausweg zu Liedern anderer Völker«. Antikoloniale Perspektiven in Herders Volksliedprojekt. In: Hinrich Ahrend, York-Gothart Mix (Hg.): Herder – Raynal – Merkel. Transformationen der Antikolonialismusdebatte in der europäischen Aufklärung. Heidelberg 2017, S. 107–142, hier S. 112. 486 Alexander Nebrig betont zudem den rhetorischen Registerwechsel von der Auffassung einer – biblisch orientierten – männlich codierten »adamitischen Ursprache« (Alexander Nebrig: Die Welt als Lied. Der globale Anspruch von Herders Volksliedern. In: Christian Moser, Linda Simonis (Hg.): Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien. Göttingen 2014, S. 315–325, hier S. 318) hin zu einer weiblich konnotierten »Muttersprache des Menschengeschlechts« (ebd., S. 318), die mit »der Akzentverschiebung von der theologischen auf die poetologische Reflexion« (ebd., S. 318) einhergeht. In einer ähnlichen Geste der Umkehr konventionalisierter Koordinaten versteht Meinecke die Abwendung von der Handlung zugunsten von Sprachmodulationen und Diskursen wie die Abkehr vom autonomen Subjekt hin zum Pop »[n]icht [als] maskulin, sondern feminin.« (Meinecke, Ich als Text (Extended Version), S. 25, Herv. K.K.). 487 Renner, »Ausweg zu Liedern anderer Völker«, S. 118.

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Diskurspop – Thomas Meineckes Hellblau

Die bedeutsame Vorstellung des Authentischen – eines Volkes etwa – ist bei Herder mit Natur gleichzusetzen: The truly natural, therefore, consists of the stream of human development that underlies ›surface culture‹ that has become disconnected from it. Rousseau and Herder likewise seek, accordingly, to retake possession of a people’s true heritage, so that the national and the natural coincide.488

Natur ist dabei jedoch nicht in Abgrenzung von überformender Kultur gedacht, sondern »Herder viewed it [d.i. Kultur, K.K.] as a simultaneuous development with nature.«489 Die wechselseitige Entwicklung von Kultur und Natur zeigt sich auch im Einfluss, den die Klimatheorie auf Herders Vorstellung über die Herausbildung von Kulturen und Nationen in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit490 ausübt. Hellblau stellt mit dem Mythos der TechnoGruppe Drexciya von den Unterwasser-Menschen, die von den über Bord geworfenen schwangeren Sklavinnen während der Sklavenverschiffung nach Amerika abstammten, ebenfalls den Einfluss eines bestimmten Naturraums mit seinen geopolitischen und kulturellen Implikationen auf die Entwicklung ethnischer Identitäten aus. In dieser Erzählung über die Drexciyaner bewirkt der atlantische Raum erst die Entstehung des neuen Volkes und seiner Kultur. Die Entwicklung von individueller und kollektiver Identität ist somit wechselseitig bedingt. »Individualitäten – seien es nun Menschen, Völker oder Nationen – werden von Herder nicht losgelöst, sondern stets als Teil eines größeren Ganzen betrachtet, mit dem sie […] ›verkettet‹ sind.«491 Darüber hinaus begreift Herder die gegenseitige Beeinflussung von Völkern und Kulturen als zentralen Punkt für die Entfaltung jeder Kultur und beugt damit der Idee von Rassismus, der auf Vorstellungen von Überlegenheit mancher Rassen über andere beruht, entschieden vor: Die Mischung von Kulturen gilt ihm […] als eine unabänderliche Daseinsbedingung des Menschen; allerdings ist sie nur dann legitim, wenn sie sich gewissermaßen auf ›natürliche‹ Weise vollzieht, d. h. aus den inneren Anlagen einer Kultur heraus und getragen von wechselseitigem Respekt. Dann sei sie nicht nur förderlich, sondern helfe einer Kultur sogar, sich weiterzuentwickeln.492

Kaspar Renner betont, dass in Herders »›Zueignung der Volkslieder‹ […] also ganz klar ein herrschaftskritisches, vielleicht sogar revolutionäres Projekt for488 Frederick M. Barnard: Herder on Nationality, Humanity, and History. Montreal 2003, S. 39. 489 Ebd., S. 50. 490 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Werke Band 3. Hg. von Wolfgang Pross. München 2002. Dort insbesondere das 5. Kapitel des Ersten Buchs und das 3. Kapitel im Siebten Buch. 491 Ahrend, Johann Gottfried Herder und die außereuropäische Welt, S. 78. 492 Ebd., S. 84.

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Vom Scheitern des Diskurses an der Praxis – Meineckes Figuren in der Einübung

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muliert«493 wird. Vor dieser kulturtheoretischen Folie wird das Stichwort ›Herder‹ für den Diskurs in Hellblau zum Garanten von ethnischer Gleichberechtigung und Pluralität. Kritik entsteht in Hellblau auf der Ebene des Arrangements. Durch die Konstellation des gesampelten Materials unterschiedlicher Herkunft vertraut der Text auf die erforderliche Reaktion der Lesenden. Statt selbst Affekte wie Empörung oder berechtigte Fassungslosigkeit auszustellen, bleibt Meineckes Roman auf der Ebene der Materialkonfrontation und überantwortet den Lesenden das Beurteilen. Er gehört damit zu einer Reihe von künstlerischen Verhandlungen der Thematik, welche die ›Para-Erfahrung‹ (Lyotard) von Auschwitz […] ›strukturell‹ voraussetzen […]. Sie versuchen, die Generalisierungen (System der Moderne, Masse, Technik, Institution, kulturelle und ethnische Eigenart), die in der Erinnerung mit dem Namen Auschwitz verbunden werden, mit den lebensweltlichen je präsenten und aktiven Imaginationen und Handlungen zu verknüpfen. An die Stelle der im Prinzip unendlichen, oft nur beschwörenden Suche nach dem Authentischen tritt die Dechiffrierung der ›primären‹ Holocaust-Zeichen in ›sekundären‹ kulturellen Bereichen.494

2.6

Vom Scheitern des Diskurses an der Praxis – Meineckes Figuren in der Einübung

Die diskursive Pluralität und Beweglichkeit von Konzepten wie Geschlecht, ›Rasse‹, Herkunft und Kultur kommt in Hellblau immer dann an ihre Grenzen, wenn die Figuren mit der Welt außerhalb ihrer diskursiven Blase interagieren, sich in lebendigen Zusammenhängen wiederfinden und in narrative Handlung eingebunden sind. Die flottierenden Zugehörigkeiten gelingen im Diskurs, den die Figuren führen, so zum Beispiel, wenn Tillmann in seinem Net House von seiner Freundin mit Frauenkleidern eingekleidet wird und Texte über die jüdisch oder weiblich konnotierten Bezeichnungen seiner Körperteile durch Vermilion zwischen den Figuren hin und her gehen. Aber sobald dieser diskursive Raum verlassen wird, werden die entsprechenden Identitätszuschreibungen zu Hürden: Re-make / Re-model. Durch ihren elektrischen Lockenstab hat mir Vermilion eine Frisur zugefügt, mit der ich mich unmöglich in Howard’s Pub blicken lassen kann. Also

493 Renner, »Ausweg zu Liedern fremder Völker«, S. 132f. 494 Klaus R. Scherpe: Von Bildnissen zu Erlebnissen. Wandlungen der Kultur »nach Auschwitz«. In: Hartmut Böhme, Ders. (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek bei Hamburg 1996, 254–282, hier S. 274f.

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Diskurspop – Thomas Meineckes Hellblau

bleibe ich heute ausnahmsweise hier und warte geduldig ab, daß meine Freundin […] mit zwei frisch zubereiteten Hamburgern ins Net House zurückkehren wird. (H 332)

Mit weiblichen Attributen ausgestattet, reproduziert Tillmann bestätigend das weiblich konnotierte Kulturmuster des Wartens.495 Er vermag so gerade nicht die Grenzen und semantischen Zuschreibungen begrifflicher, hegemonialer Binaritäten zu sprengen. Statt dessen verbleibt das Bemühen, den eigenen – biologischen, sozialisationsgeprägten und kulturell konstruierten – identitären Zuordnungen zu entgehen und dem Konzept eines autonomen Subjekts zu entsagen, auf der theoretischen Ebene und wird als diskursive Haltung propagiert, der gegenüber praktische Handlungen abgewertet werden: Tillmann: Die Vorstellung vom autonomen Subjekt, das sich mittels seiner aktiven Handlungen vergegenständlicht, sei von einer Vorstellung abgelöst worden, die das Individuum durch seine Fähigkeit zur Kontemplation, Reflexion und Erkenntnis beschreibt, Handlungen also nur noch vordergründige Bedeutungen zuspricht. (H 290)

Die Grenzen dieses Konzepts zeigen sich schnell, sobald Tillmann sich mit Vermilion durch den wirklichen Raum des jüdischen Viertels Williamsburg in New York bewegt. Dort ist Tillmann gezwungen, sich zu dem tatsächlichen Geschehen zu verhalten und dadurch zugleich zu positionieren. Er sieht sich auf seine biologisch-nationale Identität zurückgeworfen und nimmt in einer Art Diskurs-Reflex eine Selbstidentifikation mit dem Stereotyp des deutschen Täters vor. An den jungen überwiegend männlichen Juden, die sich im Viertel bewegen, fällt Tillmann deren Habitus auf: »Ich kann mich des äußeren Eindrucks einer gewissen Hipness dieser Typen nicht erwehren und komme mir momentan ausgesprochen plump vor, barbarisch und ignorant.«496 (H 232) ›Barbarisch‹ wirkt in diesem Kontext als Signalwort, das, einer Reiz-Reaktion gleich, den stereotypen Topos von deutscher Schuld und Selbstverachtung aufruft. Kurz darauf fügt Tillmann den durch und durch Klischee besetzten und biologistisch grundierten Satz hinzu: »Noch nie habe ich so viele schöne Menschen auf einmal gesehen.« (H 233) Dadurch werden rassenspezifische Stereotype, wenn auch unter verkehrten Vorzeichen, zementiert: Alle chassidischen Juden sind schön. Diese Beobachtung Tillmanns hat nicht nur die Wirkung, dass dieser sich selbst als Gegenbild zu den jungen Männern empfindet. Mit der Bemerkung verfällt Tillmann, und mit ihm Meinecke, in ein topisches Muster christlich-deutscher 495 Siehe dazu etwa Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe. Übersetzt von HansHorst Henschen. Frankfurt am Main 1988, S. 27–28 [Lemma: Abwesenheit]. 496 Norman erzählt Cordula am Telefon von seiner Reise durch Polen: »Voller Überschwang preist er die Eleganz der polnischen Jugend, wobei ihm […] ganz generell die Kultur der Polen, über die in deutschen Fernsehprogrammen lediglich dreckige Witze gerissen würden, um einiges hedonistischer, quasi französischer vorkomme als die immer wieder ins Barbarische abgleitende deutsche.« (H 309).

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Vom Scheitern des Diskurses an der Praxis – Meineckes Figuren in der Einübung

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Täter-Schuld, das gänzlich durch Oppositionen von Täter und Opfer, Schuld und Unschuld geprägt ist und keinen Spielraum für hybride Identitäten ermöglicht, wie sie der Roman diskursiv unablässig ausprobiert. Wenig später werden Tillmann und Vermilion Zeugen eines Unfalls, bei dem ein Auto ein Kind anfährt. Schnell bildet sich eine Menge, ein Krankenwagen kommt. Die Reaktion Tillmanns ist entlarvend: Vermilion und ich aber bewegen uns langsam schleichend, wie schuldig, mit zitternden Knien von der Ansammlung fort. Kaufen uns in einem Laden an der nächsten Ecke eine Flasche Traubensaft. Als sei nichts geschehen. Dabei hat das tragische Ereignis in meiner Wahrnehmung, durch die fromme Geschlossenheit der hiesigen Bevölkerungsgruppe, sofort eine Schicksalhaftigkeit von kollektiver Tragweite erhalten. (H 235)

Die Flasche Traubensaft evoziert durch die Kombination des Wortes ›schuldig‹ mit der Beschreibung der ›frommen Geschlossenheit der jüdischen Gemeinschaft‹, aus der sich Tillmann und Vermilion selbst ausschließen oder von der sie sich ausgeschlossen fühlen, eine Art religiösen Kurzschluss. Um sich des Schuldig-Fühlens zu entledigen, greifen die beiden zum christlichen Akt des Abendmahls, der sich hier symbolisch auf der sprachlichen Ebene vollzieht. Der Traubensaft stellt in dieser Lesart die säkularisierte Form des Blutes Christi dar. Die Flasche kaufen sie ›als sei nichts geschehen‹. Diese Formulierung wiederum ruft intertextuell die mit dem Abendmahl einhergehende Vergebung der Sünden auf, nach der die ursprünglichen Verhältnisse wieder hergestellt sind, eben ›als sei nichts geschehen‹, mit dem Unterschied, dass die Reinwaschung verbal vor dem Vollzug der Sündenvergebung geschieht. Zugleich erinnert das Syntagma aufgrund seiner Semantik im Kontext des Erinnerungsdiskurses implizit an die sogenannte Phase des Be- und Verschweigens der deutschen Gewalttaten. Beide Assoziationen werden weder von den Figuren reflektiert noch scheinen sie durch den Meinecke’schen Diskurs reflexiv gedeckt und markieren so einen blinden Fleck des Romans. Für diese Lesart spricht der reflexartige Rückfall in vertraute kulturelle Muster, sobald die Figuren ihren Diskursraum verlassen und sich in die wirkliche Praxis des Alltags begeben. So unterläuft Hellblau, was Linda Hutcheon als »complicitous critique«497 bezeichnet. Demnach ist jeder Gegendiskurs notwendigerweise auch innerhalb der Herrschaftsdiskurse verortet: »complicity is not full affirmation or strict adherence; the awareness of difference and of tradition, of being inside and outside, is never lost.«498

497 Linda Hutcheon: The Politics of Postmodernism. London, New York 1989, S. 13. 498 Ebd., S. 14.

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Diskurspop – Thomas Meineckes Hellblau

Thomas Meineckes Hellblau – Fazit

Die obigen Beispiele zeigen, dass auf der Figuren- wie auf der Erzählebene eine Reflexion der Problematik, wie diskursive Fluidität und praxeologischer Zwang zur notwendig positionierenden Handlung zusammengedacht werden können, in Hellblau ausbleibt – die diskursive Arbeit also am Plot ihr Ende findet. Als poetisches Konzept muss das inkonsequent wirken, treiben die Figuren doch die Diskurse bis an ihr Äußerstes. Auch die Reproduktion der Pathologisierung und emotionalen Psychologisierung des Holocaust-Diskurses durch Normans Aussage, er »könne […] sich vorstellen, Auschwitz-Birkenau 2000 ganz einfach nicht mehr gewachsen zu sein« (H 313) oder Tillmanns Aussage, »daß in meinem Leben […] kein Tag vergeht, an dem mir nicht mindestens einmal das Wort Auschwitz, und mit diesem der gesamte gleichnamige Komplex, durch den Kopf schießt« (H 287), wird kommentarlos eingewoben. Ob dieser Betroffenheitsgestus als zu kritisierende, sedimentierte Position der Erinnerungs- und Bewältigungskultur in einem parodistischen Duktus ausgestellt wird oder gerade als Einbruch einer solchen konventionellen Reizreaktion zu lesen ist, kann nur im metadiskursiven Blick auf den Roman eine mögliche Antwort finden. Gleichwohl konturiert der Roman in der akribischen, reproduktiven – das heißt parodistischen – Mimesis gegenwärtiger Wissensgenerierung, -präsentation und -strukturierung deutlich verschiedene Positionen im gesellschaftlichen und medialen Diskurs über Nationalsozialismus und Holocaust und bringt diese nebeneinander in Stellung. Die ausgestellte Diskursivität und die damit einhergehende, erzeugte ›intellektuelle Blase‹ werden in ihren Reinformen derart übersteigert, dass selbst die Figuren nur mehr als arrangierte Diskursträger oder -positionen erscheinen.499 In diesem vielfältigen Zugang zu und der beinahe zwanghaften (Re-)Thematisierung von jüdischer Identität, Holocaust, Antisemitismus und den daran angrenzenden Diskursen lässt sich dem Roman eine Bewegung unterstellen, die als Hysterisierung des Diskurses bezeichnet werden kann:500 Der Roman dokumentiert und decodiert die bestehenden gesellschaftspolitischen und medialen Diskurs- und Kommunikationsstrukturen und entlarvt politische Haltungen auf manische Weise, führt sie gegen theoretische Positionen ins Feld und zeigt die Wirkungslosigkeit von (Gegen-)Maßnahmen auf. Dadurch werden die struktu499 Das geht soweit, dass die Selbst-Inszenierung der Figuren an einigen Stellen nicht vom Inszenierungswillen Meineckes zu unterscheiden ist: Wenn Tillmann, Die Kleine Meerjungfrau von Hans Christian Andersen lesend, als Meerjungfrau beschrieben wird (vgl. H 333), ist das eher als Trick der Erzählanordnung und damit der diskursiven Konstellation bzw. dem metafiktionalen Rekurs auf literarische Traditionen und nicht als Inszenierung durch die Erzählinstanz Tillmann zu werten. 500 Mein Dank für diesen Begriff geht an Toni Tholen.

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Thomas Meineckes Hellblau – Fazit

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rellen Missstände des öffentlichen Diskurses und dessen oft einseitiges, politisch motiviertes Framing, penetrant ausgestellt und aus der Latenz ins Sichtbare gerückt. Aus dieser ›literarischen Diskursanalyse‹ lässt sich zudem der positive und aktive Entwurf einer jüdischen Identität und Kultur herauslesen. Die permanente Überlagerung von antisemitischen Diskursen mit rassistischen und Genderdebatten öffnet die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit für eine aktualisierte und produktive Übertragung auf gegenwärtige gesellschaftspolitische, nationale wie internationale und -kulturelle Problemkonstellationen – in Abwandlung eines Begriffs von Michael Rothberg – im Sinne einer multidirektionalen Kultur- und Gesellschaftspolitik. In der Anbindung des von Baßler als durch ›schwere Zeichen‹ gekennzeichneten Diskurses ›Auschwitz‹ an ein rhizomatisches, nicht hierarchisch strukturiertes Gefüge, wird die Opposition von einem sakralen Zugang zur Holocaust-Thematik und einem popkulturell geprägten Zugang eingeebnet. Die inhaltliche Beschäftigung der Figuren mit dem Phänomen Techno wird zum Modell für eine kritische Rezeption des Romans. Die Struktur von Techno bietet eine Metapoetik an, wie der Holocaust ästhetisch thematisiert werden kann, ohne in ein sinnstiftendes Narrativ integriert zu werden. Dadurch wird der kulturgeschichtliche und gesellschaftspolitische Hiatus, den dieses historische Ereignis sowohl für die Überlebenden als auch für die abendländischen Vorstellungen von Zivilisation und Vernunft darstellt, offengehalten. Auch der fiktionsinterne Hinweis auf den Signifying Monkey wird zum Lektüreschlüssel für den Umgang mit dem zusammengestellten Material des Romans: Als ideologiekritisches Konzept ermutigt das Signifying, die eingespeisten Zitate, Szenen und Informationen bis hin zur Erzählanordnung auf ihr semantisch ambivalentes Potential zu untersuchen. Zusammen mit dem ebenfalls fiktionsintern ausgestellten Verfahren der Stichwortsuche, dem die Figuren folgen, lässt sich daraus ein für Popphänomene wesentlicher spezifischer »Geheimcode […], der aber gleichzeitig für alle zugänglich ist«501 in und für Hellblau identifizieren. Der geführte Diskurs über den Holocaust trägt das Stichwort ›Herder‹, über dessen Volksliedsammlung Stimmen der Völker die verschiedenen Diskurse von Nationalsozialismus und Rasse, Holocaust und Vernichtung der jüdischen Kultur und Erinnerung, gegenwärtige afro-amerikanische-jüdische Musikkulturen des Jazz, Blues und Techno und deren ko-konstruktiven Identitäten zusammenfinden. Das gelingt jedoch nur bei einer wohlwollenden, interessierten und aktiven Lektüre. Die durch den Roman angebotenen Möglichkeiten zu einer aktiven Anschlusskommunikation und -handlung müssen von den Lesenden wahrge501 Diederichsen, Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch, S. 190.

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Diskurspop – Thomas Meineckes Hellblau

nommen werden, um zu einer eigenständigen, kritischen Haltung kommen zu können. Dass dabei nicht jede Stelle als gelungener subversiver Sprachzug aufgefasst werden kann, ist nur folgerichtig. Angesichts der Tatsache, dass [w]eder Gegenwart noch Vergangenheit […] sich aus dieser Perspektive, die auch Goetz’ und Meineckes Projekt einer ›Geschichte der Gegenwart‹ bestimmt, als etwas dar[stellen], das man aus einer vermeintlich sicheren Position des Wissens erzählen oder als verstanden abhaken könnte,502

bleibt das ein oder andere mögliche Scheitern diesem Versuch konstitutiv eingeschrieben.

502 Schumacher, Gerade Eben Jetzt, S. 204.

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Fazit Teil I: Stolpern

Faserland und Hellblau entwickeln ein literarisches Sensorium für sprachliche Totalitarismen, die in beiden Romanen parodistisch reproduziert, umkreist, variiert und unterlaufen werden. Zugleich sind die Texte keineswegs naiv in ihrem Glauben an eine ideologiefreie Gegenstrategie. Vielmehr beweisen sie große Aufmerksamkeit für das Gefahrenpotential solch sprachlicher Gegenbewegungen. Als poetologische Figur beider Romane lässt sich daher das Verfahren des uneigentlichen, vorbehaltlichen Sprechens bestimmen, das sich nicht absolut setzt. Metareflexive Ambivalenz entsteht in beiden Romanen durch die spezifischen Figuren- und Erzählkonzeptionen. Figuren wie Erzählstimmen sind als polyphone Doppelwesen angelegt, die einerseits als Agenten der Kritik, andererseits aber als Indikatoren für und Träger der zu kritisierenden Sprachpraktiken und -handlungen fungieren. In Bezug auf die ästhetische Erinnerungskultur zeigen sich beide Romane als herausfordernd. Sie weisen einen ritualisierten Zugang zur deutschen Vergangenheit zurück und stellen sich dem Unbehagen einer unvorhergesehenen, an jeder Stelle potentiell einbrechenden Auseinandersetzung – etwa in Form einer »Wort-Kugel[, die] durch den Kopf jagt«503 –, für die es keine regelgeleiteten Verhaltensweisen gibt. Relevant ist für Faserland wie für Hellblau der Bezug zur gegenwärtigen Alltagskultur, der einen aktualisierten Zugang zur deutschen Vergangenheit anhand popkultureller Motive ermöglicht. Etablierte Mechanismen des Erinnerns werden kritisch befragt und in ihre Grenzen verwiesen. In Faserland entfaltet sich die Poetik der Vorbehaltlichkeit auf der stilistischen Ebene, wenn der Protagonist unablässig Grenzwerte des ästhetischen Diskurses ausmisst. Sein Sprechen ist dabei einerseits von einem totalitär anmutenden Formwillen grundiert, der sich in willkürlichen, ästhetischen Urteilen wie »Abgewetzte Barbourjacken, das führt zu nichts« (FSL 16) Bahn bricht.504 Anderer503 Wogenstein, Topographie des Dazwischen, S. 90. 504 »Denn wenn die oberflächlichen Distanzierungen der Erzählstimme vom ideologischen Nationalsozialismus durchaus kein Grund sind, ihre ästhetische Annäherung an ihn für

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seits irritieren Intensitäts- und Modalpartikel den behauptenden Charakter von Aussagesätzen und destabilisieren deren Semantik. Die Reflexion der eigenen Involviertheit in den herrschenden Sprachdiskurs zeigt sich so in einer Poetik der Karnevalisierung, die die Zeichen der fiktionalen Welt und die Körper der Figuren zu Austragungsorten eines grotesken Erinnerns macht. Das symbolische Kapital der hochkulturell besetzten Literaturgeschichte schlägt im Roman am Beispiel Thomas Manns durch den in der Karnevalisierung installierten »Tauschwert«505 in sein Gegenteil um. Die Suche des Protagonisten – nach einer gelingenden Erzählung wie nach dem Grab Thomas Manns und damit metonymisch nach dem Wert der Literaturgeschichte – ist »als Parodie der modernistischen Suche zu lesen«,506 bei der die literarische Tradition und Kultur Gefahr läuft, in unlesbare und wertlose ›Kotschrift‹ umzuschlagen. Als solche ist sie nicht mehr entzifferbar und damit nicht länger für eine aktualisierte Lebenswelt anschlussfähig. Statt dessen übernehmen popkulturelle Artefakte die poetische Funktion der Entautomatisierung und Reevaluation des hochkulturellen Diskurses über den Nationalsozialismus und erzeugen einen Umsturz der klaren Trennung von Hoch- und Popkultur und mit ihr die Verteilung von Motiven im kulturellen Gedächtnis, wie er in der klanglichen Engführung und semantischen Infizierung von ›Hanuta‹ und ›Hafraba‹ zum Ausdruck kommt. Peter V. Zima konstatiert, dass der Einsatz von Karnevalisierung sich in modernistischen und postmodernen Texten dahingehend unterscheidet, »daß im Modernismus Karnevalisierung und Verfremdung nicht wie in der Postmoderne in Indifferenz ausmünden, sondern in eine Ideologiekritik, die von der Suche nach dem wahren Wert und der authentischen Wertskala begleitet wird.«507 Faserland führt in der karnevalesken Parodie des ›Zauberberg‹ alle drei möglichen Folgen – den Effekt der Re-Ideologisierung, den Umschlag in postmoderne Indifferenz und die Ausbildung einer ideologiekritischen Haltung – gleichzeitig vor: Der Effekt der Re-Ideologisierung wird durch die imaginäre Selbstinszenierung des Protagonisten als hegemoniale Autorität erzeugt (»Alles, was ich erzählen würde, wäre wahr« (FSL 160)),508 nur um kurz darauf der

505 506 507 508

harmlos zu halten, dann muss nach ergangener Erinnerung an die mögliche Repressivität der eigenen Haltung eben wieder ihre Faszination für das Totalitäre in den Blick rücken. Sie muss umso aufmerksamer registriert und umso schärfer verurteilt werden, als der von ihr ins Spiel gebrachte Begriff vom ›unpolitischen Ästhetizismus‹ bis zum Ende von Faserland seltsam unangefochten bleibt.« (Hans Kruschwitz: Wollt ihr die totale Ironie? Warum Christian Krachts Texte nicht harmloser geworden sind. In: Merkur 72 (2018), H. 831, S. 69– 75, hier S. 73). Peter V. Zima: Moderne/Postmoderne. Tübingen, Basel 2001, S. 308. Ebd., S. 359. Zima, Moderne/Postmoderne, S. 313. Diese narrativ erzeugte Wahrheit bedarf keiner Verhandlung im Sinne der Konsenstheorie der Wahrheit, weil sie sich selbst die Berechtigung zuspricht und der Protagonist »seine Rede

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postmodernen Indifferenz zu weichen (»Das wäre aber alles eigentlich auch etwas, das der Vergangenheit angehören würde […]. Sie wäre unwichtig, und da ich sie nicht mehr beachte, würde es sie nicht mehr geben« (FSL 161f.)).509 Beide Aspekte aber sind unter der Prämisse eines sprachlichen Konjunktivs realisiert. So zeigt sich der ideologiekritische Gestus zum einen auch hier in einer doppelt sprachlichen Zurücknahme und Verunsicherung des Gesagten: Die postulierte Freiheit einer vorgeblichen Posthistoire (»sie wären frei« (FSL 162)) wird sogleich relativiert: frei wären die imaginierten Kinder lediglich »auf ihre Art« (FSL 162). Zum anderen ist der imaginierte Zauberberg nicht das letzte Wort des Romans. Es folgen weitere Versuche des Protagonisten, mit dem Gegenstand Deutschland und seiner (literatur-)historischen Tradition umzugehen. Das ›Bergnarrativ‹ wird so als eine von verschiedenen, möglichen Konstruktionen relativiert – ein Vorgang, der gleichfalls für die Inszenierung von Thomas Mann als prototypischem Exilautoren und selbsternanntem Unpolitischen510 gilt. Darüber hinaus ist das konjunktivische ›Bergnarrativ‹ des Protagonisten inhaltlich eine kondensierte Wiederholung der vorangegangenen Kapitel und versetzt die Lesenden – und den Protagonisten – damit gerade nicht in ein Außerhalb der erzählerischen Ordnung, sondern bringt sie wieder an den Anfang des Romans zurück, um mit der Lektüre (und den scheiternden Erzählversuchen), vielleicht unter einem veränderten Blickwinkel, von vorn zu beginnen. Dadurch stellt der Text den Diskurs auf Dauer – und entgeht so (s)einer ideologischen Setzung. Der spezifische Zugang, den Hellblau zur deutschen Vergangenheit findet, liegt in seiner diskursanalytischen Spracharbeit an den Diskursen über Political Correctness, Rassismus, Gendertheorie, Nationalsozialismus und Holocaust, Inter- und Transkulturalität und Techno. Die Figuren des Romans loten die Grenzen dieser (theoretischen) Diskurse aus, wenn sie sprachlich-semantische, antiessentialistische Subversionsbewegungen wieder und wieder auf ihr Proals semantisch-narrative Konstruktion mit der Wirklichkeit identifiziert (verwechselt) und dadurch Gegenentwürfe und Gegenargumente monologisch ausgrenzt.« (Zima, Moderne/ Postmoderne, S. 379). Zur Konsenstheorie der Wahrheit nach Habermas: »Wahrheit nennen wir den Geltungsanspruch, den wir mit konstativen Sprechakten verbinden. Eine Aussage ist wahr, wenn der Geltungsanspruch der Sprechakte, mit denen wir, unter Verwendung von Sätzen, jene Aussage behaupten, berechtigt ist.« (Jürgen Habermas: Wahrheitstheorien. In: Helmut Fahrenbach (Hg.): Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag. Pfullingen 1973, S. 211–265, hier S. 218). 509 Dieses sich Unangreifbarmachen durch postmoderne Indifferenz, die sich häufig in der vorgeblichen Selbstironisierung der eigenen Aussagen zeigt, ist gegenwärtig ein beliebter Schachzug rechtspopulistischer Provokationen im öffentlichen wie medialen Diskurs. Dass Kracht diese Positionslosigkeit bzw. der permanente Selbstentzug durch den Rückverweis auf ironisches Sprechen immer wieder vorgeworfen wird, verkennt, dass Krachts Figuren diese diskursiven Bewegungen immerzu ausstellen, mit ihnen ringen, sie in ihrem Bedürfnis nach der Fixierung von Werten ablehnen. 510 Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen (1918). Frankfurt am Main 2001.

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testpotential hin befragen. Poetologisch greifen die Romanfiguren dazu selbstreflexiv auf das Konzept des Signifying von Henry Louis Gates Jr. zurück. Der ›Trick‹ des Signifying besteht darin, durch semantische Doppel- bzw. Mehrfachbelegung desselben Wortes die Sprachebene zu wechseln oder Bezeichnungen negativer Fremdzuschreibungen als metaphorisch neu semantisierte Selbstzuschreibungen zu verwenden, wie die vielen Beispiele um das Wort ›Neger‹ bzw. ›Nigger‹ im Roman zeigen. In der Überlagerung der verschiedenen Diskurse wird die historische Thematik von Nationalsozialismus und Holocaust mit gegenwärtigen und alltäglichen Diskursen der deutsch-jüdisch-afro-amerikanischen Gesellschaft überlagert, angereicht, gesättigt und aktualisiert. Die Themenstrukturierung des Romans folgt so einer parataktischen Poetik. Die Parataxe als ästhetische Strategie – der nach Zima eine ›postmoderne‹ Tendenz innewohnt – geht auf Adornos Beschreibung seiner Ästhetischen Theorie zurück. Adornos Beschreibung lässt sich auf Meineckes Roman übertragen: »Das Buch muß gleichsam konzentrisch in gleichgewichtigen, parataktischen Teilen geschrieben werden, die um einen Mittelpunkt angeordnet sind, den sie durch ihre Konstellation ausdrücken.«511 Entsprechend wird der Holocaust in Hellblau als Mittelpunkt des Romans konzentrisch durch die manische Auseinandersetzung mit seiner Diskursivierung unablässig umkreist. Dies zeigt sich unter anderem am Phänomen des Gedenktourismus und den damit zusammenhängenden ritualisierten Handlungs- und Verhaltenschoreographien für Gedenkorte, die der Roman kritisch in den Blick nimmt. Erzähltheoretisch bleiben all die Episoden, die über Besuche von Gedenkstätten berichten, mehrfach vermittelt, sie kommen demnach kaum in die Nähe des diskursiven Romanzentrums. Strukturell ist das Verfahren der Parataxe anschlussfähig für neue thematische, jeweils aktualisierte Inhalte. Für einen aktualisierten Umgang mit Nationalsozialismus und Holocaust entwickelt Hellblau einerseits einen idiosynkratischen Code nach dem Muster popkultureller Integrations- und Ausschlussbewegungen. Dessen Kenntnis bedarf es, um diesen popkulturellen Zugang von Hellblau zur historischen Thematik nachzuvollziehen und produktiv zu machen. Relevant und kritisch ist dieser Code, der sich durch das Stichwort ›Herder‹ entschlüsseln lässt, weil die damit verknüpften Inhalte Kritik an gesellschaftspolitischen Ausgrenzungspraktiken üben. Andererseits dient das manische Sprechen der Figuren darüber, ob und wie im Techno Bedeutung, Sinn oder Erzählung generiert werden oder wie und ob Techno auf andere Verfahren der Verknüpfung, der Präsenz oder Atmosphäre im Sinne einer intensiven Gegenwärtigkeit abzielt, als formal poetisches Modell für einen angemessenen, aktualisierten Umgang mit Nationalsozialismus und 511 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie (Editorisches Nachwort). Frankfurt am Main 1970, S. 541.

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Holocaust. Dieser besteht in solch einer parataktischen, konzentrischen, nicht narrativen Darstellung, bei der, so Meinecke in einem Interview, »nur eine Silbe lang […] die Syntax von etwas ganz anderem«512 sichtbar wird. Der Holocaust wird zum Loop, der die rhythmische Basis des Romans darstellt, auf der jüdische Identität nicht zur Opfernarration der Vernichtung reduziert, die historische Tatsache des Holocaust jedoch auch nicht aus der jüdischen Selbsterzählung gestrichen wird. Vielmehr werden die individuellen und kollektiven Erfahrungen der Geschichte für eine kulturell-musikalische Neuschreibung jüdischer Identität produktiv gemacht. Die Einbettung des Holocaust in das Romangefüge folgt damit keinen narrativen Regeln der Kohärenz oder der Sinnstiftung, der Roman findet vielmehr neue Verknüpfungsregeln, eine andere Syntax, wie sie von Lyotard gefordert werden. Beide Romane erzeugen so einen unabschließbaren Diskurs, der sowohl durch die Materialfülle und -komplexität in Hellblau als auch durch die zirkuläre Romanstruktur von Faserland die Rezipierenden zu einer unablässig aktiven Auseinandersetzung und Relektüre auffordert. So vermag die Relektüre zugleich immer neue Sinnperspektiven zu eröffnen und deren Sinn aufzuschieben, um den Diskurs über die Vergangenheit nicht abbrechen zu lassen.

512 Brombach/Rüdenauer, Gesampeltes Gedankenmaterial, o. S.

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Teil II: Den Nationalsozialismus spielen/ Mit dem Nationalsozialismus spielen513 Der zweite Teil wechselt den Schauplatz in mehrfacher Hinsicht: Zunächst kommen mit dem Comic und einem Kunstwerk zwei andere Medien und mit ihnen neue Diskurse in den Blick. Nahm der erste Teil unter anderem die kulturellen Rahmenbedingungen, die den Erinnerungsdiskurs bestimmen, kritisch in den Blick, um dem kulturellen Gedächtnis aktualisierte, parodistisch-disseminative Zugänge zur deutschen Vergangenheit hinzuzufügen, stehen hier zwei zentrale, ikonische Topoi des Nationalsozialismus im Fokus: erstens die Figur Hitlers und zweitens der Topos ›Auschwitz‹ bzw. die Konzentrations- und Vernichtungslager als verdichtetes Symbol für die Gewalttaten der Nationalsozialisten. Walter Moers’ Adolf-Comics (1998, 1999 und 2006) arbeiten sich an den vielfältigen symbolischen Aufladungen, De- und Re-Semantisierungen des Hitlerbildes ab. Deutlich wird dabei die in der stetigen Wiederholung des Topos entstehende Distanzierung, so dass die Dauerpräsenz zu einem Wechselspiel zwischen provokativem ›Schreckgespenst‹, der Etablierung eines selbstreferentiellen Kontexts und semantischer Bedeutungslosigkeit in Form von »›empty‹ signifiers«514 führt. Zbigniew Liberas Arbeit Lego. Concentration Camp (1996) lotet die darstellerischen Restriktionen bei der künstlerischen Repräsentation eines Konzentrationslagers aus. Gesteigert wird die kritische Auseinandersetzung mit den Darstellungskonventionen des Holocaust durch die Wahl des Spielzeugs Lego als Material. Mit der Thematisierung von Spielzeug stößt das Kunstwerk eine Debatte über Manipulation durch Industrieprodukte einerseits und über eine (angemessene) Holocaust-Pädagogik andererseits an. Liberas Arbeit ist als kritische Betrachtung erinnerungspolitischer Bildungsarbeit in Polen aus der Perspektive der nachgeborenen Generation einzuschätzen. 513 Die Überschrift entlehne ich einem Aufsatz von Ernst van Alphen: Playing the Holocaust and Playing with the Holocaust. In: Iris Roebling-Grau, Dirk Rupnow (Hg.): ›Holocaust‹-Fiktion. Kunst jenseits der Authentizität. München 2015, S. 151–161. 514 Stefan Hirt: Adolf Hitler in American Culture. National Identity and Totalitarian Other. Paderborn, München u. a. 2013, S. 572.

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Teil II: Den Nationalsozialismus spielen/ Mit dem Nationalsozialismus spielen

Moers’ und Liberas Arbeiten thematisieren Nationalsozialismus und Holocaust im Rahmen massenindustrieller Produktion und begegnen dem Vorwurf der Amerikanisierung und Trivialisierung Hitlers und des Holocaust durch ihre Struktur und Materialwahl. In ihrer Kritik an ikonischen Motiven und Topoi im Erinnerungsdiskurs und ihrer Entlarvung als vereinfachender Abwehrmechanismus und häufig distanzierend-sakralisierender Umgang mit der deutschen Vergangenheit öffnen beide Arbeiten den Diskurs durch ihre Konzeptionen auf eine aktive Rezeption hin. Damit bieten sie Anlass, ihre Werke gerade auch im Kontext von Fragen nach einer spezifischen Didaktik des ästhetisch-geschichtlichen Lernens zu diskutieren. Die in Faserland und Hellblau schon angelegte Überantwortung der Einschätzung sprachlicher Aussagen und Standpunkte an die Leser:innen wird hier noch gesteigert. Moers’ und Liberas Arbeiten und die durch sie angestoßenen Diskurse, Motive und Narrative sind derart konzipiert und inszeniert, dass sie den Betrachter auffordern, sich dazu – spielerisch – zu verhalten und selbst in ein – imaginäres – Playacting im Sinne des Do-it-yourself einzutreten. Der von Klaus Scherpe 1996 konstatierte neue Parameter des Erlebens – etwa wenn der Protagonist von Faserland sich in der Vitrine des Kinos mit einem Stahlhelm gespiegelt sieht und sich als Soldat imaginiert oder wenn Norman in Hellblau vermutet, »Auschwitz-Birkenau 2000 ganz einfach nicht mehr gewachsen zu sein« (H 313) und damit eine emotionale Beteiligung gerade ablehnt – wird, wie in den beiden Romanen des ersten Teils schon ansatzweise vollzogen, in den im zweiten Teil untersuchen Arbeiten nun explizit durch die Aufforderung zum kreativen Erzeugen abgelöst. Die Überantwortung der erzählerischen Ausformung der historischen Fakten und Figuren an die Rezipierenden überlässt es diesen, sich für eine mehr oder weniger informierte, realistische, humorvolle oder fundierte Darstellung entscheiden zu können und sich dadurch der ästhetischen Konstruktionsarbeit bewusst zu werden.

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Versuchen Sie es selbst – Walter Moers’ Adolf-Comics »Heute musst du realistisch schreiben, wenn du ernst genommen werden willst. […] Ich meinerseits schreibe humoristisch mit einem Zug ins Groteske.«515

Art Spiegelmans bahnbrechender Comic Maus516 wird gemeinhin als Vorreiter angesehen, der das Medium Comic für die Thematik des Holocaust517 geöffnet und damit zugleich der wissenschaftlichen Seriosität zugeführt hat. Derart ›domestiziert‹ wurde das Medium als »›Neunte Kunst‹ in den traditionellen bürgerlichen Kunstbegriff eingeordnet«518 und seine konstitutive »parodistische Ästhetik«519 weitgehend ausgeblendet. Es ist das Verdienst Ole Frahms, diesen »strukturell parodistische[n] Zug der Comics«520 für die Forschung herausgearbeitet zu haben. Frahm greift zur Bestimmung des Comics ebenfalls auf Hutcheons Definition der Parodie als »Wiederholung mit kritischer Distanz, die eher Differenz als Ähnlichkeit markiert«521 zurück. Das Medium ermöglicht aufgrund seiner charakteristischen, hybriden Eigenschaften andere Zugangs515 Edgar Hilsenrath: Die Abenteuer des Ruben Jablonski. München 1999, S. 214–216. 516 Art Spiegelman: Maus: a survivor’s tale. I: My Father Bleeds History. New York 1986. Ders.: Maus: a survivor’s tale. II: And Here My Troubles Began. New York 1992. 517 Maus ist keineswegs der erste Comic, der sich mit der Thematik beschäftigt. Schon 1955 hat Bernard Krigstein in seinem kurzen Comic Master Race den Holocaust in diesem Medium bearbeitet. Bemerkenswerterweise spielt schon diese frühe Darstellung mit der Verunsicherung von Täter- und Opferrollen anhand der Figur des Lagerkommandanten Carl Reissmann: Die anfänglich nicht identifizierte Figur sieht sich durch das Auftauchen einer Person aus seiner Vergangenheit plötzlich mit Erinnerungen an die nationalsozialistische Gewalt in den Konzentrationslagern konfrontiert. Die Leser:innen werden durch die Inszenierung dazu verleitet zu glauben, es handle sich um einen Überlebenden eines Konzentrationslagers, den seine Erinnerungen heimsuchen. Der Comic löst jedoch auf der vorletzten Seite auf, dass es sich um den Lagerkommandanten Carl Reissmann handelt. Krigstein macht damit sehr früh die Täterperspektive zum Zentrum seiner Erzählung. 518 Jonas Engelmann: Gerahmter Diskurs. Gesellschaftsbilder im Independent-Comic. Mainz 2013, S. 20. 519 Ole Frahm: Die Sprache des Comics. Hamburg 2010, S. 11. 520 Ole Frahm: Die Zeichen sind aus den Fugen. In: Neue Rundschau (2012) H. 3, S. 8–26, hier S. 10. 521 Frahm, Die Sprache des Comics, S. 37. Er zitiert hier in deutscher Übersetzung aus Linda Hutcheon: A Theory of Parody. The Teachings of Twentieth-Century Art Forms. New York, London 1986, S. 6.

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und Darstellungsweisen als die auf Realismus basierenden Repräsentationen, die den allgemeinen Diskurs über die Darstellungsmöglichkeiten des Holocaust bestimmen und fordert so – das ist mit Spiegelmans Comic im öffentlichen Diskurs deutlich geworden – die von Terrence Des Pres zusammengefassten Parameter zur Darstellung des Holocaust522 grundlegend heraus. Dies geschieht vor allem durch die grundlegende Selbstreferentialität des sich permanent durch Zerstreuung und Wiederholung konstituierenden Mediums in Abfolgen von Einzelbildern und Texten. Durch den Verweis auf das jeweilige Vorher und Nachher wird die Referentialität auf ein Äußeres oder ein Original in Frage gestellt: Der parodistische Zug von Comics wird durch ihre Konstellation von Schrift und Bild in Sprechblase und Blocktext mit der Zeichnung deutlich, die im Panel zugleich integriert werden und als Einheit erscheinen können und eigenständig bleiben und darin die jeweilige Referentialität der Zeichen in Frage stellen – und damit ihre Wahrheit.523

Ungeachtet der auch in Maus deutlich erkennbaren parodistischen Züge vor allem durch die Verwendung von Tierköpfen und -masken für die sonst menschlichen Figuren,524 entstehen im Anschluss an Spiegelmans Arbeit unzählige Comics und ›Graphic Novels‹,525 die sich mit der Thematik beschäftigen. In den meisten Fällen geht es noch immer um das Ringen um einen angemessenen darstellenden Zugang, um Fragen nach der Erinnerung, vor allem was die Generation der Nachgeborenen betrifft,526 oder um fiktionale Geschichten, die durch darstellerische Mittel oder durch historische Figuren auf Authentizität abzielen und einen geschichtsdidaktischen Anspruch527 verfolgen. Die sie be522 Terrence Des Pres: Holocaust Laughter. In: Berel Lang (Hg.): Writing and the Holocaust. New York, London 1988, S. 216–233, vor allem S. 217. 523 Frahm, Die Zeichen sind aus den Fugen, S. 10. 524 Spiegelmans Comic-Kunst ist wesentlich von der Comictradition der Underground Comix geprägt. Auch Walter Moers erste Comics erschienen im Comic-Fanzine PLOP und anderen Satiremagazinen und damit außerhalb des feuilletonistischen Mainstreams. 525 Die Graphic Novel trete, so die sarkastische Lesart Ole Frahms, als eine Art Retterin des Mediums auf und stelle »gegen allen Unbill die heroische Frühzeit des Comics wiederher […], indem sie graphische Brillanz, erzählerische Ambition und damit die Seriosität der Form wiederherstellt.« (Frahm, Die Zeichen sind aus den Fugen, S. 9). Zugleich bedeutet die ›Erfindung‹ der Graphic Novel ein neues Format für das Medium – der Comic wird nun als Buch vertreibbar, was sowohl neue Distributionswege als auch ein erweitertes, vielfältigeres und vor allem bildungsbürgerliches Zielpublikum zur Folge hat. Den Begriff ›Graphic Novel‹ hat Will Eisner 1978 für seine unter dem Titel A Contract with God erschienen Kurzgeschichten eines jüdischen Mietshauses verwendet. 526 Etwa Michel Kichkas Le deuxième géneration. Ce que je n’ai pas dit à mon père (2012) oder Rutu Modans Das Erbe (2013). 527 Insbesondere ist hier der als Geschichtscomic bezeichnete Band Die Suche von Eric Heuvel (2007) zu erwähnen, der vom Anne-Frank-Institut in Amsterdam herausgegeben und gezielt als Unterrichtsmaterial konzipiert wurde. Ebenfalls auf Authentizität ausgerichtet ist der auf dokumentarischem Material und Recherchen beruhende, im Stil einer realistischen

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gleitenden Debatten schließen sich an die Auseinandersetzung mit literarischen Darstellungen des Holocaust an. Durch Spiegelmans Comic etablieren sich neue Darstellungskonventionen, die den bestehenden Comic-Konventionen einerseits und den Anforderungen, welche die Thematik mit sich bringt, andererseits entspringen und auf einen komplexen und vielschichtigen Einsatz von Text und Bild setzen.528 Walter Moers’ Comic-Kunst hingegen entstammt der Tradition der frühen funnies529 und stellt damit sowohl bezüglich ihres Selbstverständnisses als Unterhaltung jenseits einer Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Hoch- und Popkultur als auch in formaler Hinsicht einen Gegenpol zur Graphic Novel dar. Figurenzeichnung, absurde Handlungsstränge ohne zwingende Kohärenz, die thematisierten Stoffe und die Form der Darbietung in relativ kurzen, seriellen Fortsetzungsgeschichten erinnern an die Form und Ästhetik der zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Zeitungen veröffentlichten Comic-Strips. In ihnen – den frühen Comic-Strips sowie Moers’ Adolf-Comics – ist die »parodistische Ästhetik«530 des Comics noch unmittelbar sichtbar. Sie [reproduziert und reflektiert zugleich] die rassistischen, sexistischen und klassenbedingten Stereotypen […] aufgrund ihrer immanent erkenntniskritischen Anlage […] – durch den operationalisierten Modus der Wiederholung in der Konstellation von Bild

Schwarz-Weiß-Zeichnung gehaltene französische Comic Auschwitz von Pascal Croci aus dem Jahr 2000. Der Gesichtsausschnitt der Figur auf dem Titelblatt lässt jedoch eher an den typischen Manga-Stil denken. Der Comic scheut keineswegs gängige Konventionen und schöpft aus dem kulturellen Bildgedächtnis des Films, wenn beispielsweise ein Nazi eindeutig in Anlehnung an F.W. Murnaus Nosferatu (1922) gezeichnet ist. 528 Für einen Überblick über Holocaust-Darstellungen und die damit zusammenhängende Kontroverse siehe Marco Behringer: Der Holocaust in Sprechblasen. Erinnerung im Comic. Marburg 2009; Martin Frenzel: Über Maus hinaus. Erfundene und biografische Erinnerung im Genre des Holocaust-Comics. In: Ralf Palandt (Hg.): Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus im Comic. Berlin 2011, S. 206–283; Ole Frahm: Gespaltene Spuren. Der Holocaust im Comic nach MAUS – A Survivor’s Tale. In: Iris Roebling-Grau, Dirk Rupnow (Hg.): ›Holocaust‹-Fiktion. Kunst jenseits der Authentizität. München 2015, S. 199–218; Markus Streb: Early Representations of Concentration Camps in Golden Age Comic Books. In: Scandinavian Journal of Comic Art 3 (2016). http://sjoca.com/wp-content/uploads/201 7/02/SJoCA-3-1-03-Streb.pdf, abgerufen am 07. 04. 2022; Ralf Palandt: NS-Konzentrationslager im Horrorcomic der 1950er Jahre – ein Zeitdokument? In: Fifties HORROR! o. J. http://fifties-horror.de/wissen/der-holocaust-im-horrorcomic-der-1950er-jahre-ein-zeitdo kument, abgerufen am 07. 04. 2022. 529 Klaus Schikowski beschreibt den Begriff ›Funny-Comic‹ folgendermaßen: »Humoristische Comic-Geschichten, die zusätzlich ein bestimmter grafischer Stil auszeichnet. Der Funny ist geprägt von rundlichen Formen. Als Unterkategorie[…] gibt es […] auch den Semi-Funny, eine Spielart, die (karikaturhaft verzerrte) realistische Elemente enthält.« (Ders.: Der Comic. Geschichte, Stile, Künstler. Stuttgart 2014, S. 289). 530 Frahm, Die Sprache des Comics, S. 11.

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Versuchen Sie es selbst – Walter Moers’ Adolf-Comics

und Schrift einerseits, die Serialisierungen von Bildern, Figuren und Geschichten andererseits.531

Walter Moers’ Serie der Adolf-Comics (1998, 1999 und 2006)532 erinnert durch die Abfolge nummerierter Episoden an das Comic-Heft. Die einzelnen Fortsetzungserzählungen sind zwar in einem Band zusammengestellt und in dieser Form auch zuerst veröffentlicht,533 aber visuell eindeutig voneinander durch ganzseitige Trennblätter, einen Teaser am Ende sowie eine schriftliche Zusammenfassung des vorher Geschehenen zu Beginn der jeweils folgenden Geschichte getrennt. Jeder Geschichte geht ein Titel-Panel voran, in dem der Schriftzug »Adolf, die Nazi-Sau« zu lesen ist. Darunter findet sich ein schwarzes Hakenkreuz in einem weißen Kreis, vor dem das Profil Hitlers zu sehen ist. Seine Sprechblase titelt: »Äch bin wieder da!« (siehe Abb. 1). In dieser bejahenden Hommage an die frühen Betriebswege des Comics als Erzählung mit unendlichen Fortsetzungsmöglichkeiten wird die mit Adolf Hitler verbundene Aura von Faszination, Katastrophe und historischem Exzeptionalismus mit kulturindustrieller, massenmedialer Unterhaltung und leichtem Konsum im Format des in den 1930er Jahren entstandenen Superhelden-Comics verbunden. Die AdolfComics parodieren die zunehmende Medialisierung und kulturindustrielle Vermarktung der Figur Hitlers und zeigen die Verkürzungen der damit einhergehenden diskursiven Verhandlungen auf.534 Die folgende Analyse legt zunächst die Inszenierung Hitlers als Superheld dar. Es folgt das Freilegen des kritischen Potentials der ersten beiden Adolf-Bände. Im Fokus stehen dabei verschiedene Motive der diskursiven Verhandlung: Erstens wird Moers’ Verhandlung des Umgangs mit Zeichen und Symbolen des Nationalsozialismus dargelegt. Zweitens werden die diskursiven Topoi der geschichtlichen Monokausalität, der Nivellierungstendenzen und der problematischen 531 Ebd., S. 12. 532 Walter Moers: Adolf. Äch bin wieder da!! Frankfurt am Main 1998; Ders.: Adolf. Äch bin schon wieder da! Teil 2. Frankfurt am Main 1999 und Ders.: Adolf. Der Bonker. Eine Tragikomödie in drei Akten. München 2006, ohne Paginierung. Nachweise im Folgenden im Fließtext unter den Siglen ›A I‹, ›A II‹ und ›B‹ sowie unter Angabe der Geschichtentitel (A I und A II) bzw. des Aktes (B). 533 Lediglich die erste Geschichte »Ein Abend mit mehreren Symbolen« war zuvor (1997) in der Satirezeitschrift Titanic veröffentlicht worden. Der große öffentliche Zuspruch veranlasste Moers dazu, die Adolf-Bände zu schaffen. 534 Moers’ »Comic-Reihe […] ist zum Symbol des Umgangs der jungen Generation mit dem Mythos Hitler geworden. Seine Abenteuer in der medialen Postmoderne, zwischen Fernsehkochstudio und sexuellen ›Dienstleistungen‹ auf St. Pauli, sind einerseits Ausdruck der Ferne, in die die Zeit des Dritten Reichs für die jüngste Generation gerückt ist, aber andererseits auch für die kulturindustrielle Vermarktung der Medienfigur Hitler.« (Manuela Lück: Das Lachen der Schwachen über das Schreckliche? In: Matthias Theodor Vogt, Jan Sokol, Beata Ociepka u. a. (Hg.): Die Stärke der Schwäche. Frankfurt am Main 2009, S. 103– 126, hier S. 111).

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Abb. 1: ›Superheld‹ Adolf, die Nazi-Sau, Titel-Panel.

Überblendung von Fiktion und Realität anhand der von Moers kritisch reproduzierten, konventionalisierten Darstellungsstrukturen in den Blick genommen. Es folgen drittens Ausführungen zum seriellen Charakter der Comics, die viertens durch den Einsatz von Komik als kritische Verfahren der Öffnung und Unterwanderung konventioneller Darstellungsgewohnheiten lesbar werden. Abschließend folgt eine Analyse des dritten Adolf-Bands Der Bonker, der als parodistische Kritik an Oliver Hirschbiegels Film Der Untergang auf eine narrative Selbstbestimmung der Rezipierenden und die Entmythisierung der Ikone Hitler zielt.

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3.1

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Adolf, der Superheld

In der Geschichte der frühen (Superhelden-)Comics wird die Figur Hitlers meist als Chiffre des unmenschlichen, absoluten Bösen, zugleich aber als lächerlichkomische Figur inszeniert, um die Unbesiegbarkeit des Superhelden dadurch umso eindrucksvoller zu demonstrieren.535 Die tatsächliche Gewalt des Nationalsozialismus bleibt überwiegend ausgeblendet und erschöpft sich in der sublimen und aus dem Fantasy-Genre genährten Vorstellung des Sinnbilds, das die schlimmste Gewalt abstrakt und gleichzeitig verschleiernd in sich verkörpert.536 Hitler entsprach hier [d.i. im amerikanischen Comic der Kriegszeit, K.K.] ganz dem Bild des hysterischen Teppichbeißers, eine Mischung aus Mad Scientist und Welteroberer […], die Erfüllung der Fantasie der populären Kultur vom Weltusurpatoren und zugleich seine triviale Enttäuschung. Den Verschwörungsfantasien gelang es nie so recht, ausgerechnet diesen Mann in ihr Zentrum zu rücken. Noch als furchtbare blieb er eine vor allem komische Figur.537 535 Als Prototyp dafür kann Captain America angesehen werden, da er mit seinem ersten Auftreten als Gegner der Nationalsozialisten und Kämpfer für das amerikanische Ideal konzipiert wurde: Das Titelbild des ersten Hefts (Captain America Comics #1 von 1941) zeigt ihn, wie er Hitler einen Faustschlag versetzt. 536 »When popular culture has created an acceptable place for Nazis as humorous sidekicks and nasty antagonists, it is only through removing them from the horrors of war and extermination into outer space or elsewhere. By placing Nazis in a historical or space/time vacuum, they become purified. What remains ft he nasty Nazi in these depicitions is their simplemindedness, which is humorous precisely because this is an inversion ft he accepted idea of Nazis as ruthless, violent, and evil.« (Marc Hieronimus: Hitler is fun: Sixty Years of Nazism in Humorous Comics. In: Sara Buttsworth, Maartje Abbenhuis (Hg.): Monsters in the Mirror. Representations of Nazism in Post-War Popular Culture. Santa Barbara 2010, S. 75– 100, hier S. 89). Eine Ausnahme ist die Figur Adolf Hitler Clone aus dem DC-Universum New Earth von 1986. Die Figur aus der Geschichte Adventures of the Outsiders # 33–35 ist ein Klon Adolf Hitlers mit dessen Aussehen, aber ohne dessen Erinnerungen, der im Auftrag des neuen Naziführers Baron Bedlam geklont wurde, um erneut zu herrschen. Von seinen Erschaffern wird er gezwungen, Nazi-Propaganda und Bilder vom Holocaust anzuschauen. Dies treibt ihn jedoch dazu, Selbstmord zu begehen aus Angst, wie der ursprüngliche Adolf Hitler zu werden. Hier zeigen einige Panels die mittlerweile ikonische Darstellung abgemagerter, mit einem Judenstern gezeichneter Gefangener in einem Konzentrationslager. 537 Georg Seeßlen: Das zweite Leben des »Dritten Reichs«. (Post)nazismus und populäre Kultur. Teil I. Berlin 2013, S. 146. Diese ›Unfähigkeit‹, Hitler in seiner tatsächlichen Gefährlichkeit darzustellen, hat den positiven Nebeneffekt, dass die frühen Comics überhöhende Darstellungen Hitlers vermeiden und Hitler überwiegend der Lächerlichkeit preisgeben. Ähnliches gilt für die frühen Zeichentrickfilme wie beispielsweise Der Fuehrer’s Face von 1942. »The way we laugh about the Nazi past has changed over time. In the 1950s, war crimes and war-crime trials were too raw and near, and comics, at that time mainly addressed to younger people, only made the most careful allusions to Nazism. After the 1960s’ changes in comic readership and Nazi representation in popular media, it became possible to overtly depict Nazis even in humorous comics, as long as their most atrocious crimes were left out. Today artists know the varieties and perils of Nazi humor and play with them in a much more relaxed manner. Even though not (yet?) considered a subject like any other, Nazism

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Adolf, der Superheld

Moers’ Comic leistet in dieser Hinsicht Einzigartiges, wenn er die Konturierung der Hitler-Figur aus den Superhelden-Comics der Grundlage nach aufrechterhält, den ultimativen Superschurken aber zum Protagonisten seiner Comics macht. Adolf ist der ›Superheld‹ der Comic-Reihe, er prangt allein auf dem Cover. Genaugenommen aber ist schon das Cover von der für Kunstform Comic typische Konkurrenz der verschiedenen ›Zeichensysteme‹ Text und Bild und die durch sie erzeugte Oszillation von Zerstreuung und Wiederholung des Gleichen sowie der Spaltung zwischen Zeichen und Gegenstand geprägt: Die obere Hälfte wird vom Schriftzug ›Adolf‹ in dicken schwarzen Lettern eingenommen, die drohend über der kleinen Zeichnung schweben. Der gezeichnete Adolf ist am unteren Rand bis zur Hüfte im Profil, den linken Arm zum (Hitler-)Gruß erhoben, zu sehen, so dass die Größenverhältnisse nahelegen, er müsse sich gegen den Schriftzug behaupten. Eine Sprechblase verkündet im Verweis auf zirkuläre Serialität: »Äch bin wieder da« (Adolf I, Cover). Bevor die Leser:in das Buch aufschlägt, sind die Verhältnisse von Inszenierung und Referenz, von Signifikant und Signifikat sowie von serieller Re-Produktion und Einzigartigkeit thematisiert: Adolf, der Superheld, ist entgegen des formalen Settings als Protagonist keine mediale, sensationelle Neuheit wie es Superman538 und Batman mit ihrem ersten Erscheinen in der fiktionalen Comic-Welt waren und wie es der überdimensionierte Titelname suggeriert. Der Untertitel konterkariert diese auf Sensation setzende Inszenierungsweise durch Hitlers lakonische Bemerkung, ›wieder da‹ zu sein.539 Zugleich erzeugt der Satz aber durch die Referenz zur historischen Person Adolf Hitlers eine Szenerie der Bedrohung, die trotz der Zurücknahme durch den diminuierenden Zeichenstil nicht gänzlich verschwindet: Die Vorstellung einer tatsächlichen Wiederholung der historischen Ereignisse hängt – dem Schriftzug gleich – wie ein Damoklesschwert über dem gesellschaftlichen Imperativ des ›Nie wieder‹540.

has nonetheless attained a degree of normalization or trivialization, insofar as today the majority of comic readers do not feel offended by the grotesque humor of comic authors such as Walter Moers, Grégor Jarry or Otto T.« (Hieronimus, Hitler is fun, S. 77). 538 Der nicht nur von den amerikanischen Juden Jerry Siegel und Joe Shuster erschaffen wurde, sondern sich zudem als der prototypische Jude lesen lässt, siehe dazu die Ausführungen von Harry Brod: Is Superman Jewish? How Comic Book Superheroes Came to Serve Truth, Justice, and the Jewish-American way. New York 2012. 539 Auch der Status als Untertitel ist durch die Erscheinungsform der Sprechblase nicht unmittelbar klar. In der Forschung werden die Comics daher sehr unterschiedlich bezeichnet. Der zweite Band führt in der Notation der CIP-Einheitsaufnahme jedoch »Adolf – ›Äch bin schon wieder da‹« (A II, Innenseite Titelblatt) als Gesamttitel an. Ich folge dieser Notation auch für den ersten Band. 540 Die wohl bekannteste und früheste Formulierung dieser Forderung entstammt Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz. In: Ders.: »Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse«. Ein philosophisches Lesebuch. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1997, S. 48–63:

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Wie viele der Superhelden führt auch Adolf ein Doppelleben, das mentalitätsgeschichtlicher Natur ist. Konkreter gesagt: Er muss die Diskrepanz zwischen seinem vergangenen Leben (als Diktator und Kriegsverbrecher) und dem gegenwärtigen Alltagsleben ausbalancieren. Er kommt zwar nicht von einem anderen Planeten wie Superman, entstammt aber einer anderen Zeit und muss sich in die Gegenwart einpassen. Anders aber als die Superhelden, die ihre Kräfte zu beherrschen lernen müssen, sind die Entgleisungen Adolfs keine tatsächlichen Superkräfte, sondern Wutanfälle.541 Allerdings wird er ähnlich ungeschickt und tölpelhaft dargestellt wie viele Alter Egos der Superhelden542 und er muss seinen Alltag ebenso beschwerlich meistern wie alle anderen ›normalen‹ Menschen. Die übernatürlichen Kräfte in den Superhelden-Comics sind symbolische, überdimensionierte Realisationen menschlicher Wünsche, Eigenarten und Sehnsüchte. Als solche stellen sie »menschliche Kleinigkeiten im Vergrößerungsglas von Heldengeschichten«543 dar und schildern eine soziale und psychologische, also von Menschen gemachte, nicht einfach nur natürliche Wirklichkeit […]. Die Vergrößerungsgläser der populären Kunst übersteigern und verzerren Affekte, Emotionen und Fantasien, bis sie aussehen, als wären sie Tatsachen.544

Walter Moers kehrt im Format des Superhelden-Comics die Richtung der Verzerrung um: Aus überhöhenden Vergrößerungs- werden Verkleinerungsgläser. Die Superkraft Hitlers beschränkt sich einerseits auf die Bedeutsamkeit, die andere ihm als Zeichen zuweisen, und zeigt sich andererseits in unkontrollierten Wutanfällen. Beide Aspekte aber versetzen Adolf in eine für einen Superhelden untypische, eher passive Position. Das »Abziehbild des Hitler aus der Popkultur, die Inkarnation des Bösen, das eindimensionale Pandämonium, die mythische Figur«545 erfährt eine komische, popkulturell durchtränkte Schrumpfkur. Dath merkt zurecht an, dass eine solche »Übertreibung nicht notwendig im Gegensatz zur Auseinandersetzung mit der (vor allem sozialen und psychologischen, also menschlichen) Wirklichkeit steht, sondern sie gegenüber der planen Abschrift

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»Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung« (Ebd., S. 48). Im Gegensatz zu Hulk – dem von Stan Lee und Jack Kirby 1962 erschaffenen Superhelden aus dem Marvel-Universum, der sich, sobald er wütend wird, in ein riesengroßes, mächtiges grünes Monster verwandelt, der seine Kräfte aber zu kontrollieren lernt – bleiben die Wutausbrüche bei Adolf stets unkontrolliert. Peter Parker etwa, Alter Ego von Spider-Man, wird als ungeschickter und unbeliebter Streber dargestellt. Clark Kent, Alter Ego von Superman, vermag es zunächst nicht, seine Liebe Lois Lane zu erobern, da diese in Superman verliebt ist. Dietmar Dath: Superhelden. Stuttgart 2016, S. 9. Ebd., S. 9. Daniel Erk: So viel Hitler war selten. Die Banalisierung des Bösen oder Warum der Mann mit dem kleinen Bart nicht totzukriegen ist. München 2012, S. 125.

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Adolf, der Superheld

des Vorhandenen entscheidend verbessern kann.«546 Die plane, cartoonhafte Zeichnung der Figur Adolfs zeigt formale Ähnlichkeit zum Stil der Pop-Art, deren Verfahren Roland Barthes als Verwandlung von Bildern zu Tatsachen beschreibt. Analog dazu stellt Moers’ Comic den wirkmächtigen Tatsachencharakter der diskursiven Zeichen des Nationalsozialismus, insbesondere der Figur Hitlers, aus. Barthes betont, ähnlich wie es Dath in Bezug auf SuperheldenComics konstatiert, dass die Pop-Art sehr oft die Wahrnehmungsebene [verändert]: Sie verkleinert, vergrößert, entfernt, rückt näher, dehnt das vervielfachte Objekt auf die Dimensionen einer Tafel aus oder bläht es auf, als würde es durch eine Lupe betrachtet. Sobald die Proportionen verändert sind, taucht aber die Kunst auf.547

Zur Debatte steht nicht der historische Hitler, sondern vielmehr der gesellschaftliche Umgang mit der Person Hitlers, ihrer stets abgeleiteten, medialen Präsenz und Inszenierung sowie ihrer Vereinnahmung durch wissenschaftliche und popkulturelle Diskurse, die Moers parodistisch übersteigert und verzerrt reproduziert.548 Aus dem Einspielen geschichtlicher Referenzen und der formalästhetischen Bearbeitung des Mediums in Form von »Zerstückelung von Geschichte in Einzelteile bzw. -bilder«549 entsteht eine irritierende Reibung, die als Kritik »an der Vorstellung einer einheitlichen Identität oder einer Essenz hinter dem Zeichen«550 lesbar wird. Denn die hybriden Zeichen des Comics [imitieren einander] aufgrund ihrer Selbstreferentialität […] im Anspruch […], ein Außerhalb der Zeichen (›ein Original‹) zu bezeichnen. Die strukturelle Parodie der Comics, die Schrift und Bild in ihrer materialen Unterschiedlichkeit neben- und miteinander konstelliert, parodiert eben diesen Anspruch auf eine Wahrheit außerhalb der Zeichen und lenkt den Blick auf die Konstellation der Zeichen selbst.551

Die folgende Analyse zeigt, dass die ersten beiden Adolf–Bände schon von Beginn an von der Hybridität und dem Widerstreit der verschiedenen Zeichen durch546 Dath, Superhelden, S. 9. 547 Roland Barthes: Die Kunst, diese alte Sache. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt am Main 1990, S. 207–215, hier S. 211f. 548 Dies entspricht Affonso Romano Santanas Auffassung der Parodie, die Valéria Brisolara Salomon beschreibt als »lens that exaggerates the details in such a way that it can convert a part of the focused element into a dominant element, inverting it; this way, we have a part replacing the whole. In this image, the focus is once more repetition with a difference. […] parody would be an act of subordination against the symbolic« (Valéria Brisolara Salomon: The claim of postmodern parody. In: Canoas 13 (2006), S. 69–74, hier S. 71f.). 549 Engelmann, Gerahmter Diskurs, S. 10. 550 Ebd., S. 11. 551 Frahm, Die Sprache des Comics, S. 37. Frahm spricht im Zusammenhang einer »Geschichte des Comics unter dem Aspekt der Parodie« (Ebd., S. 38) davon, dass es eine »Geschichte der Konstellationen [wäre], die sich gängigen Verallgemeinerungen verschließen würde.« (Ebd., S. 38, Herv. K.K.).

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zogen ist. Das massenmediale Zeichen ›Adolf Hitler‹ wird dort parodistisch bearbeitet.

3.2

Adolf I und II – Die ewige Wiederkehr

Adolf. Äch bin wieder da!! beginnt mit einem zweiteiligen Vorwort, das verschiedene Beglaubigungstopoi reproduzierend ausstellt. Im ersten Teil erzählt eine homodiegetische Erzählstimme, dass überraschend Adolf Hitler zu Besuch kam. Wenn das einmal geschehen ist, wird man ihn so schnell nicht wieder los, die meisten europäischen Länder wissen ein Liedchen davon zu singen. Er erzählte mir von seinem Versuch, nach der Verjährung seiner Schuld ein neues Leben zu beginnen. Dies ist seine Geschichte. (A I, Vorwort)

Hier werden sowohl der Topos der Bescheidenheit, der Übermacht des Materials und der Figuren552 sowie – dem entgegengesetzt – vor allem der Topos der Beglaubigung und der Authentizität des Erzählten aufgerufen, wenn der Erzähler ›Walter Moers‹ betont, er sei lediglich getreuer Zeuge und Chronist der wahren Geschichte Adolf Hitlers. Der zweite Teil des Vorworts nimmt den Gestus der Authentizität durch einen Wechsel in den Konjunktiv zurück und weist das zuvor Gesagte als bloß zitierte Rede aus: »So oder so ähnlich könnte das Vorwort zu diesem Buch aussehen« (A I, Vorwort). Diese parodistisch zurückgenommene und durchkreuzte Figur der Authentifizierung findet sich immer wieder im Comic. So wird die Aussprache Hitlers in einer Art Lautschrift wiedergegeben,553 um den typischen Tonfall und die Ausspracheweise Hitlers unmittelbar zugänglich zu machen. Solche vorgeführten, authentifizierenden Annäherungen an Oberflächenrealismus (in Aussehen oder Sprache) aber führen im Medium Comic zu einer verfremdenden Übersteigerung. ›Moers‹ fährt im Vorwort fort: »In Wirklichkeit habe ich dieses Buch gemacht, weil Adolf Hitler so einfach zu zeichnen ist. Man braucht dafür nur sechs kleine Zutaten« (A I, Vorwort),554 die darunter durch Emblem und Bezeichnung zu 552 Diese Geste wird im zweiten Teil als »das übliche, abgebrühte humoristischen Gefasel vom Zeichner, der zum Opfer seiner eigenen Kreation geworden ist« (A I, Vorwort) ausgestellt. 553 Die Lautschrift der idiosynkratischen Aussprache Hitlers hat großen Anteil am entstehenden Witz. Hitlers Aussprache der Droge Crack ›klingt‹ schriftbildlich wie das Wort Krieg: »Do dommes Schwein!! Gäb’ mir Kräg!! Äch brauche Kräg!!« (A I, Sündige Vergangenheit). 554 Die Ausstellung Mirroring Evil: Nazi Imagery/Recent Art im Jüdischen Museum New York 2002 präsentierte verschiedene Werke, die sich ähnlicher Verfahren bedienen, wie etwa Ram Katzirs Your Coloring Book, das die Betrachtenden einlud, auf dokumentarischem Material beruhende Zeichnungen, die etwa Lager-Häftlinge zeigten, auszumalen, abzuwandeln oder zu ergänzen. Auch Roee Rosens Live and Die as Eva Braun (1995–1997) fordert die Be-

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Adolf I und II – Die ewige Wiederkehr

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sehen sind. Es handelt sich um Nase, Augen, Mund, Bart, Ohr und Frisur. Schon dieser Kommentar zielt auf die Reduzierung der Figur auf einige wenige wiedererkennbare Merkmale ab, die es ermöglichen, sie einer schnellen und einfachen (Massen-)Re-Produktion zuzuführen. Eine solch visuell klare und schnelle Wiedererkennbarkeit zeugt von einem hohen Grad an »Ikonibilität«555, die das Zeichen ›Adolf Hitler‹ aufweist. Die Aussage ist zugleich ein ironischer Kommentar über die gängige Auffassung des Autors als erfindungsreiches Genie, an deren Stelle Moers die Einfachheit des zu gestaltenden Gegenstands setzt und sie der Idee des Autors als talentierter Person, derer es bedarf, um ein künstlerisches ›Werk‹ hervorzubringen, entgegensetzt. Die Leser:innenanrede »Versuchen Sie es doch bei Gelegenheit auch einmal« (A I, Vorwort) unterstreicht diese Tendenz, fordert sie die Rezipierenden doch dazu auf, selbst tätig zu werden und ein eigenes Narrativ zu gestalten. Statt eines Beglaubigungsaktes, der die folgenden Ereignisse in ein authentisches Referenzverhältnis zur Wirklichkeit setzen würde, werden derartige Strategien zugunsten mehrfacher Fiktionalitätssignale und dem expliziten Verweis auf das Theater und das Rollenspiel aufgehoben. Der Reizreaktion einer potentiell gefährlichen und tabuisierten Nachahmung und Verbreitung faschistischer Symbolik und Ästhetik wird hier die ›Anleitung‹ einer Zeichenschule für Anfänger entgegengesetzt. Hierin wendet sich Moers zudem gegen Vermittlungsbemühungen, die den Themenkomplex mit didaktisierenden Maßnahmen der Aufklärung und Belehrung umstellen, wie es etwa der Geschichtscomic Hitler (1989) von Friedemann Bedürftig und Dieter Kalenbach beansprucht.556 Indem Moers den Rezipierenden die Werkzeuge für ein Do-ittrachtenden zu – zumindest mentaler – Aktivität auf. Die Installation lädt in vielfältigen Materialien vor allem aber durch einen Text, der die Betrachtenden als Kunden wirbt, ein, zur Eva Braun der letzten Tage im Führerbunker zu werden. Siehe dazu Norman L. Kleeblatt (Hg.): Mirroring Evil. Nazi Imagery/Recent Art. New Brunswick, London 2002. 555 Claus Leggewie: Zur Einleitung: Von der Visualisierung zur Virtualisierung des Erinnerns. In: Erik Meyer (Hg.): Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien. Frankfurt am Main/New York 2009, S. 9–28. Zur Analyse der Ikone Hitler in neueren popkulturellen Kontexten siehe Mirjam Gebauer: Intermediale Darstellungen Hitlers und kulturelle Ikonizität. In: andererseits – Yearbook of Transatlantic German Studies Vol. 7/8 (2018/19), S. 253–278. 556 Den Comic trifft derselbe Vorwurf, den auch die frühesten Nachkriegscomics in Deutschland traf: faschistoid zu sein und eine »Faschisierung der Wahrnehmung« (Seeßlen, Das zweite Leben des »Dritten Reichs« I, S. 146) vorzunehmen. Bedürftigs und Kalenbachs Comic versucht, »Adolf Hitler in Form eines ›analytischen‹ Comics darzustellen« (ebd., S. 152) und muss an diesem Anspruch zwangsweise scheitern, weil die Autoren mit den aufklärerischen Absichten ihres Comics »der faschistischen Inszenierung auf den Leim […] gehen, indem zum einen die Grundmythen seiner Entstehung übernommen werden und zum anderen seine ästhetische Identifikation direkt wiedergegeben wird.« (Ebd., S. 154) Ihr auf Ernsthaftigkeit und Realismus zielender Stil, der direkte historisch-didaktische Aufklärung betreiben will, reproduziert stattdessen die nationalsozialistische Ideologie in Text

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yourself-Produkt selbst in die Hand gibt, ermöglicht er diesen, sich den medial präsentierten Darstellungen durch eine eigene Variante der Inszenierung zu widersetzen, so dass das stereotype Verhältnis von passiver Rezeption und aktiver Einwirkung durch massenmediale Produkte zugunsten der Vorstellung eines »Prosumieren[s]«557 aufgebrochen werden.558 Den Diskurs um das Tabu der Darstellung setzt Moers so zugunsten der selbstbestimmten Befähigung der einzelnen Rezipierenden und der buchstäblichen Einfachheit der Darstellung aus. Hier zeigt sich der von Ole Frahm behauptete »strukturell parodistische[…] Zug der Comics durch ihre Konstellation von Schrift und Bild«,559 der »darum die jeweilige Referentialität der Zeichen in Frage stell[t] – und damit ihre Wahrheit.«560 Referenten der Comics sind daher auch nur bedingt die historischen Ereignisse und die reale Person Hitlers, über die es aufzuklären gälte, sondern vielmehr die verschiedenen medialen Zugänge zu historischen Ereignissen im Spiegel spezifischer Bild- und Repräsentationssysteme. Moers reproduziert in seinen Comics verschiedene Diskursstränge der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Figur Hitlers in karikierender Distanzierung und greift auf bereits bestehende Repräsentationsweisen und -formen zurück. Im Fall der Adolf-Comics ist die zeichnerische Vorlage für die Figur Hitlers beim Zeichner selbst zu finden. Die Adolf-Figur ist als eine visuelle Variation des Kleinen Arschlochs mit seinem cartoonhaften Allerweltsgesicht konzipiert, das durch die für Hitler typischen Gesichtsmerkmale Bart und Haare ergänzt wird. Mit diesem ›Interbild‹ ist die Figur jenseits der Political Correctness angesiedelt und steht in ihrer Anlage in der Tradition von frühen Comicfiguren, die allesamt »am Rande der Gesellschaft stehen«561 und mit einem fremden Blick

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und Bildinszenierung und verkennt den grundlegenden anti-realistischen, parodistischen Charakter des Mediums Comic. Der Begriff des Prosumierens zurück geht auf Alvin Toffler: The Third Wave. New York 1980, der Prosumieren als »Handlungskonstellation« (Oliver Kühschelm: editiorial: produzieren/ konsumieren – prosumieren/konduzieren. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 30 (2019), Nr. 1, S. 7–19, hier S. 11) beschreibt. Der Begriff des Prosumierens hat seinerseits verschiedene Definitionen nach sich gezogen, die sowohl den Versuch einer Aufhebung der dichotomen Struktur von Produktion und Konsumption starten als auch im Prosumieren nur eine Verschiebung der kapitalistischen Ausbeutungsstrategien sehen. Zu einer differenzierten Überblicksdarstellung siehe ebd. Siehe zur Verschiebung der Autorisierungsbefugnisse von Produzent:in und Nutzer:in, bzw. zur zunehmenden Einebnung der klaren hierarchischen Trennungen in Bezug auf serielle ästhetische Artefakte Frank Kelleter, Daniel Stein: Autorisierungspraktiken seriellen Erzählens. Zur Gattungsentwicklung von Superheldencomics. In: Frank Kelleter (Hg.): Populäre Serialität. Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Bielefeld 2012, S. 259–290. Frahm, Die Zeichen sind aus den Fugen, S. 10. Ebd., S. 10. Ebd., S. 16.

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Adolf I und II – Die ewige Wiederkehr

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oder einem abweichenden moralischen Wertesystem ausgestattet sind. Das Kleine Arschloch-Zitat ist als visueller Metakommentar des Autors lesbar: Nicht die Hitler-Figur selbst ist als frech und unverschämt zu bezeichnen, wie ihr Vorgänger, sondern vielmehr die Verwendung der Figur Hitlers innerhalb der popkulturellen Koordinaten durch den Autor stellt eine freche Herausforderung für die Debatte über die Darstellung von Hitler dar. Die Stilisierung und Infantilisierung durch den vereinfachenden Zeichenstil konterkariert die Über-Identifikation oder besser gesagt: das scheinbare Bedienen diskursiver Klischees vom »Mythos des Überschurken«562 etwa oder dem »Mythos der Privatisierung«.563 Der Zeichenduktus verunmöglicht jede Form der Überhöhung und des Melodramatischen. Zugleich wird die Reproduktion der versteinernden Diskurspositionen wie dem Hitler-Kult durch ihre absurde Permanenz und Über-Narrativierung in einen Leerlauf überführt, der einen kritischen Effekt erzeugt. Die Ikonizität der Figur Hitlers hat den »status as a pop icon«564 erreicht, das unabhängig von seinem ursprünglichen historischen Kontext als Symbol mit wechselndem Inhalt in neue Kontexte versetzt werden kann:565 As a sign, the connection of the iconic Hitler to the historical figure is arbitrary, depending on use, the context, and the intertext. Earlier, such use had been stable and related to more actual political, ideological, and commemorative discourse. Today, the icon refers principally to its own surface and cultural corpus.566

Der Einsatz von Symbolen sowie die Ikonizität der Figur Hitlers werden im Folgenden anhand der prologartigen ersten Geschichte »Ein Abend mit mehreren Symbolen« (A I, Ein Abend) des ersten Bandes deutlich gemacht. Dort bekommt der Erzähler ›Walter Moers‹ im Lauf eines Abends Besuch von Prince, Adolf Hitler und Michael Jackson. Thema der illustren Runde sind Symbole und Identitäten.

3.2.1 Ikonizität und Symbole Der Erzähler kritisiert Prince dafür, seinen Namen gegen ein »Scheiß-Symbol« (A I, Ein Abend) eingetauscht zu haben, weil dies dazu führe, dass Prince keine gute Musik mehr mache: »You schutt damp this shit and mek samm gutt MUSIK 562 563 564 565

Seeßlen, Das zweite Leben des »Dritten Reichs« I, S. 36. Ebd., S. 37. Hirt, Adolf Hitler in American Culture, S. 571. »What Moers’s version of the Nazi leadership does is remove Hitler and his comrades from their horrid past and place them within an almost completely decontextualized story line. Moers can do this because he knows his readers are all too familiar with the Hitler as evil trope. His allusions to Nazism are unmistakable.« (Hieronimus, Hitler is fun, S. 87). 566 Hirt, Adolf Hitler in American Culture, S. 573.

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ägän!« (A I, Ein Abend)567 Im Vorwurf an Prince, er vernachlässige seine künstlerischen Ambitionen zugunsten einer gewinnbringenden Selbstvermarktung und -inszenierung, liegt ein satirischer Kommentar zu Hitlers viel zitierter gescheiterter Karriere als Maler, die ihn das Register vom Künstlerischen zum Politischen wechseln ließ. Unter der von Hitler und Goebbels propagierten Vorstellung des Politikers als Künstler überführte jener seine künstlerischen Ambitionen in massentaugliche Herrschaftsvorstellungen.568 Der Erzähler stellt den Zusammenhang zwischen Künstlergenie, Fantum und – politisch-motivierter – Anhängerschaft selbst her: »Bah! Mei comics don’t sell ferry well tu! It’s the Fuckin fäns! Sey don’t know se pläschörs of BLINDER GEHORSAM änymore!« (A I, Ein Abend) Im Kommentar des Erzählers wird die ›Rekrutierung‹ von Anhängern in der massenkulturellen Vermarktung, im Showbusiness und in der Politik miteinander überblendet, politische Massenloyalität und popkulturelle Massenpopularität assoziativ derart kurzgeschlossen, dass sich die Bereiche semantisch annähern. Der kategoriale Übergang vom einflussreichen Künstler und dessen Vermarktungsstrategien zum Politiker, dessen Weg zum Erfolg im Fall von Hitler auf der Ambivalenz von Verführungskunst und tatsächlicher Gewaltherrschaft beruhte, wird dabei unsichtbar gemacht, der Künstler zum potentiellen Despoten, der Politiker zum eher harmlosen Künstler-Star stilisiert. Im kurz darauf folgenden Gespräch zwischen Prince und Hitler unterstützt der Begriff des ›artist‹ den beschworenen Topos vom Politiker als Künstler. Prince sagt: »My name isn’t Prince anymore! It’s now! It’s a symbol!« (A I, Ein Abend) Hitler kontert, er habe seinen Namen ebenfalls in Oskar Schindler – die wohl berühmteste medialisierte Figur des ›guten Deutschen‹ während des Nationalsozialismus aus Steven Spielbergs Schindlers Liste (1993) – geändert und fügt hinzu »I have a symbol too!« (A I, Ein Abend). Ein Panel später heißt es im Kommentar: »Sie verstanden sich auf Anhieb und gingen zusammen auf ’s Klo, um ihre Symbole an die Kacheln zu malen.« (A I, 567 Der Anspruch ›guter‹ Musik, dem die Vorstellung des nicht korrumpierbaren Künstlers zugrunde liegt, wird einige Panels zuvor ironisierend im Kommentar des Blocktexts vorgeführt: »Wir plauderten ein bißchen, so von Ausnahmekünstler zu Ausnahmekünstler.« (A I, Ein Abend). 568 Politik ist für Goebbels »die höchste und umfassendste Kunst, die es gibt. Und wir, die wir die moderne deutsche Politik gestalten, fühlen uns dabei als künstlerische Menschen, denen die verantwortungsvolle Aufgabe anvertraut ist, aus dem rohen Stoff der Masse das feste und gestalthafte Gebilde des Volkes zu formen. Es ist nicht nur die Aufgabe der Kunst und des Künstlers, zu verbinden; es ist weit darüber hinaus ihre Aufgabe, zu formen, Gestalt zu geben, Krankes zu beseitigen und Gesundem freie Bahn zu schaffen.« (Joseph Goebbels 1933 in einem Brief an Wilhelm Furtwängler. In: Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern (DGDB) o. J. https://germanhistorydocs.ghi-dc.org/docpage.cfm?docpage_id=2424&l anguage=german, abgerufen am 07. 04. 2022.

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Ein Abend) Das Panel zeigt Hitler falsche Hakenkreuze an die Wand malend mit den Worten »It’s like this… no, wait… like this… Fuck!! I forgot my own symbol!« (A I, Ein Abend). Anders als der wahre Superheld Superman, der sein eigenes Symbol auf der Brust trägt, womit Signifikat und Signifikant eins werden, zeigt sich das Hakenkreuz als wenig einprägsam. Dass Hitler und Prince ihre Symbole auf die Toilettentüre in der Wohnung des Erzählers malen, zeugt zudem keineswegs von machtvoller Repräsentativität, ihr Vorgehen gleicht eher heimlichen Kritzeleien von Schülern auf Schultoiletten. Um den Topos des gescheiterten Künstlers zusätzlich zu ironisieren, fügt Hitler hinzu: »I’m an artist too, you know that?« (A I, Ein Abend) Die als Verbindungsglied dienende Bezeichnung ›artist‹, die beide für sich in Anspruch nehmen, erzeugt die irritierende Komik des Panels, basiert das vermeintliche Einverständnis doch auf vielfältigen Missverständnissen. Prince fragt auf Hitlers Künstlerbekenntnis hin zurück: »Really? You’re a musician?« (A I, Ein Abend) Komik entsteht hier durch verschiedene mögliche Lesarten: Entweder ist Prince ungebildet und kennt Hitler nicht, oder er weiß sehr wohl um Hitlers gescheiterte Karriere als Maler und seine Frage ist als implizite Anspielung und Ignoranz gegenüber der von Hitler ausgeübten Malerei gleichermaßen zu lesen. Prince’ Kommentar, Hitler sei »[t]o [sic!] drunk to rule the world« (A I, Ein Abend), spricht diesem zusätzlich seinen Anspruch, ein Künstler der Politik zu sein, ab.569 Zu guter Letzt schließt sich Michael Jackson der Runde an. Er präsentiert, mit Gebetslocken und Hut als orthodoxer Jude gekleidet, stolz seine operierte Nase, die dem Klischee der ›jüdischen Hakennase‹ entspricht und ihn zum »symbol for all the races in the world« (A I, Ein Abend) machen soll. Damit sind die Positionen der deutschen Erinnerungskultur ebenso präsent wie die Vertreter verschiedener ›Rassen‹: Täter (Hitler) und Opfer (Michael Jackson als Jude und als – nicht mehr erkennbarer – Afroamerikaner). Prince lässt sich einerseits als opportunistischer Mitläufer bezeichnen, der seine Identität zugunsten eines Symbols aufgibt.570 Andererseits legte der reale Prince seinen Namen als Geste des Protests ab, um auf seinen Rechtsstreit über seine Songs mit Warner Bros. Records hinzuweisen. Die Namenlosigkeit sowie das Wort ›Slave‹, das sich Prince 569 Siehe zum Topos, Hitler habe seine künstlerischen Ambitionen durch den Registerwechsel ins Politische auf seine Politik übertragen, Wolfram Pyta: Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse. München 2015, dessen Analyse, abgesehen von der zeitweise »einschränkende[n] Perspektive eines herrschaftszentrierten Intentionalismus […] [, die] Gefahr [läuft], eher zur Mythisierung Hitlers beizutragen als diese zu dekonstruieren« (Verena Wirtz: Rezension zu: Wolfram Pyta: Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse. München 2015. In: H-Soz-Kult 29. 01. 2016. www.hsozkul t.de/publicationreview/id/rezbuecher-24941, abgerufen am 07. 04. 2022) Hitlers Verständnis von Politik als Kunst erhellend darlegt. 570 Diese Lesart folgt dem comicinternen Kommentar des Erzählers über Prince.

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als Reaktion auf den Rechtsstreit auf die Wange tätowieren ließ, decken die Abhängigkeiten der Künstler von kulturindustriellen Organisationsstrukturen auf. Die Solidarisierung und Parallelisierung seiner ›Ausbeutung‹ durch die Konzerne der Musikindustrie mit den durch die amerikanischen Siedler versklavten Afroamerikanern ist dabei einerseits in ihrer Übersteigerung entweder als Attraktionsfokus für den Minderheitendiskurs oder aber als illegitime Aneignung des ›Opfer‹-Status lesbar, andererseits aber steigern diese Maßnahmen der Neuerfindung ganz nach den Mechanismen des musikindustriellen Markts wiederum die Popularität von Prince. Die Widerstandsgeste läuft so Gefahr, erneut durch das System vereinnahmt zu werden. Die Gemeinsamkeit der Figuren entsteht durch deren Künstlertum, das bei allen durch ein Symbol mit einem damit verbundenen Konzept zum Ausdruck kommt.571 Die mit ihnen in Verbindung gebrachten Symbole aber zeigen sich in ihrer Bedeutungskraft nicht länger zuverlässig. Adolfs Scheitern, ein richtiges Hakenkreuz zu erinnern und zu zeichnen, deutet einerseits auf seine Untalentiertheit sowie andererseits auf die nachlassende Wirkung und zunehmende Beliebigkeit des Hakenkreuzes hin: Adolf kann es nicht mehr auf tausenden von Fahnen an Häuserfassaden anbringen, sondern nur noch an die Toilettentür in einer privaten Wohnung ritzen. Auch das Erscheinungsbild Adolfs lässt sich nicht mehr eindeutig denotieren: Seine von Moers als Zutat beschriebene »Frisur« (A I, Vorwort), die im ikonischen Bild von Hitlers Gesicht mindestens so relevant ist wie das Hakenkreuz für den Nationalsozialismus, wirkt in Moers’ Version eher wie eine jüdische Kippa (Abb. 2). Diese Verunsicherung weist in Kombination mit der diminuierenden Zeichnung der Figur auf Hitlers tatsächliches Aussehen hin, das keineswegs dem prototypischen Arier entsprach. Das Zeichen ›Adolf Hitler‹ beginnt in seiner Wirkmacht zu erodieren. Die erodierende Ambivalenz dieses Zeichens führen die ersten beiden ComicBände zunächst durch eine übertriebene Einseitigkeit hervor: Die Tendenz zur monokausalen Erklärungskraft der Person Hitlers für die Geschichte des 20. Jahrhunderts persiflieren die Adolf-Bände, indem sie Hitler, gleichzeitig wirkund ohnmächtig, für alle zentralen historischen und vor allem kulturellen Krisen und Ereignisse des 20. Jahrhunderts verantwortlich machen. Konterkariert wird die Vorstellung Hitlers als ›absolut Böses‹ durch seine Tollpatschigkeit, Unfä571 Auch der Erzähler Moers ließe sich in die Reihe einfügen. Sein Symbol wäre die stilisierte Cartoon-Figur, aus der sowohl das Kleine Arschloch als auch Adolf als jeweilige Variationen bzw. Derivationen entstehen. Ulrike Kruse deutet die Symbole allerdings, entgegen meiner Lesart, als stabile Positionen, die sich nur untereinander ausschließen, nicht aber in sich ambivalent werden. Siehe Ulrike Kruse: Das Dilemma der ideologischen Codierung. Der Leser als Textfunktion in Walter Moers’ Adolf. In: Thomas Jung (Hg.): Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Pop-Literatur seit 1990. Frankfurt am Main 2002, S. 185– 211.

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Abb. 2: Adolfs ›Kippa‹-Frisur.

higkeit und Harmlosigkeit. Obwohl er an vielen relevanten weltgeschichtlichen Ereignissen kausal beteiligt scheint, entpuppt er sich eher als Opfer der Umstände, der Intrigen anderer (allen voran Dr. Furunkel alias Lady Di) und seiner zerrütteten Psyche, denn als selbstbestimmt handelnder Herrscher. So wird die Erklärungskraft monokausaler Geschichtsschreibung durch die Dopplung bzw. Ersetzung des einen Bösen lediglich durch eine andere Figur entlarvend karikiert und in ihrer Lächerlichkeit ausgestellt.

3.2.2 Monokausalität Die Liste der Verantwortlichkeiten des Comic-Adolf ist lang: Im ersten Band tritt er in der Erzählung »In der Kochhölle des Dr. Biolek!« (A I, In der Kochhölle) in dessen Kochstudio als gewalttätiger »›Exprominent[er]‹« (A I, In der Kochhölle)

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auf, verursacht den Tod seines Tamagotchis, scheinbar den Tod Lady Dis, wird drogensüchtig und von Außerirdischen entführt, die ihn zum Sex mit Mutter Theresa zwingen wollen, um den perfekten Menschen zu zeugen. Der erste Band fokussiert auf den Zusammenprall der zur Witzfigur geschrumpften Person Hitlers, der von verschiedenen Bösewichten für deren Pläne benutzt wird, mit verschiedenen Aspekten der Popkultur. Dabei lassen sich die einzelnen Geschichten verschiedenen populären Genres zuordnen. Der zweite Band ist um den Science Fiction-Aspekt der Zeitreise erweitert, wodurch narrativ möglich wird, die Monokausalität Hitlers auf zahlreiche weltgeschichtlich relevante Ereignisse auszuweiten. Grund für die Zeitreisen ist ein Zeitreisehelm, den Hitler von Dr. Pickel bekommt, um seine Erinnerungslücken zu schließen, die ihn den dritten Weltkrieg haben verpassen lassen. Durch die Zeitreisen ist Hitler, meist durch Zufall, verantwortlich für die Tode von John F. Kennedy und Kurt Cobain. Ebenso wird er für den Tod des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand verantwortlich gemacht – was ihn implizit zusätzlich zum Auslöser des ersten Weltkriegs macht. Doch nicht nur die katastrophalen Ereignisse werden mit der Figur Hitlers in Verbindung gebracht, viele kulturhistorisch bedeutsame Ereignisse werden im zweiten Adolf-Comic als durch Hitler erzeugt oder verursacht gezeigt: Er prägt die Pariser Intellektuellen-Szene der Avantgarde und wird zum Stichwortgeber der bedeutendsten ästhetisch-philosophischen Konzepte und Themen dieser Zeit: Gertrude Stein beispielsweise gibt er in Variation auf deren berühmte Tautologie »Rose is a rose is a rose is a rose«572 aus ihrem Gedicht Sacred Emily von 1913 die Idee ein mit den Worten: »Ein Jode äst ein Jode ond bleibt ein Jode!« (A II, Wiedersehen mit Paris). Hitler trifft auf Albert Einstein, dem er von der Relativität der Zeit erzählt, Sigmund Freud berichtet er von seinem Glauben an »eine höhere Form von ›Äch‹«, dem »Öber-Äch!« (A II, Wiedersehen mit Paris). Im Moulin Rouge malt er als Bezahlung für einen »Fick« (A II, Wiedersehen mit Paris) Picassos Demoiselles des Avignon, auf den er dort trifft und an den er sein Gemälde verkauft. Er verursacht den dritten und den vierten Weltkrieg, soll Jesus ans Kreuz nageln, was jedoch durch einen von Gott geschleuderten Blitz verhindert wird. Die Struktur reproduziert die Denkweise von Verschwörungstheorien, nach deren Überzeugungen häufig eine Gruppe oder ein Individuum hinter vielfältigen historischen Ereignissen steht. Statt der von den Nationalsozialisten propagierten Verschwörungstheorie über das alles vernichtende Weltjudentum, wird hier Hitler zum Drahtzieher einer solchen Vermutung.573 Entlarvend wirkt 572 Gertrude Stein: Writings 1903–1932. Hg. von Catherine Stimpson und Harriet Chessman. New York 1998, S. 395. 573 Auch »jede absurde Verschwörungstheorie seit den Fünfzigern über das Verbleiben der Nazigrößen« (Erk, So viel Hitler war selten, S. 124) bestätigt der Comic parodierend, wenn er

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diese nahezu hysterische Penetranz des alles zerstörenden ›absoluten Bösen‹ Adolf Hitler durch die banale und monokausale Einfachheit einer solchen Erklärung, die die Komplexität historischer Ereignisse ausblendet, im schlimmsten Fall sogar negiert. Das wirkt auf die mediale Darstellung der Figur Hitlers und den gesellschaftlichen Diskurs über sie zurück: Die einschränkende Fokussierung auf Hitler verkürzt die komplexe Struktur der historischen, gesellschaftspolitischen Situation auf unzulässige Weise. Denn Hitler allein war nicht schrecklich. Das Schreckliche ist vielmehr, dass er den einzelnen mit nekrophiler, sadistischer Energie füllen, die Massen in einen Vernichtungskrieg führen, die Gesellschaft zu einem Terrorsystem umformen und den Völkermord zur Staatsidee machen konnte.574

Statt andere Täter, statt Mitläufer zu zeigen, führt der Comic Panel für Panel die Wiederauferstehung des medialen Hitler und mit ihm die bequeme »Kultur der Entschuldung«575 vor. Um die Kollektivschuldthese abzuwenden, entwickelte sich die Rede vom ›Einzeltäter Hitler‹ bzw. von der (alleinigen) Täterschaft der NSDAP unter Mithilfe der SS. Damit konnte der Holocaust als Aktion weniger Eingeweihter aus der Verantwortung eines Kollektivs genommen werden. Adolf inszeniert Hitler nicht nur als Schuldigen, er wird zudem durch die Wutanfälle, die ihm widerfahren und denen er sich kaum entziehen kann, selbst freigesprochen. Der Comic führt vor, wie gesellschaftliche Haltung und mediale Inszenierungen zusammenarbeiten, um die tatsächlichen Ereignisse auf Distanz zu halten. Dass Moers seinen Adolf auch an den positiven, kulturellen Errungenschaften der – europäischen – Geschichte ›schuld‹ sein lässt, ahmt zum einen die rechtfertigende Rede ›unter Hitler sei nicht alles schlecht gewesen‹ nach. Zum anderen veranschaulicht es die Konsequenz einer monokausalen Haltung: Will man einer historischen Größe die Verantwortung für die geschichtlichen Ereignisse geben, so müssen die positiven Ereignisse ebenfalls darauf zurückgeführt werden. Die Plot-Ebene reproduziert karikierend die mit Hitler und dem Nationalsozialismus häufig verbundene fatalistische Geschichtsauffassung, wenn eine Zeitung titelt: »Hitler: Er hat es schon wieder getan!« (A I, In der Kochhölle). Aus dem zirkulären, monokausalen Erklärungsmuster scheint es kein Entkommen zu geben. Göring als Hermine verkleidet der Prostitution nachgehend inszeniert und ihn im zweiten Band mit Hitler in Südamerika eine »Sushi- und Schwarzbrotbar. Kunstgalerie« (A II, Endstation Paraguay?) betreiben lässt. 574 Georg Seeßlen: »Zu Hitler muss uns immer etwas einfallen.« In: Mein Führer. Schulheft. Materialien für den Unterricht. o. J., S. 9–11, hier S. 9. http://www.meinfuehrer-derfilm.de /downloads/ MEINFUEHRER_Schulheft.pdf, abgerufen am 11. 09. 2020. 575 Seeßlen, Das zweite Leben des »Dritten Reichs« I, S. 7. Siehe dazu auch das Theaterstück von Herman van Harten mit dem ironischen Titel Ich bin’s nicht, Adolf Hitler ist es gewesen (1984).

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Der erste Comic-Band übersteigert diese Struktur durch eine verdoppelnde Wiederholung, wenn sich in der Geschichte »In den Klauen des Wahnsinns« (A I, In den Klauen) Dr. Furunkel alias Lady Di als Fäden ziehender Bösewicht mit dem Plan zur Zerstörung der Menschheit entpuppt: »Ich brauchte nur noch einen willigen Helfer … einen hilflosen Trottel ohne Orientierung … Ich konnte ja nicht ahnen, daß ausgerechnet Adolf Hitler zu mir kommen sollte … Das war perfekt!!« (A I, In den Klauen, Herv. im Original) Die Distanzhaltung und Aneinanderreihung der historischen Ereignisse führt zu einem Verlust der Wertigkeit, so dass es zu einer Nivellierung kommt, die zwischen Alltag und Geschichte, bedeutsamen Geschehnissen, massenmedialen Ereignissen und kulturindustriellen Massenprodukten kaum noch zu unterscheiden vermag.

3.2.3 Nivellierung Bedeutungsentleerung und die aus ihr resultierende Nivellierung in Form von De- und Rekontextualisierungen des Zeichens ›Adolf Hitler‹ treibt Moers auf die Spitze. Dabei geraten scheinbar eindeutige Zuschreibungen verschiedener Wertigkeiten ins Rutschen. In einer nivellierenden Parallelisierung überblendet Moers das popkulturelle Massenprodukt Tamagotchi mit dem gesellschaftspolitischen Konzept des Vaterlands, wenn Hitler in einem strukturähnlichen Besitzund Zerstörungsverhältnis zu beiden steht: »Warom moß äch alles zärstören, was äch liebe?! Mein Vaterland … mein Tamagotchi … … schnöff …« (A I, In der Kochhölle). Die Parallelisierung der psychischen Konstitution eines wütenden Teenagers, der sein Tamagotchi sterben lässt, mit der Verantwortlichkeit eines Politikers für sein politisches Handeln unterläuft einerseits die kategoriale Unterscheidung, die zwischen der Zerstörung eines Spielzeugs und der Vernichtung von Menschen besteht. Andererseits weist sie auf die Gewöhnung hin, die durch mediale Bilder und Erzeugnisse ausgebildet wird und die zu einem fehlenden Unterscheidungsvermögen führen kann. Im negativen Ausweis befragt der Comic, welchen Stellenwert der kategoriale Unterschied noch besitzt – und besitzen sollte. Zugleich wird durch die grammatikalische und semantische Parallelisierung die Worthülse ›Vaterland‹ einer kritischen Befragung unterzogen. Der ComicAdolf trauert keineswegs über die vielen Opfer des Krieges und des Holocaust, sondern vielmehr um den Verlust des eigenen Landes als Erbe und Tradition der Vorväter mit seinen negativen Konnotationen von Nationalismus und Blut- und Bodenpolitik. Der Parallelisierung von Tamagotchi und Vaterland liegt eine ähnlich entlarvende Komik zugrunde wie schon der ›Weltkugel-Szene‹ aus

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Charlie Chaplins The Great Dictator (1940). Auch dort wird das Streben nach Weltmacht als infantile Allmachtsphantasie bloßgestellt. Diese entlarvende Parallelisierung ist nicht nur einseitig zu denken. Die dem Machtanspruch innewohnende kindische Hybris führt in ihrer Banalisierung durch die Analogie zur machtvollen (über Leben und Tod entscheidenden) Position des TamagotchiBesitzers, nicht zwingend aber zu einer Verharmlosung des Macht- und Gewaltstrebens Hitlers. Vielmehr kündet der Comic davon, dass die Wutanfälle Adolfs, so sehr sie die Lesenden zum Lachen bringen, nicht enden und jedes Mal in Zerstörung und Gewalt ausbrechen. Eine Zeitungsmeldung in der Geschichte »In der Kochhölle des Dr. Biolek!« titelt, nachdem Hitler Biolek mit dem Kochlöffel vor laufender Kamera geschlagen hat, weil er an Bioleks Nase glaubte, dessen Jüdischsein erkennen zu können: »Hitler: Er hat es schon wieder getan! UND ZWAR LIVE BEI BIO!!!« (A I, In der Kochhölle). Der Zusammenhang zwischen dem Wutanfall und der medial vermittelten Meldung erzeugt bei informierten Leser:innen einen möglichen, produktiven und zugleich provokativen Kurzschluss: Vor der Folie des Weltwissens stellt sich die Frage, wie angesichts dieser diminuierenden Reduktion des Comic-Adolfs auf sein cholerisches Temperament mit der im Comic als Leerstelle behandelten Vernichtung der Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten umzugehen ist. Die Reduktion Adolfs auf seine psychische Instabilität resultiert in einer Überzeichnung der Hitler’schen Pathologie. Seine Wut breitet sich auf alles aus, was sich nicht seinen Vorstellung gemäß integrieren lässt und reproduziert damit, was Georg Seeßlen als »Faschisierung der Wahrnehmung«576 bezeichnet, die in ihrem Hass auf alles Unklare, Uneindeutige, Nicht-Autonome der Form, in ihrem Krieg gegen das Zweideutige, […] aus einer Ur-Situation, die selber zweideutig ist [entsteht]. Eine Revolte, die an ihrem ursprünglichen Objekt zerbrochen ist, führt zu einer Wahrnehmung der Welt, die nur noch zwei Bereiche kennt: Objekte und Zeichen bedingungsloser Identifikation und Objekte und Zeichen bedingungslosen Hasses.577

Adolfs cholerische Anfälle decken die Willkür im Hinblick auf die zu vernichtende Zielgruppe auf – was durch die allzu leichte Variation des üblichen Anfalls »Chrr…De Jodn!! Chrr… De Jodn!!« (A I, In der Kochhölle) zu »Chrr…De Japsen! Chrr… De Japsen!« (A I, In der Kochhölle) deutlich wird.578 Damit stellt sich der Comic implizit gegen eine von den Nationalsozialisten propagierte rassistische Welterzählung, die den Jüdinnen und Juden eine deterministische Rolle der ›Verschwörer‹ und der durch sie erzeugten ›Gefährdung des arischen 576 Seeßlen, Das zweite Leben des »Dritten Reichs« I, S. 17. 577 Ebd., S. 17. 578 Das bedeutet nicht, dass dem jüdischen Volk der Status des von den Nationalsozialisten vernichteten Volks aberkannt wird oder dass hier auf irgendeine Weise das tatsächliche geschehene Leid negiert oder geschmälert werden soll.

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Volks‹ zusprach. Dass aber die akribische Organisation und Verwaltung des nationalsozialistischen Vernichtungssystems gerade nicht auf einer mythischen Erzählung und einer Affektpathologie Hitlers aufbauen kann, wird durch die Übersteigerung der pathologischen Züge Hitlers deutlich. Die absolute Reduktion der Ereignisse auf die Figur Hitlers, ja die Aussparung der katastrophalen Ereignisse des Holocaust verweist durch ihre auffällige Leerstelle geradezu auf die von Seeßlen formulierten Fragen: Was ist die Monstrosität einer Vernichtungsphantasie gegen die Monstrosität der Bereitschaft, sie ›ordentlich‹ auszuführen? Je wirklicher die Verbrechen seiner Gefolgsleute, je rationaler die Mittel des nationalsozialistischen Terrors zu zeichnen sind, desto unwirklicher wird das Bild des ›Führers‹.579

Je penetranter und absurder Moers’ Comic verfährt, desto mehr öffnet die durch Steigerung zur Absurdität und Komik erzeugte Distanz mögliche Reflexionsräume für das Ausgeschlossene und Nichtmarkierte. Moers’ absurde Endlosvariation markiert zugleich, dass weder die mythische Erzählung des Nationalsozialismus noch die Affekthandlungen Hitlers oder die systematische Vorgehensweise der verwalteten Vernichtung der Gewalt des Holocaust einen Sinn abringen können. Sinnstiftung wird demnach in jeder (nachträglichen, ästhetischen) Darstellung durch gesellschaftspolitische, ideologische und mediale Narrative erzeugt, aus denen Hierarchien der Aufmerksamkeit entstehen. Dass im Comic daher popkulturelle Ereignisse und Idole gleichberechtigt neben politischen Ereignissen wie dem Tod Kennedys stehen, markiert die Einebnung der qualitativen Unterschiede zwischen den gesellschaftspolitischen und auf Unterhaltung abzielenden Geschehnissen: Alle sind zu medialen Ereignissen nivelliert, die über den Fernseher – das Leitmedium der 1990er Jahre – gleichermaßen rezipiert werden. Daher ist es bezeichnend, dass Moers den ersten Wutanfall Hitlers – nach dem Prolog – als doppelt medialisiert und damit in zweifach medialer Distanz darstellt. Das entsprechende Panel ist nicht nur selbst gerahmt, es zeigt einen Fernseher – mit dem entsprechenden Bildschirmrahmen –, in dem Hitler zu sehen ist, wie er auf Bioleks Kopf mit einem Kochlöffel einschlägt. In einer gezackten Sprechblase schreit Hitler: »Chrr…De Jodn!! Chrr… De Jodn!!« (A I, In der Kochhölle) In der Wiederholungs-, Variationsund Derivationsstruktur des Comics wird das Verwechslungsspiel mit medialer Vermittlung und tatsächlichen Ereignissen, mit Original und Derivation, bis zur Umkehr der Kausalität von Wirklichkeit und verhandelnder Fiktion getrieben.

579 Seeßlen, »Zu Hitler muss uns immer etwas einfallen.«, S. 9.

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3.2.4 Die Umkehr der Kausalitäten – Fiktion und Wirklichkeit Medial präsentierte Ereignisse im Fernsehen werden durch den rahmenden Bildschirm allesamt in eine gleiche Distanz überführt, die die kategoriale und ethische Einordnung affiziert: Wenn Sportnachrichten neben Kriegsberichten stehen, wird der Unterschied zwischen beiden Ereignissen überbrückbar. Zugleich werden die medialen Bilder durch ihre schnelle Verfügbarkeit und ihr Eindringen in die unmittelbare Privatsphäre des eigenen Lebenswelt zu einer zweiten, als echter empfundenen Realität, hinter der tatsächliche Ereignisse zurücktreten. Nicht die Fernsehbilder gleichen demnach dem Ereignis und seinen Akteuren, vielmehr ähneln diese den Fernsehbildern. […] ›Primär‹- und ›Sekundär‹-Erfahrung treten damit in ein logisch inverses Verhältnis ein, das die Struktur der ›Tele-Ontologie‹ als spezifische Logik des Medienzeitalters kennzeichnet. Die ikonische Wirklichkeit der Massenmedien fungiert somit als Matrix der Generierung von Erfahrung selbst.580

Das »Big in Japan« betitelte Kapitel im ersten Band führt eine solche Umkehr von Ursache und Wirkung zwischen Fiktion und Wirklichkeit vor. Hitler landet in Japan und zerstört in einem erneuten Wutanfall Hiroshima. Der titelgebende Song Big in Japan von Alphaville gibt einen ersten Deutungshinweis: Bedeutet ›Big in Japan‹ im übertragenen Sinn zwar einerseits beliebt, berühmt oder bekannt zu sein, wird das Syntagma andererseits aber auch im Sinne einer Einschränkung oder ironisch genutzt – eben ›nur‹ big in Japan, nicht aber anderswo bekannt zu sein. Zugleich wird der Titel hier auf seine Buchstäblichkeit reduziert: Hitler ist nicht etwa beliebt, sondern wird nur physisch groß. Sein Wutanfall lässt ihn, in Anspielung auf den Hulk, riesengroß werden und über die Häuser Hiroshimas trampeln,581 einen Zug in den Händen, den er zu essen im Begriff ist. Im übernächsten Panel sind zwei Plakate zu sehen. Auf dem einen ist zu lesen: »Hiroshima schon wieder dem Erdboden gleich gemacht!!« (A I, Big in Japan) Der Satz impliziert eine zirkuläre Geschichtsauffassung, die an die oben zitierte Zeitungsmeldung »Hitler: Er hat es schon wieder getan! UND ZWAR LIVE BEI BIO!!!« (A I, In der Kochhölle) erinnert und auf die Erklärungskraft repetitiver Strukturen verweist. Auf dem zweiten Plakat prangt die Frage »War es Godzilla?« Die Figur Godzilla aus dem gleichnamigen Film von Ishirô Honda (1954) gilt in der japanischen 580 Christoph Deupmann: Ereignisgeschichten. Zeitgeschichte in literarischen Texten von 1968 bis zum 11. September 2001. Göttingen 2013, S. 227. 581 Über die er kurz zuvor sagt: »Von wägen Atombombe…. Hier stäht doch noch alles…« (A I, Big in Japan, Herv. K.K.) Das ›noch‹ seiner Rede impliziert die Leugnung des historischen Ereignisses und verweist damit auf die durch verschiedene Historiker geäußerte HolocaustLeugnung.

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(Pop-)Kultur »als erste fiktionale Filmreaktion auf die nukleare Katastrophe«582 des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki. »Im Film gibt es direkte Bezüge zum Zweiten Weltkrieg, denn das Ungeheuer, schließen Wissenschaftler, ist das Geschöpf einer atomaren Explosion.«583 Das Plakat zeugt nun von der Umkehr der Kausalitäten, wenn es suggeriert, die fiktive Figur Godzilla zeichne sich für die Zerstörung Hiroshimas verantwortlich. In dieser Geschichte stehen gesellschaftspolitische Katastrophe und popkulturelle Anspielungen in einem zirkulären Erklärungs- und Darstellungsverhältnis. Moers’ Comic lässt Hitler in Umkehr zur historischen Wirklichkeit die Stadt Hiroshima zerstören. Der fiktionale Intertext Godzilla, der eine symbolisierende Verarbeitung der ursprünglichen historischen Ereignisse darstellt, wird durch die Frage auf dem Plakat zur im Comic wirklichen Ursache für die Zerstörung Hiroshimas.584 Auch hier führt der Comic die Einebnung bzw. das durch unseriöse Medien bewusst herbeigeführte Verwischen der Unterscheidung von Wirklichkeit und Fiktion durch mediale Vermittlung vor. Der Comic bietet sich für eine parodierende Kritik an (sprachlichen) sedimentierten Bildern durch seine auf Wiederholung basierende Darstellungs- und Erzählweise besonders an. Walter Moers reproduziert den Aspekt des Seriellen, der dem Comic innewohnt, auf struktureller und thematischer Ebene. Die Serialität ist als Produktionsprinzip nicht nur eng mit massenindustrieller Fertigung, sondern zugleich mit der Pop Art, die Serialität zum künstlerischen Prinzip erhebt, verknüpft.

582 Florian Coulmas: Hiroshima. Geschichte und Nachgeschichte. München 2010, S. 52. 583 Ebd., S. 52. Auch David Deamer betont: »Godzilla is an expression of Hiroshima-Nagasaki and the nascent Cold War between the USA and USSR – one of the original designs for the monster had a mushroom-like head, to bring to mind the cloud of an atomic explosion.« (David Deamer: An Imprint of Godzilla: Deleuze, the Action-Image and Universal History. In: David Martin-Jones, William Brown (Hg.): Deleuze and film. Edinbourgh 2012, S. 18–36, hier S. 20). 584 Ähnlich verfährt der Trailer zur geplanten Verfilmung der Adolf-Comics. Dort heißt es: »Sie kennen ihn aus Der Untergang. Sie kennen ihn aus Mein Kampf « (Siehe den Trailer für den geplanten Film zum Comic: http://www.adolf-online.com/, abgerufen am 11. 09. 2020). Das Verweissystem beginnt bei fiktionalen Darstellungen und suggeriert, dass Hitlers Mein Kampf derselbe ontologische und pragmatische Stellenwert zukommt wie Der Untergang. Der Status beider Artefakte wird nivelliert, so dass die Bezugssysteme ›historische Quelle‹ einerseits und ›fiktionale, ästhetische Darstellung‹ andererseits kollabieren und die kategorialen Unterschiede ineinander überführbar scheinen.

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Serialität

3.3

Serialität

Zentral für die Funktionsweise von Adolf I und II ist das Verfahren der Serialität. Das Muster der Geschichten verläuft stets nach einem ähnlichen Prinzip: Hitler ist desorientiert, psychisch labil und sucht Hilfe bei unterschiedlichen Fachkräften, die ihn als Marionette für eigene Pläne benutzen. Dadurch gerät er in Situationen, die ihn als Verursacher bedeutender gesellschaftlicher, politischer oder kultureller Ereignisse erscheinen lassen. Ausgestellt wird dadurch die Funktionsweise des gesellschaftlichen Umgangs mit der historischen Figur Adolf Hitlers, der zur »Medienfigur«585 freigegeben wird. Diese gleichzeitige Bedeutungsentleerung und Verfügbarmachung für andere Kontexte durch die fixe, aber abstrakte Zuschreibung des ›absolut Bösen‹ wird durch die Struktur des Seriellen möglich. Schon die paratextuelle Inszenierung der Comics sowie ihre Präsentationsstruktur basieren auf dem Verfahren der Serialität. Moers imitiert durch Vorankündigungen zwischen den einzelnen Geschichten und am Ende der Comics Vermarktungsstrategien kulturindustrieller Serienproduktion nach den Parametern von Spannung und Cliffhanger. Die Anordnung und Präsentation der Geschichten folgt der Praxis, Comicserien, deren Geschichten zunächst in Einzelheften erscheinen, nach Vollendung in einem Buch zu veröffentlichen. Am Ende des ersten Bands findet sich eine Vorschau, die mit Titelblatt und TeaserPanel für kommende Geschichten wirbt. Dabei sind die tatsächlichen, im zweiten Band folgenden Geschichten aber nicht jene, die der erste Band bewirbt. Diese Ankündigungen verweisen auf ein anderes Produkt, tatsächlich aber existiert die erzeugte Referenz nicht. Damit unterlaufen die nachahmenden Werbestrategien die Struktur von Werbung, weil sie als auserzählte Geschichten nicht existieren und nur auf sich selbst als Ein-Panel-Witze verweisen. Die einzelnen Geschichten oder Kapitel der ersten beiden Comic-Bände sind von Nr. 1 bis Nr. 18 fortlaufend nummeriert, wobei der erste Adolf-Band acht, der zweite Band zehn Geschichten enthält. Das jeweils erste Panel einer Geschichte zeigt das Titelblatt, das im Vergleich zum Cover der Bände variierende Zusätze aufweist. Der Name Adolf erhält die Spezifikation »die Nazi-Sau« (A I, In der Kochhölle) und Adolfs Gesicht prangt vor einem Hakenkreuz, das über die Konturen seines Profils hinausreicht. Das Hakenkreuz ist vor einem weißen Kreis gezeichnet. Die Farbgebung verweist auf die Flagge des ›Dritten Reichs‹. Beim Blick auf die Doppelseite, auf der die letzte Seite des Prologs links und die erste Seite der ersten Geschichte in Farbe rechts zu sehen ist, lassen sich aufschlussreiche Spiegelungen in der Panelanordnung feststellen. Das Panel aus der Prolog-Geschichte »Ein Abend mit mehreren Symbolen«, in dem Hitler 585 Lück, Das Lachen der Schwachen über das Schreckliche?, S. 110.

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Versuchen Sie es selbst – Walter Moers’ Adolf-Comics

versucht, ein Hakenkreuz zu zeichnen, ist auf der linken Seite rechts oben gesetzt. Damit liegt es direkt neben dem Titelblatt der ersten Geschichte »In der Kochhölle des Dr. Biolek!« – das auf der rechten Seite links oben gezeichnet ist –, so dass die beiden Panels aufgrund des Kontrasts von schwarz-weiß der Geschichte »Ein Abend mit mehreren Symbolen« und der Farbigkeit der anderen Geschichten wie Skizze und Realisierung (von Schwarz-Weiß zu Farbe) oder wie Versuch und Korrektur (vom falsch zum richtig gezeichneten Hakenkreuz) wirken (vgl. Abb. 3):

Abb. 3: Adolf vs. Moers: Wer zeichnet das bessere Hakenkreuz…?

Moers, so suggeriert das Titel-Panel, ist nicht nur der bessere Zeichner, er weiß, wie das Hakenkreuz und Hitlers ästhetische Propagandaprodukte richtig in Szene zu setzen sind und er vermag Adolfs Namen durch die Spezifizierung »Nazi-Sau« (A I, In der Kochhölle) semantisch festzulegen. Diagonal zum ersten Titel-Panel oben links auf der rechten Doppelseite findet sich rechts unten erneut eine variierende Verdopplung des Panels: Adolf ist nun in Ganzkörperansicht zu sehen – allerdings nimmt er nur das untere Drittel des Panels ein, was ungefähr derselben Größe entspricht, die sein Profil im Titelblatt einnimmt. Er hat in einer erschrockenen Geste die Arme erhoben, Mund und Augen sind aufgerissen und sein Blick ist nach oben gerichtet, sein Körper ist schwarz schraffiert, ein Zeichen dafür, dass er im Dunkeln oder im Schatten steht. Hinter ihm prangt wiederum das überdimensionale Hakenkreuz, dessen Ränder leicht ausgefranst sind. Statt eines weißen Kreises erleuchtet ein von oben kommender, gelber Lichtkegel das Hakenkreuz. Drei Textkästen mit Blockkommentaren befinden sich in der oberen Hälfte des Panels. Sie kommentieren: »Jedoch – kann Adolf ihn überwinden – den Schatten aus der Vergangenheit..!?« (A I, In der Kochhölle), »Hier beginnt sein Ringen um ein neues Leben…« (A I, In der Kochhölle), »›SEIN

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Serialität

KAMPF‹, sozusagen…« (A I, In der Kochhölle). Diese diagonale ›Spiegelung‹ wirkt wie ein Vexierbild, das Adolf stets auf sich selbst zurückwirft, so dass der zweifelnde Kommentar des Blocktexts zwar die Möglichkeit der Veränderung impliziert, durch die Formulierung »SEIN KAMPF« zugleich aber auf die bekannten Strukturen zurückgreift. Hitlers Kampf ist nun kein Schreibprojekt mehr, sondern der Kampf mit konkurrierenden massenmedialen und -kulturellen (Zeichen-)Produkten, Ideen und Errungenschaften, gegen die er sich – selbst Zeichen geworden – abheben muss. Alles aber deutet hier schon auf bloße Variation und Serialität hin. Den Zusammenhang von Serialität und massenindustrieller Produktion macht sich in der Kunst vor allem die Pop-Art zu eigen. Sie bezieht sich mit vielen Kunstwerken auf die in der ökonomischen Massenproduktion Anwendung findenden Verfahren der seriellen Produktion und den damit einhergehenden kapitalistischen Strukturen als eines ihrer Hauptmerkmale. Roland Barthes bestimmt in einer Analyse der Pop-Art deren Einsatz von Serialität wie folgt:586 Die (Serialität der) Pop-Art will das Objekt entsymbolisieren, ihm die Mattheit und die stumpfe Hartnäckigkeit einer Tatsache verleihen […]. Bezeichnet man das Objekt als asymbolisch, so leugnet man, daß es über einen Tiefenraum oder über ein Umfeld verfügt, über den seine Erscheinung Sinnvibrationen verbreiten kann: Das Objekt der Pop-art (dies ist tatsächlich eine sprachliche Revolution) ist weder metaphorisch noch metonymisch; es tritt von seinem Hintergrund und seiner Umgebung abgetrennt auf.587

Was Seeßlen in diesem Zusammenhang als »Witz über Abbildungscodes«588 bezeichnet, formuliert Roland Barthes als zunehmende Radikalisierung des Bildes, dessen Bedeutung nurmehr tautologisch im Status des selbstreferentiellen Ikonischen besteht: »Die Pop-art erzeugt somit radikale Bilder: Vor lauter Bildsein wird die Sache von jeglichem Symbol befreit. […] Nicht mehr die Tatsache verwandelt sich in ein Bild […], sondern das Bild wird zu einer Tatsache«,589 hinter der die Bezüge verschwinden. Die Serialität übernimmt in den Adolf-Comics zwei Funktionen: Sie entleert erstens die Ereignisse ihrer Bedeutung. Zweitens zeigt sie auf, wie die Wiederholungs- und Variationsstruktur bildlicher Repräsentation eine semantisch leere Bedeutsamkeit annimmt, die der tabulastigen Auffassung vom absoluten Bösen Vorschub leistet und die Referenz zur historischen Wirklichkeit beinahe gänzlich 586 Dass Serialität keineswegs bloß ein Phänomen der Moderne, sondern ein Grundstein des (mündlichen) Erzählens ist, darauf weist Vincent Fröhlich hin. Vincent Fröhlich: Der Cliffhanger und die serielle Narration. Analyse einer transmedialen Erzähltechnik. Bielefeld 2015, dort vor allem S. 52ff. 587 Barthes, Die Kunst, diese alte Sache, S. 210. 588 Seeßlen, »Zu Hitler muss uns immer etwas einfallen.«, S. 11. 589 Barthes, Die Kunst, diese alte Sache, S. 211.

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tilgt. Als ikonische Autorität reproduziert das bildliche Zeichen ›Adolf‹ die zirkulären Darstellungsgewohnheiten. Saul Friedländer beschreibt einen ähnlichen Effekt im Umgang mit dem Bild Hitlers, verwendet dabei jedoch den Begriff der ›Metapher‹, deren Inhalt man nicht habhaft werden kann: »In der Vorstellung der Gegenwart ist der Nazismus eine der bedeutendsten Metaphern geworden: die Metapher für das Böse. […] Dennoch hinterläßt sie, im Ganzen gesehen, einen seltsamen Eindruck von Unzulänglichkeit«,590 die sich in der »Ohnmacht der Sprache [zeigt] […], durch rein literarische Wiederbeschwörung zum Kern des Phänomens vorzudringen.«591 In solchen Wiederbeschwörungen wird die bildliche Ikone Hitler derart fixiert, dass sie zur bloßen Tatsache jenseits einer historisch spezifischen Verortung wird. Rekontextualisierungen sind daher weitgehend problemlos, da die Referenz zum ursprünglichen Kontext in der zirkulären Verweisstruktur des zur Tatsache erstarrenden Bildlichen aufgelöst wird. Dies gilt auch für die dramaturgische Struktur von Der Bonker: Dort ist das dramaturgische Mittel der Anagnorisis, also der plötzlichen Erkenntnis, mit der eine Figur eine andere (wieder) oder einen Irrtum erkennt, auf Dauer gestellt, da (fast) alle Besucher von Adolfs Bunker zunächst Gummimasken tragen und sich jeweils als jemand anderes entpuppen. Diesen Erkenntnissen folgt allerdings weder ein Umschwung (peripetie), noch gipfelt der Dramentext in einer tragischen Katastrophe oder einer belehrenden Lösung – eine Katharsis wird verweigert. Auch die letzte Entdeckung, dass Adolfs Hund Blondi sich als Churchill erweist, der Adolf unzählige Telefonstreiche gespielt hatte, mündet nur in den wiederholten Worten Churchills, der verlangt, was alle anderen vor ihm auch verlangten: »another glass of your fabulous chantré« (B, 3. Akt). Eine tatsächliche semantische Umcodierung aber, die, in den Worten Barthes, einen ›Tiefenraum‹ oder ›Sinnvibrationen‹ erzeugen könnte, scheint unmöglich, da die Ikone – wie in der diagonalen Spiegelanordnung der ersten Geschichte aus Adolf I bildlich inszeniert – stets nur auf sich selbst zurückverweist. Durch den Einsatz von Komik wird diese ins leere laufende Zirkularität mit ihrem Potential zu sedimentierten Naturalisierungstendenzen, einer kritischen Distanznahme unterzogen.

590 Saul Friedländer: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. Übersetzt von Michael Grendacher und Günter Seib. Frankfurt am Main 2007, S. 118. 591 Ebd., S. 118. Das aber versucht die neue Hitler-Retro-Welle. Ich werde darauf in der Diskussion des dritten Bandes Der Bonker zurückkommen.

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Komik als kritische Distanznahme und Konfrontation

3.4

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Komik als kritische Distanznahme und Konfrontation unterschiedlicher Bezugssysteme

Die Inszenierung Hitlers bei Moers folgt einem »common trend whereby Nazism […] is confronted with contemporary ›normal‹ reality. The encounter between the two ›scripts‹, […] conveys a sense of absurdity rather than threat.«592 Aus dieser absurden Konfrontation aber entsteht bei Moers eine durch Komik erzeugte kritische Distanz, wenn das seiner Referenz entleerte Zeichen ›Adolf‹ seinerseits mit den idiosynkratischen Markern einer zum offiziellen Diskurs konkurrierenden popkulturellen Nachkriegsgeschichte konfrontiert wird: Von Außerirdischen entführt, lernt Adolf die wichtigsten Stationen und Errungenschaften der deutschen Kultur seit Kriegsende kennen. Die Kategorien sind Körperpflege (»Shampoo ond Conditioner in einem« (A I, Sex in Space, Herv. im Original)), Musik (Tubular Bells von Mike Oldfield), Technologie (Badeschlappen mit Klettverschluss), Wohnkultur (Lavalampe), Nachkriegsfilm (Walter Moers′ Film Kleines Arschloch (1997); auch hierin markiert der Comic erneut die Vermarktungsstrategien parodierenden, zirkulären Verweisstrukturen), Gourmandise (Pepsi oder Coca-Cola), Merchandising (Darth Vader gegen Luke Skywalker), Familienunterhaltung (Monopoly) und Werbesprüche, -jingles, und -produkte. Das Alien attestiert Adolf, nachdem dieser einen Test absolviert hat, »ein wandelndes Lexikon der Nachkriegsgeschichte« (A I, Sex in Space) geworden zu sein. Die zu lernenden Inhalte stellen im »Relevanzgefälle, das den kulturellen Wissensvorrat und Symbolhaushalt strukturiert[,] […] unwichtige […] Symbole«593 dar. Der Comic reorganisiert damit – analog zu den Verfahren der Popliteratur – die Strukturierung des kulturellen Gedächtnisses, indem er Alltagswissen aus dem profanen Raum in das Archiv des kulturellen Gedächtnisses einspeist und diesen Inhalt als Ersatz für den bisherigen Inhalt ausweist – Adolf muss nur dieses Wissen besitzen. In sein Comic-Zeichen werden die populärkulturellen Inhalte als neue Signifikate eingespeist. Diese Überschreibung gelingt jedoch nur unvollständig, da er beim Monopoly-Spiel die mit seinem Signifikat ursprünglicher Bedeutung verbundenen Konnotationen reproduziert, wenn er beim Kauf der Beethovenstraße verkündet: »Da kommt ein Konzentrationslager hin!!« (A I, Sex in Space, Herv. im Original) Humor ist dabei eine Strategie, mit der gegenläufige Positionen zusammengebracht werden können, ohne eine andere (zwingende) logische, kausale oder ersichtliche Verbindung aufzuweisen: »humor is the only form of understandable communication that is not bound by 592 Ofer Ashkenazi: Ridiculous Trauma. Comic Representations of the Nazi Past in Contemporary German Visual Culture. In: Cultural Critique 78 (2011), S. 88–118, hier S. 96. 593 Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders., Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1988, S. 9–19, hier S. 14.

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logic, common sense, or ethics; as such, it allows the assimilation of two incompatible discourses in a way that overrides their incongruity«.594 Adolf überträgt den Bezugsrahmen seiner historischen Realität auf das massenproduzierte Spiel. Es wird durch den Einbruch eines anderen historischen Bezugsrahmen semantisch mit dem historischen ›Ernstfall‹ auf ähnliche Weise infiziert, wie das Genussprodukt Hanuta in Faserland. Der hier humorvoll inszenierte Zusammenprall zweier Zeichensysteme macht deutlich, dass eine einfache Ersetzung des Narrativs nachkriegsdeutscher Gesellschaft das Zeichen ›Adolf Hitler‹ nicht unwirksam zu machen vermag. Die äußerste Form der Veränderung Adolfs besteht im variierenden Referenten seiner Wutanfälle: Statt auf die Juden, schimpft er zuweilen auch auf »De Japsen! Chrr… De Japsen!« (A I, In der Kochhölle) Zugleich vermag der Schrumpf-Hitler bei Moers seine größenwahnsinnigen Ideen nur noch im Spiel zu realisieren. Die ausgestellte Absurdität der Persistenz von Hitlers Zeichen-Charakter macht deutlich, dass Hitler, bzw. sein Bild, das seit dem Kriegsende diskursiv verbreitet wird, medial tatsächlich überall zu finden ist595 und seine Präsenz einen negativen Einfluss auf unseren gesellschaftspolitischen Umgang mit den Ereignissen des 20. Jahrhunderts hat: Die mediale und bildliche Präsenz seines Mythos führt häufig zu reflexartigen, auf Konventionen basierenden Schuldzuschreibungen und historischen Erklärungsmustern im gesellschaftlichen Diskurs.596 Moers’ Comics lassen sich demnach als Bilderkritik lesen.597 Er bedient sich dabei – ganz ähnlich wie das Zbigniew Libera in seinen Arbeiten tut – genau jener massenkulturellen Themen, Inhalte und Produktionsmechanismen, die er kritisch reproduziert.

594 Ashkenazi, Ridiculous Trauma, S. 101. 595 Viele der Hitler-Inszenierungen folgen einem Provokationsschema, das Hitler als skandalöses Zeichen in fremde Bezugssysteme versetzt. Der Hipster Hitler von Archana Kumar und James Carr beispielsweise amalgamiert zwei einprägsame ›Zeichen‹ aus dem kollektiven – popkulturellen und historischen – Bildgedächtnis und »spielt somit mit den ikonischen Oberflächen zweier medial hochgradig präsenter Figuren« (Jelena Jazo: Postnazismus und Populärkultur. Das Nachleben faschistoider Ästhetik in Bildern der Gegenwart. Bielefeld 2017, S. 188). Das opake mediale Bild Hitlers dient dabei der Provokation und Aufmerksamkeit für den »satirische[n] Doppelangriff sowohl auf Hitler als auch auf die Figur des Hipsters« (ebd., S. 184). 596 Nicht zuletzt zeigt sich das in den neuerdings vielfach bemühten Vergleichen von politischen Strategien rechtsradikaler Gruppierungen bis hin zur AfD mit jenen der aufstrebenden Nationalsozialisten. Darin zeigt sich, dass auch unser kritisches Bewusstsein von diesem Bezugsrahmen geprägt ist. 597 »Man muss sich entscheiden, ob man das Fortleben bestimmter Facetten des Hitler-Mythos weiter betreibt und fördert oder ob man ein völlig anderes Bild, ein Gegen-Bild, schafft und dadurch Bilderkritik übt.« (Alexandra Tacke: De/Festing Hitler. Das Spiel mit den Masken des Bösen. In: Erhard Schütz, Wolfgang Hardtwig (Hg.): Keiner kommt davon. Zeitgeschichte in der Literatur nach 1945. Göttingen 2008, S. 266–285, hier S. 269).

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Komik als kritische Distanznahme und Konfrontation

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Während die Wiederholungsstrukturen im Nationalsozialismus der Erzeugung und Festigung einer geschlossenen Erzählung dienen sollen,598 entleert und destabilisiert die Wiederholung bei Moers die ›Substanz‹ des Zeichens. Die beiden Formen der Wiederholung entsprechen den theoretischen Auffassungen von Wiederholung im Strukturalismus als Iterativität (itérativité bei Greimas) und im Poststrukturalismus als Iterabilität (itérabilité bei Derrida), wobei die strukturalistische Wiederholung als kohärenzbildend aufgefasst, die poststrukturalistische als sinnzersetzend bestimmt wird. Adolf wird lediglich durch Repetition von Panel zu Panel in seiner Existenz gehalten. Seine erzählerische Form baut vor allem auf variierender Wiederholung auf. Im – gewagten – Umkehrschluss hieße das auch: Hörten wir auf, über bestimmte spezifische Aspekte unserer Geschichte – etwa die reproduzierte Faszination für und Thematisierung von Hitler – zu erzählen, verlören ihre Zeichen an Wirkmacht. Alternativ, und das tut Moers in seiner übertreibenden, enervierenden Wiederholung, besteht die Möglichkeit, auf andere Weise über die in ihrer Darstellung bereits konventionalisierten Sachverhalte zu erzählen, um ein anderes Verhältnis zur Vergangenheit und unserer Geschichte zu erzeugen: »Die Comics ersetzen die tragische Narration mit ihrem unumkehrbaren Schicksal durch die Wiederholung mit Differenzen.«599 Mehr noch als Hitler auf die Ebene des Alltäglichen zu bringen leisten die Adolf-Comics das Entnaturalisieren des als naturalisierter Mythos im Sinne Roland Barthes’600 erscheinenden Bilds von Adolf Hitler und den damit einhergehenden Diskursen der Überhöhung, der Besonderheit und der Unantastbarkeit. Durch die Wiederholung schafft Moers – einer Formulierung Roland Barthes für die Warholschen Subjekte in deren Wiederholung folgend – »das Pathos der Zeit ab«.601 Es kommt »darauf an, daß die Dinge ›fertig‹ sind (konturiert: kein Verschwimmen), aber es kommt […] nicht darauf an, sie zu Ende zu führen, dem Werk […] die interne Organisation eines Schicksals (Geburt, Leben, Tod) zu verleihen«.602 Die Verfahren, die Moers’ Comics bemühen, zielen auf eine Öffnung hin, um mit Formen eines Reizreaktionsdenkens auf bestimmte mediale 598 Saul Friedländer bezeichnet die Sprache des Nationalsozialismus als »Rhetorik der Häufung, der ständigen Wiederholung, der Redundanz« (Friedländer, Kitsch und Tod, S. 56). 599 Frahm, Die Zeichen sind aus den Fugen, S. 9. 600 »Indem er von der Geschichte zur Natur übergeht, bewerkstelligt der Mythos eine Einsparung. Er schafft die Komplexität der menschlichen Handlungen ab und leiht ihnen die Einfachheit der Essenzen, er unterdrückt jede Dialektik, jedes Vordringen über das unmittelbar Sichtbare hinaus, er organisiert eine Welt ohne Widersprüche, weil ohne Tiefe, eine in der Evidenz ausgebreitete Welt […]. Die Dinge machen den Eindruck, als bedeuteten sie von ganz allein.« (Roland Barthes: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Frankfurt am Main 1964, S. 131f.). 601 Barthes, Die Kunst, diese alte Sache…, S. 208. 602 Ebd., S. 209.

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Versuchen Sie es selbst – Walter Moers’ Adolf-Comics

Bilder zu brechen und eine ideologiefreie, entnaturalisierende Auseinandersetzung zu ermöglichen. Die Komik erzeugt kognitive Distanz, in der sich den informierten Rezipierenden Reflexionsräume für eine kritische Betrachtung der zirkulären Beziehung von Wirklichkeitswahrnehmung und medialer Inszenierungstechniken öffnen können. Gleichwohl führen die Comics die angestoßenen Kritikpunkte keiner Lösung zu, sondern belassen die Rezipierenden mit der unangenehmen Frage: Wie sieht ein positiver Umgang mit den medialen Reproduktionen aus und welche (moralische) Position ist den historischen Ereignissen und ihren Reproduktionen gegenüber angemessen?

3.5

Adolf III: Der Bonker

Der dritte Comic der Adolf-Reihe, Der Bonker, verschiebt seinen parodistischen Fokus. Er ist als Kommentar zur in der Mitte der 1990er Jahre erstarkenden Retro-Hitlerwelle zu lesen, insbesondere auf den Bunker-Film Der Untergang (2004) von Oliver Hirschbiegel, dessen Inszenierungsstrategien Moers’ Comic parodierend aufgreift. Diese mediale Inszenierungstendenz ging (und geht) mit der Vorstellung einher, der unüberbrückbaren Fassungslosigkeit angesichts der Bösartigkeit und Unmenschlichkeit Hitlers durch die zunehmende Privatisierung und psychologisierende Darstellung seiner Person beizukommen: Authentizität und Nähe zum ›echten Hitler‹, so der zugrundeliegende Kurzschluss, liefern automatisch eine Form des unmittelbaren Verstehens. Die Verkürzung, die das bloße ›Dabeisein‹ als hinreichende Erklärung inszeniert, bringt allerdings unvorhergesehene Folgen für die Rezeption medialer Aufbereitungen historischer Ereignisse mit sich.

3.5.1 Der Untergang: Faszination und Remythisierung Hitlers Das Bedürfnis, der Figur des absoluten Bösen nahezukommen, entsteht aus einer ambivalenten Faszination für die Person Hitlers. Dieses Faszinosum ist dabei, so Saul Friedländer in Kitsch und Tod, vom realen Hitler auf die unterschiedlichen medialen Inszenierungsformen Hitlers übergegangen: Wir haben es mit zwei Seiten des Phänomens Hitler zu tun: dem Hitler der Vergangenheit und dem Hitler, wie er heute gesehen wird, den historischen Fakten und der retrospektiven Interpretation, den wirklichen Ereignissen und ihrer Ästhetisierung und, nicht zuletzt, mit dem ›humanen Menschen‹, der durchaus für sich einzunehmen weiß, mit dem Biedermann in seiner Welt aus Kitsch, und der blinden Energie, die alles vernichtet. […] Es ist das Nebeneinander, die Juxtaposition, dieser beiden Seiten, ihre

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Adolf III: Der Bonker

Gleichzeitigkeit und die Wechselwirkung untereinander, die, wie mir scheint, der eigentliche Grund für die Suggestionskraft des Phänomens Hitler ist.603

Oliver Hirschbiegels Film markiert einen Einschnitt in der medialen Geschichte der Hitlerdarstellungen. Nicht umsonst spricht Frank Schirrmacher bei seinem Erscheinen von der »zweite[n] Erfindung des Adolf Hitler«604, die einen »Akt der Normalisierung«605 bedeute. In der Tat zeigt Der Untergang Hitler als ›normalen‹ Menschen fern von mythologischen Überhöhungen. Dennoch vollzieht der Film eine doppelte Verkürzung – und dadurch eine erneute Remythisierung –, wenn er das nationalsozialistische Deutschland auf die räumlichen Ausmaße des Führerbunkers und die Dauer des Hitler-Regimes auf die letzten Tage des Elitestabs im Hitlerbunker reduziert, darin aber vorgibt, historisch-authentisch aufklärend zu sein. Die Verkürzung trifft auch die Figur Hitlers: »In Der Untergang wird Hitler ausschließlich auf sein Ende reduziert […]. Der zeithistorische Kontext fällt dabei aus dem Blick.«606 Michael Wildt betont dazu, »dass mit dem Bemühen, Hitler so lebensgetreu wie möglich darzustellen, noch keine sinnvolle historische Aussage gemacht sei.«607 An die Stelle der Überhöhung Hitlers setzt vor allem das Schauspiel Bruno Ganz’ als Hitler eine andere, neue Mythologisierung des Wirklichen. Die Ambivalenz zwischen dem positiven Bemühen um Normalisierung und dem Kippen in eine neue Art der Naturalisierung des Dargestellten zeigt sich in der Aussage Eichingers über die Hitlerdarstellung und das Spiel Bruno Ganz’: »Hitler und seine Clique sollen weder dämonisiert noch verharmlost werden. Und Bruno Ganz, der den Diktator spielt, ist eine Garantie dafür.«608 Das Identifikationsangebot durch die Figur Hitler (durch inszenierte Nähe einerseits und Alterna603 Friedländer, Kitsch und Tod, S. 75f., Herv. im Original. 604 Frank Schirrmacher: Die zweite Erfindung des Adolf Hitler. Bernd Eichingers Risiko und sein Lohn: Sein Film DER UNTERGANG macht das sichtbar, was uns bis heute verfolgt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 15. 09. 2004. 605 Ebd. Diesem positiven Urteil, das man dem Film durchaus zusprechen kann, hat er doch in seiner Reichweite die Maßstäbe der Darstellung verrückt, steht die problematische, prophetisch klingende Aussage Schirrmachers entgegen, »durch Bernd Eichinger würde im Jahr 2004 Adolf Hitler sprechen« (ebd.). Schirrmachers emphatische Stellungnahme geht selbst der Inszenierungsweise auf den Leim und bestätigt die Wirksamkeit der Authentizitätsgeste. 606 Peter Reichel: »Onkel Hitler und Familie Speer« – die NS-Führung privat. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 44 (2005), S. 15–23, hier S. 17. Michael Elm unterstellt den Darstellungen Hitlers eine genuine Haltung der Fantasielosigkeit, mit der ein gegenwärtiger und zukunftsgerichteter Fatalismus einhergeht, der »in die Vergangenheit projiziert« (Michael Elm: Hitler in echt. Die Authentifizierung des Führerbildes durch Zeitzeugendarstellungen. In: Margrit Frölich, Christian Schneider, Karsten Visarius (Hg.): Das Böse im Blick. Die Gegenwart des Nationalsozialismus im Film. München 2007, S. 142–155, hier S. 154) wird. 607 Michael Wild: »Der Untergang«: Ein Film inszeniert sich als Quelle. In: Zeithistorische Forschungen 2 (2005), Heft 1, S. 131–142, hier S. 131. 608 Bernd Eichinger: »Ich halte mich an die Geschichte«. Interview. In: Der Spiegel 19. 04. 2003, S. 153.

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tivlosigkeit anderer Identifikationsfiguren andererseits) und Mitgefühl (durch Mitleid, das wiederum aus der unmittelbaren Nähe und der auf Realismus setzenden Darstellungsweise entsteht) ersetzen die genaue Analyse gesellschaftlicher und politisch-ideologischer Strukturen, die zum Verständnis und zu einer aus diesem Verständnis folgenden Handlungsmacht führen könnte. Die Problematik des Films liegt zum Teil in seiner Einbettung in die medial geführte Diskussion, in der Fiktion und Wirklichkeit – entweder durch publizistisches Kalkül oder durch unseriöse und unüberlegte Berichterstattung – überblendet werden. So publizierte beispielsweise Der Spiegel drei Wochen vor dem Filmstart (23. 08. 2004) eine Titelgeschichte über die letzten Tage Hitlers mit Bruno Ganz als Hitler auf dem Cover, so dass Darsteller und tatsächliche Geschichte nicht deutlich voneinander zu scheiden sind (Abb. 4).609 Die Macher von Der Untergang inszenieren den Film in einer zirkulären Bewegung selbst als historische Quelle,610 wenn Produzent und Regisseur mit ihrem fiktionalen Film Authentizität versprechen und sich zugleich auf historische Dokumente berufen wollen:

609 »Die Verwechslung ist intendiert. […] Stets changierte der Artikel von der Filmbeschreibung zur historischen Nacherzählung, wurden Film und Geschichte so miteinander verknüpft, dass kaum noch kenntlich wurde, was gespielt und was geschehen ist.« (Wildt, »Der Untergang«: Ein Film inszeniert sich als Quelle, S. 136). Das Cover ist horizontal unterteilt. Im größeren oberen Teil ist Bruno Ganz zu sehen. Rechts unten informiert die kleinste Schrift der Seite: ›Hitler-Darsteller Bruno Ganz‹. Links unten titelt: ›Ein Film rekonstruiert die letzten Tage im Führerbunker‹. Direkt darunter in der unteren horizontalen Hälfte ist vor rotem Hintergrund eine Fotografie von Hitler zu sehen. Daneben steht in dicken Lettern ›Hitlers Ende‹. Die Größenverhältnisse auf dem Cover suggerieren eine vertikale Einteilung der Seite und ordnen so den Titel ›Hitlers Ende‹ dem Bild Ganz’ zu und verbinden die Aussage über den rekonstruierenden Film mit der dokumentarischen Fotografie Hitlers. Die formale Anlage des Covers unterstützt so die Verwischung bzw. die Irreführung von Fiktion und Wirklichkeit. 610 Die Produzenten begehen damit einen Kategorienfehler, wenn sie ihren Film als historische Quelle bezeichnen, eigentlich aber die »durch narrative[…] Darstellungsspezifika historischer Stoffe« (Bernd Dolle-Weinkauff: Was ist ein »Geschichtscomic«? Über historisches Erzählen in Comic, Manga und Graphic Novel. In: Comparativ 24 (2014), Nr. 3, S. 29–46. https://doi.org/10.26014/j.comp.2014.03.02, abgerufen am 07. 04. 2022) erzeugten »Authentizitätseffekte[…]« (Christine Gundermann: Inszenierte Vergangenheit oder wie Geschichte im Comic gemacht wird. In: Hans-Joachim Backe, Julia Eckel, Erwin Feyersinger, Véronique Sina und Jan-Noël Thon (Hg.): Ästhetik des Gemachten. Interdisziplinäre Beiträge zur Animations- und Comicforschung. Bielefeld 2018, S. 257–283, hier S. 261). Die von Gundermann und Dolle-Weinkauf geführte Diskussion über die Darstellung von historischen Stoffen und einer sinnvollen Begriffsschärfung im Comic nimmt Britta Wehen im Hinblick auf den (Spiel-)Film vor: Britta Wehen: Historische Spielfilme – ein Instrument zur Geschichtsvermittlung? In: Bundeszentrale für politische Bildung 11. 09. 2012. https:// www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/143799/historische-spielfilme-ein-instrument-zurgeschichtsvermittlung/, abgerufen am 07. 04. 2022.

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Abb. 4: Bruno Ganz als ›Adolf Hitler‹, Der Spiegel vom 22. 08. 2004, Coverabbildung.

Wir machen einen großen epischen Film fürs Kino. Allerdings halten wir uns dabei streng an die Dokumente. An Stenogramme der Lagebesprechungen und an die Aufzeichnungen von Zeitzeugen. Was historisch nicht belegt ist, kommt nicht vor. […] Ich denke, unser Film wird authentischer als alle vorherigen.611

Diese Beglaubigungsstrategie des Interviews lässt an der durch es bekräftigten und bezeugten Authentizität zweifeln. Michael Wildt kritisiert zu Recht den problematischen Status von Eichingers Aussagen: Verrät schon der Komparativ den wenig überlegten Gebrauch des Begriffs ›authentisch‹, sollte auch der Anspruch als solcher hellhörig machen, denn er impliziert, dass vergangene Wirklichkeiten so zu zeigen seien, wie sie gewesen sind. Ist eine derartige Position in der Geschichtswissenschaft bereits seit dem Ende des Historismus epistemologisch weitgehend haltlos, so wird sie ganz und gar unhaltbar, wenn es sich um das Nach-Spiel historischer Ereignisse handelt. […] Wer solche ›Authentizität‹ verspricht, bringt nicht historisches Geschehen zum Ausdruck, sondern entwirft gerade im umgekehrten Sinn in der gegenwärtigen Szenerie die Vergangenheit. Das Zeichen verweist nicht mehr auf seine Referenz, sondern verwandelt sich selbst in den Referenten, der in der Geschichte sein bloßes Zeichen sucht.612

Der Untergang geht nicht souverän und transparent mit seinen eigenen Inszenierungstechniken um, sondern spielt vielmehr »den Zuschauern gleichförmig und eindimensional ›Authentizität‹ vor: Was zu sehen ist, sei das Wirkliche. Die Behauptung der Filmemacher, der ›Untergang‹ halte sich streng an die histori611 Bernd Eichinger, »Ich halte mich an die Geschichte«, S. 153. 612 Wildt, »Der Untergang«: Ein Film inszeniert sich als Quelle, S. 133.

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schen Dokumente, ist daher nicht mehr naiv zu nennen – sie ist eine bewusste Täuschung.«613 Die starke These Wildts ist der Vermengung vom geführten Diskurs über den Film in verschiedenen Epitexten und dem Film selbst geschuldet. Sie trifft dann zu, wenn die Rezipierenden von Der Untergang den vorgespielten Realismus tatsächlich nicht als Ästhetisierungsstrategie zu entziffern wissen und eine 1:1-Übersetzung von der Fiktion zur faktisch geschehenen Vergangenheit vornehmen. Vorzuwerfen ist der Mise en scène, dass es keinen Bruch gibt, der auf die Inszenierung als Inszenierung hinweisen würde und sie damit ganz in der thematischen Fokussierung aufgeht. Zugespitzt gesagt: Man kann dem Film vorwerfen, er wolle mehr sein als eine (reflektierte?) fiktionale Verhandlung eines historischen Themas unter den Bedingungen zeitgenössischer gesellschaftlicher Darstellungs- und Diskurskonventionen. Der Film ist daher sowohl in seiner Vermarktungsstrategie als auch in der Darstellung des Verhältnisses der Führungselite zu Hitler und nicht zuletzt im Anspruch der Macher, eine ultimativ authentische Darstellung zu liefern, problematisch.614 Durch die Besetzung von Regie, Hauptdarsteller und Produzenten mit autoritären Diskurs(-bei)-trägern generiert der Film zudem einen medialen Hoheitsgestus. Damit einher geht ein – mehr oder weniger implizit bleibender – Anspruch, den Diskurs mitzubestimmen.

3.5.2 Der Bonker: Entmythisierung Hitlers und inszenatorische Selbstermächtigung Als Replik auf Hirschbiegels Film persifliert Walter Moers’ Der Bonker zum einen die Strategien von Authentizität, Sensation und Exklusivität und weist zum anderen die mit der Tendenz zur Psychologisierung einhergehende Überzeugung, dass authentische Wiedergabe unmittelbar (sach-)erklärend sein soll, als tautologische Erklärungsstruktur aus. Der Verlagstext auf der ersten Seite konterkariert in seinem Sprachduktus die auf Seriosität setzende Geste aufklärerischer Authentizität, wie sie die Paratexte zu Der Untergang inszenieren und übersteigert den Sensationscharakter ins Lächerliche: Was geschah wirklich in den letzten Tagen, die ›Adolf, die alte Nazisau‹ in seinem Bonker verbracht hat? Walter Moers kennt das ganze Drama, und nun muß die Ge-

613 Ebd., S. 135. 614 Dabei wäre es falsch, den Film in seiner Gesamtheit zu verurteilen und die durchaus positiven Bemühungen nicht zu honorieren. Durch die Reduktion auf wenige Tage und Figuren gelingt es dem Film beispielsweise in einem Kondensat den Aspekt der Sektenhaftigkeit des Nationalsozialismus aufzuzeigen.

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schichte neu geschrieben werden! Endlich erfährt die Welt, welche Rolle Gandhi und der Popmusiker Prince, Mussolini und Eva Braun, Winston Churchill, Günther Jauch und eine Flasche Chantré, Heinz Rühmann und der Papst, Gott, der Tod und nicht zuletzt Blondi, der Schäferhund, dabei spielen. (B, Verlagstext)

Der saloppe Sprachstil, der mehr an Titel der »Bild«-Zeitung erinnert als an seriöse Verlagstexte, hintertreibt den vorgeblichen Anspruch, dass mit diesem medialen Erzeugnis die Geschichte neu geschrieben werden müsse und ahmt den sonst implizit bleibenden Anspruch nach Deutungshoheit explizit ausstellend nach. Die eingeführte Autorität ist Walter Moers selbst. Der Sensationsduktus wird beibehalten. So suggeriert der Satz ›Endlich erfährt die Welt…‹ eine differenzierte und kenntnisreiche Perspektive, wenn er den Fokus von Hitler weg auf andere beteiligte Personen setzt. Neben den tatsächlich im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs über den Nationalsozialismus verhandelten Persönlichkeiten aus Hitlers mittelbarem und unmittelbarem Umfeld nennt der Text darüber hinaus nicht nur Figuren aus der gegenwärtigen Pop- und Medienkultur wie Prince und Günther Jauch, sondern Artefakte (eine Flasche Chantré), Tiere (Hitlers Hund Blondi) und metaphysische Konzepte (Gott und Tod). Das Nebeneinander dieser kategorial unvereinbaren Figuren versetzt das Setting von Der Bonker aus einer historisch und räumlich fixierten Zeit in die Arena eines diskursiven Ortes nach der Jahrtausendwende. Damit markiert der Comic deutlich, dass seine Referenz Diskursfragmente, gesellschaftliche Meinungen, wissenschaftliche Aussagen, Verschwörungstheorien und massenmediale Bearbeitungen des historischen Themas, kurz: Zeichenkonstellationen sind. Der Klappentext wechselt im zweiten Absatz das Register und greift auf die schon im ersten Adolf-Band genutzte Rhetorik des Do-it-yourself zurück: Werden Sie mit Hilfe dieses Buches ein neuer Gründgens, Knopp oder Eichinger: Beigegeben sind dafür Fingerfiguren der handelnden Personen zum Ausschneiden und theatralischen Nachspielen der schönsten Szenen. Außerdem erhalten Sie eine DVD mit der Welturaufführung des ersten Film- & Musikclips mit dem ›Führer‹: ›Ich hock in meinem Bonker‹, in 3D animiert von Felix Gönnert, komponiert und interpretiert von Thomas Pigor. (B, Verlagstext)

Bernd Eichinger, Guido Knopp und Gustav Gründgens stellen ebenjene drei Diskurshoheiten mit staatstragender oder bedeutsamer unternehmerischer Funktion dar, die auch den Produktionsprozess von Der Untergang gestalteten: Bernd Eichinger ist dabei ein direkter Verweis auf Der Untergang, Guido Knopp verweist auf Joachim Fest und der Gustav Gründgens des Untergangs ist Bruno Ganz. Die drei bei Moers genannten Personen stehen für verschiedene repräsentative Diskurse, die für die Bundesrepublik von staatlicher Relevanz waren und sind. Gustaf Gründgens hat nicht nur während des Nationalsozialismus, trotz seiner bekannten Homosexualität, einen bemerkenswerten Karriereauf-

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stieg gemacht, weswegen seinem Namen ein zwiespältiger Ruf anhängt.615 Ihm ist es darüber hinaus gelungen, nahezu lückenlos im neuen System der jungen Bundesrepublik eine für den kulturellen Diskurs relevante Position des Generalintendanten zunächst am Theater in Düsseldorf (von 1947 bis 1955) und danach am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg zu besetzen. In dieser Funktion war es ihm möglich, den Spielplan der jeweiligen Häuser zu bestimmen. Er zeichnet außerdem verantwortlich für die Verfilmung des Faust, ein Film, dem durchaus der Status der autoritativen Ausdeutung ›deutschen Kulturguts‹ innewohnt: Gründgens′ Darstellung des Mephisto ist noch immer die relevante Referenz für Faust-Inszenierungen. Guido Knopps Name hingegen ist untrennbar mit der seit den 1980er Jahren etablierten, unter dem Begriff Histotainment bekannten, öffentlich-rechtlichen Form des Geschichtsfernsehens im Sender ZDF verbunden. In dieser Position zeichnet er für das Framing der im Medium Fernsehen erzeugten deutschen Erinnerungskultur verantwortlich: Guido Knopp war »[e]iner der ersten, der das große Potential von ›Geschichte‹ für ein populäres massenattraktives Geschichtsfernsehen nutzte […]. ›Aufklärung braucht Reichweite‹, so Knopps Diktum. Geschichte müsse so präsentiert werden, ›dass sie Millionen von Menschen sehen wollen, die normalerweise kein Interesse für Geschichtsfernsehen haben.‹«616 Bernd Eichinger war als einer der bekanntesten deutschen Filmproduzenten (später auch als Filmregisseur und Drehbuchautor) zwar als freier Unternehmer tätig, stand in dieser Position aber vor allem für den massenkul-

615 Siehe dazu auch die Debatte um Klaus Manns Roman Mephisto – Roman einer Karriere, dessen Protagonist, der seine Karriere in den Dienst des Nationalsozialismus stellt, nach Gründgens’ Vorbild gezeichnet ist. Der Roman entfachte nicht nur eine juristische wie literarische Debatte über die »Kunstfreiheit, sondern auch um solche [Fragen] der personellen Kontinuität und des Stellenwertes kritischer Exilliteratur im Nachkriegsdeutschland.« (Eugenia Bösherz: Mephisto-Verbot. In: Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld 2009, S. 104–106, hier S. 104). 616 Thomas Fischer, Thomas Schuhbauer: Geschichte in Film und Fernsehen. Theorie – Praxis – Berufsfelder. Tübingen 2016, S. 72. Die Zitate im Zitat stammen aus Guido Knopp: Zeitgeschichte im ZDF – Aufklärung braucht Reichweite. In: Eckhard Lange, Hans-Gerhard Stülb (Hg.): Informationsprodukte auf dem Prüfstand. Qualitätsanforderungen an die Mediendokumentation in der Krise der Medien. Berlin, Hamburg, Münster 2004, S. 91–98, hier S. 98. Auch Knopps Vorstellung von fernseh-medialer Geschichtsvermittlung ist keineswegs unumstritten. So bezeichnet etwa Wulf Kansteiner Knopps Produktionen als »Geschichtspornografie« (Wulf Kansteiner: Die Radikalisierung des deutschen Gedächtnisses im Zeitalter seiner kommerziellen Reproduktion: Hitler und das »Dritte Reich« in den Fernsehdokumentationen von Guido Knopp. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), S. 626–648, hier S. 648).

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turellen Erfolg von Blockbustern und Kassenschlagern. Er verkörperte damit eine ›deutsche[…] Version von Hollywood‹.617 In der Aufforderung zur Eigenermächtigung des Narrativs durch die Übernahme bestimmter autoritärer Rollen, liegt kritisches und befreiendes Potential gleichermaßen. Befreiend ist die Aufforderung in dem Maße, in dem sie als Aufruf zur Pluralisierung verstanden wird, den filmischen Geschichtserzeugnissen alternative Fiktionen zur Seite und damit die Hoheit der einen, korrekten filmischen Inszenierung in Frage zu stellen. Als kritisch-entlarvende Geste lässt sich die Aufforderung lesen, wenn man im Kontext des Themas Nationalsozialismus und Holocaust an den Topos der Zeugenschaft als ultimative und einzige Form, Authentizität zu verbürgen, erinnert. Angesichts vor allem filmischer Geschichts- und Gedächtnisbilder über Überlebende der Vernichtungslager büßt die Kategorie der Authentizität zwar keineswegs ihre Wirkmacht ein, sie wird allerdings über andere Parameter als solche ›erfahren‹: Statt sich auf die Wahrhaftigkeit durch die Indexikalität der Zeugenaussagen zu berufen, bilden in der filmischen Darstellung häufig Wirkung und emotionale Zugänglichkeit den Maßstab, nach dem Authentizität bewertet wird. Dies zeigt sich beispielsweise an der Ersetzung der realen Personen durch Schauspieler,618 wie im Fall Bruno Ganz. Brisanter ist dies, wenn es sich um die Ersetzung von medial ›nicht wirksamen‹ Holocaust-Überlebenden handelt, wie etwa der Überlebenden Marga Spiegel, deren Erinnerungen 2009 unter dem Titel Unter Bauern – Retter in der Nacht mit Veronica Ferres als Marga Spiegel verfilmt wurden. Beide wurden anlässlich der Premiere in eine Talkshow eingeladen, in der Ferres die Deutungs- und Erzählhoheit über die Geschichte der neben ihr sitzenden Martha Spiegel an sich riss: Bereits nach wenigen Minuten unterbrach Ferres die Erzählung der alten Dame, führte die ›Erinnerung‹ alleine fort und vollendete selbst die Gesprächssequenz. Diese Intervention blieb kein Einzelfall; im Verlauf der Sendung beeilte sich der Filmstar immer 617 Anlässlich seines Todes wurde Eichinger im Spiegel als »vielleicht der einzige [deutsche Produzent] von wirklichem Weltformat« (Produzent Bernd Eichinger gestorben. In: Der Spiegel 25. 01. 2011) bezeichnet und Hanns-Georg Rodek nennt ihn den einzigen deutschen »Film-Tycoon« (Hanns-Georg Rodek: Bernd Eichinger – Film-Tycoon, Macho und Feingeist. In: Die Welt 25. 01. 2011. 618 »Die alles entscheidende Zuschreibung von Authentizität – ›Diese historische Sendung, dieses Narrativ, diese Bilder sind wahr‹ – kann immer nur eine gemeinsame Aussage von Produzenten und Konsumenten sein. Beide Akteursgruppen […] produzieren über Geschichtsevents eine gemeinsam getragene und ausgestaltete Fiktion von Authentizität. Dabei werden von und durch prominente Personen erzählte Geschichten zum Anlass genommen, eigene Denkweisen mit den Fernsehinhalten in Einklang zu bringen und dabei individuelle Identitätsentwürfe neu auszurichten oder auch zu bestätigen.« (Silke Satjukow, Rainer Gries: Hybride Geschichte und Para-Historie. Geschichtsaneignungen in der Mediengesellschaft des 21. Jahrhunderts. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 51 (2016), S. 12–18, hier S. 16).

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wieder, aus der Perspektive der jungen Jüdin Marga Auskunft zu erteilen – unbeschadet dessen, dass die reale Marga unmittelbar neben ihr saß. […] die Aktrice enteignete die Akteurin – ihres Wortes, ihrer Geschichte und Biografie und schließlich auch ihrer Erzählung. Diese Talkshow-Episode ist symptomatisch, sie macht die Strukturelemente unserer Passagen-Zeit augenfällig.619

Auf solch höchst problematische und gefährliche Aneignungen von individueller Rede und Geschichte weist die Aufforderung in einer übertriebenen, parodistischen Geste hin. Dass Moers selbst diesen Weg nicht einschlägt, sondern sich in seinen Comics ›nur‹ die Geschichte Hitlers aneignet und durch die Serialitätsmaschine schickt, lässt sich als Grenzmarkierung deuten: Über den Holocaust oder Holocaust-Überlebende zu schweigen bedeutet dann keine Verharmlosung, sondern die Verweigerung, diesen Aspekt der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus den parodistischen Verfahren der Kritik zu unterwerfen, sprich, sich diese Geschichten nicht unrechtmäßig anzueignen. Als »popkulturelle Korrekturarbeit«620 verweigert Moers einerseits überhaupt eine mimetisch-aneignende Erzählung über die Überlebenden zu liefern. Andererseits vermeidet er in der Darstellung Adolf Hitlers in Der Bonker jegliche Tendenz zur narrativen Schließung durch eine radikale Reduzierung der erzählerischen Führung und deren Komponenten wie Kausalität oder Plausibilität. Im Ausweisen der unterschiedlichen Strategien von Der Bonker und Der Untergang ist es Moers, laut Alexandra Tacke, um die »Abstraktion der Karikatur ebenso wie die dreiste Überzeichnung und die De-Konstruktion«621 zu tun, während Der Untergang »auf ›die schauspielerischen Techniken der Imitation‹ [setzt].«622 Tacke setzt damit die beiden ästhetischen Verfahren der De- bzw. »Rekonstruktion und [der] realistische[n] Nachzeichnung«623 auf den Prüfstand im Hinblick auf deren entlarvende – das heißt für sie entdämonisierende und demythisierende – Fähigkeiten. Sie kommt zu dem Schluss, dass Der Untergang sowohl auf der Ebene der Figuren- und Rauminszenierung als auch auf der sprachlichen Ebene durch den Einsatz der »Politik-als-Theater-Metapher«624 auf narrative und historische Schließung aus ist, mit der ein »Distanzierungseffekt [einhergeht], […] um endgültig mit der deutschen Vergangenheit abschließen zu 619 Satjukow/Gries, Hybride Geschichte und Para-Historie, S. 16. 620 Björn Weyand: Lebendiges Ende. Joachim Fests historische Skizze ›Der Untergang‹. In: sachbuchforschung.de 2007. https://www2.hu-berlin.de/sachbuchforschung/CONTENT/Ar tikel/Rezensionen/w008.html, abgerufen am 11. 09. 2020. 621 Tacke, De/Festing Hitler, S. 270. 622 Ebd. S 271. Das Zitat im Zitat entstammt dem Interview mit Bernd Eichinger auf der Webseite zum Film, die nicht mehr existiert. 623 Ebd., S. 271. 624 Ebd., S. 278.

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können«.625 Diesen Abschluss verweigert Moers’ Comic, wenn er ihn geradezu als Do-It-Yourself-Buch konzipiert, bei dem die Leser:innen selbst tätig werden dürfen. Der Verlagstext auf der Innenseite von Der Bonker ist ein ironischer Kommentar zur monopolistisch verteilten Autorität kultureller Vermittlungen auf (diese) wenige(n) Diskursträger. Deshalb ergeht – als Aufruf zum Pluralismus – die Aufforderung an die Rezipierenden, im eigenen Spiel die gegenwärtig kursierenden medialen Fiktionen entweder in mimetischer Weise nachzuahmen oder sich als Diskursbegründer zu inszenieren und eigene Formen der narrativen Ausgestaltung zu finden. Dabei greift Moers ebenfalls auf das Theater-Konzept und das Spiel (im Spiel) zurück, das Sandra Nuy als Dramaturgie [bezeichnet], die eine Komik des Schreckens konstituiert […]. In den Filmen über Holocaust und Nationalsozialismus, die mit komischen Elementen arbeiten, lässt sich die Komik immer auf eine Grundform zurückführen: die des Spiels. Als dramaturgisches Grundmuster verwirklicht sich das spielerische ›So-tun-als-ob‹ auf dreierlei Art und Weise: 1) im Spiel als solchem […], 2) durch den Motivkomplex Theater […] oder 3) durch das Spiel einer sozialen Rolle, am deutlichsten verwirklicht im Motiv des Doppelgängers.626

Der Bonker ›erzählt‹ denn auch weniger die angekündigte Geschichte, als dass er ein Skript für »Eine Tragikomödie in drei Akten« (B, Untertitel) bereithält, die ihrer Aufführung durch die Leser:innen harrt. Statt eines ›normalen‹ Comics mit durch Panels strukturierten Seiten, liegt ein Theatertext mit Figurenrede und Regieanweisungen vor. Nicht gerahmte Zeichnungen kleiner Szenen (meist Hitler, entweder allein oder mit anderen Figuren im Portrait, teilweise mit minimaler Zusatzausstattung wie einem Telefon oder dem Volksempfänger) finden sich auf einigen Seiten unter dem abgedruckten Text.627 Einige Textteile sind durch Sprechblasen gerahmt, deren Hinweisstriche zu den Zeichnungen führen. Die erzählte Geschichte ist durch einen Prolog und das Bonusmaterial gerahmt sowie durch Doppelseiten, die Vorhänge darstellen und auf denen die Akte628 notiert sind, unterteilt. Das Theater- und Spielkonzept ist durch mehrfache Schichtung markant ausgestellt. Der erste Hinweis liegt im bereits zitierten Verlagstext. Daraufhin ist 625 Ebd., S. 278. 626 Sandra Nuy: Comic relief – Lachen über Hitler, Goebbels & Co. Papier für die PanelTeilnahme an der internationalen Konferenz »Täterforschung im globalen Kontext«, Berlin 27.–29.01.09. www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/FMMZ70%5B1%5D_nuy_de.pdf, abgerufen am 11. 09. 2020. 627 Ausnahmen bilden vier Seiten, die ganz durch Zeichnungen ausgefüllt sind: Eine Doppelseite ziert ein onomatopoetisches »Boum!« (B, 1. Akt) zur Darstellung einer Bombenexplosion in Comicsprache, auf den beiden weiteren textlosen Seiten sind Tod und Gott gezeichnet. 628 »1. Akt Götterdämmerschoppen«; »2. Akt Arier und Vegetarier«; »3. Akt Tausend Jahre Einsamkeit« (B).

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dem eigentlichen ›Theaterstück‹ eine in schwarz-weiß gehaltene Comicgeschichte mit dem Titel »3 Wünsche« in der üblichen Paneldarstellung vorgelagert. Dort wartet Hitler auf seinen Bühnenauftritt – offensichtlich im Begriff, sich selbst zu spielen (»Mein Gott, bän äch nervös! Mein ärstes Böhnenstöck!« (B, 3 Wünsche)) – als ihm Prince in der Gestalt des Geists aus seiner Chantré-Flasche erscheint. Prince verspricht, Hitler drei Wünsche zu erfüllen. Die Anspielung auf das Märchen-Genre629 verdoppelt den Fiktionalitätscharakter. In der besten Manier scheiternder ›Drei-Wünsche-Witze‹ verunglücken alle Wünsche Hitlers durch dessen sprachliche Ungeschicklichkeit: Auf die Erinnerung einer Off-Stimme an seinen Auftritt, kontert Hitler, er »wönsche jätzt nicht gestört zo werden« (B, 3 Wünsche), den zweiten Wunsch verschenkt er aus Versehen an Prince, dem er auf dessen Idee zur Neuerfindung als Politiker entgegnet: »I have been through this before! I wish you luck!« (B, 3 Wünsche) und den dritten Wunsch löst er mit dem an Prince gerichteten Befehl »Leave me alone« (B, 3 Wünsche) ein. Prince’ Auftauchen erzeugt einen intertextuellen Verweis zum ersten AdolfBand und sichert so einerseits die Kontinuität der drei Comic-Bände, andererseits erzeugt er darin erneut ein zirkuläres, internes Verweissystem. Auch das Gespräch zwischen Adolf und Prince knüpft an die Prolog-Geschichte des ersten Bandes an, wenn es erneut darum geht, dass sowohl Prince als auch Hitler ihre Bezeichnungen/Namen wieder geändert haben. Prince verkündet: »My name isn’t TAFKAP anymore! It is Prince again! Because I make some good music again« (B, 3 Wünsche), worauf Hitler antwortet: »My name was GRÖFAZ once, but it’s Adolf again! Because I lost that fucking war!« (B, 3 Wünsche) Im Gegensatz zum sprachlich-diskursiven Flottieren von Symbolen, Bezeichnungen und den damit suggerierten flexiblen Identitäten wartet Adolf nun darauf, in seinem ersten Bühnenstück sich selbst zu spielen. Dessen nicht genug, zeigt auch der Hinweis auf die »Welturaufführung des ersten Film- & Musikclips mit dem ›Führer‹« (B, Verlagstext), dass das Zeichen ›Hitler‹ immer nur zirkulär auf sich selbst zurückverweist. Durch den mit Der Bonker präsentierten Medienverbund (von Buch und DVD) wird die Figur Adolf zu einem »sliding signifier[…]«630, eine Bezeichnung, die Marsha Kinder als das Charakteristikum von Medienverbundsystemen ausgemacht hat. Diese signifyers zeichnet aus, dass sie »durch die verschiedenen […] synchronisierten Medien […] gleiten, sich dabei ständig verändern und doch immer dieselben bleiben.«631 Unterstrichen wird diese 629 Siehe das Märchen Die drei Wünsche der Brüder Grimm sowie Aladin und die Wunderlampe aus den Märchen aus 1001 Nacht. 630 Marsha Kinder: Playing with Power in movies, television, and video games. From Muppet Babies to Teenage Mutant Ninja Turtles. Berkeley 1993, S. 3. 631 Heinz Hengst: »Buy us all – don’t break the family«. Stichwort Medienverbund – Im Zirkel des Populären. In: Petra Josting, Klaus Maiwald (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur im

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Persistenz dadurch, dass alle anderen auftretenden Figuren im eigentlichen Theaterstück Masken tragen und vorgeben, jemand Anderes zu sein. In dieser Zirkularität wird erneut deutlich, dass das Bild Hitlers »zu einer Tatsache«632 wird und sich jeglicher Bedeutung entleert bzw. wie die Bilder der Pop-Art »bedeuten, daß sie nichts bedeuten«.633 Das Verweissystem des Zeichens ›Adolf Hitler‹ läuft wieder und wieder ins Leere – ganz gleich welche diskursive Deutung damit verfolgt wird. Der detaillierte Blick und die über drei Bände dauernde Wiederholung des Zeichens legt nicht nur die Zirkularität des Zeichens frei, sondern weist in dieser Selbstbezüglichkeit auf dessen »ewige[…] Identität […] und […] reinigt das Bild, um […] dessen rhetorisches Wesen [wiederzugeben]: […] den sozialen Code«.634 Damit macht Moers’ Comic deutlich, dass die Faktizität Hitlers stets nur über einen vermittelten, inszenierten und das heißt durch einen bestimmten (sozialen, ästhetischen, diskursiven) Code zugänglich ist. Das in Der Bonker auf DVD enthaltene Musikvideo des HipHop-Songs Ich hock in meinem Bonker von ADOLF feat. Pigor – das auch auf Youtube635 zu finden und damit einem breiteren Publikum über die Buchkäufer hinaus zugänglich ist – zeigt den singenden Hitler nackt in der Badewanne und auf der Toilette. Damit realisiert es buchstäblich die stets geforderte intime Nähe und zeigt Hitler »entkleidet […] von vermeintlichem Tabubruch, alter Ehrfurcht und abgetragenem Pathos, die manch andere Medienauftritte Hitlers noch immer schmücken.«636 Der Musikclip entlarvt, dass ›hinter‹ dem Diktator Hitler der Mensch Hitler nicht ein ganz anderer ist und weist damit den Der Untergang begleitenden Diskurs als in der Rhetorik genrespezifischer Merkmale des Melodramatischen gehalten aus. Die Rede vom »großen epischen Film«637, der »authentischer als alle vorherigen«638 werden solle, sich zugleich »streng an die Dokumente«639 halte und dabei aber etwas noch nie Dagewesenes zeige,640 erin-

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Medienverbund. Grundlagen, Beispiele und Ansätze für den Deutschunterricht. München 2007, S. 22–34, hier S. 26. Barthes, Die Kunst, diese alte Sache…, S. 211. Ebd., S. 211. Ebd., S. 214. Seine Verbreitung über das Internet konkurriert dabei mit dem an Verkaufszahlen und Rechte gebundenen filmischen Vertriebssystem, in das Der Untergang eingebunden ist. Sonja M. Schultz: Der Nationalsozialismus im Film. Von TRIUMPH DES WILLENS bis INGLOURIOUS BASTERDS. Berlin 2012, S. 409. Interview mit Bernd Eichinger, »Ich halte mich an die Geschichte«, S. 153. Ebd., S. 143. Ebd., S. 143. »Es ging also nicht darum, eine Schablone zu liefern, sondern einzudringen in die Personen selbst. Und dadurch Einsichten zu gewinnen […]. Das ist der Zuwachs, den dieser Film zur Geschichtsbetrachtung beiträgt, und den es vorher so noch nicht gegeben hat.« (Bernd

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nert an die Bestimmung des Melodramas von Peter Brooks: Das Drama bearbeitet die ›banale‹ Realität durch das Verfahren der Vertiefung, »to charge it with intenser [sic!] significances«641 zur Bergung einer »truer, hidden reality«.642 Eichingers Worte verleiten dazu, den Film – paradoxerweise, weil beide Aspekte sich gegenseitig ausschließen – als authentisches Melodrama zu rezipieren. Walter Moers und Pigor nehmen die Rede von der wahren, versteckten Realität beim Wort und lassen diese die Betrachtenden in einer satirischen Mimesis (im selben Medium Film) sehen: Das Ergebnis ist ein nackter, dickbäuchiger Hitler, der, sein Geschäft verrichtend, auf der Toilette sitzt. Menschlich zeigen heißt zunächst, die mit dem überhöhten Gegenstand verbundenen Erwartungen zu entlarven und Adolf keinen mythologisierenden Abgang zu ermöglichen. Die entstehende Komik zielt, wie Ernst Bloch in seinem Aufsatz »Der Nazi und das Unsägliche« formuliert, auf die »Entlarvung des aufgedonnerten Nichts […]. Die Kraft ihres Witzes ist es, Kümmerliches und Unechtes blitzartig hervortreten zu lassen; nun steht es so nackt wie lächerlich da.«643 Zugleich richtet sich die enttarnende Funktion der Komik auf die möglicherweise vorgefertigten Koordinaten der Rezipierenden. Sie werden aus ihrer passiven Haltung in eine aktive Position versetzt und zur eigenen – interpretierenden – Handlung aufgefordert, weil Moers’ Comics keine eindeutige moralische Position anbieten und keinen autoritären Habitus durch den Einsatz symbolischen Kapitals – etwa im Sinne einer autoritativen Autorposition – ausbilden. Moers’ Comics treten nicht mit dem Anspruch an, den Diskurs zu bestimmen, sondern stellen dem herrschenden Diskurs eine zusätzliche Stimme bei. Der Musik-Clip Ich hock in meinem Bonker kann als direkte Replik auf die ausgestellte Ernsthaftigkeit von Der Untergang und verwandte Geschichtsinszenierungen gesehen werden. Die einleitende Texteinblendung, die in Spielfilmen historische Wahrhaftigkeit suggerieren soll, ist hier ironisch eingesetzt.644

Die für historisierende Filme typische beglaubigende Texteinblendung über Anleihen an tatsächlich geschehene Ereignisse wird im Video wie im Comic ersetzt durch einen Text im Duktus sensationsheischender, spannungserzeugender Rhetorik, die ins Lapidare kippt: »›Berlin, 30. April 1945. Die Welt brennt, Deutschland liegt in Schutt und Asche, und Japan geht es auch nicht mehr so gut.

641 642 643 644

Eichinger: »Ich will keine Schablonen«. Interview mit dem Regisseur über seinen Film Der Untergang. In: Rheinische Post 14. 09. 2004. Peter Brooks: The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess. New Haven, London 1995, S. 2. Ebd., S. 2. Ernst Bloch: Der Nazi und das Unsägliche (1938). In: Ders.: Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz. Werkausgabe Bd. 11. Frankfurt am Main 1976, S. 185–192, hier S. 187. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film, S. 409.

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Adolf III: Der Bonker

Nur einer läßt sich nicht unterkriegen – im Führerbunker brennt noch Licht!‹« (B) Die mehrfach distanzierende Verfremdung durch den – leidlich gut – rappenden Hitler645, die Animation des Videos und die lächerliche Zeichnung der Figuren konterkarieren das pseudo-realistische Setting des Führerbunkers von Der Untergang. Auch die erzählerische Medienkonkurrenz durch das Theaterskript von Der Bonker, in dem sich der oben zitierte Text als Prolog vor dem ersten Vorhang ebenfalls abgedruckt findet, stellt deutlich den medialen Charakter des Videoclips und des Comics aus. Beide sind durch ihren parallelen Vertrieb in einem Medienverbund als wiederholende Varianten ausgezeichnet und negieren damit die Vorstellung einer einzigen – staatlichen, medialen oder gesellschaftlichen – Deutungshoheit.646 Im Fall des Musikvideos zeigte sich zudem, dass die Bedeutsamkeit des symbolischen Kapitals als Implementierung von Hierarchie durch andere Ordnungsstrukturen kurzfristig ausgesetzt wurde: Durch die Verbreitung über das Internet erreichte das Video eine hohe Rezeptionsrate – und wurde so in der Währung des Mediums Internet ein virales Phänomen, das gerade nicht über Autorität Bedeutsamkeit erhielt. Häufig ergeht an derartige popkulturelle Produkte der Vorwurf, dass die Popkultur die Abbildungsprinzipien des Nazismus gewissermaßen [darin] fortführt […] dass das Bedürfnis, den Mythos Hitler herabholen und banalisieren zu wollen, ihn als einen Jedermann in profanen Alltagssituationen zu zeigen […] letztlich ebenfalls die Abbildungssystematik des Nationalsozialismus reproduziert, die Hitler einerseits zum Mythos stilisierte, andererseits aber auch stets in inszenierten Momenten des Alltäglichen und Privaten zeigen wollte.647

Der Vorwurf geht hier ins Leere, muss doch differenziert werden, dass die unter dem Nationalsozialismus verbreiteten Bilder des privaten Hitler inszenierte Idyllen konstruierten. Diese vermag schon der erste Adolf-Band durch die Inszenierung von Hitlers Verhalten gegenüber seinem virtuellen Haustier-Tamagotchi zu dekonstruieren, wenn die Harmonie des gemeinsamen Lebens sich in Hitlers Hass und Vernachlässigung des Tamagotchis wandelt, die zu dessen Tod führen. Auch die Bunker-Parodie des Videos bleibt nicht bei der Verkleinerung 645 Das Musikvideo ist eine implizite Antwort auf Prince’ Frage aus dem ersten Adolf-Band, ob Hitler ein Musiker sei (siehe A I, Ein Abend). Den Rezipierenden bleibt es überlassen, darüber zu urteilen, ob Hitler auch in dieser Kunstrichtung als gescheitert zu beurteilen ist. 646 Auch die selbststilisierende Medieninszenierung, die Hitler durch Rhetorikübungen und Körperschulung zu perfektionieren suchte und die in den Fotografien von Heinrich Hoffmann ihren medialen, ikonischen Ausdruck finden, werden in Der Bonker in ihrem Inszenierungsstatus entzaubert: Drei Schwarz-Weiß-Bilder zeigen Hitler in albernen, an Jugendliche erinnernde Gesten – er zeigt den Mittelfinger oder streckt mit an die Ohren gehaltenen Händen die Zunge heraus. 647 Jazo, Postnazismus und Populärkultur, S. 245.

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Hitlers stehen, sondern zeigt als Kontrast zur absurden, heilen Bunkerwelt die Trümmer der historischen Realität. Damit verweist das Musik-Video auf die historischen Fakten durch bildliche Andeutungen des zerstörten Berlins als notwendige Re-Kontextualisierung: In contrast to most of the Downfall parodies, however, Moers lampooned Hitler from a clear moral perspective. In the video, the camera occasionally pans away from the bunker’s interior to show the ruined city of Berlin at night, searchlights thrusting skyward in the attempt to spot Allied aircraft. The exterior of the bunker is spraypainted with graffiti slogans: ›Nazis Out!‹, ›Peace‹, ›Make Love Not War.‹ These touches absolved the video of minimizing Hitler’s impact on history by showing its destructive consequences.648

Man muss Rosenfelds starker These nicht zustimmen, um Moers’ Comic-Kunst das Potential zur produktiven Auseinandersetzung mit den medialen Erzeugnissen über Hitler zuzusprechen. Die Comics wie auch das Musikvideo bieten vielfältige Möglichkeiten für die Rezipierenden, auf die in der unterhaltenden Darstellung eröffneten Reflexionsräume zuzugreifen.

3.6

Walter Moers’ Adolf-Comics – Fazit

Walter Moers’ Adolf-Comics inszenieren Adolf Hitler im Genre des Superhelden. Damit reproduzieren sie in parodierend-kritischer Distanz die mit der historischen Person Hitlers einhergehende Überhöhung und Mythisierung in einem Medium (und einem Genre), das radikal antirealistisch und antiessentialistisch ist. Die Reduktion des Cartoon-Stils ermöglicht die Hervorhebung spezifischer physiognomischer wie motivischer Eigenschaften. Das Verfahren der Serialität macht die Funktionsweise des in massenindustrielle und popkulturelle Kontexte überführten Zeichens ›Adolf Hitler‹ deutlich: Als ikonisches wird es seiner historischen Referenz entfremdet und auf einen abstrakten semantischen Inhalt des ›absolut Bösen‹ reduziert. Durch diese Reduktion aber wird es möglich, das Zeichen in wechselnde Kontexte zu versetzen und durch das reizstarke Bild andere Inhalte mit der abstrakten Bedeutung des Provokativen und Bösen aufzuladen. Tendenzen zur Nivellierung und gegenseitigen Infizierung greifen auch auf verschiedene Begrifflichkeiten über und beeinträchtigen das Unterscheidungsvermögen der Ebenen Realität und Fiktion: Adolf Hitler gerät derart zur bildlichen Tatsache seiner selbst, dass Bedingungsund Entstehungsverhältnisse von medial und fiktional erzeugten Darstellungen und faktischer Wirklichkeit sich bis zu ihrer Ununterscheidbarkeit umkehren, so 648 Gavriel D. Rosenfeld: Hi Hitler! How the Nazi Past is Being Normalized in Contemporary Culture. Cambridge 2015, S. 315.

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Walter Moers’ Adolf-Comics – Fazit

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dass die fiktionale Bild-Tatsache aufgrund ihrer persistenten medialen Verbreitung die Wahrnehmung der historischen Wirklichkeit verzerren kann. Durch das penetrante Ausstellen von monokausalen Erklärungsmustern und sprachlichen wie bildlichen Nivellierungstendenzen weisen die Comics auf die Unterkomplexität solcher Geschichtsauffassungen hin. Moers zeigt, dass das ReInszenieren der Vergangenheit nach den immer gleichen Darstellungsmustern in massenmedialer Verbreitung den Blick auf die Vergangenheit ebenso verengt wie den diskursiven Zugang dazu festschreibt und in ihrem historisch gebundenen Inhalt potentiell entleert. Der dritte Teil der Adolf-Comics, Der Bonker, ist als parodistischer Kommentar zu Oliver Hirschbiegels Der Untergang zu lesen. Damit entlarvt der Comic die dem Film innewohnenden Tendenzen zur Mythologisierung im Sinne Roland Barthes. Authentizitätsstrategien sollen das fiktionale Produkt als realer als die Wirklichkeit beglaubigen. Den Gegenangriff inszeniert Moers durch eine radikale Umkehr der Strategien, wenn Der Bonker nurmehr ein Skript in Form eines Dramas oder Drehbuchs zum Selbstspielen mit beigegebenen Fingerpuppen präsentiert. Diese Strategien der Entnaturalisierung fordern die Rezipierenden zur eigenen, aktiven Produktion heraus. An die Leser:innen ergeht die Aufforderung, eine eigene Version der medialen Inszenierung historischer Ereignisse zu erfinden und damit die Erfahrung zu machen, dass Inszenierung immer schon bedeutet, Entscheidungen in Bezug auf Perspektive, Fokus, Figuren und Handlungsabläufe zu treffen. Die Auflösung der comicspezifischen Panels und die Überführung in einen Dramentext macht aus Der Bonker ein mediales Hybrid. Die Beilage einer DVD, auf der das Musik-Video Ich hock in meinem Bonker zu sehen ist, macht den Band zu einem Medienverbund, der nicht nur verschiedene Medien zugleich bereithält, sondern darüber hinaus deren eindeutige Zuordnung (zu einer Ausdrucksform oder einer Gattung) unter der Hand verunsichert: Aus dem Comic wird ein Dramentext, der Film ist ein Musikvideo und die Fingerpuppen lassen sich als parodistische Alternative zu den üblichen Action-Figuren lesen. Als multimediales Produkt adaptiert Adolf – Der Bonker die unterschiedlichen Marketingstrategien, mit denen Blockbuster-Filme beworben und begleitet werden. Dabei erzeugt die ›Streuung‹ des Plots über verschiedene Medien hinweg die für serielles Erzählen und popkulturelle Serien typischen »Autorisierungskonflikte«649 und wirft produktive »Fragen nach dem Autorisiert-sein von ästhetischen Handlungen auf«.650 Autoritative Deutungshoheit wird so durch Pluralisierung und popkulturelle Rekontextualisierung von Prozessen des Prosumierens erfasst und die Dichotomie von (passiver, weiblich

649 Kelleter/Stein, Autorisierungspraktiken seriellen Erzählens, S. 260, Herv. im Original. 650 Ebd., S. 260.

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konnotierte) Konsumption und (aktiver, männlich konnotierter) Produktion einer kritischen Verstörung unterzogen.

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›KZ‹ im Kinderzimmer? – Zbigniew Liberas Lego. Concentration Camp

»Auffallend ist, wie oft die Vokabel ›dürfen‹ verwendet wird, als gäbe es eine anerkannte geistige Autorität, die über erlaubtes und unerlaubtes Erinnern bestimmt. Die negative Kritik setzt Maßstäbe an, ohne diese Maßstäbe selbst der Kritik auszusetzen. Die notwendige Voraussetzung ist jedoch, daß es einen ›reinen‹, ›richtigen‹ Umgang mit der Shoah gäbe, also mit einem Thema, vor dem wir doch zugegebenermaßen nach einem halben Jahrhundert noch ziemlich ratlos stehen, so daß uns jedes neue Experiment willkommen sein sollte, solange es nicht als der Weisheit letzter Schluß auftritt.«651

Zbigniew Liberas Lego. Concentration Camp (Originaltitel: Lego. Obóz koncentracyjny)652 aus dem Jahr 1996 ist in seiner Rezeption kontrovers diskutiert worden. Das Werk existiert in einer Auflage von drei Sets mit jeweils sieben LegoBoxen in der Aufmachung, wie Lego-Spielzeug herkömmlicherweise im Handel erhältlich ist. Auf diesen Boxen sind von Libera gestellte und abgelichtete Fotografien abgebildet, welche die Objekte zeigen, die mit den in den Boxen enthaltenen Steinen nachzubauen sein sollen: eine große Box zeigt ein Konzentrationslager, eine weitere ein Krematorium; die kleineren Boxen zeigen verschiedene Szenen aus dem Schauplatz Konzentrationslager, beispielsweise einen Wärter mit Knüppel, der auf einen Lager-Häftling einschlägt, oder Skelette, die hinter einem zweireihigen Zaun zu sehen sind. Anstelle der Seriennummer ist in der linken oberen Ecke der Boxen der Hinweis »This work of Zbigniew Libera has been sponsored by LEGO« zu lesen (Abb. 5). Zunächst sollte das Werk zur Biennale 1996 ausgestellt werden. BiennaleKurator Jan Stanislaw Wojciechowski bat Libera jedoch, sein Lego. Concentration Camp von der Ausstellung zurückzuziehen mit der Begründung, es handele sich um explosives Material.653 Libera reagierte darauf mit dem Entzug aller seiner Werke von der Biennale. 1997 stellte Libera seine Arbeit auf der von der Auschwitz-Foundation organisierten Konferenz The Memory of Auschwitz in Contemporary Art in Brüssel vor, was kontroverse Beurteilungen nach sich zog. Erneute – und erhöhte – Aufmerksamkeit erhielt das Werk im Kontext der Ausstellung Mirroring Evil, die das Jüdische Museum New York 2002 kuratierte. Das Kunstwerk wurde und wird vor allem unter drei zentralen Perspektiven diskutiert: Häufig wird die grundsätzliche Zulässigkeit eines solchen – provozierenden und skandalösen – Kunstwerks sowie sein Status als Kunst in Frage 651 Ruth Klüger: Von hoher und niedriger Literatur (1996). In: Dies.: Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur. Göttingen 2006, S. 29–67, hier S. 66. 652 Zbigniew Libera: Lego. Concentration Camp 1996. Set of 7 boxes of LEGO bricks, different sizes, edition of 3. 653 Vgl. Dean E. Murphy: An Artist’s Volatile Toy Story. In: Los Angeles Times, 19. 05. 1997.

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›KZ‹ im Kinderzimmer? – Zbigniew Liberas Lego. Concentration Camp

Abb. 5: Zbigniew Libera: Lego. Concentration Camp (1996), Hauptlager. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

gestellt, wobei jeweils verschiedene, meist auf Emotionen wie Unbehagen oder Unsicherheit beruhende Empörungsreaktionen zu beobachten sind. Schlagworte wie ›Entheiligung‹ oder ›Trivialisierung‹ des Holocaust sind dabei üblich. Dem steht die Tendenz zur Seite, Liberas gesamtes Werk in einer konservativen Geste als Vertreter der ›alles vereinnahmenden Kulturindustrie‹ zu diskreditieren. Dabei wird zumeist übersehen, dass Libera zwar aus dem Mittelpunkt massenmedialer Produktion heraus operiert und sich der kulturindustriellen Distributionswege und Bilderzeugungsverfahren bedient, dabei jedoch zugleich mit ihr gegen sie verfährt. Der dritte Punkt ist eng mit dem vorigen verbunden: Liberas Arbeiten werden häufig als Reaktion auf fehlgegangene Strukturen gesellschaftlicher Bildung und Prägung durch Massenmedien und -produkte gelesen, so dass seinen Werken eine Gegenpädagogik einerseits und eine folgenlogische Konsequenz aus dieser Fehlbildung andererseits nachgesagt wird. Liberas Arbeiten werden als Erzeugnisse eines kollektiven gesellschaftlichen Scheiterns in Bezug auf Erziehungs- und Bildungsarbeit angesehen. Die folgenden Ausführungen untersuchen das parodistische Potential der Arbeit auf der materiellen wie rezeptionsdiskursiven Ebene. Es folgt zunächst

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eine Analyse der in Liberas Arbeit angelegten Verfahrensähnlichkeit von gegenwärtiger massenindustrieller Unterhaltungsproduktion mit der Partizipation und Verwaltung des nationalsozialistischen Holocaust. Daraufhin wird die Arbeit in Anlehnung an das toyetic als Verbreitungsverfahren gegenwärtiger Medienverbünde unter zwei imaginativen Skripten perspektiviert. Dabei werden die ideologischen Voraussetzungen und impliziten Tabuisierungen, die unsere Gesellschaft und deren Umgang mit Unterhaltungsprodukten prägen, dargelegt. Im Anschluss werden die Liberas Arbeit zugrundeliegenden wirkmächtigen, ikonischen Bildmotive herausgearbeitet. Nach diesen Analysen, die vorwiegend eine kritische Spiegelfunktion der Arbeit aufweisen, wird Lego. Concentration Camp in seiner detaillierten Zusammensetzung untersucht und auf sein darin enthaltenes subversives kritisches Potential hin analysiert. Liberas Arbeit, so wird sich zeigen, regt durch seine Materialwahl und -anordnung dazu an, mit dem Spielzeug gegen es zu spielen.

4.1

Die Missachtung impliziter Darstellungsparadigmen

Der negative Effekt, den Liberas Arbeit nach sich zog, ist vor allem dem nach wie vor bestehenden Exklusivitätsanspruch zuzurechnen, der in Bezug auf Darstellungsweise und Darstellungsmaterial für die Repräsentation des Holocaust gilt: For the history of the Holocaust has always been radically reduced to the idea that it should be remembered and that historical modes of representation should be used exclusively to present the Holocaust. Imaginative approaches of the Holocaust are suspect by definition, because they are considered as historically irresponsible.654

Grundlegend dafür ist die von Terrence Des Pres aus dem Diskurs heraus destillierte »Holocaust etiquette«655, nach der die Darstellung des Holocaust folgenden Prämissen folgen muss: 1. The Holocaust shall be represented, in its totality, as a unique event, as a special case and kingdom of its own, above or below or apart from history. 2. Representations of the Holocaust shall be as accurate and faithful as possible to the facts and conditions of the event, without change or manipulation for any reason – artistic reasons included.

654 Ernst van Alphen: Playing the Holocaust and Playing with the Holocaust. In: Iris RoeblingGrau, Dirk Rupnow (Hg.): ›Holocaust‹-Fiktion. Kunst jenseits der Authentizität. München 2015, S. 151–161, hier S. 151. 655 Terrence Des Pres: Holocaust Laughter. In: Berel Lang (Hg.): Writing and the Holocaust. New York, London 1988, S. 216–233, hier S. 218.

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3. The Holocaust shall be approached as a solemn or even a sacred event, with a seriousness admitting no response that might obscure its enormity or dishonor its dead.656

Zumeist geht es in der Beurteilung moralischer Lauterkeit um graduelle Unterschiede und die relative Nähe zu den implizit wirkenden normativen Konventionen – gepaart mit Reflexen der Empörung, denen eine argumentative Grundlage fehlt. Ernst van Alphen betont für die Rezeption von Liberas Arbeit die Notwendigkeit eines Registerwechsels, denn Lego. Concentration Camp »violate[s] the taboos surrounding Holocaust representation and Holocaust remembrance […] and cannot be understood in terms of conventional historical modes of representation.«657 Stephen C. Feinstein betont daher zurecht, dass Liberas Kunstwerk auf der Konferenz in Brüssel eine Antwort auf die Frage zu geben vermochte, »of how to keep discourse about the Holocaust ›alive‹ […] albeit not the one most were expecting.«658 Statt sich innerhalb der noch immer vorherrschenden Rahmen für die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Holocaust zu bewegen, nutzt Libera eine »radically imaginative«659 Repräsentationsweise, welche die gewohnten Koordinaten zur Bemessung von Angemessenheit sprengt. Die Kombination von Fotografien auf den Lego-Boxen mit den darin enthaltenen Steinen – wobei für die Betrachtenden keineswegs klar ist, ob sich wirklich Steine in den Boxen befinden; zumindest für die Fotografien aber mussten Steine und Figuren von Libera zu bestimmten Szenen zusammengebaut worden sein – versetzt die Rezipierenden in eine imaginäre Involviertheit und drängt ihn zu »identification, impersonation or play-acting«660, kurz: zu Rezeptions- und Verhaltensweisen, die der ›Holocaust etiquette‹ entgegenstehen. Im Zuge der Selbstbeschreibung, die Libera über sein Verhältnis zu der polnischen Bildungs- und Erinnerungspolitik – eine durch didaktische und pädagogische Bemühungen auf penetrante Dauer gestellte Präsenz von Bild- und Aufklärungsmaterial über den Holocaust – liefert, bezeichnet er seine Arbeit als vergiftet: »sometimes people call my art ›toxic‹ and actually it is toxic. But why?

656 Ebd., S. 217. Weniger häufig wird Des Pres’ Kommentar zitiert, der sehr wohl die Möglichkeit und vielleicht sogar die Notwendigkeit einräumt, Veränderungen in der ästhetischen Repräsentation des Holocaust zuzulassen: »The value of the comic approach is that by setting things at a distance it permits us a tougher, more active response« (ebd., S. 232). 657 Van Alphen, Playing the Holocaust, S. 151. 658 Stephen C. Feinstein: Zbigniew Libera’s Lego Concentration Camp: Iconoclasm in Conceptual Art About the Shoah. In: Other Voices 2 (2000), Nr. 1. http://www.othervoices.org /2.1/feinstein/auschwitz.php, abgerufen am 07. 04. 2022. Feinstein betont, dass »[i]n fact, LEGO is a case of artistic representation which may have more answers about the Holocaust and contemporary genocide than most traditional art forms.« (Ebd.). 659 Van Alphen, Playing the Holocaust, S. 151. 660 Ebd., S. 153.

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Because I am poisened, I am poisened of it. And that’s all.«661 Als Konsequenz dieser von Libera kritisierten, toxischen Pädagogik sieht Ulf Buschmann in dessen Arbeit ein bestimmtes pädagogisches Programm, das bereits Kinder mit den Bildern des Holocaust konfrontiert. In diesem Kontext erscheint das Lego Concentration Camp plausibel, weil es als Zuspitzung einer solchen pädagogischen Erfahrung verstanden werden kann: Wenn man Kinder mit dem Holocaust konfrontieren will, dann muss auch entsprechendes Spielzeug zur Verfügung gestellt werden. Vor diesem Hintergrund ist ein Spielzeug-KZ ein Reflex auf eine fragwürdige Holocaustpädagogik.662

Ernst van Alphen nimmt den von Buschmann als zugespitzt bezeichneten, spielerischen Zugang von Liberas Arbeit beim Wort und verknüpft ihn mit Überlegungen zu etablierten Formen der ›Holocaustpädagogik‹. In der gängigen Praxis der didaktischen Holocaust-Vermittlung seien bisher zwei Formen zu dessen Bewältigung (»mastery«) zu unterscheiden, »to know and to dominate«,663 die auf Beherrschung aus sind und in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust nicht greifen. Das durch didaktische Aufbereitung des Holocaust erzeugte Wissen habe nach van Alphen nicht zu einer positiven Form der Auseinandersetzung, sondern nur zu Langeweile geführt, die für Libera einer Vergiftung gleichkommt. Sein Verhältnis zur Vergangenheit bzw. der in Polen vorherrschenden Form des Umgangs mit dem Holocaust führe zu einer Haltung der Abstumpfung gegenüber den vergangenen Ereignissen. Poisoning, like boredom, is the opposite of mastery. These conditions instead express a weakening of the subject by poison. As a result, this weakened subject can no longer master him/herself. Thus the subject is unfit to master the object of learning.664

Statt auf Beherrschung – mit der meist Formen der abschließenden Deutung einhergehen – setze Liberas Werk auf Konfrontation und imaginäres Sich-Hineinversetzen in alle möglichen Positionen im Spiel, die zu einer spezifischen Form der Einfühlung führe. Ohne darauf explizit zu verweisen, erinnern einzelne Punkte von van Alphens Ausführungen an die aus der Didaktik stammenden Aspekte des Literarischen Lernens von Kaspar H. Spinner.665 Literarische Kom661 Zbigniew Libera in Discussion (Section »Figuration et Figures de l’absence. L’Art face à l’irreprésentable« / »Representation and Figures of Absence. Art when Art seems impossible«). In: Bulletin Trimestriel de la Fondation Auschwitz 60 (1998), S. 225–237, hier S. 225. Nachweis im Folgenden: ›Name Beiträger‹ in Discussion (Section »Representation and Figures of Absence«). 662 Ulf Buschmann: Spielzeug und Modellbau in zeitgenössischer Kunst zum Holocaust. In: Inge Stephan, Alexandra Tacke (Hg.): NachBilder des Holocaust. Köln u. a. 2007, S. 284–298, hier S. 287. 663 Van Alphen, Playing the Holocaust, S. 152. 664 Ebd., S. 152. 665 Kaspar H. Spinner: Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch 33 (2006), Nr. 200, S. 6–16.

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petenz – ein Konzept, das durch eine begriffliche Ausweitung zur ästhetischen Kompetenz mit zusätzlichen Spezifikationen auch für andere Künste fruchtbar gemacht werden kann – ist dabei als theoretische Erweiterung zur pragmatisch und kognitiv orientierten Konzeption von Lesekompetenz gedacht. Lesekompetenz im Sinne des angelsächsischen Begriffs der ›reading literacy‹ fokussiert auf Verstehen, Extrahieren und Strukturieren von Informationen aus linearen und nichtlinearen Texten mit dem Ziel, dass die Lernende ein kompetentes, der Teilhabe fähiges Mitglied unserer schriftbasierten Gesellschaft wird.666 Der Ansatz des literarischen Lernens bzw. der literarischen Kompetenz ist durch einen bildungsnormativen Grundsatz geleitet: Literarisches Lernen zielt einerseits auf die Entwicklung und Entfaltung der individuellen Persönlichkeit und hat andererseits die in verschiedenen Ausprägungen bestehenden Wechselwirkungen sowohl zwischen Individuen als auch zwischen Subjekten und ästhetischen Artefakten zum Ziel. Wenn Lesekompetenz, statt von einem »dominant kognitive[n] Lesebegriff«667 auszugehen, als ganzheitliche, »kulturelle Praxis«668 aufgefasst wird, dann kommen in der zu erzielenden Kompetenz nicht nur kognitive, sondern zugleich auch (selbstreflexive und emotionale Fähigkeiten in den Blick, die vor allem für soziale Interaktionen (wie etwa ästhetische Anschlusskommunikationen) und Intersubjektivität von großer Bedeutung sind. Die literale und literarische Entwicklung berücksichtigt dabei – modellideal – die intersubjektive Perspektivierung, die von einem frühkindlichen Wir über das Bewusstsein eines Ichs zu der »Relation des Ich zu den Anderen«669 wechselt. Erst im Adoleszenz- und Erwachsenenalter »scheint eine reflektierte Erfahrung von Fremdheit möglich zu sein, von der die eigene Weltorientierung und Identitätsbildung profitiert.«670 Diese Beobachtung legt nahe, eine Konzeptionalisierung von ästhetischem Lernen auch über die Schulbildung hinaus vorzunehmen und – bezogen auf das hier verhandelte Thema – das Potential von öffentlicher Kunst für die Ausbildung eines ästhetischen Sinns auszuschöpfen, der zugleich die Möglichkeit eröffnet, durch ästhetische Darstellungen historisches Lernen anzustoßen. Besonders relevant sind im Hinblick auf die grundsätzliche Gemachtheit von ästhetischen Artefakten im Allgemeinen und deren Abgeleitetheit 666 Nach der PISA-Studie von 2000 heißt »›Lesekompetenz‹ (Reading Literacy) […], geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potential weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.« (OECD: Bildung auf einen Blick 2003. OECD-Indikatoren. Paris, Bielefeld 2003, S. 78). 667 Christine Garbe: Lesekompetenz. In: Dies., Karl Holle, Tatjana Jesch: Texte lesen. Lesekompetenz – Textverstehen – Lesedidaktik – Lesesozialisation. Paderborn 2009, S. 13–38, hier S. 30. 668 Ebd., S. 30, Herv. K.K. 669 Ebd., S. 38, Herv. im Original. 670 Ebd., S. 38.

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im besonderen Fall der Auseinandersetzung mit Holocaust und Nationalsozialismus Spinners Aspekte, die den Fokus auf das Verstehen von ästhetischem Ausdruck (»Sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen«671 und »Mit Fiktionalität bewusst umgehen«672) setzen: historisches und ästhetisches Lernen kann nur dann erfolgreich sein, wenn um die spezifische Gemachtheit von ästhetischen Artefakten gewusst wird und sie nicht in einem identifikatorischen Kurzschluss mit der Wirklichkeit (wie es etwa die Inszenierung von Der Untergang suggeriert) in eins gesetzt werden. In der Analyse der ›Spielmöglichkeiten‹ werde ich darauf zurückkommen. Liberas Arbeit bietet für ein lernendes Verstehen eine provokative Herausforderung. Van Alphen sieht in der zur involvierten Reaktion aufrufenden Konstruktion der Arbeit eine Gegenreaktion zur Erinnerungspolitik der endlosen Überinformation, die jede Form des Gefühls aussperrt und die die Thematik nur allzu leicht ohne Friktionen in ein auf rationaler Distanz basierendes Wissensschema einzuordnen erlaubt. Diesem kognitiven Wissen will Van Alphen eine neue Form des Wissens hinzufügen, die an Engagement und Emotionen zurückgebunden ist: »In the fact of that overdose, ›ignorance‹ is needed. An ignorance, not in terms of information about the Holocaust events, but of everything that stands in the way of a ›felt knowledge‹ of the emotions of this events entailed.«673 Dabei muss kritisch nach den Konsequenzen eines solchen emotional-einfühlenden Zugangs über die Befriedigung, eine gesellschaftlich relevante – und damit eine in der Anschlusskommunikation erfolgreiche – Erfahrung gemacht zu haben, hinaus, gefragt werden. Es steht in Frage, wie aus einem individuellen ›felt knowledge‹ das Bewusstsein für eine gesellschaftliche, überindividuelle Verantwortung erwachsen kann. So sinnvoll dieser Zugang für eine gegenwärtige, medial konturierte und auf Erlebnisse ausgerichtete Gesellschaft sein mag – er kann nur in Zusammenarbeit mit anderen Formen des Zugangs zu einem angemessenen, rational-informierten und zugleich involvierten Umgang mit den historischen Geschehnissen und ihren vielfältigen, medialen Repräsentationen führen. Der von van Alphen betonte, imaginäre Spielcharakter von Liberas Arbeit ist von zentraler Bedeutung, da er gleichzeitig verschiedene Formen des Zugangs zu 671 Spinner, Literarisches Lernen, S. 9. 672 Ebd., S. 10. 673 Van Alphen, Playing the Holocaust, S. 156. Auch Klaus Scherpe betont, dass »[s]elbstlos, ohne Gefühlsbeteiligung allerdings […] nichts zu erinnern [ist]. Wo sollte und soll im Land der Täter die emotionale Energie herkommen für ein Gedenken, das nicht das eigene ist, das nicht dem eigenen Leid gilt, sondern einem fremden? Die Identifikation mit den Opfern – ein Kernstück der Erinnerungspolitik – sorgt hier offenbar für Ersatzgefühle.« (Klaus R. Scherpe: Von Bildnissen zu Erlebnissen. In: Hartmut Böhme, Ders. (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek bei Hamburg 1996, S. 254– 282, hier S. 257).

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›KZ‹ im Kinderzimmer? – Zbigniew Liberas Lego. Concentration Camp

den medialen Vermittlungen von Holocaust und Nationalsozialismus und deren diskursiven Topoi ermöglicht. Er verschiebt die Auseinandersetzung von einem rückwärtsgewandten Blick des Verstehens, Bewältigens oder der distanzierten Sakralisierung hin zu einer gegenwartsrelevanten Konfrontation: Libera represents only one example of some of the boundaries that are being pushed by artists regarding a subject which has traditionally been sanctified. The desanctification may provide an edge to shake many viewers from complacency about the Shoah, and in fact provide simple and plausible answers to the question about its origins: all of the elements of a potential Holocaust or genocide surround us. All that is needed is someone to assemble them, and tell people how to use them. Most important is that the art does not sanctify and commit viewers to look only towards the past, but to engage in an active debate about ongoing genocidal events.674

Diese Entsakralisierung geschieht zunächst über die Verlagerung der Kunst in die Mitte der Alltags- und der massenindustriellen Populärkultur. Damit überführt Libera seine Arbeit in den Bereich wirtschaftlicher und populärkultureller Waren- und Zeichenzirkulation. Dort werden die sedimentierten Bedeutungen diskursiver, sakralisierter Topoi, ikonischer Bilder und erinnerungsbezogener Positionen in konfrontative Kontexte gebracht, die eine Relektüre herausfordern.

4.2

Das ›Rationalitätsprinzip‹ als Weltordnung – Lego und der ›NS‹

Das Skandalpotential von Liberas Kunstwerk liegt vor allem in der Wahl des Materials. Mit der Entscheidung für das Massenprodukt Lego verortet Libera seine Arbeit inmitten der ›Kulturindustrie‹ und greift auf die mit ihr verbundenen Vertriebsstrukturen zurück. Als Kinderspielzeug fällt Lego zunächst in den Bereich der Unterhaltung und ist semantisch mit Spiel, Unernsthaftigkeit und Harmlosigkeit verknüpft. Es ist unmittelbar positiv konnotiert. Mit der Präsentation eines Konzentrationslagers bricht die historische Realität von Gewalt und Vernichtung in den spielerischen Alltag ein.675 Für die tatsächlichen Käufer von Lego-Produkten stellt die Arbeit ein Schreckgespenst dar, das ihnen 674 Feinstein, Zbigniew Libera’s Lego Concentration Camp. 675 Eines der großen und ältesten Lego-Themen, ›Cowboy und Indianer‹, ist in seiner historischen Realität alles andere als harmlos. Das Bewusstsein der tatsächlichen Geschichte der Unterdrückung, Vertreibung und Tötung der indigenen Bevölkerung durch die europäischen Siedler ist vom Spielsetting aber – wohl aufgrund der historischen, und für den europäischen Markt zumindest auch räumlichen, Ferne – gänzlich abgetrennt. Das Thema hat für den Spielenden einen ähnlich fiktionalen (!) Charakter wie der Kampf von Gut und Böse im Star-Wars-, Marvel- oder DC-Universum, die mittlerweile in großer Zahl durch Lego erspielbar sind.

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Das ›Rationalitätsprinzip‹ als Weltordnung – Lego und der ›NS‹

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die hypothetische Frage aufdrängt, ob sie, gäbe es Liberas Kunstwerk tatsächlich im Handel, Lego. Concentration Camp ebenfalls kauften und ihre Kinder damit spielen ließen. Damit operiert Libera aus dem gesellschaftlichen Bereich heraus, den er mit seiner Arbeit herausfordern will. Er »does not reject global culture, nor is he trying to create a counterweight, knowing that this strategy is ineffective. His actions are coherent with the network model of globalization«.676 Sein Vorgehen entspricht vielmehr der postmodernen Strategie der anverwandelnden Aneignung, bei der unter der Prämisse der Ähnlichkeit Abweichungen erzeugt werden. In Bezug auf Lego liegt die Abweichung in der Erweiterung um neue, nicht zum Spiel vorgesehene Themen. In Bezug auf die Thematik des Holocaust liegt die Abweichung, die das Kunstwerk vornimmt, in einer dreifachen Maßstabverschiebung in Form von Verkleinerung (Modellhaftigkeit), Abstraktion und Konstellation. Ein solch postmoderner, parodierender Zugang kann mit Linda Hutcheon als kritische Mimesis bezeichnet werden: Here, the formal and the ideological cannot be separated, for that architectural langue [und die ›Sprachen‹ der anderen Künste, K.K.] is part of a broader, cultural discourse that is the product of late capitalist dissolution of bourgeois hegemony and the development of mass culture. But the uniformization and commodification of mass culture are among the totalizing forces which postmodern art tries to confront – from within. It knows it cannot escape implication and so turns this fact to its own use. It contests uniformity by parodically asserting ironic difference instead of either homogeneous identity or alienated otherness.677

Durch das Massenprodukt Lego werden hier sowohl spezifische Formen gegenwärtiger, kultureller Diskurse und ökonomischer Verfahrensweisen als auch Mechanismen der nationalsozialistischen (Selbst-)Inszenierung kritisch nachgeahmt. Zentral ist für Libera in diesem Zusammenhang die Struktur, nach der Lego konzipiert ist: Es funktioniert nach einem streng mathematischen Rationalitätsprinzip. »The thought that led me to making this piece was related to rationality which is the foundation of the Lego bricks system, in a petrifying way: one can’t build anything out of these bricks that isn’t based on a precise, rational system.«678 Mit den Lego-Steinen können keine Dinge, Häuser, Menschen, Tiere etc. gebaut werden, die nicht der typischen mathematisch-geometrischen LegoÄsthetik entsprechen und nach spezifischen Abständen und Proportionen aufgebaut sind. Alle zu bildenden Formen sind errechenbar und folgen einer be676 Paulina Sztabin´ska: Contemporary artist and the notion of center and periphery. In: Art Inquiry. Recherches sur les artes 16 (2014), S. 45–55, hier S. 51. 677 Linda Hutcheon: The Politics of Postmodernism: Parody and History. In: Cultural Critique (Winter 1986/1987), Nr. 5, S. 179–207, hier S. 183, Herv. K.K. 678 Karol Sienkiewicz: Zbigniew Libera. Lego. Obóz koncentracyjny 1996. Übers. von Ania Micin´ska. In: culture.pl 2010. http://culture.pl/en/work/lego-concentration-camp-zbigniewlibera, abgerufen am 07. 04. 2022.

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stimmbaren Gleichung auf der Basis der Lego-Maßzahl, genannt ›LEGO Unit‹ (L), die sich an der Länge eines Bausteins als Grundeinheit orientiert und die sich in den herkömmlichen Maßeinheiten mm oder inch nur durch ungerade Zahlen ausdrücken lassen.679 Dennoch, so die positive Formulierung, lässt sich mit den Steinen alles bauen, was seinen Ausgangsparametern der rationalen Geometrie und Berechenbarkeit entspricht. »Libera’s ›lesson‹, if it may be said to be that, is that his Lego concentration camp was constructed entirely from existing LEGO stock, with a few minor exceptions which demanded adaptation.«680 Alle gebauten Produkte weisen damit, selbst noch in ihren kleinen Abweichungen von den Standard-Steinen, eine bestimmte Erscheinungsform auf. In einer Analogie-Übertragung suggeriert Liberas Arbeit damit, dass auch das durch das Kunstwerk Dargestellte, in diesem Fall ein Gefangenenlager, das vor allem durch das Krematorium an die nationalsozialistischen Vernichtungslager erinnert, ebenfalls aus dem rationalen, strukturellen und mentalen Bestand unserer (damaligen und vielleicht auch gegenwärtigen) Gesellschaft entstehen konnte und entstehen kann. Mit dem bestehenden Material der Lego-Bausätze lässt sich daher auch konstruieren, was gemeinhin als ›Zivilisationsbruch‹ bezeichnet und in einem (kulturellen) Abwehrreflex aus dem Bereich des Kulturellen und Vernünftigen verbannt wird. Ähnlich wie die Lego-Steine aus bereits existierenden Produkt(ion)en stammen, wurde das konkrete Material für den Bau der Todeslager ebenfalls durch existierende Firmen und Institutionen aus der ökonomisch-industriellen Produktion bereitgestellt. Bereits bestehende – mentale wie materiale, institutionelle und gesellschaftliche – Strukturen bereiteten den Nährboden und die Grundlage für die Entwicklung und Ausführung des nationalsozialistischen Tötungsmechanismus’681: All of these atrocities can also be constructed out of Lego bricks. After all, they too were human creations. If, as the slogans say, anything can be constructed out of Lego bricks (›With Lego, you can make anything you want‹), it doesn’t only have to be an image of a happy world, ruled by peace and harmony, but can also be a reflection of a different

679 Siehe dazu Holger Matthes: LEGOmetrie. In: HoMa’s World of Bricks o. J. http://www.holger matthes.de/bricks/de/geometry.php, abgerufen am 07. 04. 2022; Tobias Buckdahn: LegoGeometrie. In: www.brickup.de o. J. https://www.brickup.de/geometrie, abgerufen am 11. 09. 2020. 680 Feinstein, Zbigniew Libera’s Lego Concentration Camp. 681 Siehe dazu den Beitrag von Stefan Loubichi auf der Webseite Zukunft-braucht-Erinnerung, die auf den Konnex von Fordismus und verwaltetem Tod in den Konzentrationslagern hinweist. Stefan Loubichi: Wannsee-Konferenz (20. Januar 1942) – Der dunkelste Tag der deutschen Geschichte. In: Zukunft braucht Erinnerung. Das Online-Portal zu den historischen Themen unserer Zeit, 27. 03. 2015. https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/wann see-konferenz-20-januar-1942-der-dunkelste-tag-der-deutschen-geschichte/, abgerufen am 07. 04. 2022.

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Das ›Rationalitätsprinzip‹ als Weltordnung – Lego und der ›NS‹

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order, with leaders and subjects, prisoners and tyrants, executioners and their victims.682

Das Rationalitätsprinzip unterliegt damit keiner moralischen Tendenz, die Böses verhindern würde. So realisiert Libera anhand eines Kinderspielzeugs strukturell das Argument der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer, wonach sich die Vernunft in ihr instrumentelles Gegenteil verkehren kann. Mit Lego. Concentration Camp schließt Libera damit das Funktionalitätssystem von Lego mit dem Argumentationsstrang über die Rationalisierung des Massenmords und des verwalteten Todes durch das nationalsozialistische System der Konzentrations- und Vernichtungslager kurz. Auch in seiner Konnotation von klinischer Sterilität bietet sich das Spielzeug für eine Anspielung auf den Topos des ›sauberen Tötens‹ an, den die nationalsozialistische Vernichtungspolitik propagierte: Flüssigkeiten, Verwesung oder Bewegung sind nicht (oder nur in einem stillgestellten Augenblick) darstellbar und bleiben außerhalb einer inszenatorischen Realisation. Die Parallelisierung von nationalsozialistischen Motiven und Lego als Spielzeug mit spezifischen Konstruktionsbedingungen einerseits sowie als ökonomische Institution andererseits rückt den Einfluss kultureller Artefakte und deren mögliche Nutzung für Narrative von ideologisch oder auf wirtschaftliche Interessen ausgerichteten Systemen in den Fokus. Mit Lego. Concentration Camp verfolgt Libera sein allgemeines Interesse weiter, das er an »products of culture which educate or even model people«683 hat. Dabei stehen immer wieder Spielzeuge im Zentrum seiner Arbeiten, um auf ihre häufig unterschätzte Bedeutung für die Modellierung zukünftiger Mitglieder einer Gemeinschaft durch deren geistige Lenkung hinzuweisen. Mit dieser Arbeitsweise »Libera exploits the components of international popular culture: Lego, Barbie dolls etc. […] [and] he employs them to convey serious or tragic messages«.684 Während viele seiner Werke sich zentral mit dem massenmedialen ›Angriff‹ auf den physischen Körper und dessen Modellierungen auseinandersetzen, sind für Werke wie Lego. Concentration Camp »mechanisms shaping representations of the organisation of the human community, the social space and the anatomy of the political body«685 von zentraler Bedeutung. Lego. Concentration Camp bietet daher sowohl eine architektonische Vorlage für das ›Themensetting‹ als auch die dazugehörigen, typologisierten Figuren an, um das 682 Sienkiewicz, Zbigniew Libera. Lego. Obóz koncentracyjny 1996. 683 Zbigniew Libera: Analysis of the Historical Representation of Auschwitz in Contemporary Art in Lego 1996. In: Bulletin Trimestriel de la Fondation Auschwitz 60 (1998), S. 203–206, hier S. 203. 684 Sztabin´ska, Contemporary artist and the notion of center and periphery, S. 52. 685 Libera, Analysis of the Historical Representation of Auschwitz in Contemporary Art in Lego 1996, S. 204.

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›KZ‹ im Kinderzimmer? – Zbigniew Liberas Lego. Concentration Camp

Spiel gemäß den Koordinaten der vorgeschlagenen (imaginierten) Welt ausdeutend nachspielen zu können. Das Spielzeug kann zum Ort potentieller ideologischer Beeinflussung durch Politik und Wirtschaft werden: Thus, to answer the complex question of where the Holocaust came from, Libera’s answer, developed through creation of an outer edge in pop art, would be from the very essence of the society and the idea of ›manipulation of human consciousness,‹ either through visible manipulation or something less compelling, such as the race for marketshare domination by corporations.686

Ins Blickfeld geraten mit Liberas Arbeit Mechanismen des Merchandising, welche die Konsum- und Mediensozialisation von Kindern und Jugendlichen wesentlich prägen. Daher soll zunächst der Themenkomplex des Medienverbunds bzw. von Spielzeug im Spannungsfeld von globalisierter Populärkultur und der damit einhergehenden Profilierung von Wünschen und Konsumverhalten junger Menschen durch sogenannte Superwaren und das Prinzip des toyetic skizziert werden, um im Anschluss auf die spezifischen ›Marketingstrategien des Nationalsozialismus‹ einzugehen und Liberas Werk als Kreuzungspunkt beider Themen auszuweisen.

4.3

Medienübergreifendes Merchandising – ›toyetic‹

Grundlegend für die Entwicklung zum sogenannten toyetic ist die Einbettung von Spielzeug in einen größeren medialen, konsumorientierten Zusammenhang in einem Medienverbund. »Um einen Medienverbund zu entwickeln und ihn an die Konsumlaufbahn zu koppeln, braucht es einen originären Text, der ein hohes Vermarktungspotential aufweist. Bernie Loomis prägte hierfür in den 70er Jahren […] den Begriff toyetic«.687 Ausgangsort ist das Leitmedium Fernsehen, das zentral die Aufmerksamkeit auf bestimmte Spielprodukte durch Serien lenkt. Nach und nach treten den Fernsehserien große global beworbene und rezipierte Kinoblockbuster zur Seite, deren Merchandising, beginnend mit dem ersten Star-Wars-Film 1977, »zu einer bisher unbekannten Dichte der Vernetzung der globalen populären Medien in puncto Bildersprache und Artefakten«688 führte. 686 Ebd., S. 204. Zugleich ist diese radikale Darstellung von ideologischer, strukturell physischer und psychischer Gewalt Anlass, über die Vermittlung von Gewalt durch Spielzeug nachzudenken: »One may also take Lego as a starting point for analyzing aspects of violence in existing toys« (ebd., S. 204). 687 Tobias Kurwinkel: Bilderbuchanalyse. Narrativik – Ästhetik – Didaktik. Tübingen 2017, S. 42f., Herv. im Original. Kurwinkel bezeichnet die »Organisationsstruktur eines Medienverbunds […] als Rhizom« (ebd., S. 43). 688 Heinz Hengst: »Buy us all – don’t break the family«. Stichwort Medienverbund – Im Zirkel des Populären. In: Petra Josting, Klaus Maiwald (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur im

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Medienübergreifendes Merchandising – ›toyetic‹

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Der in diesem Zusammenhang geprägte Begriff toyetic meint dabei, dass durch medienübergreifende Präsenz von sogenannten Superwaren689 narrative Skripte entstehen, die »zur spielerischen Inszenierung unter Einsatz von viel Spielzeug«690 einladen. Auch der Lego-Konzern betreibt die merchandising-basierte Themenspezifizierung seit den 2000er Jahren in großem Format.691 Erfolgreiche Themen, vor allem aus der Film- und (Kinder-)Fernsehindustrie, werden vorher, parallel und nachher durch Lego-Themen begleitend vermarktet. Es entsteht ein symbiotischer Effekt: Der Lego-Konzern profitiert von der Bekanntheit der Großkonzerne und ihrer Produkte wie Star Wars (Lucasfilm und Disney) oder Figuren aus der Comic-Welt wie etwa Batman (DC-Comics), The Avengers, X-Men und Spiderman (Marvel Comics). Die medial präsenten Narrative, ihre Figuren und Lebenswelten halten im Gegenzug durch das Lego-Spielzeug Einzug in die Privatsphäre der jungen Gesellschaftsmitglieder. Merchandisingprodukte schmücken Wände, Deckenbezüge, stehen in Regalen und strukturieren so die Weise, zu denken und in der Welt zu stehen, mit. Diese Interdependenz der Spielzeugindustrie und der bildvisuellen Medien entstand vor allem durch die mit dem Medienverbund. Grundlagen, Beispiele und Ansätze für den Deutschunterricht. München 2007, 22–34, hier S. 25. Walt Disney ist als Pionier auf dem Gebiet des beginnenden Merchandisings zu bezeichnen. Seit den 1920er Jahren förderte er die Zweitvermarktung seiner Film- und Comicfiguren. Siehe dazu Heinz Hengst: Der Medienverbund in der Kinderkultur. In: Susanne Hiegemann, Wolfgang H. Swoboda (Hg.): Handbuch der Medienpädagogik. Theorieansätze – Traditionen – Praxisfelder – Forschungsperspektiven. Opladen 1994, S. 239–254. Schon zu Beginn der 1930er Jahre boten sich viele Spielzeughersteller der nationalsozialistischen Partei zur Produktion von ideologisch konnotiertem Spielzeug an. Der Nationalsozialismus aber kontrollierte auch hier selbst seine Propagandamechanismen durch die Gründung des »Reichsverband der Deutschen Spielwaren-, Korbwaren- und Kinderwagenhändler« 1933, um die nationalen Symbole der deutschen Jugend und den deutschen Kindern in angemessener, ›würdiger‹ Weise zuzuführen (vor allem durch das Gesetz zum Schutz der nationalen Symbole vom 19. Mai 1933 und das sogenannte ›Heimtückegesetz‹ vom 20. Dezember 1934). Siehe dazu Birthe Kundrus, Sybille Steinbacher: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Der Nationalsozialismus in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Göttingen 2013, S. 9–29, vor allem S. 9–11. Nicht nur in Form von Spielzeug (wie beispielsweise »Der Wagen des Führers«, ein Blechauto mit Hitlerfigur von ca. 1940) wurden Jugendliche und Kinder mit dem Führerkult spielerisch indoktriniert, auch »Kinderbücher förderten die systematische Erziehung zum Antisemitismus« (Carola Jüllig: NS-Kinderspielzeug. In: LEMO. Lebendiges Museum Online 06. 08. 2015. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/alltagsleben/ns-kinderspielzeug.html, abgerufen am 07. 04. 2022). Eines der bekanntesten ist wohl das offen antisemitische Buch »Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid!« von 1936. 689 Unter Superwaren sind multimedial präsente und vermarktete Figuren, Identitäten oder fiktionale Universen zu verstehen, die sekundäre und tertiäre Texte (etwa Anschlusskommunikationen in Form von Internetforen, Blogs und Tauschbörsen etc.) ausbilden. 690 Hengst, »Buy us all – don’t break up the family«, S. 25. 691 »Selbst LEGO blieb von dieser Entwicklung nicht verschont und macht ihr bis heute Konzessionen. « (Ebd., S. 27).

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toyetic einhergehende »narrativisation of toys«692 in Form der oben genannten Skripte: Spielzeuge wurden attraktiver und versprachen höhere Verkaufszahlen, wenn sie Artefakte aus einem bereits bestehenden oder zeitgleich entstehenden medialen Kosmos darstellten, für den es einen narrativen Rahmen gab.693 Die erste Veränderung in der Spielzeugindustrie ist damit eine verengende Bewegung der Einschränkung von Fantasie und Kreativität, müssen Spielzeuge doch etwas mitliefern, was zunächst das Nachspielen eines vorgegebenen narrativen Gerüsts ermöglicht, um dann in einer – potentiell in positiver wie negativer Weise nutzbaren – zweiten Bewegung der Öffnung die vielfältigen Anschlussmöglichkeiten (inter-)aktiv und spielend, auch jenseits der ›Ursprungsnarration‹, zu erproben: Kinder »treffen ihre Arrangements mit einer ausdifferenzierten medien-durchtränkten Populärkultur. Das bedeutet, dass man das Spielen (mit Geschichten) zwar als interaktive Größe in den Blick nehmen, aber als ein weites, offenes Feld sehen muss.«694 Spielzeuge sind demnach niemals ideologiefrei, sondern geben durch ihre Struktur einen – wie auch immer gearteten, engen oder weiten – Handlungsspielraum vor: Sie wirken sich damit durch ihr spezifisches Framing prägend auf die Spielenden aus. Für Libera bilden sie daher ein hervorragendes Experimentierfeld künstlerischer Analyse: »The toys create a spectacular field of a social practice I am especially interested in. The toys, designed on the bases of social icons constructed as a mechanism helping to create mental images, reflect a certain social ideal.«695 Unter den Bedingungen der medialen Einbettung von Spielzeug betrachtet, stellt Liberas Arbeit die Rezipierenden vor herausfordernde Gedankenspiele: Welche Skripte legt Lego. Concentration Camp nahe und welche Herausforderungen gehen für die Rezipierenden damit einher?

692 Dan Fleming: Powerplay. Toys as popular culture. Manchester u. a. 1996, S. 81. »Die narrativisation of toys erfolgte gleichzeitig mit der Durchsetzung des Konzepts totalen oder multimedialen Marketings in der Kinder(medien)kultur.« (Hengst, »Buy us all – don’t break up the family«, S. 27). 693 »Sie scheinen nur noch dann bei einem großen Publikum anzukommen, wenn ihnen eine Geschichte mitgegeben wird.« (Ebd., S. 26). 694 Ebd., S. 28. Es mag sein, dass die narrativen Formen dem Schein nach vielfältiger und aufgrund ihrer Serialität offener geworden sind, weil viele Marktteilnehmer und Spielzeugproduzenten eine unüberschaubare Zahl an Figuren und Variationen ihrer Top-Markenprodukte herstellen. Die einzelnen Figuren aber erhalten ihren kommunikativen, gesellschaftlichen und das heißt populären Mehrwert vor allem durch Wiedererkennung und Anerkennung. Erzählerische Offenheit bedeutet lediglich schier unendliche Möglichkeiten der Anschlussfähigkeit. 695 Libera, Analysis of the Historical Representation of Auschwitz in Contemporary Art in Lego 1996, S. 203.

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Medienübergreifendes Merchandising – ›toyetic‹

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4.3.1 (Selbst-)Vermarktung des Holocaust … Es lassen sich zwei mögliche, entgegengesetzte Szenarien – in der Terminologie des toyetic: zwei grundlegend verschiedene Skripte – skizzieren: Entweder eine dystopische Imagination nationalsozialistischer Selbstwerbung oder eine radikalisierte Form der kritischen Aufklärung im Medium des Spielzeugs. Zunächst greift Libera die in Medienverbünden entstehenden Synergieeffekte auf (und nimmt sie für die Marke Lego vorweg) und appliziert sie auf die analoge Struktur der Ko-Produktion von politischer Ideologie des Nationalsozialismus und eines im Sinne dieser Ideologie gefärbten Unterhaltungsangebots. So lässt sich das erste narrative Skript aus der zeitgenössischen Perspektive des Nationalsozialismus als (Selbst-)Vermarktung des Holocaust fokalisieren: Liberas Kunstwerk inszenierte dann eine Welt, in der es möglich ist, den Holocaust als Merchandisinggegenstand zu denken. In solch einer zynischen, dystopischen Welt sind die moralischen Koordinaten im Vergleich zu unserer Welt verkehrt. Eine solche Welt, in der ›Werbung‹ für die Vernichtungslager in Form von Spielzeug möglich ist, geht von einer Massenloyalität aus, die der Nationalsozialismus niemals erreicht hat und in der die Vernichtung der Jüdinnen und Juden als gesellschaftlich anerkannte Handlung gilt. In diesem Skript verkörpern die ›Nazis‹ die nachzuspielenden und identifikatorischen, guten Protagonisten, auf deren Seite Gesetz, Staat und Ordnung stehen. Libera stößt mit seiner Arbeit das denkbare Schreckensszenario an, in dem die Nationalsozialisten ihre Gewaltherrschaft und insbesondere die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden nicht länger vertuschen müssen, weil sie Teil eines öffentlichen, ›moralisch-ideologischen‹ Gesellschaftssystems geworden sind und öffentlich propagiert werden können. Hierin liegt sicherlich das stärkste Provokationspotential der Arbeit – vor allem da die Sets im Grunde nur die mit Orden behängten Lager-Wächter als identifikatorische ›Helden‹-Figuren anbieten.

4.3.2 … vs. kritisch-aufklärerische Kinderzimmerpädagogik In einem zweiten gegensätzlichen Skript kann Lego. Concentration Camp auch als kritisch-aufklärerisches Spielzeug in einer Welt imaginiert werden, die der unseren ähnlich ist, und in deren Narrativ die Nationalsozialisten die ›Bösen‹ darstellen. Das Skript schriebe demnach beispielsweise vor, die Gefangenen als Protagonisten des Widerstands zu inszenieren und die Geschichte im Spiel umzuschreiben. Allerdings bietet der Inhalt der Boxen von Libera kaum Figuren, die sich für eine heroische Identifikation anbieten: Die Gefangenen sind überwiegend Skelette und eignen sich kaum für einen »thematischen Kern ›kon-

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›KZ‹ im Kinderzimmer? – Zbigniew Liberas Lego. Concentration Camp

textgebundener Selbstverwirklichung‹«.696 Und doch lässt sich in Liberas Werk auf verschiedenen Ebenen ein kritisches Potential ausmachen, das sich als Korrektiv bestehender Konventionen zeigt. Entsprechend bezeichnet Libera seine Arbeiten als Correcting Devices, »designed to create an awareness for children of the realities of the adult world.«697 Liberas Arbeit spielt mit dem Topos der ›unschuldigen Kindheit‹, indem er die Frage danach aufwirft, womit Kinder (in Form von Spielzeug) konfrontiert werden können, dürfen, sollen oder gar müssen. Liberas Arbeit [is] suggesting that there is something going on that the spectator either can’t see or doesn’t know. […] [It] thereby foreshadow[s] a process that is inherent in the word ›remembrance‹: insisting on the innocence of the world of childish games and toys, they insinuate the terrific implications of the threshold to the age of adolescence – the threat of becoming aware of […] what you are playing with. But […] storing the Lego-game in a cupboard, does not only mean the loss of innocence. It also implies joining a culture full of references to a monstrous past in which re-membering encompasses becoming a member of a social entity.698

Seinem Kunstwerk käme damit ein initiatorischer Charakter zu, der den Übergang vom Status der Unschuld zur Bewusstheit über die realen Verhältnisse und damit den Eintritt in eine erinnernde soziale Gemeinschaft markiert. Liberas Arbeit wird so zum entlarvenden Korrektiv: indem Lego. Concentration Camp statt der vom Nationalsozialismus angestrebten (propagandistischen) Narration über die ›schmutzigen‹ und ›geldgierigen‹ Juden, die dem ›reinen‹ und ›überlegenen‹ arischen Volk die Lebensgrundlage entziehen wollen, die tatsächliche historische Realität als Spielangebot konzipiert, legt es die von den Nationalsozialisten unterschlagenen historischen Ereignisse offen. Damit setzt Libera der nationalsozialistischen Vertuschung und Täuschung der eigenen Bevölkerung Transparenz als angemessener Umgang mit mündigen Gesellschaftsteilnehmer: 696 Hengst, »Buy us all – don’t break up the family«, S. 25. Hengst erläutert die Motivation, Narrationen nachzuspielen – unter Rückgriff auf Fleming – am Beispiel von Star Wars: Die in Star Wars präsentierten Kontexte in Form einer »lose[n] Koalition von Außenseitern, Abenteurern, politischen Idealisten, Robotern und Aliens« (ebd., S. 25), innerhalb derer sich Luke Skywalker entwickelt, bieten den Rezipierenden die Möglichkeit, sich konstellativ anstatt mit einer isolierten Figur oder einem Schauspieler zu identifizieren. Das Setting des Vernichtungslagers hingegen bietet zu wenig – symbolisch übertragbare – Konstellationen, die sich auf den Alltag der Rezipierenden übertragen ließen. Die Motivation ergäbe sich demnach – ähnlich wie in Tarantinos Inglourious Basterds – aus einem Rache-Motiv, das von imaginären Spieler:innen als nachträgliches Empowerment der ursprünglichen Opfer inszenierbar ist. 697 Libera, Analysis of the Historical Representation of Auschwitz in Contemporary Art in Lego 1996. 698 Miriam Wenzel: Maus, Toys and Him. Contemporary Fine Art as a Reflection on the Reception of History. In: Martin L. Davies, Claus-Christian W. Szejnmann (Hg.): How the Holocaust Looks Now. International Perspectives. New York 2007, S. 229–246, hier S. 239.

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Medienübergreifendes Merchandising – ›toyetic‹

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innen entgegen. Strukturell ist hierdurch auch die Frage nach einer allgemeinen Korrektur von institutionellen ›Geschichtsbeschönigungen‹ aufgeworfen, deren Aufdeckung noch immer in regelmäßigen Abständen das eine oder andere Firmenimage erschüttern. The idea of corporate logo, identifiability of product, and product reliability can easily be identified with some of the perpetrators of the Holocaust. The most advanced German corporations – I.G. Farben, Krupp, Siemens, Bauer A.G., BMW, Daimler-Benz, Volkswagen and others – profited from the Holocaust through their use of Jewish slave labor. Thus, product reliability in this context had nothing to do with moral or ethical positions, but everything to do with active participation in atrocity.699

Der Lego-Konzern versuchte, nachdem bekannt wurde, was Libera mit den von ihm gesponsorten Steinen gebaut hatte, Libera juristisch dazu zu bewegen, das Werk nicht mehr in der Öffentlichkeit zu zeigen. Der Konzern hat zwar in seiner Geschichte keinerlei Verbindungen zum nationalsozialistischen Regime, und dennoch reagierte auch er auf Liberas Arbeit mit der Reizreaktion der Ablehnung. Ob Lego aus ethisch-moralischen Gründen Klage eingereicht hat oder aus eigenen ökonomischen Interessen, lässt sich nicht klären – allein der Zeitpunkt der Klage, nachdem Liberas Arbeit fertig gestellt war, provoziert kritische Rückfragen.700 Die vielfältigen Widerstände gegen ein solches Kunstwerk, dessen ästhetische Dimension eine deutliche Distanz zwischen Kunstprodukt und realer Wirklichkeit installiert, müssen auf ihre Motivation hin befragt werden. Denn für unsere Gesellschaft, in der der Holocaust als historische Tatsache zum Bestand der eigenen Kultur und Geschichte gehört, ist ein reflexhafter Ruf nach einem Darstellungs- bzw. Herstellungsverbot keineswegs unschuldig.

699 Feinstein, Zbigniew Libera’s Lego Concentration Camp. 700 Es liegt nahe zu vermuten, dass Lego um sein ›sauberes‹ Image besorgt war. Zugleich zeigt sich daran der sonst für den – ohnehin sehr klagefreudigen –Konzern unübliche Kontrollverlust über die eigenen Produkte und Ideen. Boz˙ena Czubak, ein polnischer Künstler, der zusammen mit Libera das Sponsoring der Lego-Steine erhalten hatte, kommentiert diesen Kontrollverlust in einem Interview von 1997 wie folgt: »It looks like Lego lost control over their own product, of course with some substantial help from my side. This is reminiscent of similar cases in history, whereby rationally constructed and supposedly safe technologies, products, and ideas went out of hand. This observation is especially poignant in the light of the fact that nowadays wars are no longer conducted just with the use of weapons, but also through consumption and culture.« (Zit. nach Karol Sienkiewicz, Zbigniew Libera. Lego. Obóz koncentracyjny 1996).

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›KZ‹ im Kinderzimmer? – Zbigniew Liberas Lego. Concentration Camp

Von der Imagination zur Wirklichkeit zum Denkverbot… und zurück

Das eigentliche Skandalon von Liberas Arbeit liegt darin, das Szenario eines Vernichtungslagers tatsächlich ästhetisch auszugestalten. Aber Libera merkt zurecht an: »It’s already done. This is thing [sic!] which already exists, this is not me who – I just put together some elements but this thing already exists.«701 Als (Mit-)Grund und Ursache des Holocaust wird dadurch eine Gesellschaft sichtbar, in der »[t]he elements for such atrocity, as one reads Libera’s popart, exists within civilization.«702 Es lohnt daher ein Blick auf die Reaktionen auf Liberas Arbeit und die ihnen inhärenten Abwehrmechanismen. Im Bulletin trimestriel de la Fondation Auschwitz von 1998 finden sich die Beiträge und Diskussionen der Konferenz THE MEMORY OF AUSCHWITZ IN CONTEMPORARY ART, die vom 11.–13. Dezember 1997 in Brüssel stattfand. Libera stellte dort seine Arbeit im Panel »Figuration et Figures de l’absence. L’Art face à l’irreprésentable«/»Representation and Figures of Absence. Art when Art seems impossible« vor und nahm an der anschließenden Diskussion teil. In dieser Diskussion wird Empörung703 sowohl über die Arbeit als auch über Liberas Haltung dazu als vorherrschender Grundtenor deutlich.704 Einige der Diskussionsteilnehmer:innen begehen den Fehlschluss, aufgrund des Status’ der Arbeit als Spielzeug von der tatsächlichen Produktion des Kunstwerks als Spielzeug für den Handel auszugehen, bzw. die Fragen danach in den Mittelpunkt zu stellen. Ein weiterer zentraler Punkt der Diskussion ist die Tatsache, dass Liberas Arbeit tatsächlich existiert, da allein die Produktion eines solchen Vernichtungslagers, zumal aus Lego, verwerflich sei. Paradigmatisch für diese Position ist folgender Diskussionsbeitrag, der – wohlgemerkt – nicht aus dem Lager der Betroffenen oder Überlebenden stammt: »Je ne suis ni survivant, ni fils de survivant, ni petit-fils de survivant, ni même Juif mais j’avoue que je suis quand même perturbé par cette

701 Libera in Discussion (Section »Representation and Figures of Absence«), S. 226. 702 Feinstein, Zbigniew Libera’s Lego Concentration Camp. 703 Wohlgemerkt muss hier deutlich unterschieden werden, welcher Herkunft eine solche Reaktion auf das Werk ist. Eine Forderung nach ›Anstand‹ und ›Schicklichkeit‹ kann nur darin gerechtfertigt sein, die Empfindungen der Überlebenden und deren nicht nachempfindbaren Schmerz zu respektieren. Das aber erforderte eine eingehende Untersuchung, was die Überlebenden selbst als taktvoll im Umgang mit dem Holocaust bezeichnen. Häufig wird das Argument aber als reine Reizreaktion vorgebracht, ohne inhaltlichen oder situationsbezogenen Bestand zu haben. 704 Einige Diskussionsteilnehmer:innen stören sich an der zurückhaltenden Weise Liberas, der kaum Antworten auf die Fragen der Teilnehmer:innen nach seinem mit dieser Arbeit angestrebten (erzieherischen) Ziel oder seiner Verantwortung als Künstler gibt.

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oeuvre.«705 Das bloße Zeigen und Produzieren scheint Libera verdächtig oder gar – nachträglich? – zum ›Mittäter‹ zu machen. Zumindest wird von ihm als Künstler verlangt, sich verantwortlich zu zeigen und eine klare, moralische Stellung zu seiner Arbeit zu beziehen. So zeigt sich hier noch immer, dass der Reflex einer »emotionale[n] Ergriffenheit, die Empörung […] zum eigentlichen Gegenstand der Holocaustforschung«706 gemacht wird, anstatt »nach den präzisen Mechanismen, nach denen das Erinnern an die historischen Fakten, ihr Verständnis und ihre Bedeutung in der literarischen [und künstlerischen, K.K.] Darstellung des Holocaust konstruiert sind«,707 zu fragen. Die Reaktionen lassen sich als Verlängerung der – von Adorno zuerst geprägten und im Diskurs weithin fatal missverstandenen – moralisch-pädagogischen Forderung ›Nie wieder Auschwitz‹708 lesen, die den Holocaust außerhalb jeder gesellschaftlichen Ordnung ansiedeln möchte und ihn damit sakralisiert und mystifiziert. Diese Bewegung aber beschneidet – und unterbindet stellenweise gar – jede Form der Thematisierung und verweigert das von Lyotard als relevant bezeichnete Anknüpfen. Auch Ruth Klüger als eine Stimme der Überlebenden argumentiert in ihrer Autobiographie weiter leben gegen eine Sakralisierung und plädiert für eine – positiv verstandene – Notwendigkeit zu vergleichen, den Holocaust also gerade in einen Bezug zu setzen, ohne ihn (narrativ) zu nivellieren: Ängstliches Abgrenzen gegen mögliche Vergleiche, Bestehen auf der Einmaligkeit des Verbrechens. Nie wieder solle es geschehen. Dasselbe geschieht sowieso nicht zweimal, insofern ist alles Geschehen, wie jeder Mensch […] einmalig. Abgekapselte Monaden wären wir, gäbe es nicht Vergleiche und Unterscheidungen, Brücken von Einmaligkeit zu Einmaligkeit. Im Grunde wissen wir alle […]: Teile dessen, was in den KZs geschah, wiederholen sich vielerorts, heute und gestern, und KZs waren Nachahmungen (freilich einmalige Nachahmungen) von Vorgestrigem.709

705 Philippe Lausier in Discussion (Section »Representation and Figures of Absence«), S. 227f. Dt.: »Ich bin weder Überlebender, noch Sohn eines Überlebenden noch Enkel eines Überlebenden und schon gar nicht Jude, aber ich gestehe, dass ich trotzdem von dem Werk verstört bin.« Übersetzung D. Kazmaier [im Folgenden: D.K.]. 706 James E. Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Aus dem Amerikanischen von Christa Schuenke. Frankfurt am Main 1992, S. 7f. 707 Ebd., S. 7f. 708 »Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung« (Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz. In: Ders.: »Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse«. Ein philosophisches Lesebuch. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1997, S. 48–63, hier S. 48). 709 Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. München 1994, S. 70. Eine Anknüpfung ist notwendig, sonst kommt es, wie Elisabeth H. Debazi formuliert, zu einer »Art der Isolierung, die Auschwitz als singuläres Ereignis außerhalb der Geschichte und damit in den Bereich des Mystischen zu stellen versucht« (Elisabeth H. Debazi: Zeugnis – Erinnerung – Verfremdung.

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Im Fall des Lego. Concentration Camp wird die reflexhafte Abwehr einer Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen auf das Kunstwerk übertragen, ohne dessen Status als Kunstwerk und die damit einhergehenden allgemeinen wie spezifischen Parameter zu reflektieren. Kurz: das Thema verunmöglicht einen Blick auf die ästhetische Darstellung und deren ontologischen wie pragmatischen Status. Die Empörung darüber, das Thema bildnerisch auszugestalten, ignoriert jede Unterscheidung zwischen einer pornographischen und einer kritischen Inszenierung, wenn es allein das Darstellen an sich verbietet. Eine solche Empörung, die auf der Angst gründet, dass ein solches Werk zur Realisation animiert, ist angesichts der Struktur von Lego. Concentration Camp unbegründet. Es entlarvt vielmehr den Unwillen, sich mit den möglichen Implikationen von Liberas Arbeit auseinanderzusetzen. Der mögliche, plausible Einwand gegen die Arbeit, dass der Übergang vom Denken (eines Konzentrationslagers als Spielzeug) zur Realisation einen qualitativen Unterschied darstelle, der nicht überschritten werden dürfe, da sonst das slippery-slope-Argument greife, scheint mir angesichts der Referenz der Arbeit auf die historische Tatsache der nationalsozialistischen Vernichtungslager (sowie auf die Gulags der Sowjetunion) sehr schwach: Libera vollzieht mit seiner Realisierung des Spielzeugs nach, dass die Schwelle zwischen Imagination (der Ermordung von Millionen Menschen) und ihrer Verwirklichung in der Vergangenheit längst überschritten worden ist.710 Die Empörungsreaktionen weisen die Arbeit ja nicht aufgrund präventiver Maßnahmen zurück, sondern aus einem diskursiven Reflex heraus. So bringen die Reaktionen vor allem die potentiellen Überreste des Verschweigens und Nicht-Benennens, kurz: die in der Debatte vorherrschenden Denkrestriktionen zum Vorschein. Dass Libera Strukturen sichtbar macht, die mental und strukturell bereits existierten und vernichtende Konsequenzen nach sich zogen und deren diskursive Restriktionen des Verschweigens sich bis in die Gegenwart fortsetzen, erscheint in der Diskussion als blinder Fleck. Viele der Vorwürfe Libera gegenüber verfehlen ebenso wie die Frage danach, ob man solch ein Kunstwerk herstellen dürfe, den Kern seiner Arbeit. Doch nicht alle Reaktionen Literarische Darstellung und Reflexion von Holocausterfahrung bei Fred Wander, Ruth Klüger und Edgar Hilsenrath. Marburg 2008, S. 146). 710 Daher beantwortet Libera in einer Diskussion die Frage, ob ein Künstler solch eine Arbeit herstellen dürfe, mit dem Hinweis darauf, dass seine Arbeit (lediglich) einen zuvor schon als Möglichkeit existierenden Gedanken – nämlich die Welt im Spielzeug abzubilden und durch das Spiel zu gestalten – umsetze und sichtbar mache: »I want you to note this is not a toy which is or which will be ever produced. I hope so. This is a possibility which really exists somehow, that’s all.« (Libera in Discussion (Section »Representation and Figures of Absence«), S. 229).

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auf Liberas Arbeit sind von Empörung gelenkt, einige sehen die grundlegende »ambiguïté de l’oeuvre de Monsieur Libera«,711 die eine Auseinandersetzung zur Herausforderung macht. Das Sichtbarmachen bestehender Darstellungs- und Diskurs-Restriktion wird als kritischer Impetus lesbar. »Je prends le travail de l’artiste comme une dénonciation de quelque chose qui pourrait arriver et d’un excès qu’il veut éviter en le mettant en évidence.«712 Mit dieser Evidenzerzeugung und Implementierung der nationalsozialistischen Vergangenheit inmitten unserer massenmedialen Gegenwart einerseits und im System der Kunst andererseits berührt Libera zugleich ein für die deutsche Bewältigungskultur noch immer virulentes Motiv kultureller Abwehr: der als Zivilisationsbruch verstandene Holocaust wird häufig in einem Außerhalb der eigenen Kultur situiert. Die ›barbarische‹, verwaltete Vernichtung der Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten habe lediglich die Kulturindustrie, deren Mechanismen Strukturähnlichkeiten mit der Massenvernichtung aufweise, infiziert. Die Hochkultur stelle dementgegen einen Hort der Unschuld dar. Lego. Concentration Camp lässt sich als späte Antwort auf diesen – sehr deutschen – ›Kulturreflex‹ lesen, der sich bis in die Mitte der 1990er Jahre hält: Noch 1995 – ein Jahr vor dem Entstehen von Liberas Arbeit – formuliert James Young anlässlich des Streits um das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin: Es ist beinahe so, als ob die einzige Sicherheit vor der Rückkehr dieser gefürchteten Vergangenheit in ihrer beständigen ästhetischen Sublimation besteht – in der Kunst, der Literatur, der Musik und letztendlich in den Denkmälern, mittels derer die Ära des Nationalsozialismus im heutigen Deutschland gleichzeitig erinnert und aufgehoben wird.713

Klaus Scherpe bringt diese Reizreaktion treffend auf den Punkt: »Theoretisch formuliert heißt der Vorwurf: Die Künste als selbstreflexives und darin autonomes Kultursystem nutzen ihren Spielraum als Schutzraum.«714 Eben jenen Schutzraum besetzt Libera mit seiner Arbeit gerade durch das üblicherweise mit ihm zu Bannende und weist den Holocaust als Bestandteil der eigenen Gesellschaft, Geschichte und Kultur aus. Der ›Zivilisationsbruch‹ tritt den Rezipierenden nun gerade aus dem Raum der Kultur in Form eines Spielraums entge711 Yannis Thanassekos in Discussion (Section »Representation and Figures of Absence«), S. 231. Dt.: »die Ambiguität des Werks von Herrn Libera« (Übers. D.K.). 712 Claude Lorent in Discussion (Section »Representation and Figures of Absence«), S. 227. Dt.: »Ich fasse die Arbeit des Künstlers als ein Anprangern von etwas auf, das eintreten könnte und eines Exzesses, den er vermeiden will, indem er ihn deutlich ausstellt« (Übers. D.K.). 713 James E. Young: Gegen das Denkmal, für Erinnerung. In: Neue Gesellschaft für Bildendende Kunst (Hg.): Der Wettbewerb für das »Denkmal für die ermordeten Juden Europas«. Eine Streitschrift. Berlin 1995, S. 174–178, hier S. 174. 714 Scherpe, Von Bildnissen zu Erlebnissen, S. 256.

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gen, so dass die Vorstellung des Rückzugsorts in einer autonomen, der Kulturindustrie abholden Kunst einerseits und von der Barbarei der gewalttätigen und vernunftwidrigen Geschichte – in Form des nationalsozialistischen Regimes und dessen Vernichtung von Millionen von Menschen – kategorial getrennten Kultur andererseits, wegbricht. Der vormalige Schutzraum wird zum Ort der Konfrontation. Damit öffnet Libera implizit die Debatte über ein »Kompensationsmodell: die Entsorgung aller Schädlinge am Volkskörper, aller zivilisatorischen Schadensfälle der Modernisierung der Gesellschaft durch Kultur, die eigene Kultur«.715 Ein Standpunkt außerhalb der gesellschaftlichen Strukturen, die das nationalsozialistische Regime ermöglichten, ist nicht einnehmbar. Liberas Arbeit fordert grundlegende Neuverhandlungen heraus. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrung mit der polnischen Erinnerungspolitik stellt die Arbeit einen zynischen Kommentar dar. Als parodistische Reeducation trifft sie den Kern gesellschaftlicher Bildungspolitik: Je crois que cette ›mise en boîte‹ de Lego organisée par l’artiste ouvre la porte à la réflexion et à un éventuel procès à faire, non pas à l’encontre d’une firme potentiellement capable de produire un tel jouet, mais à l’égard de notre société toute entière, pour son cynisme et les formes d’éducation qu’elle propose.716

Der durch Lego. Concentration Camp erzeugte Zusammenhang zwischen nationalsozialistischer Vergangenheit und massenindustrieller Produktion zielt nicht auf »universalizing the Nazi past to make comments about largely unrelated issues, such as the totalitarian potential of the fashion, advertising, or toy industries.«717 Es geht vielmehr um das Untersuchen eines möglichen strukturellen Zusammenhangs, der zwischen Produktions-, Repräsentations- und Erzählweisen nationalsozialistischer Ideologie und ökonomischen Strategien besteht. Der Ausweis der unabdingbaren Involviertheit in unsere pop-, massenoder industriekulturelle und gesellschaftliche Gegenwart erfordert eine kritische Betrachtung der Konstruktionsweisen von Nachrichten, Bildern, kollektiven Erinnerungen innerhalb dieser Kultur, die sich durch Formen der Ikonisierung

715 Ebd., S. 257. 716 Daniel Weyssow in Discussion (Section »Representation and Figures of Absence«), S. 226. Dt.: »Ich glaube, dass diese Spielerei [aber auch: eine industrietechnische Abfüllung] von Lego, die der Künstler organisiert, das Tor zu einer Reflexion und zu einem etwaigen Prozess [hier sowohl im juristischen wie im dynamischen Sinn] öffnet, den man führen müsste und zwar nicht gegen eine Firma, die in der Lage ist so ein Spielzeug herzustellen, sondern gegen unsere gesamte Gesellschaft, weil sie so zynisch ist und aufgrund der Bildungsweisen, die sie anbietet.« (Übers. D.K.). 717 Gavriel D. Rosenfeld: The Normalization of Memory: Saul Friedländer’s Reflections of Nazism Twenty Years Later. In: Dagmar Herzog (Hg.): The Holocaust in International Perspective. Evanston 2006, S. 400–410, hier S. 405.

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von literarischen Topoi, vor allem aber anhand visueller Motive sedimentieren und möglicherweise hegemonialer Natur sind: It would be difficult to miss the critical potential of this work, which does not deal with the shades of history, but with all that we are constantly facing. An image of a Lego set serving to build a concentration camp provokes numerous questions on the consequences of the mindless banality of evil, the capability of culture to normalise it, the capability of the market to make business of it.718

Daher nimmt der folgende Abschnitt Liberas Rückgriff auf ikonische Erinnerungsbilder näher in den Blick.

4.5

Das Spiel mit der Ikonizität

Libera greift in der Präsentation seiner Arbeit auf die diskursiv sedimentierten ikonischen Bilder, Figuren und Topoi des 20. Jahrhunderts zurück: »the purpose of my work was not to produce a model of a given concentration camp, but to present a certain kind of an icon of the 20th century.«719 Die auf den Boxen abgebildeten Fotos, die Libera von den von ihm mit Lego-Steinen gebauten Szenarien gemacht hat, sind von seiner Begegnung mit dem kollektiven Bildgedächtnis der polnischen Erinnerungs- und Bildungskultur bestimmt.720 Das zeigt sich an einer der kleinen Lego-Boxen, auf der eine Fotografie von Lego-Skeletten hinter einem Zaun zu sehen ist (Abb. 6). Das Bild erinnert an die ikonisch gewordene Fotografie The Living Dead of Buchenwald von Margarete BourkeWhite, die kurz nach der Befreiung von Buchenwald entstand.721 Die von Libera für die auf den Lego-Boxen abgebildeten Baumöglichkeiten entstammen also dem kulturellen Gedächtnis und stellen entfremdende Reproduktionen dar, die auf unsere Rezeption der ›Originale‹ zurückwirken. Das von Libera präsentierte ›icon of the 20th century‹, der Rückgriff auf das, was man als ›Holocaust-Ikonografie‹ bezeichnen kann, wird von ihm in mehrerer 718 So ein Kommentar von Boz˙ena Czubak im Gespräch mit Libera: Sztuka legalizowania buntu – Boz˙ena Czubak talks to Zbigniew Libera. In: Magazyn Sztuki 15–16 (1997), zit. nach: Katarzyna Bojarska: The Holocaust in the Works of Polish Artists. In: culture.pl 2007. http://culture.pl/en/article/the-holocaust-in-the-works-of-polish-artists, abgerufen am 07. 04. 2022. 719 Libera, Analysis of the Historical Representation of Auschwitz in Comtemporary Art in Lego 1996, S. 205. 720 Libera weist für viele der Fotografien Referenzen auf das kulturelle Gedächtnis nach. Siehe dazu Ders., Analysis of the Historical Representation of Auschwitz in Comtemporary Art in Lego 1996, vor allem S. 205. 721 Der Stacheldraht gilt als eines der »primary holocaust symbols« (Ziva Amishai-Maisels: Depiction and Interpretation: The Influence of the Holocaust on the Visual Arts. Oxford 1993, S. 131).

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Abb. 6: Zbigniew Libera: Lego. Concentration Camp (1996), Lego-Skelette als KZ-Häftlinge. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

Hinsicht entlarvend eingesetzt. Er wendet sie – und darin scheint paradoxerweise eine Provokation zu liegen – zunächst auf eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Holocaust an, also dort, wo sie dem gesellschaftlichen Diskurs nach ihren Platz hat. Zugleich, das sei den sich provoziert Fühlenden zugestanden, überträgt er die Ikonografie auf eine künstlerische Darstellung im Material eines Spielzeugs. Mit dieser Verfremdung durch das Material, die Verkleinerung und die Modellhaftigkeit verweist die Arbeit zudem auf die mit den 1990er Jahren vermehrt versteckt auftauchenden und genutzten Verwendung und Instrumentalisierung der Holocaust-Ikonografie in und für andere symbolisierte Zwecke und fiktionale, dystopische Narrationen.722 Lego. Concentration Camp ist 722 Seit Beginn der 1990er Jahre »scheint die Zirkulation der Bilder einer Holocaust-Genreikonographie als Zitat innerhalb der Popkultur weiter vorangeschritten zu sein. Was ehemals nur der finsterste Vertreter des Trash- und Underground-Kinos […] sich erlaubte, hat offenbar den Mainstream erreicht, ohne in Feuilletons und Filmkritiken Irritation auszulösen« (Florian Evers: Vexierbilder des Holocaust. Ein Versuch zum historischen Trauma in der Populärkultur. Münster, Berlin, Wien u. a. 2011, S. 8f.). Siehe dazu auch Matthias N. Lorenz: Der Holocaust als Zitat. Tendenzen im Holocaust-Spielfilm nach Schindlers Liste. In: Sven Kramer (Hg.): Die Shoah im Bild. München 2003, S. 267–296. Die Holocaust-Ikonografie wird in der massenmedialen Unterhaltungskultur vermehrt in sublimierter und symbolisierter Form beispielweise in Science-Fiction-Szenarien verwendet, um durch die vertrauten Ikonen Bedeutsamkeit zu erzeugen. Richard Fleischers Film Soylent Green (1973) ist einer der wenigen Filme, die recht explizit auf die verwaltete Massenvernichtung von Menschen hinweist. Er erzählt eine Ökodystopie, in der alte Menschen systematisch getötet und zu Essbarem, sogenanntem ›Soylent Green‹, verarbeitet werden. Auch die Serie Star Trek – Deep Space Nine entfaltet einen Erzählstrang, der starke Anleihen und Motive des nationalsozialistischen Holocaust trägt: Die Cardassianer halten den Planeten Bajor besetzt, installieren Arbeits- und Vernichtungslager und beuten die bajoranische Bevölkerung systematisch aus. Während der Besatzung sterben 10 Millionen Bajoraner. Siehe dazu insbesondere die Folge »Der undurchschaubare Marritza« (Staffel 1, Folge 19, Originaltitel: »Duet«. Erstausstrahlung 13. 06. 1993).

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zugleich als Kritik an der versteckten Verwendung der Holocaust-Ikonografie in anderen – unzulässigen – Kontexten zur Erzeugung von Betroffenheit und an der sedimentierten Holocaust-Ikonografie als solcher zu lesen. Betrachtet man Lego. Concentration Camp auf der Ebene der Bilder, die die Arbeit reproduziert, lässt sich den beiden oben ausgeführten narrativen Skripts ein drittes Skript ikonischer Segmente aus der Bild- und Diskursgeschichte des Holocaust beistellen, das die Betrachtenden auf ihre Rezeptionsweise und ihren Umgang mit bekannten Inhalten verweist. Er ist zunächst dazu angehalten, die ›Derivate‹ auf ihre ›Originale‹ zurückzuführen und damit das ikonische Bildwissen des kulturellen Gedächtnisses zu aktivieren. Die Ikonen kommen den Betrachtenden in der diminuierenden Form des (Modell-)Spielzeugs entgegen. So sind sie damit konfrontiert, in der imaginativen Spielszene die ikonischen Tableaus als stillgestellte, visuell und semantisch verkürzende Stellvertreter historischer Ereignisse zu durchleben und in eine durchspielte, lebendige Szene zurückzuverwandeln, kurz: Sie zu einem Narrativ zu verflüssigen. Zudem enthalten die Abweichungen durch Verkleinerung und Verfremdung Irritationspotential, das eine Reflexion der Ikonisierung als Verfahren des Erinnerns herausfordert.

4.5.1 Exkurs: Ikonische Gegenbilder – Zbigniew Liberas Positives Der parodierende Umgang mit ikonischen Bildern ist ein zentrales Merkmal von Liberas gesamtem Schaffen. Seinen reproduzierten Ikonen-Derivaten liegt ein kritischer Impetus zugrunde, der auf die Möglichkeit eines aktiven Ausbruchs aus den ikonischen Schablonen hinweist. In Bezug auf die Kritik ikonischer Bilder des Holocaust ist, neben dem noch auszuweisenden Potential von Lego. Concentration Camp, Liberas Fotoserie Positives (im Original Pozytywy) und daraus insbesondere das Bild Residents (im Original Mieszkan´cy) bedeutsam, da es dieselbe Zitat-Referenz zur oben genannten Fotografie The Living Dead of Buchenwald ausstellt: Der Stacheldraht des Originals ist in Residents durch Schnüre ersetzt, an denen sich zum Teil Efeu rankt (Abb. 7). Die hinter den Schnüren stehenden Menschen tragen Pyjamas oder Decken und – das ist das auffälligste und verstörende der Fotografie – lachen. Aus den Gefangenen in der Originalfotografie werden bei Libera Bewohner, worauf schon der Titel hinweist. Den Residents kommt ein gänzlich anderer rechtlicher wie ontologischer Status zu als den Gefangenen und Vernichteten der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Der Serientitel Positives ist sowohl fototechnisch als auch im buchstäblichen Sinn relevant: Die ikonisch gewordenen Originalbilder bezeichnet Libera – strukturanalog zur technischen Terminologie der Fotografie – als Negative, zu

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Abb. 7: Dekonstruktion von Ikonen, Zbigniew Libera: Residents (aus der Serie Positives (2002– 2003)). Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

denen er seine als ›Positive‹ benannten Derivate in Opposition setzt. Die Semantik des Titels trifft inhaltlich auf seine Fotografien zu. Die fototechnischen Bezeichnungen werden dadurch semantisch realisiert. Die Originalbilder und die Neuschöpfungen Liberas lassen sich als Vexierbilder bzw. als Zusammenspiel von Bild und Nachbild lesen, so dass sich durch das positive Nachbild die unbeantwortbaren Fragen nach dem sinnlosen Leiden, dem tödlichen Zufall und der willkürlichen Gewalt mit vehementem Nachdruck aufdrängen: The Positives cycle is another attempt to play with trauma. We are always dealing with remembered images of things, not the things themselves. I wanted to use this mechanism of seeing and remembering, to touch on the phenomenon of afterimage. This is, in fact, how we perceive these photographs [die Positives, K.K.] – flashbacks of the cruel original images pierce through the innocent scenes.723

Die durch Liberas Bilder entstehende Irritation wirkt zudem der routinierten Domestizierung des Schrecklichen durch ikonische Bilder entgegen und vermag die Wahrnehmung für das bekannte ›Original‹ erneut zu schärfen: Die ikonischen Erinnerungsbilder können so nicht länger als schützender Reflex aufge723 Ewa Gorza˛dek: Zbigniew Libera »Pozytywy« (Positives) (2015), übers. von Bozhana Nikolova. In: culture.pl 2015. http://culture.pl/en/work/positives-zbigniew-libera, abgerufen am 07. 04. 2022.

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rufen werden, ihre Vertrautheit und die damit einhergehende Sicherheit vor der einbrechenden Vergangenheit wird durch die Positives Liberas verstört. Ebenso wichtig aber ist die in den Bildern angelegte Gegenerzählung, die den sedimentierten Bildern eine neue Geschichte zukommen lässt. Auf einmal sind die Personen keine Stellvertreter mehr für millionenfaches Leiden, wie in den ›Originalen‹. Vielmehr gerät das Abrufen der ikonischen Bedeutung durch das irritierende Lachen ins Stocken. Statt einer kollektiven Kategorisierung tritt die Frage nach dem Grund des Fröhlichseins in den Fokus und eröffnet einen möglichen utopischen Raum eines glücklichen Lebens jenseits der historischen Vernichtung. Damit ist die Frage nach einer anderen Erzählung für die tatsächlich geführten Leben der Ermordeten ebenso gestellt wie die Idee einer fiktionalen Umerzählung der geschehenen Ereignisse. Als alternative Form der Erinnerung verweist Residents auf das Leben jedes einzelnen Opfers jenseits und trotz des Holocaust. Mit solch einem Perspektivwechsel wird den Opfern eine eigenständige Erinnerungsmöglichkeit eröffnet, die sie gerade nicht auf ihren Status des Opferseins und den Ausschnitt ihres Lebens, der von Gewalt und Zerstörung geprägt war, reduziert. Auch die in Liberas Arbeit mit Lego entfremdend nachgestellten ikonischen Bilder entautomatisieren den kategorisierenden Blick und fordern – unterstützt durch die in die Miniatur verschobenen Größenverhältnisse – zu einem detaillierten Blick heraus, der an den vertrauten Bildern Neues zu entdecken bereit ist.

4.5.2 Geschichtete Ikonizität und Modellcharakter Beim detaillierten Blick auf Liberas Lego. Concentration Camp fällt auf, dass es in der Benennung keinen Hinweis auf den Nationalsozialismus gibt. Als Konzentrationslager stellt es eine mögliche Referenz zu unterschiedlichen Internierungslagern der Geschichte her. Die Abbildung eines Krematoriums mit Hochöfen auf einer der Boxen spezifiziert das Spielzeug-Lager als nationalsozialistisches Vernichtungslager. So besteht die Re-Präsentation in einer stets doppelten Konnotation von Spezifizierung und Verallgemeinerung. Damit lässt sich das Spielzeug-Modell zugleich als Modell im Adornoschen Sinn auffassen: »Das Modell trifft das Spezifische und mehr als das Spezifische, ohne es in seinen allgemeineren Oberbegriff zu verflüchtigen.«724 Die Aufseherfigur trägt beispielsweise verschiedene symbolische Marker; sie erinnert Feinstein eher an »something more from the Soviet Gulag than the Nazi concentration camp

724 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Gesammelte Schriften Band 6. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 2003, S. 39.

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system, as he is bedecked with medals and wears a red hat.«725 Die Täterfiguren sind semantisch mehrfach belegt. Die von Libera in seine Arbeit eingebrachte Ikonografie entstammt zwar überwiegend dem konventionellen Bildervorrat des Holocaust, ist jedoch durch ihre Zusammensetzung semantisch multidirektional. Dadurch gelingt Libera der diskursive Spagat, den Holocaust – in der Folge der sogenannten Universalisierung des Holocaust – als Anlass zu einem vergleichenden Blick auf ähnliche vergangene oder gegenwärtige Gewaltverbrechen zu richten und dabei gleichzeitig die Singularität der historischen Ereignisse nicht zu negieren: Die Notwendigkeit eines Vergleichs bedeutet nicht automatisch eine gänzliche Dekontextualisierung oder die Behauptung von Beliebigkeit (siehe das obige Zitat von Ruth Klüger). Ähnlich wie der Übergang von der Imagination zur Realität hier durchlässig wird, schlägt das Werk durch Stilisierung und Symbolisierung seiner Figuren konstellative Brücken (im Sinne Adornos) von fiktionalen zu realen, von historisch vergangenen zu gegenwärtigen und zu möglichen zukünftigen, durch Menschen verursachten Katastrophen.

4.6

Mit und gegen das Spielzeug spielen

In der mehrfach geschichteten Ikonizität der Figuren und Bilder ist eine strukturelle Möglichkeit zur Abweichung angelegt. Die fixierten Ikonen stehen dabei in spannungsreichem Verhältnis zum Spielcharakter des Materials. Liberas Umgang mit den Ikonen in Form von verkleinernder, parodierender Abwandlung und seine Wahl eines Spielzeugs als Material, zielen auf Verflüssigung von Konventionen und Eröffnen einen imaginären Raum des Spiels. Dort kann durch die Auseinandersetzung mit den ästhetischen Aspekten der Arbeit, die zugleich ihre außerfiktionale Referenz deutlich macht, aus ästhetischem historisches Lernen möglich werden. Liberas Arbeit markiert zunächst unablässig ihre eigene Grenze und macht transparent, dass die spielerische Annäherung niemals mit einem ›Wissen oder einer Erfahrung wie es wirklich war‹ zu verwechseln ist, weil sie ein Spiel mit topischen und motivischen Ikonen darstellt und diese de- und rekonstruiert. Die materielle Zusammengesetztheit durch Lego-Steine aus unterschiedlichen Themen bedeutet eine Absage an die Vorstellung eines ›authentischen‹ Nachspielens und verweist auf den grundsätzlichen Entzug der historischen Ereignisse aus dem Spielsetting: Die Spielenden sind stets auf sich selbst und ihre ins Spiel eingebrachten – moralischen, ideologischen und narrativen – Koordinaten zurückgeworfen. Zugleich erfahren sie sich als totalitäre Macht, wenn sie selbst, Stein für Stein, ein Vernichtungslager bauen – auch wenn man vorgibt, ›nur‹ der Bauan725 Feinstein, Zbigniew Libera’s Lego Concentration Camp.

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Mit und gegen das Spielzeug spielen

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leitung zu folgen, legt man selbst Hand an und involviert sich in den strukturellen Aufbauprozess. Grundsätzlich gilt für Lego-Boxen, dass die Einzelteile genau für den auf dem Cover abgebildeten Gegenstand vorgesehen sind und exakt ausreichen. Ein Überschuss ist – mit Ausnahme von eventuell beigegebenen doppelten ›Ersatzteilen‹ – nicht vorgesehen. Eine Anleitung, wie sie sich in jeder im Handel befindlichen Lego-Box findet, könnte die einzelnen Bauphasen Schritt für Schritt zum Konzentrations- und Vernichtungslager abbilden. Diese überblickende und ›verwaltende‹ Perspektive unterstützt zusätzlich zum Miniaturcharakter der Spielsteine die totalitäre Position der Spielenden. In dieser Distanz wird jedoch ein Aspekt des literarischen Lernens zugleich ermöglicht und – durch das selbst Spielen – erfordert: die eigene »[n]arrative und dramaturgische Handlungslogik [zu] verstehen«.726 So wird im Spiel die Singularität, als die der Holocaust in einer sakralisierenden, schließenden Bewegung häufig aufgefasst und als zeitlose (Nicht-)Erinnerung abgespalten wird, durch »den handelnden Blick des Betrachters«727 in eine aktive, gegenwärtige Auseinandersetzung umgewandelt und auf eine mögliche Anknüpfung an aktuelle, zeitlich gebundene Erfahrung hin geöffnet. Dadurch werden die Betrachtenden, ganz im Sinne des Performanz-Konzepts bei Mieke Bal, zu Angerufenen: Der Betrachter ›spielt‹ den vom Werk geschriebenen Part in dem Maße, in dem er ›schauspielt‹, indem er auf die perlokutionäre Ansprache des Werkes antwortet, welches über die Zeit hinweg aus der Vergangenheit der Herstellung des Werkes in die Gegenwart des Betrachters hineinreicht.728

Gehen die Rezipierenden das imaginäre Spiel ein, sehen sie sich individuell damit konfrontiert, der Logik von Lego zu folgen, das Vernichtungslager selbst zu bauen und sich der Verantwortung für und des eigenen Involviertseins in die Konstruktion bewusst zu werden. Für Lego. Concentration Camp ist diese Verantwortung zweifach: Erstens zielt sie darauf, sich der Darstellungsweise ästhetischer Artefakte und ihrer Wirkungen auf die Wahrnehmung der durch sie repräsentierten Inhalte bewusst zu werden. In den Aspekten Spinners kategorisiert, geht es hier darum, die »[s]prachliche Gestaltung aufmerksam wahr[zu]nehmen«.729 Eine mögliche, sinnvolle Übersetzung der »aufmerksame[n] Textwahrnehmung«730 läge darin,731 die Bausteine in ihrem Potential 726 Spinner, Literarisches Lernen, S. 10. 727 Veronika Zangl: Poetik nach dem Holocaust. Erinnerungen – Tatsachen – Geschichten. München 2009, S. 204. 728 Mieke Bal: Performanz und Performativität. In: Jörg Huber (Hg.): Kultur – Analysen. Zürich 2001, S. 197–241, hier S. 207. 729 Spinner, Literarisches Lernen, S. 9. 730 Ebd., S. 8. 731 Ähnlich wie bei der Wahrnehmung eines Textes als Ansammlung und spezifische Ordnung einer endlichen Menge an Worten und Sätzen, die bestimmte Fährten für eine

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wahrzunehmen, das heißt: entweder als Vernichtungslager oder eben gerade anders zusammengesetzt werden zu können. Gemäß dem Lego-Prinzip der Construction ermöglicht das Kinderspielzeug, sich im Spiel den ›Bauanleitungen‹ zu verweigern und mit den vorgegebenen Steinen und Figuren eine andere Welt zu bauen und eine andere Geschichte zu spielen. Das hieße, innerhalb der vorgegebenen Koordinaten Widerstand zu leisten und gegen konventionelle Vorgaben aufzubegehren. Denn wie van Alphen betont, »[t]he Holocaust is […] represented […] in the mode […] of a script for a drama.«732 Da alle Figuren – zumindest bei einer Spieler:in – einer Spielinstanz untergeordnet sind, ist diese gezwungen, alle Perspektiven gleichzeitig einzunehmen, so dass Täter und Opfer nicht länger getrennt voneinander sind, sondern in der Spieler:in eine doppelte und konfligierende Perspektivenübernahme erzeugen. Das Kunstwerk ermöglicht es, die Opfer- und Täterfiguren nicht länger als das Fremde oder Andere auf Distanz zu halten, sondern im Spiel beide Positionen zugleich spielerisch auszuprobieren. Das imaginierende Erleben fügt der Pseudo-Perspektive des Opfer-Seins die notwendige Möglichkeit zur Annäherung an die Erfahrung des Täter-Seins hinzu und verunsichert dadurch eine vorschnell kommunizierte moralische Überlegenheit der Nachgeborenen. Mögliche spielerische Alternativen liegen beispielweise in der Umkehr der Rollen oder in der Kollaboration der Figuren. Libera radikalisiert mit seinem Kunstwerk die von Klaus Scherpe konstatierte Rezeptionstendenz, die sich in den letzten Jahrzehnten der Auseinandersetzung mit dem Holocaust »von Bildnissen zu Erlebnissen«733 gewandelt hat. Damit weist Liberas Arbeit zentrale Parallelen zu den Adolf -Comics von Walter Moers auf. Beide überantworten die autoritative Hoheit und damit die Verantwortung über die zu spielende Geschichte den Rezipierenden. Dass die Bauteile und Figuren von Lego. Concentration Camps fast vollständig aus den bestehenden, handelsüblichen Steinen bestehen, eröffnet eine Lücke konstellativer Freiheit: Liberas Arbeit ist gerade nicht aus einem Guss, sondern mehrfach zusammengesetzt: Schon der Konstruktionscharakters des Spielzeugs macht die Zusammengesetztheit durch die einzelnen Bauschritte des Entstehungsprozesses deutlich. Dadurch tritt die in jedem Moment mögliche Unterbrechung in den Fokus. Zudem entstammen die Materialen nicht einem einzigen, sondern vielen unterschiedlichen Themen (etwa Piraten, Polizei etc.), die zu einem Konzentrationslager scheinbar homogenisiert werden: die – farbliche – Uniformierung ist lediglich ein Oberflächenphänomen. Libera nutzt Materialien, deren ursprüngInterpretation auslegt, andere hingegen negiert, da diese durch das Material nicht realisiert werden, gibt auch das Material bestimmte Wahrnehmungen und (Re-)Aktion vor wohingegen andere durch dessen Struktur ausgeschlossen werden. 732 Van Alphen, Playing the Holocaust, S. 155, Herv. K.K. 733 Scherpe, Von Bildnissen zu Erlebnissen, S. 254.

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Mit und gegen das Spielzeug spielen

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liche kontextuelle und semantische Herkunft nicht vollständig überschrieben werden kann, so dass Aufmerksamkeit für die Materialwahrnehmung hieße, den Abstand der fiktionalen Mimesis zur historischen Situation zu erkennen und produktiv zu machen. Das implizierte beispielsweise, über die Wahl der Skelette als ›Opfer‹ nachzudenken, das Potential dieser Abstraktion zu reflektieren und, in Spinners Worten, die »[m]etaphorische und symbolische Ausdrucksweise [zu] verstehen«.734 Die – für ihren neuen Kontext absurd – grinsenden Skelette stammen aus einer Piraten-Serie und bringen vielfältige symbolische Konnotationen für widerständige Imaginationen ins Spiel: Skelette sind – ganz im Sinne der nationalsozialistischen Propaganda – klinisch. Sie sind mehr mit anorganischer und mechanischer Semantik verbunden als mit den organischen Anteilen menschlichen Lebens und verweisen auf die emotionale Distanz, die dem Töten zugrunde lag und die im Spiel entweder reproduziert oder reflektiert werden kann, je nachdem etwa, ob die einzelnen Skelette eine individuelle ›Geschichte‹ erhalten oder nicht. In der filmischen Ikonografie sind Skelette eng mit der Semantik von Untoten und Zombies verbunden. Dieser Übergangsstatus zwischen Leben und Tod ermöglicht, die Figuren im Kontext von Liberas Arbeit als Lebende und Tote zugleich aufzufassen und ihnen eine mehrfach codierte Symbolisierung zuzusprechen: »[I]n the symbolic world of the concentration camp figures of the living victims represent also those who where murdered. So the role of the prisoners is played by simperingly smiling figures of skeletons taken from ›The Lego Pirates‹.«735 Sie lassen sich daher als figürliche Impersonationen des von Agamben beschriebenen ›nackten Lebens‹736 auffassen, auf das die Insassen der Konzentrationslager durch die Nationalsozialisten reduziert wurden. So mag man in den Skeletten eine figürliche Veranschaulichung des sogenannten Muselmanns sehen, der zwar noch existiert, aber vor Hunger derart ausgezehrt ist, dass sich eine Art psychische Agonie einstellt: »Muselmann zu sein, hieß, dass man sich auf der Grenzlinie zwischen Leben und … Krematorium befand.«737 Wie in Liberas Positives vermag die Assoziation nur einen kurzen Moment andauern, bevor sie in ein neues Bild umschlägt. Denn die grinsenden Skelette zeigen keine Agonie, ebenso wenig vermögen sie Emotionen wie Mitleid hervorzurufen.

734 Spinner, Literarisches Lernen, S. 11. 735 Libera, Analysis of the Historical Representation of Auschwitz in Contemporary Art in Lego 1996, S. 206. 736 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Frankfurt am Main 2002, S. 168. 737 Withold Pilecki: Freiwillig nach Auschwitz. Die geheimen Aufzeichnungen des Häftlings Witold Pilecki. Aus dem Englischen von Dagmar Mallett. Zürich 2013, S. 110.

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›KZ‹ im Kinderzimmer? – Zbigniew Liberas Lego. Concentration Camp

Als ›Geister‹ gedeutet, werden die Skelette als mögliche Heimsuchung für die Wärter lesbar. Diese Deutung bleibt aber nur eine von vielen, stellen Gespenster doch auch billige Scherzartikel dar, um andere zu erschrecken. Als Scherzartikel sprengen die Skelette den Rahmen des Settings und referieren mitnichten auf die Opfer des Holocaust. Sie verweisen vielmehr auf Schockinszenierungen, die mittels der Holocaust-Ikonografie gelegentlich erzeugt werden und verweisen auch auf sich selbst als solche – billig – inszenierten Schockmomente und unterlaufen damit die mit Opfer und Täter-Narrativen verbundenen, angelernten Emotionen. In diesem Sinn stellen sie einen selbstreflexiven Meta-Kommentar dar. Der ›Scherz‹, den sich Libera erlaubt, ist wirkungsvoll nur als Vexierbild: Eine Stillstellung der semantisch zirkulierenden Topoi, Szenen und ikonischen Motive lässt Liberas Arbeit nur schwer zu. Seine Arbeit ist dann von Relevanz, wenn ihre interpretatorische Ambivalenz und ihre Skurrilität aufrechterhalten und ausgehalten wird. Liberas Arbeit kann nur dann in ihrer ganzen Tragweite erfasst werden, wenn sie verstanden wird als »künstlerische[…] Aneignungsstrategie […] [die] radikal im Bewußtsein ihrer Verspätung, ihres Status des Sekundären und ihres nicht zu vollendenden Rettungsakts gegen das Vergessen«738 existiert. Als Gegengift aber kann sie nur wirksam bleiben, wenn sie selbst nicht überdosiert verabreicht, das heißt weder als einzig ›richtige‹ Darstellung des Holocaust verstanden noch als irrelevant abgetan wird.

4.7

Zbigniew Liberas Lego. Concentration Camp – Fazit

Die Erfahrung des Holocaust kann ästhetisch nicht eingeholt oder erzeugt, geschweige denn wiederholt werden, weil sie sich »auf keinen gemeinsamen kulturellen Rahmen oder Kontext zurückführen lässt. Das Gedächtnis der Zuschauer stellt diesen Darstellungen gegenüber eine Leerstelle dar. Es handelt sich um Zitate, die stets ins Leere greifen.«739 Alle ästhetischen Zugriffe bedienen sich daher eines medialen Surrogats, ja sie müssen sich bekannter, schon existierender Gesten, Bedeutungen, Motive und Topoi des kulturellen Gedächtnisses bedienen, die lediglich eine Ähnlichkeitsbeziehung herstellen können zur Erfahrung des Holocaust. Auch in einer Evokation bestimmter Erfahrungskonstellationen können wir uns diesem Ereignis nur schemenhaft und im Bewusstsein dieser radikalen Kluft annähern. Zbigniew Liberas Lego. Concentration Camp macht sich durch ihre mehrfache Zusammengesetztheit als solches Surrogat transparent. Durch die Wahl von Lego als Material ist ihr der Konstruktionscharakter per definitionem eingeschrieben. 738 Scherpe, Von Bildnissen zu Erlebnissen, S. 266. 739 Zangl, Poetik nach dem Holocaust, S. 204.

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Zbigniew Liberas Lego. Concentration Camp – Fazit

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Bausteine aus verschiedenen Lego-Themen verweisen auf die strukturelle Abgeleitetheit des Vernichtungslagers aus bereits bestehenden Teilen: die PolizeiFiguren wie die Skelette werden erst durch ihren Kontext zu Tätern und Opfern des Konzentrations- und Vernichtungslagers. Als Miniaturen sind sie zudem den tatsächlichen Tätern und Opfern nur dann ähnliche Figuren, wenn sie in einen den historischen Ereignissen ähnlichen narrativen Kontext versetzt werden. Narrationen und Lego-Bausätze folgen aber gleichermaßen Regeln, die in diesem Fall von spezifischen, an historische Ereignisse und Fakten zurückgebundenen, aber zugleich eigenständigen, ikonisch gewordenen Motiven, Topoi und Handlungsabläufen bestimmt werden. In der Aufforderung zum Re-enactment liegt die Möglichkeit ästhetisches wie historisches Lernen zu erproben und eine kritische Haltung auszubilden. Obwohl die Elf Aspekte literarischen Lernens von Kaspar H. Spinner für die Rezeption und den lernenden Umgang mit literarischen Texten entwickelt wurden, lassen sie sich unter wenigen Modifizierungen auf andere (ästhetische) Medien übertragen. Die der Bedeutsamkeit literarischen Lernens von Spinner zugrunde gelegte humanistische Zielsetzung der Persönlichkeitsbildung kann für den Umgang mit historischen Gegenständen in ästhetischen Produkten um die Kompetenz erweitert werden, sich als gesellschaftliches Wesen in politischen Zusammenhängen selbstreflexiv zu entwickeln. Ein solches Konzept historischen Lernens impliziert die Reflexion historischer gesellschaftspolitischer Zusammenhänge, das Verständnis ihrer Bedeutung für gegenwärtige Verhältnisse sowie einen verantwortungsvollen, aktiven Umgang damit – im konkreten sozialen Umfeld wie in abstrakteren Zusammenhängen einer Gesellschaft. Dafür muss der ästhetische, historische Gegenstand für die jeweilige Alltagswelt der Rezipierenden bedeutsam gemacht werden. Dies gelingt Liberas Arbeit durch die Wahl des Spielzeug-Materials, das bei den Rezipierenden eine unmittelbare Anbindung an den eigenen (kindlichen) Alltag erzeugt. Das imaginäre Spiel ermöglicht ihnen die Transferleistung vom Bau des Spielzeug-Konzentrationslagers mittels, aus anderen spielerischen Kontexten, bekanntem Material und vertrauten Handlungen auf die Auswirkungen historischer Gesellschaftsstrukturen für die Realisierung der nationalsozialistischen Konzentrationslager zu schließen. Damit kann eine Sensibilisierung für die gesellschaftlichen Bedingungen geschaffen werden, die Gewalt, Unterdrückung und Vernichtung erzeugen. Für den Transfer vom ästhetischen zum historischen Lernen haben vor allem drei der Aspekte des literarischen Lernens von Spinner – »Vorstellungen entwickeln«740, »[s]ubjektive Involviertheit«741 ausbilden und »Perspektiven litera-

740 Spinner, Literarisches Lernen, S. 8. 741 Ebd., S. 8.

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rischer Figuren nachvollziehen«742 – für die Arbeit Liberas eine relevante, doppelte Funktion: fiktionsintern und im Hinblick auf die notwendige Übersetzung in reale – vergangene, gegenwärtige oder potentielle – gesellschaftliche Situationen. Fiktionsintern bedeutet die potentiell gleichzeitige Übernahme der Spielpositionen von Tätern und Opfern die Möglichkeit zum abstrakten Nachvollzug von Macht- und Ohnmachtsperspektiven. Im Hinblick auf den Übergang zur Vorstellungsbildung der historischen Wirklichkeit fordert diese Gleichzeitigkeit eine Auseinandersetzung mit beiden Rollen ein und vermag ein einseitiges oder vorschnelles ›Bewältigen‹ zu verhindern. So kann die Frage danach, ob und vor allem wie die Perspektiven der historischen Personen (sowohl der Täter und sogenannten Mitläufer als auch der Opfer) nachzuvollziehen sind, ihre Brisanz derart entfalten, dass ihre Beantwortung eine tatsächliche Auseinandersetzung erfordert. Bezogen auf das in unserer Gegenwart existierende und genutzte Spielzeug heißt das: Obwohl das Kunstwerk Liberas nicht zu kaufen ist, sind doch alle Bestandteile im Handel zu finden, so dass es praktisch möglich ist, Liberas Arbeit tatsächlich im eigenen privaten Raum einer (kindlichen) Spielsituation nachzubauen, womit der unmittelbare Zusammenhang zwischen ästhetischer Rezeption und dem alltäglichen Lebens- und Spielvollzug hergestellt ist: Insbesondere ästhetisches Lernen ist ein aktiver Vorgang, ist Konstruktion und Produktion, knüpft an (nicht nur) ästhetischen Erfahrungen an und ist erfahrungsoffen, ist ein Lernen mit allen Sinne [sic!], berücksichtigt den Leib und seine lebensweltliche Eingebundenheit.743

Die Brisanz, die sich aus der Schnittstelle von Kunstwerk und Spielzeug ergibt, liegt in der potentiellen Verringerung der Vermittlungsebenen. Aus der doppelten Vermittlung (der Imagination [1] eines Spiels [2]) könnte eine bloß noch einfache Vermittlung (des tatsächlichen Spielens) werden. Eine weitere Transferleistung besteht so in der Imagination des Übergangs vom Spiel zur Realität, die im Fall des Konzentrationslagers bereits historisch vollzogen wurde. Vier weitere der von Spinner genannten Aspekte744 sind vor allem für den bewussten Übergang von der Fiktion zum Umgang mit dieser im Zusammenhang mit 742 Ebd., S. 9. 743 Max Fuchs: Ästhetisches Lernen und Lehren in Institutionen. Diskurse – Themen – Zugänge. Werkstattbericht zur kulturellen Schulentwicklung 4/2011, S. 35. Online-Dokument: https://kooperationen-bildungslandschaften.bkj.de/fileadmin/user_upload/kultur_macht _schule/documents/KMS_Fachstelle/PDF/Aesthetisches_Lernen_und_Lehren_in_Instituti onen_010411.pdf, abgerufen am 07. 04. 2022. 744 Es handelt sich um die Aspekte »[m]it Fiktionalität bewusst umgehen« (Spinner, Literarisches Lernen, S. 10), »[s]ich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses einlassen« (Ebd., S. 12), »[p]rototypische Vorstellungen von Gattungen/Genres gewinnen« (Ebd., S. 13) und »[l]iteraturhistorisches Bewusstsein entwickeln« (Ebd., S. 13).

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Zbigniew Liberas Lego. Concentration Camp – Fazit

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Darstellungen historischer Ereignisse von Bedeutung: Der Einsatz von Fiktionalität als – lebendiger, aktualisierter, symbolischer oder mimetischer, in jedem Fall aber – spezifisch perspektivierter Zugang zur historischen Vergangenheit muss als stets vermittelter deutlich werden. Dann kann der immense Mehrwert von fiktionalen Annäherungen – etwa durch das Erzeugen eines Narrativs, in dem emotionale Beteiligung, positive wie negative Identifikationsfiguren hergestellt und angeboten werden können – zur Vermittlung von abstraktem Wissen und einer für die eigene Lebensgegenwart relevante Anschaulichkeit genutzt werden. Auf der Metaebene hieße das, ästhetische, aber auch öffentlich-mediale Darstellungen über historische Ereignisse als ebensolche Konstrukte wahrzunehmen, die nach bestimmten, sich historisch wandelnden Handlungsschemata konstruiert sind. Erlernt werden kann diesbezüglich sowohl, dass narrative Sinnstiftungen und deren diskursive Prozesse auch und gerade von Kunstwerken im öffentlichen Raum häufig gesellschaftspolitischen Agenden unterliegen als auch, wann solche Sinnbildungsprozesse ihre Grenzen haben. In Bezug auf den Holocaust ist Spinners Aspekt der »Unabschließbarkeit des Sinnbilungsprozesses«745 von großer Bedeutung. Für die häufig als anthropologische Grundkonstante bezeichnete Eigenschaft von Individuen wie Gesellschaften, sich in Narrativen zu verstehen und zu erfinden, stellt der Holocaust nicht nur einen Bruch, sondern zugleich eine Herausforderung dar. Im besonderen Fall der Verhandlung des Holocaust kann der Sinnbildungsprozess, mit Lyotard gesprochen, nicht nur als unabschließbar gelten. Sinn und verstehende Annäherung muss bewusst ausgesetzt bzw. über andere als die üblichen (narrativen) Parameter zugänglich gemacht werden. Denn die öffentliche, gesellschaftspolitische Praxis ist noch immer auf paradoxe Sinnstiftung aus: Obgleich der Holocaust weiterhin als singuläres, inkommensurables Ereignis aufgefasst wird, gilt er zugleich als »negative[r] Gründungsmythos Europas«.746 Kritisch zu befragen bleibt demnach, ob der Holocaust als »das zentrale Ereignis«747 einer »kollektive[n] Negativ-Erinnerung für Europa«748 nicht auf unzulässige, weil einseitig und vereindeutigende Weise narrativ instrumentalisiert wird und welche alternativen, gesellschaftspolitischen Erzählungen möglich sind, die den Holocaust als unintegrierbaren Teil berücksichtigen.

745 Ebd., S. 12. 746 Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. München 2011, S. 15. 747 Reinhard Bernbeck: Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors. Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte. Bielefeld 2017, S. 331. 748 Ebd., S. 331.

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Fazit Teil II: Spielen

Die beiden im zweiten Teil untersuchten Arbeiten setzen ihr Material und Medium für eine kritische Distanzierung und die Rezipientenaktivierung ein. Thematischer Ausgangspunkt sind ikonische Motive der deutschen Erinnerungskultur, die einer kritischen Korrektur unterzogen werden. Moers nutzt den dem Comic innewohnenden antirealistischen Zug und verstärkt ihn durch den Rückgriff auf den vereinfachenden, flächigen CartoonZeichenstil. Auf der Plotebene lösen sich die Comic-Erzählungen so weit wie möglich von Logik und Naturgesetzen unserer Realität, Raum und Zeit können beliebig durchkreuzt werden. Historische Personen und Schauplätze werden in einem metaleptischen, diskursiven Raum neben fiktionale Figuren und Sachverhalte platziert und zu einem Tableau arrangiert. Diese Erzählkonstellation ist geprägt von fixen, bis zur Absurdität übersteigerten Handlungspositionen (etwa dem suchenden und scheiternden Anti-Held Adolf, der mehrfach gebrochenen Figur einer ›damsel in distress‹ alias Herrmann Göring und dem tatsächlichen, weiblichen Bösewicht Lady Di), die durch unterschiedliche Genreerzählungen (Zeitreise, Selbstfindung, Mimesis verschiedener Filmplots oder Musiktitel etc.) geführt werden. Die narrativ-schließende Teleologie der Figurenpositionen und Handlungsabläufe wird dabei durch ihre Übersteigerung kritisch ausgestellt. Die durch ihre serielle Wiederholung hysterische Darstellung von (geschichtlicher) Monokausalität legt den nach diesen Parametern funktionierenden gesellschaftlichen Umgang mit historischen Ereignissen, insbesondere der historischen Person Hitlers und seiner medialen Inszenierung, in ihrer Einseitigkeit frei. Als Gegenstrategie entwirft Moers eine niedrigschwellige Einladung für die Rezipierenden, sich der verfügbaren Zeichen topischer und motivischer Art zu bedienen, um den öffentlichen, anerkannten und diskursbestimmenden Inszenierungen eigene, alternative Darstellungen entgegenzusetzen. Auf diese Weise gelingt es den Comics, die Gemachtheit bestehender kultureller Diskurse, deren Hoheiten und favorisierte Plotstrukturen transparent zu machen. Durch die Anlage der Comics als Serie und das »eigendynamische Moment seriellen Er-

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Fazit Teil II: Spielen

zählens«749 stellt die potentielle Erzählung der Rezipierenden eine neue Variante der Serie dar, die die Eindeutigkeit der Unterscheidungen zwischen Zeichen und Referenz, Produzent:in und Rezipient:in, autorisierten und nicht-autorisierten Erzählungen sowie zwischen Fiktion und Wirklichkeit auf produktive Weise verkompliziert.750 Zbigniew Liberas Lego. Concentration Camp ermöglicht durch den verkleinernden Modellcharakter ebenfalls zunächst eine Distanzierung, kann ein Modell zwar überblickt, in ihm aber nur beschränkt agiert werden, so dass ein kategorialer (Ebenen-)Unterschied zwischen Modellwelt (in diesem Fall die Welt eines Konzentrationslagers) und der wirklichen Welt entsteht. Der Überblick legt den Betrachtenden einen reflexiven Blick auf die Darstellungen und diskursiven Konstruktionen des historischen Gegenstands nahe. Überbrückt man die durch die Verkleinerung entstandene Distanz, muss man sich dem Spieltableau einerseits derart nähern, dass »die gebündelte Aufmerksamkeit, die wir dem winzigen Objekt schenken, […] fast voyeuristisch in ihrer Intensität«751 ist. Andererseits lädt das Spielzeug-Material zu einer imaginären Interaktion und spielerischen Auseinandersetzung ein, die auf ganz unterschiedliche Weise geschehen kann. Ferner unterzieht Libera die ikonisch gewordenen Motive einer Bewegung der Entnaturalisierung und Entautomatisierung, indem er sie als Gemachte und Zusammengesetzte ausstellt. Dies gilt auch für die Fotoserie Positives, in denen Libera Gegenbilder zu bestehenden Ikonen entwirft, um diese in ihrer Bedeutung zu irritieren und zu verflüssigen. Durch die Wahl eines Spielzeugs wird die distanzierende Übersicht zusätzlich in eine verpflichtende verwandelt, da sie von der Betrachter:in und imaginären Spieler:in Involviertheit, Handlungsentscheidungen und Verantwortung verlangt. So zerstört auch der Spielcharakter von Lego. Concentration Camp die mit ikonischen Darstellungen verbundene schützende Reaktion des Vertrauten. In dieser Doppelbewegung von Distanz und verantwortlicher Annäherung liegt das kritische Potential der Arbeit. 749 Frank Kelleter, Daniel Stein: Autorisierungspraktiken seriellen Erzählens. Zur Gattungsentwicklung von Superheldencomics. In: Frank Kelleter (Hg.): Populäre Serialität. Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Bielefeld 2012, 259–290, hier S. 260. 750 »Das Durchlässigwerden der Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit […] hat etwas mit der seriellen Form des Erzählens selbst zu tun«. (Thomas Morsch: Serialität und metaleptische Erfahrung. In: montage/av 21 (2012), Nr. 1, S. 151–174, hier S. 151f.). 751 Ralph Rugoff: Homeopathic Strategies. In: At the Treshhold of the Visible. Minuscule and Small-Scale Art 1964–1996. Ausstellungs-Katalog, Independent Curators Incorporated. New York 1997, S. 11–71, hier S. 14. Die Übersetzung ist übernommen von Tom Holert: MikroÖkonomie der Geschichte. Das Unausstellbare en miniature. In: Texte zur Kunst (2001), Nr. 41. Online o. S. zugänglich unter https://www.textezurkunst.de/41/mikro-oekonomie-de r-geschichte/, abgerufen am 07. 04. 2022.

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Fazit Teil II: Spielen

Beide Arbeiten geben sich offen als popkulturelle Produkte zu erkennen, wenn sie auf ihre Produktionsbedingungen hinweisen oder die Vermarktungsstrategien kulturindustrieller Artefakte reproduzieren. Die Tendenz zur Pluralisierung von Autorschaft bzw. dem Aufruf zur Co-Autorschaft liegt in beiden Fällen in der Aufforderung zum – imaginären – Spiel. Frank Kelleter und Daniel Steins Bemerkung, »dass populäre Serien werkästhetische Autorbegriffe nicht aushebeln, sondern in charakteristischer Weise komplizieren und dynamisieren«,752 lässt sich auch für eine Arbeit wie Liberas Lego. Concentration Camp in Anspruch nehmen. In dieser Aufforderung zum produktiven, ästhetischen Handeln liegt ein didaktisches Potential der Arbeiten. In Anknüpfung an Kaspar H. Spinners Elf Aspekte des literarischen Lernens und durch deren Übertragung auf andere ästhetische Disziplinen und Medien lässt sich hier für ein ästhetisches Lernen plädieren, das unmittelbar die eigene Handlungsmacht in Bezug auf gesellschaftliche Narrative im Kontext historischer Inszenierungen in den Blick nimmt und damit auf die Verantwortung jedes Einzelnen in der Rezeption hinweist. In Bezug auf den Holocaust als »[u]nannehmbare Geschichte«753 bedeutet dies, die erzeugte Selbstbeunruhigung, mit der Liberas Arbeit die Rezipierenden konfrontiert, und die Verantwortung für die Erzählung, die Liberas und Moers Arbeiten an sie übertragen, bewusst wahrzunehmen. Denn die ›aufmerksame Wahrnehmung‹ narrativer Darstellungen gibt Aufschluss über unseren gewohnten, gesellschaftspolitischen Umgang mit historischen Ereignissen. Zugleich nimmt die Aufforderung zur eigenen, idiosynkratrischen Erzählkonstruktion die Unabgeschlossenheit, zu der sich die deutsche Erinnerungskultur in Bezug auf Nationalsozialismus und Holocaust verständigt hat, in einer Pluralisierungsbewegung ernst: Bewusste Selbstbeunruhigung an historischer Erfahrung hat mit einer Erziehung durch Schrecken, hat mit Schockpädagogik nichts zu tun. Sie nimmt aber ernst und überspielt nicht, dass das mit der nationalsozialistischen Geschichte verbundene Beunruhigende nicht abgeschlossen ist und zudem den Gegenstand des Lernens trifft: nämlich die Geschichte und unsere vorreflexiven, im Alltagsbewusstsein verankerten Vorstellungen und Erwartungen an sie und ihren Gang. Ebenso nimmt sie das Gewordensein unannehmbarer Geschichte ernst sowie die Möglichkeit, ihre Entstehung, Wirkung und fortdauernde Relevanz empirisch gehaltvoll und konkret kleinzuarbeiten und so auf Gegenwart bezogen zu begreifen.754

752 Kelleter/Stein, Autorisierungspraktiken seriellen Erzählens, S. 261. 753 Volkhard Knigge: »Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen.« Unannehmbare Geschichte begreifen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 66 (2016), Nr. 3–4, S. 3–9, hier S. 8. 754 Ebd., S. 8.

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Fazit Teil II: Spielen

Dass die nachgeborenen Generationen laut van Alphen »can only relate to the Holocaust in the mode of playing«755 weil andere Rahmen, die Anknüpfungspunkte zur eigenen Welterfahrung darstellten oder zur wirklichen Auseinandersetzung führten, fehlen, muss dabei nicht als Verlust bewertet werden. Der spielerische Modus vermag nicht nur die kognitiven, auf Wissen abzielenden Fähigkeiten seiner Rezipierenden einzubeziehen, sondern als vermittelnde Methode zwischen einem aktuellen Umgang mit der Wirklichkeit und der erinnerungsnotwendigen historischen Realität Verbindungen herzustellen, die jede:n Einzelne:n in ihrer Gegenwärtigkeit betreffen und sie im Umgang mit medialen Darstellungen historischer Ereignisse kompetent machen.

755 Van Alphen, Playing the Holocaust, S. 152.

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Teil III: Parahistorien Im dritten Teil der Arbeit rückt mit der Parahistorie ein spezifisches Darstellungs- und Erzählverfahren in den Blickpunkt. Die untersuchten Gegenstände – die Erzählbände Dezember (2010) von Gerhard Richter und Alexander Kluge und 30. April 1945 (2014) von Alexander Kluge, Jean-Luc Godards Histoire(s) du cinéma (1988–1998) und Quentin Tarantinos Inglourious Basterds (2009) – sind allerdings keine typischen Vertreter des Genres. Näher läge es, Klassiker wie Philip K. Dicks The Man in the High Castle (1962), Robert Harris Fatherland (1992), Stephen Frys Making History (1996) oder Philip Roth The Plot Against America (2004), Timo Vuorensolas Film Iron Sky (2012) oder für den deutschsprachigen Raum Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara (1995), Michael Kleebergs Ein Garten im Norden (1998) zu untersuchen. Die hier gewählten Gegenstände erlauben jedoch eine etwas andere Schwerpunktsetzung und ermöglichen so eine Konstellation, die vorher Ungesehenes zum Vorschein bringt. Die Mehrzahl der Parahistorien entstammen einerseits aus popkulturellen Sphären oder Genres (wie der Science fiction oder der Phantastischen Literatur), denen hochkultureller Wert nach wie vor nur zögerlich zugesprochen wird. Andererseits wird parahistorisches Erzählen häufig in einen direkten Zusammenhang mit postmodernem Erzählen gebracht.756 Mit der Hinzunahme von Kluges Texten und Godards Film verortet sich diese Arbeit bewusst quer zur Dichotomie von Hoch- und Popkultur. Da Kluge als modern(istisch)er Autor gilt, seine ästhetischen Verfahren allerdings als postmodern bezeichnet werden können, unterläuft die Wahl, Kluge mit in das Korpus aufzunehmen, zudem die Opposition von Moderne und Postmoderne.757 Es wird zu zeigen sein, dass so756 Siehe dazu etwa Christoph Rodiek: Erfundene Vergangenheit. Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (Uchronie) in der Literatur. Frankfurt am Main 1997, dessen Beschreibung der ›Urchronie‹ vor allem durch einen intertextuellen Charakter geprägt ist; oder Jörn Rüsen: ›Moderne‹ und ›Postmoderne‹ als Gesichtspunkte einer Geschichte der modernen Geschichtswissenschaft. In: Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen, Ernst Schulin (Hg.): Grundlagen und Methoden der Historiographie. Geschichtsdiskurs Bd. 1. Frankfurt am Main 1993, S. 17–30. 757 Auch ließe sich argumentieren, dass Godards Gestus der Histoire(s) du cinéma, die Filmgeschichte einer Korrektur zu unterziehen an die ›großen Erzählungen‹ erinnert, die bekanntermaßen ja mit der Postmoderne eine Absage erhalten. Formal und strukturell aber

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Teil III: Parahistorien

wohl Kluges Texte, die dem Modernismus verpflichtet bleiben, als auch Godards und Tarantinos Filme, die der Postmoderne entspringen, mit strukturähnlichen Verfahren operieren. So nehmen alle hier verhandelten Gegenständen ihren Ausgangspunkt von der Überlegung einer alternativen Geschichtserzählung und setzen ›Geschichte‹ vor allem in einen nicht-reduzierbaren Plural. Die dargestellten Alternativen bleiben wiederum gleich einem Palimpsest durchlässig für das Faktische einerseits und für neue und andere Alternativen andererseits. Insbesondere das in der Vergangenheit Nicht-Realisierte758 und Gescheiterte rückt in diesen Gegenständen in den Vordergrund. Damit wird das Mögliche als relevanter Teil von Wirklichkeit und Geschichte aufgefasst. Die Idee der Parahistorie, der alternativen oder kontrafaktischen Geschichtsdarstellung759 entstammt der Geschichtswissenschaft, wo sie ein Verfahren zur Analyse von Geschichtskonstruktionen darstellt.760 Doch auch die phantastische und die Science Fiction-Literatur bedienen sich verschiedener Bezeichnungen aus dem Wortfeld der ›alternativen Geschichte‹. Andreas Martin Widman bezeichnet den Status kontrafaktischer Aussagen als uneigentliche, fiktionale Rede, die als Verfahren dient, Aussagen über Geschichte zu treffen. Dies gilt sowohl für geschichtswissenschaftliche als auch für ästhetische Alternativweltentwürfe. Parahistorische Texte »erweitern die Möglichkeiten der Konstruktion mit den Mitteln der Fiktion. Sie legen eigenständige Geschichtsentwürfe vor.«761 Zentral für die Parahistorie ist die bewusste und für den Rezipienten auch erkennbare

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liefert Godard gerade keine zusammenhängende und kohärente Erzählung, sondern erzeugt mit Fug und Recht als postmodern bezeichnete Bild-Text- und Tonkaskaden. In der Debatte um die fachliche und begriffliche Konturierung des Kontrafaktischen hat Gregor Weber eine Unterscheidung zwischen ›alternativer Geschichte‹ und ›ungeschehener Geschichte‹ vorgeschlagen: »Alternative Geschichte betrifft die Konstruktion von Handlungsalternativen für spezifische Situationen, meist Entscheidungen, was für die Situation selbst gelten oder auch danach stattfinden kann […]. Ungeschehene Geschehensverläufe sind dagegen allein durch einen gemeinsamen Punkt, nämlich ihren Ausgangspunkt, mit ›unserer‹ Welt verbunden, entwickeln sich dann aber anders weiter« (Gregor Weber: Vom Sinn kontrafaktischer Geschichte. In: Kai Brodersen (Hg.): Virtuelle Antike. Wendepunkte der Alten Geschichte. Darmstadt 2000, S. 11–23, hier S. 15). Eine sehr gute und ausführliche Darstellung der Forschung sowie der spezifischen Konturierung der verschiedenen Begrifflichkeiten liefert Andreas Martin Widmann: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung. Untersuchungen an Romanen von Günter Grass, Thomas Pynchon, Thomas Brussig, Michael Kleeberg, Philip Roth und Christoph Ransmayr. Heidelberg 2009, S. 14–16; einen Überblick auch für den englischsprachigen Raum, der mit dem Konzept weitaus mehr und offener auch in der Geschichtswissenschaft operiert, bietet Herrmann Ritter: Kontrafaktische Geschichte. Unterhaltung versus Erkenntnis. In: Michael Salewski (Hg.): Was Wäre Wenn. Alternativ- und Parallelgeschichte: Brücken zwischen Phantasie und Wirklichkeit. Stuttgart 1999, S. 13–42. Siehe dazu Alexander Demandt: Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen wenn…? 2., verb. Auflage. Göttingen 1986. Widmann, Kontrafaktische Geschichtsdarstellung, S. 30.

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Abweichung oder Deviation von den geschichtlichen Fakten: »Es kommt zu einer Deviation, die erkennbar ist und eine Interpretation herausfordert.«762 Für diese Arbeit wähle ich aus den vielen Bezeichnungen bewusst den Begriff der Parahistorie, weil die Vorsilbe ›Para‹ diese Erzählform sowohl mit Lyotards Para-Erfahrung ›Auschwitz‹ als auch mit der Parodie, wie sie Hutcheon skizziert, verknüpft. Statt auf einen Gegenentwurf abzuzielen (wie es das Kontrafaktische suggeriert), zielen sowohl die hier analysierten parahistorischen Ansätze als auch Lyotards Forderung nach einer neuen Anknüpfungsweise und das hier konturierte Konzept der Parodie auf die Darstellung alternativer Perspektiven zugunsten einer Pluralisierung von Geschichte. Diese Perspektivenpluralisierung steht im Gegensatz zu politisch virulenten Reden von Alternativlosigkeit und der Idee einer, oder gar der (einzigen), Alternative, die mit dem Bestehenden kaum in eine Auseinandersetzung treten möchte, sondern vielmehr das ganz Andere (sei es reaktionär traditionell oder restaurativ utopisch) beschwört. Parahistorien und insbesondere die hier präsentierten Texte und Filme stehen immer in einem produktiven Verhältnis zum Nachgeahmten, zur ›Wirklichkeit‹ und ihren medialen Aufbereitungen und erzeugen so Konstellationen im Sinne Adornos: Konstellationen allein repräsentieren, von außen, was der Begriff im Innern weggeschnitten hat, das Mehr, das er sein will so sehr, wie er es nicht sein kann. Indem die Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potentiell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte.763

Parahistorien suchen so das in etablierten Geschichtskonstruktionen Unterdrückte, Verlorengegangene der Vergangenheit und ihrer verpassten Möglichkeiten wiederzufinden und gegenwärtige Geschichte dadurch herausfordernd zu bereichern. 762 Ebd., S. 36. In Bezug auf literarische Parahistorien haben verschiedene Autoren versucht, unter verschiedenen Begrifflichkeiten Kategorisierungen vorzunehmen. Widmann untersucht, wo im Verlauf eines historischen Ereignisses Veränderung vorgenommen werden können. Dementsprechend unterscheidet er zwischen einem Story- und Plot-Typus, je nachdem ob historische Ereignisse oder deren historische Ursachen ausgetauscht werden. Beide Typen sind als Pole einer durchgängigen Skala zu denken (ebd., S. 348–349). Gavriel D. Rosenfeld ordnet die bestehenden parahistorischen Texte zum Nationalsozialismus in vier verschiedene thematische Umschreibungen ein: 1. Sieg der Nationalsozialisten, 2. Hitler überlebt den Zweiten Weltkrieg, 3. Hitler wird aus der Geschichte herausgeschrieben durch Zeitreisen, Experimente oder ähnliches, 4. der Holocaust geschieht in einer veränderten Weise auf (Gavriel D. Rosenfeld: The World Hitler never made. Alternate History and the Memory of Nazism. Cambridge, New York 2005). Guido Schenkel weist auf die Funktion der Alternate History als Alternate Memory hin, die ermöglicht, spezifische nationale Perspektiven in den Blick zu bekommen und bestehenden Narrativen andere Erzählmuster beizustellen. Ders.: Alternate history – Alternate memory: Counterfactual literature in the context of German normalization. Vancouver 2012, S. 5f. 763 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Gesammelte Schriften Band 6. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 2003, S. 164f.

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Der pragmatische Status parahistorischer Texte oder Filme – seien sie ästhetisch oder geschichtswissenschaftlich motiviert – lässt sich als markierte Artifizialität bestimmen, die dem Möglichen denselben Status zuspricht wie tatsächlichen Fakten, ohne dabei jedoch Aussagesätze mit einem Wahrheitsgehalt in Bezug auf unsere Wirklichkeit zu treffen. Als herausfordernde, alternative Entwürfe zur Realgeschichte machen sie deutlich, dass auch zeitgenössische Aussagen über die Realität als diskursive Konstruktionen gesellschaftlicher Wirklichkeiten aufzufassen sind, und verweisen damit auf die rhetorische Rahmung, mit der ideologische Systeme sich selbst naturalisieren und eine überzeitliche Enthistorisierung ihrer gesetzten Weltordnung suggerieren.764 Als Umschreibungen geschehener Geschichte sind Parahistorien stets medien-reflexiv in Bezug auf ›Geschichte‹ als diskursives, textuelles Konstrukt – herausgefordert oder angegriffen werden daher durch Parahistorien keineswegs historische Fakten, sondern vielmehr deren wissenschaftliche, gesellschaftliche, mediale Rahmung. Diese (geschichtswissenschaftliche) Position765 geht von einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Geschichte aus. Vergangenheit ist dabei dasjenige, was uns als Lebenszusammenhang unverfügbar und nur durch Artefakte oder Quellen erhalten ist und durch die (zumeist in schriftlicher Form festgehaltene) Geschichte in eine bedeutsame Beziehung zu unserer Gegenwart und Zukunft gebracht werden soll: »Fortan werden alle Aussagen über Vergangenes zu Aussagen über die Beziehung zu Vergangenem, aber nicht über die Vergangenheit selbst.«766 Zu einem analogen Schluss kommt 764 In Zeiten von Fake News scheint es wichtig zu betonen, dass zwischen dieser Art von gemachten Fakten, die vor allem durch (bewusst eingesetzte oder unbewusste) kognitive Verzerrungen und Framing erzeugt wird, und Falschinformationen sowie dem Umstand unterschieden werden muss, dass wir Zugang zu empirisch überprüfbarer Wahrheit und zu Fakten haben, wir also durchaus in der Lage sind, zwischen Fakten – im philosophischen Sinn – und deren (Miss-)Präsentation zu unterscheiden. 765 Widmann vermerkt in seiner Arbeit, dass das Ungeschehene oder Mögliche in die Geschichtsschreibung einzubeziehen ebenso wenig wie der Gedanke der grundsätzlichen Narrativität der Geschichtswissenschaft und -schreibung erst im 20. Jahrhundert auftaucht. Dort allerdings gewinnen sie eine sichtbare Relevanz. Siehe Widmann, Kontrafaktische Geschichtsdarstellung, S. 103–132. 766 Hans-Jürgen Goertz: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität. Stuttgart 2001, S. 118. Die jüngere Geschichtsforschung ist sich der Problematik ihrer zentralen Begrifflichkeiten bewusst und versucht zu einer klaren Bestimmung der Verhältnisse zu gelangen sowie den Begriff der »historischen Referentialität« zu bestimmen. Goertz führt das oben angeführte Zitat wie folgt fort: »Daher ist es sinnvoller, von der Referentialität als vom Referenten zu sprechen. Unter diesem Gesichtspunkt empfiehlt es sich auch, begrifflich zwischen Vergangenheit und Geschichte zu trennen. Geschichte ist der Versuch, ein Verhältnis zur Vergangenheit herzustellen (historia rerum gestarum), nicht die Vergangenheit als solche (res gestae).« (Ebd.) Zentral für einen grundlegenden Wandel in den Geschichtswissenschaften hin zur Reflexion der eigenen, schreibenden Tätigkeit als (narrativ) konstruierender sind vor allem Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore, London 1973; Reinhart Koselleck: Darstellung,

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auch Klaus Theweleit in Bezug auf die ›Geschichtsarbeit‹ von Godards Histoire(s) du cinéma: »Die längst ›geschehene‹ ›Geschichte‹ hört demnach nicht auf, sich unaufhörlich zu verändern im Maße der Tätigkeiten der Nachfolgenden und im Maße des Umgangs mit ihr. Es ist Beziehungsarbeit, die hier geleistet wird.«767 Geschichte ist demnach kein fixer Gegenstand. Vielmehr ist Geschichte abhängig von der Art des narrativen »emplotment«768, der Wahl einer erzählenden Form. Für Hayden White vollzieht der Historiker stets »the following levels of conceptualization in the historical work: (1) chronicle; (2) story; (3) mode of emplotment; (4) mode of argument; and (5) mode of ideological implication«769, um ein Narrativ »aus einem begrenzten Kanon von literarischen Konventionen, prägenerischen Plot-Strukturen und archetypische[n] Geschichten-Typen, die sich wiederum auf vier grundlegende Tropen zurückführen lassen«,770 zu erzeugen. Diese sind: Romanze, Komödie, Tragödie und Farce. Das bedeutet, dass Geschichte bzw. deren Konstruktion in der Gegenwart verankert ist und einen narrativ wie historisch-perspektivisch gebundenen Prozess der Verknüpfung verschiedener Ereignisse, Artefakte, Lebensläufe etc. darstellt. Wichtig ist dabei Whites Unterscheidung zwischen vergangenen Ereignissen (die im philosophischen Sinn als Fakten bezeichnet werden), die er als »the unprocessed historical record«771 beschreibt, und deren Transformation in ›geschichtliche Fakten‹ durch eine bestimmte Art der Beschreibung dieser Ereignisse: Events happen or occur; facts are constituted by the subsumption of events under a description, which is to say, by acts of predication. The ›adequacy‹ of any given account of the past, then, depends on the question of the choice of the set of concepts actually used by historians in their transformation of information about events into, not ›facts‹

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Ereignis und Struktur. In: Gerhard Schulz (Hg.): Geschichte heute. Positionen, Tendenzen und Probleme. Göttingen 1973, S. 307–317. Auch hierzu gibt Widmann einen hervorragenden Überblick. Siehe Ders., Kontrafaktische Geschichtsdarstellung, S. 115–122. Klaus Theweleit: Bei vollem Bewußtsein schwindelig gespielt. In: Jean-Luc Godard: Histoire(s) du cinéma/Geschichte(n) des Kinos. DVD. Mit einem Begleitheft. Frankfurt am Main 2009, S. 3–31, hier S. 20. Ähnlich betont Imke Meyer für Inglourious Basterds, dass im Gegensatz zu Filmen wie Schindlers Liste, die proklamieren, Realität wiederzugeben, »Tarantino’s film seems a testament to the insight that the historical truth is always already out of reach and that all we can access are representations of history, rather than history itself.« (Imke Meyer Meyer: Exploding cinema, exploding Hollywood: Inglourious Basterds and the limits of cinema. In: Robert von Dassanowsky (Hg.): Quentin Tarantino’s Inglourious Basterds. A Manipulation of Metacinema. New York, London 2012, S. 15–35, hier S. 25). White, Metahistory, S. 5. Ebd., S. 5. Michael Wachholz: Entgrenzung der Geschichte. Eine Untersuchung zum historischen Denken der amerikanischen Postmoderne. Heidelberg 2005, S. 62f. White, Metahistory, S. 5.

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in general, but ›facts‹ of a specific kind (political facts, social facts, cultural facts, psychological facts).772

White nennt die Überführung historischer Ereignisse (events) in eine auf spezifische Weise perspektivierte schriftliche Beschreibung und Auffassung dieser Ereignisse Fakten (facts). Diese Verwendung des Begriffs ›Fakten‹ steht im Gegensatz zu einer philosophischen Auffassung des Begriffs ›Fakten‹ als ›dasjenige, was der Fall ist bzw. was der Fall gewesen ist‹, ganz unabhängig davon, ob oder wie sie beschrieben werden können. Zentral für White ist dabei, dass die Betonung dessen, was er Fakten nennt, gar nicht auf dem Wort Fakten liegt, sondern auf dem jeweils davor gesetzten Adjektiv. Ähnlich argumentiert James Young, wenn er betont, dass die Fakten des Holocaust letztlich nur in ihrer erzählenden und kulturellen Rekonstruktion Bestand haben, […] [so] daß die Fragen der literarischen und der historischen Interpretation, die ohne dies miteinander verknüpft sind, im Gegenstand der ›literarischen Historiographie‹ zusammenfließen.773

Dass die Parahistorie eine Ausnahme vom restriktiven Authentizitätsgebot der Holocaustdarstellungen (und der damit verknüpften Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs) darstellen kann, mag einerseits der Herkunft des Verfahrens aus der Geschichtswissenschaft geschuldet sein. Andererseits bezieht die Parahistorie ihre Berechtigung aus bestimmten fiktionalen Genres wie der Science Fiction oder der phantastischen Literatur, die per Genrebestimmung nicht-realistischen Parametern unterliegen. Verhandlungen von Holocaust und Nationalsozialismus aus diesen Genres rücken kaum in den Fokus der ›ernsten‹ Auseinandersetzung, sondern werden von vornherein als spielerische, im besten Fall irrelevante Beiträge ignoriert oder, im schlimmsten Fall als den Erinnerungsdiskurs gefährdende Arbeiten aufgefasst. Als Produkte, die der ›Kulturindustrie‹ zugeordnet werden, liefern sie aber – wie es für Genreproduktionen üblich ist – einen durch das jeweilige Genre bekannten Strukturrahmen, innerhalb dessen Themen vor einer vertrauten narrativen Folie verhandelt und zugänglich gemacht werden können.774 In den letzten Jahren haben parahistorische Erzählungen über Nationalsozialismus und Holocaust daher, ganz unabhängig von einer Bewertung der Produkte, zu einer Popularisierung von Geschichte im Allgemeinen und der 772 Hayden White: Historiography and Historiophoty. In: The American Historical Review 93 (1988), Nr. 5, S. 1193–1199, hier S. 1196. 773 James E. Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Aus dem Amerikanischen von Christa Schuenke. Frankfurt am Main 1992, S. 14. 774 So operiert Brian Singers 2008 erschienener Film Valkyrie im Rahmen des Thriller-Genres, wenn er das Stauffenberg-Attentat spannungsreich und actiongeladen inszeniert. Plot und Inszenierungsebene bleiben dabei dem geschichtlichen Verlauf und der konventionalisierten Heldenerzählung treu, das präsentierte Geschichtsereignis profitiert aber vom der Fiktion zugeschlagenen, auf Unterhaltung ausgelegten Parameter der Spannung.

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Verhandlung von geschichtlichen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs im Besonderen beigetragen: »Alternate History ist somit ein Genre, in dem sich die vielfältige und vielschichtige Popularisierung von Geschichte […] besonders deutlich zeigt.«775 Die Parahistorie verfügt aufgrund ihrer Anlage über einen größeren Freiraum in Bezug auf ihre Darstellungsmöglichkeiten als andere Genres, die üblicherweise realitätsgesättigter erscheinen. Aber auch hier gibt es Beschränkungen der Darstellungsmöglichkeit, die sich vor allem in der Existenz bestimmter Handlungsstränge und der Abwesenheit anderer Plots äußern. So beschäftigt sich die Mehrheit der alternativen Erzählungen mit einer Verlängerung oder Ausbreitung des Nationalsozialismus.776 Narrative, in denen Hitler frühzeitig stirbt oder seine Machtergreifung verhindert wird, zeigen vor allem eine Welt, die sich als noch schlimmer erweist als der realhistorische Verlauf unter dem Nationalsozialismus.777 Der Holocaust selbst findet hierbei selten Eingang in die Parahistorien. Das den hier analysierten Gegenständen zugrundeliegende Geschichtsverständnis ist wesentlich vom Bewusstsein der Lücken im Faktischen (hier im Sinne Whites) geprägt. [A]t any given moment of history there are real alternatives, and to dismiss them as unreal because they were not realised […] is to take the reality out of the situation. How can we ›explain what happened and why‹ if we only look at what happened and never consider the alternatives, the total pattern of forces whose pressure created the event? 778

Es geht den hier ausgewählten Gegenständen daher auch weniger um das Moment des Erzählens (in bestimmten Genrebestimmungen) als vielmehr darum, 775 Michael Butter: Zwischen Affirmation und Revision populärer Geschichtsbilder: Das Genre der Alternate History. In: Barbara Korte, Sylvia Paletschek (Hg.): History Goes Pop: Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres. Bielefeld 2009, S. 65–81, hier S. 67. 776 Siehe beispielsweise Otto Basils Wenn das der Führer wüßte! (1966), Richard Bachmanns [d.i. Stephen King] The Long Walk (1979, dt. Todesmarsch), Robert Harris’ Fatherland (1992), Philip K. Dicks The Man in the High Castle (1962), Christian von Dithfurts Der 21. Juli (2001) und Der Consul (2003), Volkmar Weiss’ Das Tausendjährige Reich Artam (2007), Jerry Yulsmans Elleander Morning (1984) (in den letzten drei genannten Romanen wird Hitler vor der Machtergreifung bzw. vor dem Kriegsbeginn mit der USA ermordet), Len Deightons SSGB (1978), Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara (1995), Thomas Zieglers Die Stimmen der Nacht (1984) (beide Romane inszenieren die Realisierung des Morgenthau-Plans im Nachkriegsdeutschland), Éric-Emmanuel Schmitts Adolf H. Zwei Leben (2001), Norman Spinrads The Iron Dream (1972) oder Philip Roths Plot Against America (2004). 777 Stephen Frys Making History (1996) inszeniert bspw. eine durch Zeitreisen erreichte Hitlerfreie Welt. Diese schildert der Roman jedoch als Schreckensszenario eines von Rassentrennung und Verfolgung geprägten Amerikas, in dem Homosexualität strafrechtlich verfolgt wird. 778 Hugh Trevor-Roper: History and Imagination. In: Hugh Lloyd-Jones, Valerie Pearl, Blair Worden (Hg.): History & Imagination. Essays in Honour of H. R. Trevor-Roper. New York 1981, S. 356–369, hier S. 363.

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Teil III: Parahistorien

das vernachlässigte Vergangene in eine Konstellation mit dem üblicherweise Erzählten zu bringen. Das Verfahren der Parahistorie ermöglicht so eine nichtlineare, palimpsestartige Annäherung an geschichtliche Ereignisse. Die Bedeutung der Vorsilbe ›Para-‹ markiert, dass Parahistorien die Inhalte (Fakten) der Wirklichkeit keineswegs bestreiten oder beseitigen, sondern ihre stets mittransportierte, häufig naturalisierte Rahmung durch andere Perspektivierungen herausfordern wollen. Beide werden bewusst in ein Nebeneinander gebracht (und entsprechen damit einer nichtausschließenden Konjunktion), anstatt als oppositionelle Alternativen (im Sinn einer ausschließenden Konjunktion) aufgefasst zu werden: Rather, the discussion on H-Film presents a ›new socially typifying‹ discourse that dramatizes and reveals contemporary historical consciousness – and consequently contemporary historiographic discourse – as palimpsestic. One discourse does not ›undo‹ another: the acquisition of what counts as ›legitimate‹ historical knowledge does not ›replace‹ that historical knowledge which is deemed ›illegitimate‹, ›mythological‹. Indeed […], our encounters with a variety of historicized images and narratives from a variety of textual sources both layer themselves and sit beside each other as the historical field – and none of them can be completely erased.779

Weit davon entfernt, lediglich die empirisch überlieferten Erzeugnisse vergangener Kulturen, Praktiken und Gesellschaften (also alle positiven Spuren der Vergangenheit) und das durch die Geschichtsschreibung bereits medial erzeugte Bild der Vergangenheit als geschichtsrelevant zu begreifen, gehen Godards, Kluges und Tarantinos Arbeiten produktiv variierend, öffnend und parodierend mit der offiziellen Geschichtsschreibung um. Ihre Interessen gelten der Bergung übersehener, verbotener oder verlorener Ereignisse und Artefakte und dem in der Vergangenheit nicht realisierten Potential einzelner Ereignisse, Situationen oder individueller Leben. Alexander Kluges erzählerisches Universum erzeugt ein Panorama unterschiedlich fokussierter Geschichtsperspektiven: Makro-, Meso- und Mikrohistorien werden als gleichermaßen relevant nebeneinander gestellt und mittels fiktionalen wie dokumentarischen Aspekten zu einem Kaleidoskop angeordnet. Bedeutsam ist für Kluge einerseits, geistesgeschichtlichen Zusammenhang herzustellen und Anschlüsse für das vermeintlich Nicht-Verstehbare zu finden und andererseits, die Nicht-Erfahrung katastrophaler Ereignisse durch ästhetische Mimesis zu verlangsamen und prozessierbar zu machen. Auch Jean-Luc Godards Histoire(s) du cinéma ist daran gelegen, zuvor nicht Sichtbares sichtbar(er) zu machen. Er bettet seine Beschäftigung mit Nationalsozialismus und Holocaust in das Großprojekt einer neuen, alternativen Film779 Vivian Sobchack: The insistent Fringe: Moving Images and historical Consciousness. In: History and Theory 36 (1997) Nr. 4, S. 4–20, hier S. 8.

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Teil III: Parahistorien

geschichtsschreibung ein, in der die Bilder von Vernichtung und Auslöschung einen Platz erhalten sollen. Quentin Tarantino geht es in Inglourious Basterds um einen bestimmten Ausschnitt aus der medialen Geschichtsschreibung, wenn er es mit der Inszenierungsweise nationalsozialistischer Ästhetik aufnimmt, um diese durch alternative Darstellungsweisen sowie durch das tatsächliche Umschreiben des historischen Plots als nachträgliches, für die Dauer der Fiktion bestehendes ›Richtigstellen‹ in ihre Grenzen zu verweisen.

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Alexander Kluges Parallelgeschichte(n) – Dezember und 30. April 1945

»Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.«780

Beim Blick auf Alexander Kluges wilderndes, intermediales Schaffen leuchtet es unmittelbar ein, ihn in die Reihe der hier untersuchten Gegenstände aufzunehmen. Seine Texte (Filme, Fernseharbeiten, Interviews und ›Performances‹) sind fast von Beginn an von einem ähnlichen Subjekt-Material-Verhältnis, konstitutiver Zitathaftigkeit und Kommentararbeit geprägt, wie es oben für Meinecke skizziert wurde: In die Filme fällt Text ein, die Texte sind durchsetzt mit Bildmaterial und überwiegend in fragmentarischen Textsorten und kleinen Formen verfasst, ja »indem der Autor zitiert, enthält er sich nicht nur der Subjektivität, und das heißt auch, des subjektiven Ausdrucks, gar des autobiographischen Bekenntnisses, er setzt das Subjekt aus, zerstreut es gleichsam in sein Textfeld oder zeigt sich unwissend über das, was es sein könnte«.781 Schon 1985 schreibt Helmut Heißenbüttel über die »Methode des Schriftstellers Alexander Kluge«: Die Versuche, das literarische Werk Kluges zu beschreiben […] sind bisher in der Regel daran gescheitert, daß die Beschreibenden sich nicht von der Norm des überlieferten Literaturbegriffs haben frei machen können. […] Wir haben nicht anstelle der RomanFiktion nun eine Dokumentarliteratur oder eine sprachimmanente Literatur oder Mischformen usw., sondern wir haben eine ganz andere Schreibweise.782

Im Zentrum des Kapitels steht die Frage, wie sich diese andere Schreibweise in den neueren, auf den ersten Blick konventioneller und kontemplativ wirkenden Textbänden Dezember783 und 30. April 1945784 zeigt und die Konvention ihres

780 Franz Kafka: Die Bäume. In: Ders.: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten. Frankfurt am Main 1994, S. 30. 781 Helmut Heißenbüttel: Zur Methode des Schriftstellers Alexander Kluge. In: Text + Kritik (1985), Nr. 85/86, S. 2–8, hier S. 5. 782 Ebd., S. 2f. 783 Alexander Kluge, Gerhard Richter: Dezember. Berlin 2010. Nachweise im Folgenden unter der Sigle ›D‹ im Fließtext.

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Alexander Kluges Parallelgeschichte(n) – Dezember und 30. April 1945

Erscheinens herausfordert. Damit soll weder Kluges spezifische politische Haltung und Herkunft aus der Kritischen Theorie – und damit einer modernen Perspektive und Verantwortlichkeit verpflichteten Position – negiert, noch Kluge als postmoderner Autor bezeichnet werden. Vielmehr sollen die verfahrenstechnischen Gemeinsamkeiten herausgestellt werden, wenn Kluge »eine konstellative, anti-hierarchische Darstellungsweise« im Sinne Adornos »mit den Mitteln der literarischen Moderne und des selbst mitbegründeten Neuen Deutschen Films, etwa durch Montage und Cross-Mapping«785 verwirklicht.

5.1

Zersplitterung als poetologisches Verfahren

Beschäftigt man sich mit Kluges neueren Geschichten über Krieg und Nationalsozialismus, der »gewaltige[n] Erfahrungsmasse des 20. Jahrhunderts«786, so zeigen sie sich als Splitter eines kaum (wieder)herzustellenden Gesamtbildes. Die wirkliche Kriegserfahrung des Bombeneinschlags787 dient ihm als Modell im Sinne Adornos für das poetologische Verfahren eines zersplitterten Zusammenhangs, den seine Texte herstellen. Das Modell bzw. (Denk-)Modelle788 im 784 Alexander Kluge: 30. April 1945. Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann. Berlin 2014. Nachweise im Folgenden unter der Sigle ›30. April‹ im Fließtext. 785 Bert-Christoph Streckhardt: Kluges Konstellationen. Alexander Kluges Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln. In: Cahiers d’Études Germaniques 69 (2015), S. 55–68, hier S. 58. Online erschienen am: 17 Dezember 2017. http://journals.openedition.o rg/ceg/1091, abgerufen am 09. 04. 2022. 786 Oskar Negt, Alexander Kluge: Massverhältnisse des Politischen. Der unterschätzte Mensch. Band I. Frankfurt am Main 2001, S. 691–1005, hier S. 840. Im Folgenden unter der Sigle ›MP‹ im Fließtext nachgewiesen. 787 »Mein Motiv, während ich dies hier schreibe, entstand aus Erfahrungen, die ich als Dreizehnjähriger am 8. April 1945 bei einem Luftangriff auf meine Heimatstadt Halberstadt gemacht habe. […] Die zwanzig Minuten Luftschlacht, der anschließende Feuersturm, der die alte Stadt vernichtete, ist sozusagen mein 1918.« (MP 860) Der diskursive Ort, von dem aus sich Alexander Kluge als Deutscher der Thematik des Nationalsozialismus annähert, ist zudem an seine akribische Beschäftigung und frühe literarische Annäherung an den Holocaust geknüpft, die als Bedingungen für seinen Schreibeinsatz zu bürgen haben: »Es gibt da ein inneres Gefühl von Proportionen bei meiner literarischen Arbeit: Ohne das Kapitel ›Verschrottung durch Arbeit‹, das sich mit einem KZ bei Halberstadt befaßt, mit dem ich mich vorher ausführlich beschäftigt habe, hätte ich auch den Luftangriff nicht erzählen können. Und ohne diese Schilderung des Luftangriffs oder der Geschichte von Stalingrad hätte ich viele andere, kleinere Geschichten nicht erzählen können.« (Alexander Kluge im Gespräch mit Volker Hage: Zeugen der Zerstörung. Frankfurt am Main 2003, S. 204f.). 788 Wenn hier und im Folgenden Adornos Begriffe des Modells und der Konstellation zur Beschreibung der poetischen Verfahren Kluges genutzt werden, soll deutlich gemacht werden, dass die Begriffe bei Adorno theoretischer Natur sind. Meine These ist jedoch, dass sie als poetische Konzepte aufgefasst werden können, die die Verfahren von Kluges sowohl literarischen Texten (und Filmen) als auch von seinen theoretisch-philosophischen Texten

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Plural, bedeuten für Adorno die »Forderung nach Verbindlichkeit ohne System789 […]. Das Modell trifft das Spezifische und mehr als das Spezifische, ohne es in seinen allgemeineren Oberbegriff zu verflüchtigen.«790 Das Vorwort der Neuen Geschichten lässt sich als selbstreflexiver poetischer Kommentar lesen, der die Auflösung einer Korrelation von Form und Inhalt und die Zerstreuung von Kluges Geschichten, konstatiert: Geschichten ohne Oberbegriff. Ich behaupte nicht, daß ich selber ihre Zusammenhänge begreife. Es hat den Anschein, daß einige Geschichten nicht die Jetztzeit, sondern die Vergangenheit betreffen. Sie handeln in der Jetztzeit. Einige Geschichten zeigen Verkürzungen. Genau dies ist dann die Geschichte. Die Form des Einschlags einer Sprengbombe ist einprägsam. Sie enthält eine Verkürzung. Ich war dabei, als am 8. April 1945 in 10 Meter Entfernung so etwas einschlug. Die Regenpfütze, die von niemand gebraucht wird, die nicht terrorisiert wird, damit sie sich ›verhält‹, kann sich die klassische Form leisten: Übereinstimmung von Form und Inhalt. Wir Menschen sind dadurch bestimmt, dass Form und Inhalt miteinander Krieg führen. Wenn nämlich der Inhalt eine Momentaufnahme […] und die Form das übrige Ganze, die Lücke, ist, das, was die Geschichte gerade jetzt nicht erzählt.791

Die Wirklichkeit gilt Kluge unter Rückgriff auf die Textmetapher als »Text[…] wirklicher Verhältnisse« (MP 839), die in Form von »Übereinanderschreibungen« (MP 862) 792 vorliegt. Die Wirklichkeit widerfährt uns in der Form zer-

789

790 791 792

(Öffentlichkeit und Erfahrung sowie Geschichte und Eigensinn, beide mit Oskar Negt) auszeichnet. Dies deuten die beiden Autoren im Vorwort zu Geschichte und Eigensinn selbst an, wenn sie die Leser:in zu einer spiralförmig-wiederholenden Lektüre auffordern: »Vom Leser wird bei diesem Buch Eigeninteresse erwartet, indem er sich die Passagen und Kapitel heraussucht, die mit seinem Leben zu tun haben. […] Es gibt […]Bücher, deren Tugend in der Wiederholbarkeit liegt. Einer liest darin und dann liest er wieder darin.« (Alexander Kluge, Oskar Negt: Geschichte und Eigensinn. In: Dies.: Der unterschätzte Mensch. Band II. Frankfurt am Main 2001, S. 1–1245, hier S. 5. Im Folgenden im Fließtext unter der Sigle ›GuE‹ nachgewiesen). Ganz im Sinne eines performativen Zugangs lässt sich für diese Arbeit ebenfalls konstatieren, dass sie konstellativ vorgeht. Interessant ist, dass Godard, wie unten zu sehen sein wird, den Begriff des Modells in eine negative Opposition zum Begriff des Modellierens setzt. Während das Modell – ähnlich wie das von Adorno abgelehnte System – reduktive Kategorisierung bedeutet, ist Godards Modellieren dem Modell-Begriff Adornos näher: Es erhält den idiosynkratischen Zug des Dargestellten. Godard und Kluge, unter Rückgriff auf Adorno, zielen so mit gegensätzlichen Begriffen auf strukturähnliche Phänomene. Siehe Kapitel 6.4. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Gesammelte Schriften Band 6. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 2003, S. 39. Alexander Kluge: Neue Geschichten. Hefte 1–18. ›Unheimlichkeit der Zeit‹. Frankfurt am Main 1977, S. 9. Herv. im Original. Im Folgenden sind alle Hervorhebungen (Kursivierung, Fett- und Großdruck) soweit nicht anders angegeben im Original. Das achte Kapitel von Massverhältnisse des Politischen trägt den Titel: »Das Lesen des Textes wirklicher Verhältnisse. Die schwerwiegende Frage, ob wir die Chiffre unseres Jahrhunderts verstehen« (MP 839–870). »Es gibt vor allem Übereinanderschreibungen, so als sei eine Schreibmaschinentext-Seite viertausend Mal verschieden übertippt. Solche Übereinander-

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splitterter Erfahrung, die für uns nicht unmittelbar verständlich ist, weil es uns an angemessenen Instrumenten fehlt, sie zu bearbeiten: Wir »besitzen […] keine Raster für den Umgang mit dieser Erfahrungsmasse.« (MP 840) Die Erfahrung des Einzelnen ist stets in komplexen gesellschaftlichen und historischen Kontexten eingebunden, die im Augenblick des Erfahrens nicht überblickt werden können: »Der geschichtliche Prozeß verläuft unleserlich. Für den Einzelnen, für den Betroffenen […] stellen sich keine anschaulichen Lesarten her, die Hinweise auf Zusammenhang oder ›Sinn‹ gäben.«793 Dies liegt an der Konzeption der subjektiven Wahrnehmung, die Kluge als »Nähesinn«794 bezeichnet: [U]nsere Sinne sind sehr enge Fenster. Sie sind […] zunächst einmal als Nähesinn ausgebildet. […] Die wirklichen Entwicklungen – solche, die Menschen schlagen können – finden aber in der geschichtlichen Bewegung, d. h. in Form von gesellschaftlichen Ereignissen statt, über die unsere unmittelbaren Sinne wenig sagen. […] In der Nähe, die uns erfahrbar ist, finden die Entscheidungen nicht statt. In der Ferne aber – die uns nicht erfahrbar ist, für die wir die geeigneten Fernrohre (oder Mikroskope) in unseren Sinnen nicht haben – finden die wirklich großen Schläge statt. Beides kommt nicht zusammen. In diesem Sinne ist der Mensch kein gesellschaftliches, kein politisches Wesen. (FKDB 9–11)

Wir stehen daher stets in der Gefahr, unsere eigene Geschichte unterkomplex zu verstehen und zu erzählen.795 Das führt – in Kunst, Politik und Gesellschaft oftmals zu einem Abbildungsrealismus796, der »eine ideologische Ballung bil-

793 794 795

796

schreibung entspricht genau der Arbeit geschichtlicher Verhältnisse, der Arbeit der Generationen und ihrer Sprachregelungen. Es kommt hinzu, daß jedes dieser Elemente, was für Buchstaben nicht gilt, sich in einer lebendigen Bewegung befindet, und nicht nur als übereinandergeschrieben sich erweist, sondern als Überschriebenes sich lebendig verändert. Sämtliche Texte wandeln sich also unter der Hand. Dies ist aber nur die Oberfläche der Darlegung, da es außerdem auch auf die Beziehungsverhältnisse zwischen den Schriften ankommt, ja das Lebendige in der Reaktion des einen Textes auf den anderen besteht. Mit jedem Wechsel der Blickrichtung (Perspektive) ergibt sich also ein anderer Textzusammenhang.« (MP 862f.). Götz Großklaus: Katastrophe und Fortschritt. Alexander Kluge: Suche nach dem verlorenen Zusammenhang deutscher Geschichte. In: Christian Schulte (Hg.): Die Schrift an der Wand – Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien. Göttingen 2012, S. 201–230, hier S. 201. Alexander Kluge: Das Politische als Intensität alltäglicher Gefühle. Theodor Fontane. In: Ders.: Fontane – Kleist – Deutschland – Büchner. Zur Grammatik der Zeit. Berlin 2004, S. 7– 19, hier S. 9. Im Folgenden unter der Sigle ›FKDB‹ im Fließtext nachgewiesen. »Entweder erzählt die gesellschaftliche Geschichte ihren Real-Roman, ohne Rücksicht auf die Menschen, oder aber Menschen erzählen ihre Gegengeschichte. Das können sie aber nicht, es sei denn in den Komplexitätsgraden der Realität.« (Alexander Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode. Frankfurt am Main 1975, S. 222). »Gegen Abbildrealismus wird bekanntlich das alte Hegel-Marxsche-Argument verwendet, das Konkrete – so, wie es erscheint – sei gerade abstrakt, denn es lasse nicht mehr jene es organisierenden Kräfte – sei’s Ideen, sei’s Realabstraktionen – erkennen, kraft deren es allererst konkret sei« (Winfried Menninghaus: Geschichte und Eigensinn. Zu HermeneutikKritik und Poetik Alexander Kluges. In: Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich, Klaus R. Scherpe

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de[t], eine Schein-Wirklichkeit, an die sich Gewöhnungen kristallisieren«,797 und den Kluge als verkürzenden Darstellungsmodus bezeichnet. Diese Verkürzungen entstehen durch – meist unzulässige – Herstellung von Übersichten, […] von Illusionen und Bildern. […] [Das] entspricht nicht dem, was man bei Büchern lesen nennt: dem Entziffern des Textes. Eher geht es um eine Technik der Verweigerung; es wird nicht übersetzt, sondern ein Ersatz gebildet. Das Lesen eines Textes, den die wirklichen Verhältnisse geschrieben haben, wird verweigert und ein Realitätsbild, das vertraut ist, an dessen Stelle gesetzt – das ist der Grundmechanismus der Bearbeitung. (MP 840)

Die Etablierung narrativer Stereotypen zeugt davon, dass wir dazu neigen, geschichtliche Prozesse in Form von Verkürzungen zu rezipieren und darzustellen: »Die klassische Erzählung steht bei den Nachfahren der Kritischen Theorie […] im Verdacht der ›falschen‹ Repräsentation, des erkenntnisblinden Sichtbarmachens.«798 Auch Kluge steht einer narrativen Schließung skeptisch gegenüber. Das Modell der Katastrophe als poetisches Verfahren799 und die daraus entstehende Fähigkeit der pluralen Wahrnehmung ermöglicht, Einseitigkeit in der Beschreibung von Gegenwart und Geschichte zu umgehen. In Bezug auf die literarisch-ästhetischen Debatten zu Nationalsozialismus und Holocaust durchkreuzt Kluges Interesse für die Herstellung von Zusammenhängen deren herrschende Parameter wie etwa die »Holocaust etiquette«800: An einer Festschreibung der Dichotomie von Täter und Opfer ist ihm ebenso wenig gelegen wie an einer narrativ-bewältigenden, emotional lenkenden Aufarbeitung des Themas. Das erzählerische »Schildern, Ausgestalten, Abrunden von […] ›prallen‹ Figuren, ›lebendigen‹ Schauplätzen«801 macht in Kluges Texten Platz für »Namen, Einzelzüge des Charakters, der Entwicklung, wie das herumwandernde Knie von Christian Morgenstern […]. Was auftaucht sind Beispiele, Exempelfälle, Exempelfiguren. Oder ein Figurenaspekt weitet sich aus in ein fast unübersehbares Labyrinth«.802 Seine Texte nehmen ihren Ausgang von strukturellen Bedingungen historisch wirkmächtiger Ereignisse und Konstellationen, deren

797 798 799 800 801 802

(Hg.): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Stuttgart 1990, S. 258–272, hier S. 259). Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, S. 209. Klaus R. Scherpe: Literatur nach der Kritischen Theorie. Hans Magnus Enzensberger und Alexander Kluge. In: Ders.: Stadt. Krieg. Fremde. Literatur und Kultur nach den Katastrophen. Tübingen, Basel 2002, S. 315–334, hier S. 318. »Zum formalen Prinzip des Erzählens ist hier die Katastrophe gemacht worden.« Hans Magnus Enzensberger: Ein herzloser Schriftsteller. In: Der Spiegel 02. 01. 1978, S. 81–83, hier S. 81. Terrence Des Pres: Holocaust Laughter. In: Berel Lang (Hg.): Writing and the Holocaust. New York, London 1988, S. 216–233, hier S. 218. Heißenbüttel, Zur Methode, S. 4. Ebd., S. 4.

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Vorboten, Organisationsprozesse und gesellschaftspolitische Nachwehen. Sie sind stets geleitet von Fragen nach dem Übergang vom Einzelnen zur Gesellschaft, von der individuellen Erfahrung zur kollektiven Geschichte. In seinen Geschichten über Krieg und Nationalsozialismus geht es darum, die Perspektive der Mikrostruktur, in der Geschichten von Individuen bedeutsam werden,803 mit der zur Institution, Gesellschaft, Staat oder Geschichte geformten Makrostruktur zu konfrontieren. Auf eine solche Unverhältnismäßigkeit der Perspektiven und der begrifflichen Einteilungen weisen Alexander Kluge und Oskar Negt schon in Öffentlichkeit und Erfahrung hin: Bundestagswahlen, Feierstunden der Olympiade, Aktionen eines Scharfschützenkommandos, eine Uraufführung im Großen Schauspielhaus gelten als öffentlich. Ereignisse von überragender öffentlicher Bedeutung wie Kindererziehung, Arbeit im Betrieb, Fernsehen in den eigenen vier Wänden gelten als privat. Die im Lebens- und Produktionszusammenhang wirklich produzierten kollektiven gesellschaftlichen Erfahrungen der Menschen liegen quer zu diesen Einteilungen.804

Die Erzählbände Dezember und 30. April 1945 nehmen sich die Unverhältnismäßigkeiten von normierender, vereinheitlichender Zeitlichkeit und den damit kollidierenden menschlichen Eigenzeiten vor.805 Vor allem Dezember ist geprägt von widerstreitenden (Un-)Ordnungskonzepten, in denen formale Strenge durch Ausbrüche und Gegenbewegungen herausgefordert wird. Das geschieht auf der strukturell-formalen und inhaltlich-motivischen Ebene. Ein Text weist beispielsweise auf den Überschuss menschlicher Lebenszeit hin, der durch die Normierung in Form der »Abgrenzung von Alt- und Neujahr nach Deutscher Industrienorm (DIN)« (D 123) entsteht: »Organisationen bewegen sich […] stets in 52 intakten Wochen« (D 124), selbst wenn »der 29., 30. oder 31. Dezember ein Montag [ist.] […] Mögen die Menschen noch bis zu zwei Wochentage erleben, so tun sie das außerhalb der Zeit.« (D 123–124) ist. Dieser ist in der objektiven

803 »Leiden kann nur der Einzelne« (Alexander Kluge: Das fünfte Buch. Berlin 2012, S. 104). 804 Oskar Negt, Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. In: Dies.: Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden. Band I. Frankfurt am Main 2001, 335–674, hier S. 335. 805 Allein die auffällige Menge der Formulierungen aus dem semantischen Feld ›Zeit‹ stößt die Lesenden auf die Manie hin, mit welcher die Texte das Thema Zeit unablässig umkreisen: »zu spät« (D 7, 14, 57, 78), »Zeitarmut« (D 7), »[u]m ein Haar« (D 10), »rasch« (D 10), »Vorsehung« (D 10), »Realitätsstrom« (D 17), »Äonen« (D 21, 28), »Zeitbombe« (D 22), »Zeitdruck« (D 26), »Zeitrasanz« (D 28), »Jahreswechsel« (D 36), »Jahresschlußbilanz« (D 36), »Macht ohne Zeit« (D 38), »Zeitzonen« (D 60), »Kriegsjahre« (D 70), »STUNDENVORRAT« (D 73), »Zeitversetzung« (D 74), »Zeitabriß« (D 74), »rechtzeitig« (D 80), »TRENNER zwischen den Zeiten« (D 98), »Zeitperioden« (D 106), »ZEITKOMPRIMATION« (D 106), »SELBSTBESTIMMUNGSRECHT DER ZEIT« (D 107), »ZEITSTROM« (D 107), »Zeitreserve« (D 112), »Eigenzeit« (D 119), »Tempus, Aevum, Aeternitas« (D 119), »zeitlos« (122), »zwischen den Zeiten« (D 122), »außerhalb der Zeit« (D 124), um hier nur einen Bruchteil zu nennen.

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Zeitstruktur nicht repräsentiert, wodurch ein »Zeitabriß« (D 74) entsteht, der als Diskontinuität von erfahrener Zeitlichkeit problematisch werden kann, wie der Text zum 23. Dezember 1999 zeigt: Die Zeit bewegt sich reißerisch und vorwärtsdrängend in die Zukunft, und sie reist in das Gewesene, wo eine gewaltige Substanz des Weg-Gerissenen in einer Art von Abstellraum oder Warteschleife auf seine Wiederkehr wartet. In diesem Weggerissenen liegt die Reserve, die Schatzbildung der Menschheit. Dagegen hängt, was in die Zukunft gerissen wird, in seinem Leben davon ab, daß die langsameren Gegenwärtigkeiten ihm rechtzeitig folgen (sonst geht das in die Zukunft Gerissene zugrunde). (D 74)

Hier wird auf eine Reserve hingewiesen, die in der Vergangenheit liegt und die innerhalb normierter Zeiteinteilungen nicht prozessiert, ja möglicherweise nicht einmal sichtbar werden kann. In komplexen historischen Konstellationen häufen sich eine Fülle und Qualität an Erfahrung an, die den formalen semantischen Gehalt konventioneller Bezeichnungen metrischer Ordnungen sprengen: »341 Jahre haben die Substanz von 500 Jahren« (D 106). Auf diesen brach liegenden Überschuss können und müssen fiktionale Erzählungen zugreifen und ihn für ein gegenwärtiges Welterleben fruchtbar machen. Ziel ist dabei, das, »was aus dem öffentlichen politischen Raum gemeinhin ausgegrenzt«806 wird, sichtbar zu machen. Aus einem häufig faktischen Kern entwirft Kluge die darin enthaltenen und versäumten Möglichkeitsräume als fiktionale Konstellationen und konzipiert damit eine offene Form geschichtlichen Denkens. Seine narrative Arbeit an der Geschichte lässt sich entsprechend auf die Prozessualität wuchernder enzyklopädischer Texturen statt Abgeschlossenheit eines Werkes und auf die kleine Form, auf ein kritisches Verfahren der Verdichtung und Unterbrechung statt epischer Integration ein, um in eben jenen Lücken und Bruchstellen des unterbrochenen Kontinuums Augenblicke eines möglichen anderen Laufs der Dinge aufscheinen zu lassen.807

Daher entwirft Kluge ein Realismuskonzept, welches das Nichtgeschehene, die verpassten Chancen, unterdrückte Emotionen und nicht realisierte Möglichkeiten als Bestandteil der Wirklichkeit mit einrechnet. Kluge schreibt dem Möglichen und Unrealisierten eine ähnliche Wirkmacht zu wie dem, was gemeinhin als Fakten bezeichnet wird: Im menschlichen Kopf sind Tatsachen und Wünsche immer ungetrennt. Der Wunsch ist gewissermaßen die Form, in der die Tatsachen aufgenommen werden. Die Wünsche

806 Susanne Komfort-Hein: Kritik am Werk. Kommentar als Form der Geschichtsschreibung bei Alexander Kluge. In: Peter Brandes, Armin Schäfer (Hg.): Schreibweisen der Kritik. Eine Topographie von 1968. München 2020, S. 193–213, hier S. 195. 807 Ebd., S. 194.

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haben nicht weniger Real-Charakter als die Tatsachen. […] Es ist der Wunsch, […] die Welt in menschliche Beziehungen zu zerlegen. Die Utopie davon ist realistisch.808

Das hat zur Folge, dass die dichotomisch organisierte Wirklichkeit, die strikt zwischen Fakt und Fiktion trennt, für Kluge unhaltbar wird, weil er den Optativ als Drittes zwischen Fakt und Fiktion als Bestandteil des Wirklichen auffasst. Erinnern wir uns an die Definition von Pop aus der Einleitung, dass »Pop […] mit dem Paradigmatischen zu tun [hat], dem, was nicht da ist, es aber sein könnte«,809 so lässt sich hier eine erste Ähnlichkeit der Verfahren Kluges und der postmodernen Autoren feststellen. Kluge bezeichnet seinen Realismusbegriff als dialektisch, weil er »aus zwei ganz verschiedenen Haltungen« (FKDB 9) besteht, die einander zu widersprechen scheinen: Die »realistische Haltung« (FKDB 9) zeichnet sich durch das Bemühen um »Genauigkeit in der Wiedergabe realer Erfahrungen« (FKDB 9) aus. »Die gibt es aber nicht als Naturform. Als Naturform gibt es die Ideologie, d. h. den Kontrast zwischen den Wünschen von Menschen und einer Wirklichkeit, die nicht auf diese Wünsche antwortet, die sie nicht befriedigt.« (FKDB 9) Diese erste Haltung ist um eine akribische Aufzeichnung jeder Erfahrungssituation und -konstellation bemüht, um deren Individualität nicht vorschnell einer Subsumption unter eine allgemeine Kategorisierung zu unterwerfen. Das Besondere wird in sein Recht gesetzt. Auch hierin lässt sich die von Baßler betonte Spezifizierung und Markiertheit wiedererkennen, die »eine Ent-Naturalisierung und Ent-Automatisierung des vermeintlich normalen, natürlichen Sachverhaltes [bewirkt]«810 und der Ideologie entgeht. Dieser Bewegung der Ausdifferenzierung fügt Kluge eine zweite Haltung hinzu: Die Wurzel einer realistischen Haltung, ihr Motiv: das ist eine Haltung gegen das, was an Unglück in den realen Verhältnissen ist; es ist also ein Antirealismus des Motivs, eine Leugnung des reinen Realitätsprinzips, eine antirealistische Haltung. Sie erst befähigt, realistisch und aufmerksam hinzusehen. Das ist die Dialektik des Realismus. (FKDB 9)

Da sich uns Wirklichkeit und Geschichte als »Naturform […] Ideologie« (FKDB 9) präsentieren, laufen wir Gefahr, sie deterministisch oder fatalistisch zu deuten. Dabei gilt das Gegenteil: »Alle Wirklichkeiten gemeinsam zeigen keine Not808 Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, S. 204. Zuweilen spricht Kluge sogar von der »Geisterwelt der Fakten« (Rainer Stollmann: Die Entstehung des Schönheitssinns aus dem Eis. Gespräche über Geschichten mit Alexander Kluge. Berlin 2005, S. 63). »Kluge verlangt von der Geschichtsschreibung neben den historischen Fakten auch das, was sich nicht realisiert hat: die Gefühle, die Wünsche, die nicht wahr gewordenen Möglichkeiten und Ideen.« (Barbara Potthast: Geschichte und Gegen-Geschichte(n). In: Museum Folkwang (Hg.): Alexander Kluge. Pluriversum. Leipzig 2017, S. 105–115, hier S. 105). 809 Moritz Baßler: Definitely Maybe. Das Pop-Paradigma in der Literatur. In: POP. Kultur und Kritik (2015), Nr. 6, 104–12, hier S. 107. 810 Ebd., S. 106.

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wendigkeit, keine Fatalität, sondern absolut [sic!] Mangel an Bearbeitung.« (MP 841). Für Kluge setzt hier die Forderung nach Kunst an, die er bei Brecht auf den Punkt gebracht findet: »Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache ›Wiedergabe der Realität‹ etwas über die Realität aussagt. […] Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. […] Es ist also tatsächlich ›etwas aufzubauen‹, etwas ›Künstliches‹, ›Gestelltes‹. Es ist also tatsächlich Kunst nötig. Aber der alte Begriff der Kunst, vom Erlebnis her, fällt eben aus.«811 Im ›Künstlichen‹ der Kunst kann die heterotopische Gleichzeitigkeit des Verzerrten, Getrennten, Ausgeschlossenen und Gegensätzlichen erst sicht- und verstehbar werden. Es ist Verknüpfungsarbeit (und wenn eine Weberin ihrer Arbeit nachgeht, nennt man das Text) notwendig, um das Nebeneinander von Rettung und Verhängnis wahrzunehmen, die Heterotopie. Man muss das Allgemeine, das Besondere und die tückische Einzelheit drehen und wenden, wie es die Spinnerin Arachne bei Ovid mit ihren Netzen tut. […] Arachne textet nämlich in die Gewänder von Menschen und Göttern, deren zweiter Haut, eine Verdopplung der Realität hinein: Die Einfühlung und die Auswege.812

Kluges Realismuskonzept gewährleistet damit zweierlei: Erstens ermöglicht es, der naturalisierenden Erfahrung und Darstellung von Wirklichkeit, die wir mitbringen,813 eine Vorstellung von Kunst als positiver Konstruktionsarbeit entgegenzustellen, um die wirklichen (und nicht verwirklichten) Verhältnisse in ihrer Komplexität angemessen auffassen zu können und, erneut in den Worten Brechts, um »Wirklichkeit zu geben«.814 Dabei werden ästhetische Stereotype aufgebrochen und eine plurale Durcharbeitung der Wirklichkeit durch Kunst anvisiert und das, was gemeinhin als Realität bezeichnet wird, als »die geschichtliche Fiktion, die sie ist«,815 entlarvt. Zweitens geschieht das durch die

811 Bertold Brecht: Über Film. In: Ders.: Gesammelte Werke 18. Schriften zur Literatur und Kunst 1. Frankfurt am Main 1967, S. 137–216, hier S. 161f. 812 Alexander Kluge: Die Aktualität Adornos. Rede zum Theodor-W.-Adorno-Preis 2009. In: Ders.: Personen und Reden. Lessing, Böll, Huch, Schiller, Adorno, Habermas, Müller, Augstein, Gaus, Schlingensief, Ad me ipsum. Berlin 2012, S. 67–75, hier S. 69f. Die Dreiheit von Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinem »ist als Durcheinander und nicht als Nebeneinander wirklich.« (Kluge, Das fünfte Buch, S. 157). 813 »Denn auch wer von der Realität nur das von ihr Erlebbare gibt, gibt sie selbst nicht wieder. Sie ist längst nicht mehr im Totalen erlebbar.« (Brecht, Über Film, S. 162). 814 Ebd. 815 Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, S. 215. Das heißt aber nicht, dass Kluge die Einschlagskraft der geschehenden Verhältnisse leugnet: »Den Einzelnen trifft sie [d.i. die Realität, K.K.] real, als Schicksal. Aber sie ist kein Schicksal, sondern gemacht durch die Arbeit von Generationen von Menschen, die eigentlich die ganze Zeit über etwas ganz anderes wollten und wollen. Insofern ist sie […] [w]irklich und unwirklich in jeder ihrer einzelnen Seiten: kollektive Wünsche der Menschen, Arbeitskraft, Produktionsverhältnisse, Hexenverfolgung, Geschichte der Kriege, Lebensläufe der Einzelnen. Jeder dieser Aus-

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Herstellung von Zusammenhängen (der Plural ist hier wichtig) als Gegenentwurf zum »Prinzip der Diskontinuität zur Geschichte […] [das] ein spezifisch deutsches Rezept für verheerende Katastrophen« (FKDB 17)816 darstellt. Die Erzeugung von Zusammenhängen hat wiederum zwei relevante Aspekte: Zunächst zeigt sich die Herstellung von Zusammenhang durch ästhetische Artefakte als angemessenes Instrument zur Entzifferung der Wirklichkeit, die in komplexer Schichtung von Ereignissen und Erfahrungen vorliegt. Für Kluge wohnt der Kunst die Fähigkeit inne, komplexe Erlebnisse derart zu bearbeiten und zu präsentieren, dass sie der Erfahrbarkeit zugänglich gemacht werden können. Denn gerade aus den katastrophalen Auswirkungen der nationalsozialistischen Gewalt resultieren »Wirklichkeiten […], deren wahrhaftiger Bericht so tief verletzt, daß wir Nachrichten dieser Art verlangsamen müssen, damit sie für die Erfahrung einholbar sind«. (MP 962) Künstlerische Verfahren ermöglichen einen Zugang zum Erfahrungslosen durch eine poetische Verdopplung und Dehnung der Realität, die zugleich eine Variation unserer unmittelbaren Wahrnehmung bedeutet: »Gegenüber unerträglicher Erfahrung schafft sie [d.i. die Poetik, K.K.] Gefäße, Labyrinthe, Gewinde, in denen sich das Schreckliche so verlangsamt, daß unsere sinnliche Erfahrung damit umgehen kann, ohne verletzt zu werden« (MP 962). Die so entstehenden pluralen Verknüpfungen stellen sedimentierte Geschichtsbilder infrage817 und eröffnen die Möglichkeit für Lernprozesse, denn »im Zusammenhang gibt es immer einen Ausweg« (FKDB 13), der das »Unnötige der historischen Bewegung im Detail wiedererkenne[n] [lässt]. Es liegen also in der negativen Entwicklung die Auswege versteckt.« (MP 841) Beweggrund für Kluges Realismus ist daher Protest:

schnitte für sich und alle zusammen haben antagonistische Eigenschaft: sie sind eine reißerische Erfindung und sie treffen wirklich. (Ebd., S. 215). 816 Auch der Historiker Harald Welzer betont dies – allerdings unter der Prämisse, dass die Kontinuität das wahre Ausmaß erst sichtbar macht: »Wenn man nämlich die nationalsozialistische Vergangenheit nicht von vornherein als diskontinuierlich in der europäischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts betrachtet, sondern sie in den Kontinuitätszusammenhang der Moderne zurückordnet, fallen die Schatten dieser Vergangenheit noch viel dunkler in unsere Gegenwart, als es der Fall ist, wenn man das Jetzt als scharf getrennt vom Gestern wahrnimmt.« (Harald Welzer: Die Bilder der Macht und die Ohnmacht der Bilder. Über Besetzung und Auslöschung von Erinnerung. In: Ders. (Hg.): Das Gedächtnis der Bilder. Ästhetik und Nationalsozialismus. Tübingen 1995, S. 165–194, hier S. 166). 817 Diese ›Kunst‹ der pluralen Perspektiven sieht Kluge in der Literatur vor allem bei Fontane am Werk: »Fontane erzählt exakt von den gesellschaftlichen Bedingungen, für die wir die Geräte, sie zu beschreiben, kaum haben. […] das besondere Leben haben in den Romanen die Details […].« (FKDB 12). Daher bezeichnet Kluge Fontane als den »Erfinder des Vielfältigkeitsromans, d. h. einer literarischen Form, die […] den Zusammenhang vieler Handlungen oder die Reflexion ausbreitet.« (FKDB 12).

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Zersplitterung als poetologisches Verfahren

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Das Motiv für Realismus ist nie Bestätigung der Wirklichkeit, sondern Protest. Ein solcher Protest drückt sich verschiedenartig aus: durch radikale Nachahmung […], durch Ausweichen vor dem Druck der Realität […] oder durch Angriff […]. Die Unterscheidung zwischen Ausweichen (Schematismus des Realitätsdrucks) und Angriff (Notwehrschematismus des Subjekts) ist äußerlich graduell, im Resultat meist nicht zu erkennen.818

Insbesondere der Protest in Form der ›radikalen Nachahmung‹ lässt sich mit der Parodie-Konzeption von Linda Hutcheon zusammenbringen, da beide von einem hohen Maß an Ähnlichkeit ausgehen, um zu einer abweichenden oder durch »literarische […] Entpragmatisierung und Repragmatisierung«819 verdeutlichten, kritischen Distanz zu kommen. Kluges radikale Nachahmung ist nicht misszuverstehen als ein Bearbeiten von Wirklichkeit (also im Sinne der Imitatio nach Horaz), sondern als eine dritte imaginäre Wirklichkeit zwischen den Dingen – eben der ›Ort der Narration‹. Das involviert also auch den Optativ bzw. die Fiktion, die Fakes neben den Facts. Mimesis, nicht Imitatio. Nachahmung nach der Poetik des Aristoteles – auch das ganz im Sinne Adornos.820

Damit wendet sich Kluge gegen ästhetische Artefakte, die nach aufklärerischrationalistischen Parametern operieren, weil sie im Vergleich zu seiner realistischen Methode der fiktionalisierenden Nachahmung voreilige Resultate erzeugen: Die […] Methode der gewaltsamen Richtigstellung (rationalistisches Verfahren) scheidet aus. […] Dagegen ist die Methode der Nachahmung sowie die Untersuchung aller Ausweichbewegungen des menschlichen subjektiven Apparates ein hervorragender Rohstoff. Diese Bewegungen enthalten den gesamten kollektiven geschichtlichen Erfahrungsschatz, allerdings zersetzt in individuelle Ausschnitte […] – verklausuliert.821

Bedeutsam ist für Kluge dabei, auch in der zur »ideologische[n] Konkretheit«822 erstarrten Alltagserfahrung das Motiv des Protestes herauszuschälen. Die vielfältig zersprengte Alltagserfahrung dient ihm als Ausgangspunkt für literarische »Landkarten menschlicher Erfahrung«.823 Dabei ist der ›Rohstoff‹ »das mit Leben

818 Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, S. 216f. 819 Metin Genç: Ereigniszeit und Eigenzeit. Zur literarischen Ästhetik operativer Zeitlichkeit. Bielefeld 2016, S. 126. 820 Streckhardt, Kluges Konstellationen, S. 66. 821 Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, S. 220f. 822 Menninghaus, Geschichte und Eigensinn, S. 259. 823 Alexander Kluge: Das Innere des Erzählens. Georg Büchner. In: Fontane – Kleist – Deutschland – Büchner. Zur Grammatik der Zeit. Berlin 2004, S. 73–86, hier S. 75.

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Gefüllte, bereits Bearbeitete, das als eine Art Nachlass auf seine spätere Wiederbelebung, d. h. auf eine Aneignung in seinem weiteren Gebrauch wartet.«824 Hier wird der zweite Aspekt der Zusammenhangherstellung deutlich. Im Gegensatz zur ›gewaltsamen Richtigstellung‹ und der damit einhergehenden Verengung auf einen monolithisch-ideologischen, ›richtigen‹ Erzählstrang, setzen Kluges Texte auf den Wiedergebrauch von Vorgefundenem und auf Zusammenhang im Plural,825 weil das eigene Ergebnis konstitutiv vorläufig ist. Der Plural stellt – ähnlich wie die für die Texte Krachts so zentrale Vorbehaltlichkeit – sicher, dass der eigene Standpunkt kommentiert, durch neue Anschlüsse herausgefordert und aktualisiert wird. Statt die wirklichen Verhältnisse durch vertraute und vereinfachende, ästhetisch sublimierende oder erzählerisch schließende Realitätsbilder zu ersetzen,826 kennt Kluges ›Baustelle‹ »ebenso wenig ein primäres wie ein letztes und letztgültiges Wort, stets nur das Nachträgliche wie das Vorläufige und sucht beständig die dialogische Arbeit am bereits Vorhandenen, Vorgefundenen.«827 Zentral für die Textarbeit Kluges sind dabei die Begriffe des Kommentars, den Georg Stanitzek, Dorothea Walzer und Susanne Komfort-Hein erhellen,828 der Konstellation und der Montage. Als Gegenpol zu den mimetisch-fiktionalen Verfahren, die Kluges Konzept der Montage ausmachen, bezeichnet Kluge ein schematisches Konzept von Rhetorik:

824 Komfort-Hein, Kritik am Werk, S. 200, Herv. K.K. 825 Die Arbeit an Zusammenhängen begreift Kluge als Realismus: »die Aufhebung von Trennungen gehört ja zum Realistischen« (FKDB 14). In den Ulmer Dramaturgien gilt ihm »Realismus als eine Kenntnis von Zusammenhängen« (Klaus Eder, Alexander Kluge: Ulmer Dramaturgien. Reibungsverluste. Arbeitshefte Film 2/3. München, Wien 1980, S. 98). 826 Wie es die von Umberto Eco als »Midcult« (Umberto Eco: Die Struktur des schlechten Geschmacks. In: Ders.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt am Main 1984, S. 59–115, hier S. 67) oder von Moritz Baßler als »populärer Realismus« (Ders.: Populärer Realismus. In: Pop-Zeitschrift 23.10. 2012. https://pop-zeitschrift.de /2012/10/23/popularer-realismusvon-moritz-basler23-10-2012/, abgerufen am 09. 04. 2022) bezeichneten Romane wie etwa Bernhard Schlinks Der Vorleser praktizieren. 827 Komfort-Hein, Kritik am Werk, S. 198. Klaus Scherpe bezeichnet Kluge als »materialversessen […] um dem Heterogenen gerecht zu werden« und als »Beschreiber […] [der] die Spur des vom Ganzen abgefallenen Singulären aufzeichne[t] und aufsammel[t], das NichtZurechnungsfähige gelten l[ä]ss[t]und eben dafür eine Form finde[t]. Dies allerdings ist die Form der Enumeratio, der Reihung und des Supplements, die die sprachliche Textur ›generiert‹ und ›prozessiert‹: das, was man noch immer ›Erfahrung‹ nennt, auch in den Veräußerlichungen der hochmodernen technologischen Welt der Verdatung, der Bildfrequenz und der Speicherung« (Klaus Scherpe, Literatur nach der Kritischen Theorie, S. 318; 319). 828 Siehe dazu Georg Stanitzek: Autorität im Hypertext: »Der Kommentar ist die Grundform der Texte«. In: IASL 23 (1998), H. 2, S. 1–46; Dorothea Walzer: Arbeit am Exemplarischen. Poetische Verfahren der Kritik bei Alexander Kluge. Paderborn 2017; Komfort-Hein, Kritik am Werk, 193–213.

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Zersplitterung als poetologisches Verfahren

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Rhetorik stellt eine Konvention dar, wie wir mit Dingen umgehen, wie wir sie aufzufassen haben, wie wir ihrer Herr werden. Gesetze wären in diesem Sinne auch Rhetorik. Mimesis wäre der Gegenpol. Damit würde man versuchen, die wirklichen Verhältnisse so nachzuahmen, daß sie ihren eigenen Atem behalten. Poesie funktioniert nur so.829

Die Formulierung, dass die Wirklichkeit ›ihren eigenen Atem‹ behält, erinnert an Adornos Konzept der Konstellation, in der Sachverhalte derart sprachlich erfasst werden sollen, dass sie ihre spezifische Eigenart behalten: »Was aber an Wahrheit durch die Begriffe über ihren abstrakten Umfang hinaus getroffen wird, kann keinen anderen Schauplatz haben als das von den Begriffen Unterdrückte, Mißachtete und Weggeworfene. Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begrifflose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.«830 Das Prinzip der Konstellation hat Kluge zu seiner literarischen Poetik gemacht: »Das sind einfach die wirklichen Verhältnisse, subjektiv, objektiv, unverstellt gegeneinander gesetzt. Das nennt man Konstellation. Und das ist meine literarische Methode«.831 Kluge – wie Adorno – geht es um den Erhalt der Komplexität und Qualität dargestellter Sachverhalte, Figuren, Gefühle und Situationen, so dass sie niemals gänzlich durch sprachliche Konventionen erfasst werden können, weil beim Überführen des Idiosynkratischen, Besonderen in ein Allgemeines, Kategorisiertes zwingend das mögliche Unvorhergesehene eliminiert wird: »Wer sich innerhalb dieses Gerüsts [der Rhetorik] in sprachlichen Konventionen bewegt, kann sich rasch verständlich machen. Die Vernetzung der wirklichen Verhältnisse steht dagegen, die Vernetzung der Gefühle auch. Die brechen ja die Konventionen.« (GUL 336) In seiner Rede zum Heinrich-Böll-Preis macht Kluge in diesem Zusammenhang seine Verwendung der Montage in Abgrenzung zu Sergei Eisensteins deutlich, dem es darum gehe, große rhetorische Zusammenhänge herzustellen. Die Montage vertieft die Überredungskunst. Das ist offensichtlich das Gegenteil von dem, was mich als Autor lebenslänglich interessiert hat. Ich vertrete (gelegentlich auf Kosten der leichteren Verständlichkeit) einen strikt antirhetorischen, nicht-überredenden Standpunkt. Die einzelnen Phänomene, die sich beobachten und beschreiben lassen, sollen gerade ihr Eigenleben behalten. Sie sind primär und von sich aus nicht Instrument eines übergeordneten Sinnzusammenhangs. Oft stehen sie in Nachbarschaft, Konstellation oder Gegensatz, in Abstoßung oder Anziehung zu etwas anderem. Aber es gibt auch Spannungsverhältnisse zwischen Einzelheiten, die gleichgültig gegenüber einem gemeinsamen Sinn bleiben, bloß Parallelen bilden. […] Die Montage ist vielmehr Ausdruck der

829 Glückliche Umstände, leihweise. Alexander Kluge im Gespräch mit Thomas Combrink. In: Alexander Kluge: Glückliche Umstände, leihweise. Das Lesebuch. Frankfurt am Main 2008, S. 331–352, hier S. 335. Im Folgenden unter der Sigle ›GUL‹ im Fließtext nachgewiesen. 830 Adorno, Negative Dialektik, S. 21. 831 Alexander Kluge im Interview. Claus Philipp: »Ein Kapitän soll aufpassen, wohin er fährt«. In: Falter, 08. 02. 2012, S. 22.

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Autonomie dessen, was ich beschreibe, der Versuch, etwas schwer Verständliches in seinem Eigenleben zu erhalten. […] Der Zusammenhang eines Gartens, das ist Montage. Man betreibt in meinem Sinn also nicht Montage aus der Lust der Zerstückelung, sondern aus Achtung davor, dass etwas von selbst wächst.832

Das Realismus-Konzept Kluges stellt daher keine bloße Beschreibungsstrategie, sondern vielmehr ein konstruktives, der Montage und dem Kommentar verpflichtetes (Text-)Verfahren dar. Es ist als poetischer Begriff zu verstehen, der eine literarische Arbeit an der Geschichte leisten will, indem er dem Verpassten zu einer Stimme verhilft. Konkret lässt sich Kluges ästhetisches Verfahren als konstellativen Ansatz beschreiben, dessen Bewegungen sich »kreisförmig« (GUL 334) um einen Erzählkern vollziehen, anstatt die Thematik in linear-narrativer Abfolge zu entfalten. Scheinbare Umwege, die ungewohnte Perspektiven ermöglichen und neue Zusammenhänge herzustellen vermögen, sind dabei Programm: In dieser »gravitative[n] Erzählweise« (GUL 334) passiert eine »unerwartete Berührung zwischen Dingen, die vorher einander nicht begegnet waren. Das wäre konstellativ« (ebd. 334f.). Dieser konstellative Modus des Erzählerischen ermöglicht, konkurrierende Diskurssysteme und sich widerstreitende Weltzugänge miteinander in eine produktive Konfrontation zu bringen und vermag, Zusammenhänge über weite Zeiträume aufzuzeigen und erstmals herzustellen.833 Dieses weitgespannte erzählerische Unternehmen, das über disziplinäre und diskursive Grenzen hinweg und quer durch kategorielle Abschottungen operiert, zielt einerseits darauf ab, die »Geschichtlichkeit der Gegenwart«834 in ihrer Komplexität erzählerisch auszuloten. Andererseits geht es in der Untersuchung des Themenkomplexes Nationalsozialismus auch um das Aufdecken von »Fluchtlinien des faschistischen Erbes in die Gegenwart hinein«.835 Damit zielt Kluges literarische Arbeit auf eine rhizomatische Form des historischen Denkens ab:

832 Alexander Kluge: Der Autor als Dompteur oder Gärtner. Rede zum Heinrich-Böll-Preis 1993. In: Ders.: Personen und Reden. Berlin 2012, S. 23–40, hier S. 25f. 833 »Also die Organisationsfrage liegt 1928 und das dazugehörige Bewußtsein liegt 1944. Das ist ein sehr ernster Punkt« (FKDB 19). Daher bezeichnet Kluge das 19. und 20. Jahrhundert auch als »Doppeljahrhundert« (Alexander Kluge: Die Differenz. Heinrich von Kleist. In: Ders.: Fontane – Kleist – Deutschland – Büchner. Zur Grammatik der Zeit. Berlin 2004, S. 21–41, hier S. 24. Im Folgenden unter der Sigle ›FKDB‹ im Fließtext nachgewiesen), »in dem lauter Trennungen das Kennzeichen sind. Empfindung und Denken sind getrennt. Die Welt der gesellschaftlichen Praxis und die Welt der Romane trennt sich auf. Die Welt des Gemeinwesens und die Welt des guten Willens werden voneinander tendenziell getrennt. Es werden auch die Zeiten aufgetrennt.« (FKDB 27). 834 Eike Friedrich Wenzel: Baustelle Film. Kluges Realismuskonzept und seine Kurzfilme. In: Christian Schulte (Hg.): Die Schrift an der Wand – Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien. Wien 2012, S. 117–136, hier S. 117. 835 Genç, Ereigniszeit und Eigenzeit, S. 154.

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Dezember – Konstellative Chronik statt Narration

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Kluge is concerned with both decentralizing a unified concept of history into a multiplicity of individual stories and capturing a Benjaminian notion of ›awakening‹ in images – images that render a sudden awareness (blitzhaft, sprunghaft) of the interdependence between the present and the past. Against this background, Kluge’s development can be described as a move from thinking in concepts to thinking in images. Kluge’s narrative art […] is part of this mode of thinking in images.836

Denken in Bildern ist hierbei nicht auf visuelle Bilder und Eindrücke beschränkt, sondern entsteht ebenfalls in den literarästhetisch erzeugten Konstellationen, die entfernteste Zeiten miteinander in Verbindung bringen.

5.2

Dezember – Konstellative Chronik statt Narration

Während Kluge die Schlacht von Stalingrad in seiner Schlachtbeschreibung als inhaltlich-thematischer Ausgangspunkt dient, um die kommunikativen Anschlussdiskurse über dieses Ereignis und deren Eigenzeit durchzuarbeiten, ist Dezember zunächst offensichtlich von einem formalen Ausgangspunkt zeitlicher Ordnung her strukturiert. Die formal strenge Ordnung des Bandes837 unterwirft die einzelnen Texte der objektiven Maßeinheit eines Monats, sie stehen in der Reihenfolge der Daten vom 1. bis zum 31. Dezember. Mit der Zuweisung zu einem Datum erhält jede Geschichte eine Doppelexistenz als textuelles Einzelereignis und als Teil einer zeitlichen (datumsspezifischen) Abfolge, was den Ereignischarakter in eine ihm entgegengesetzte Iterierbarkeit überführt, aus der heraus überhaupt erst Bedeutsamkeit und Erinnerung möglich wird.838 »Das Datum wird so […] zum Zeugen kontingenter Ereignishaftigkeit«.839

836 Bernhard Malkmus: Intermediality and the Topography of Memory in Alexander Kluge. In: New German Critique 36 (2009), H. 2, S. 231–252, hier S. 233, Herv. K.K. 837 »Einzige Verbindungslinie ist das Motiv des Monats, und hier bleiben Kluge und Richter über den gesamten Band hinweg überaus diszipliniert. So diszipliniert, dass es teilweise etwas von einer monumentalen Installation in Buchform hat, die sie hier nebeneinanderlegen.« (Marius Hulpe: Historisch, ahistorisch? Wie Alexander Kluge und Gerhard Richter den Monat Dezember mit Geduld und Sinn für Intensität zusammencollagieren. In: literaturkritik.de (2011), Nr. 7, o. S. http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id =15676, abgerufen am 09. 04. 2022). 838 Derrida beschreibt dieses Oszillieren in seiner Analyse des Datums, das »immer mehr oder weniger [ist] als das, was es ist« (Jacques Derrida: Schibboleth. Für Paul Celan. Hg. von Peter Engelmann. Aus dem Französischen von Wolfgang Sebastian Baur. Wien 2012, S. 82), weil es durch einen erinnernden Zugriff semantisch codiert und angereichert wird, damit seinen Status von einer formalen Position hin zu einer spezifischen, fixierten Markierung wechselt und zugleich seine Einzigartigkeit verliert, wenn es (erinnernd) wiederholbar wird: »Ein Datum ist verrückt« (ebd., S. 81). 839 Genç, Ereigniszeit und Eigenzeit, S. 146.

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Alexander Kluges Parallelgeschichte(n) – Dezember und 30. April 1945

Die in Dezember versammelten Texte spüren die sich anhäufenden Ungleichzeitigkeiten verschiedener Zeit- und Realitätswahrnehmungen unter den verdichteten Bedingungen des semantisch mehrfach codierten Zeitraums Dezember auf. So bringt Kluge diese zufällige Ereignisfülle von ›Dezember‹ in eine sinnfällige Konstellation. Als letzte Teileinheit eines jährlich wiederkehrenden, überindividuellen Ordnungsschemas kommt dem Dezember der Charakter eines Schwellenphänomens zu, das sowohl als jahreszeitlich-klimatologische840 wie als symbolisch-christliche Latenzzeit841 lesbar ist. In seiner Spezifik als Wintermonat markiert er Kälte und Lebensfeindlichkeit. Den kulturellen Semantiken fügen Kluges Texte die historisch bedingte Semantik des Dezembers als Kriegsmonat hinzu, wonach der Krieg sich beschleunigende Zeit- und Ereignisstrukturen erzeugt, die zu Kommunikationsabbrüchen führen. Mit der numerischen Folge der Einträge vom 1. bis zum 31. Dezember wählt Kluge die nicht-narrative, historiographische Form der Chronik als basalste Struktur, Geschehenes wiederzugeben. Die Chronik »represent[s] temporally ordered events«842 und bedarf im Vergleich zur Erzählung keiner »additional connection among these events«.843 Ein Zusammenhang der Texte wird lediglich durch die formal-äußerliche Struktur der numerischen Linearität hergestellt. Die Jahreszahlen der Texte in Dezember weichen allerdings von der auf den ersten Blick suggerierten chronologischen Anordnung ab und springen im Zeitraum von 21.999 v. Chr. bis 2009 willkürlich hin und her. So wird das Ordnungsprinzip der kalendarischen Zeiteinteilung844 von innen heraus ausgedehnt, ohne außer 840 Der Einfluss des Wetters stellt als »Basis für eine evolutionäre Betrachtung der Geschichte« (Gunther Martens: Alexander Kluges literarisches Oeuvre als »Cli-Fi«. In: Alexander-Kluge Jahrbuch 4 (2017), S. 191–207, hier S. 196) einen zentralen Aspekt in Kluges Schreibens dar. Viele Geschichten in Dezember fokussieren den Einfluss des Wetters auf die Kriegssituation. Wetterphänomene und spezifische wetterbedingte Aggregatzustände finden sich in fast jeder Geschichte: »Matschwinter« (D 8), »Eisregen« (D 10), »riesiges Hoch« (D 13), »Eislandschaft« (D 21), »Blauer Montag« (D 26), »Mittelmeersturm« (D 35), »Ungewöhnliche Regenfälle« (D 41), »Raureif und Schnee« (D 50), »Klimakonferenz« (D 55), »der erste Schnee« (D 60), »Schneekruste« (D 64), »Blitz-Eis-Krise« (D 73), »Wassermassen« und »Flutwelle« (D 82), »Schlammwüste« (D 83), »Regen statt Schnee« (D 86), »Eiszeit« (D 90), »Sommerwille, Winterwille« (D 92), »leichte[r] Schnee« (D 98), »schneeblind« (D 114). Wetterphänomene sind darüber hinaus bei Kluge eng mit ästhetischen Überlegungen verknüpft. Siehe dazu den erhellenden Aufsatz von Gunther Martens, Alexander Kluges literarisches Oeuvre als »Cli-Fi«. 841 Das Advent-Motiv der Hoffnung und frohen Erwartung findet sich bei Kluge von der christlichen Semantik losgelöst als anthropologischer Zug, den seine Texte in einer erzählerischen (fiktional wie historischen) Feldforschung wieder und wieder herauspräparieren. 842 J. David Velleman: Narrative Explanation. In: The Philosophical Review 112 (2003), Nr. 1, S. 1–25, hier S. 2. 843 Ebd., S. 1. 844 Dezember erinnert in seiner Anordnung der Geschichten an die Gattung der Kalendergeschichten. Sowohl Alexander Honold (Ders.: Die Zeit schreiben. Jahreszeiten, Uhren und

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Kraft gesetzt zu werden. Mit der akribischen Sorgfalt, jedes Dezemberdatum mit einem Text zu versehen, lässt Kluge die Chronik, die normalerweise nur die bedeutendsten Ereignisse festhält und gerade nicht lückenlos vorgeht, überschießen. Aus der möglichst objektiv-informativen Chronik wird bei Kluge ein Orientierungsangebot, wie es im Vorwort der Gesamtausgabe seiner literarischen Texte bis 2000, der zweibändigen Chronik der Gefühle845, heißt: Was Menschen brauchen in ihren Lebensläufen ist ORIENTIERUNG. […] Es genügt, wenn er, wie bei einem Kalender oder eben einer CHRONIK, nachprüft, was ihn betrifft. Die subjektive Orientierung […] das ist die zugrundeliegende Strömung, die sich durch Zeitablauf allein nicht ändert und die wahre Chronik bildet. (CdG I, 7)

Dort sind alle seine bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten Texte wiederholend und zum Teil überarbeitet versammelt. Der Begriff der Chronik verwandelt sich von der Ordnung einer zeitlichen Abfolge hin zu einem Archiv im Sinne eines Orientierung anbietenden Inventars. Inventarisiert werden durch die Erzählungen historischer und fiktionaler Ereignisse jedoch nicht konventionell bedeutsame Geschehnisse, sondern Gefühle. Die von Kluge anvisierte Orientierung846 richtet sich mit jedem weiteren Sammelband neu aus. So greift das Vorwort von Die Lücke, die der Teufel läßt darauf zurück: In der Chronik der Gefühle spielte die subjektive Seite, d. h. das menschliche Gefühl und die Zeit, eine Rolle, wenn es darum ging, die Lücken zu finden, in denen sich Leben bewegt. […] Die Lücke, die der Teufel läßt setzt […] die SUCHE NACH ORIENTIERUNG fort, aber mit neuem Erzählinteresse: Die ›Geisterwelt‹ der ›objektiven Tatsachen‹ tritt stärker in den Vordergrund. Die Realität zeigt Einbildungskraft.847 Kalender als Taktgeber der Literatur. Basel 2013, hier vor allem die Seiten 228–231) als auch Wolfram Schütte haben auf die Nähe der Geschichten Kluges zur Tradition der Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel hingewiesen: »Diese 100-seitigen Erzählbände könnte man als Erinnerungskonzentrate deutscher Geschichte bezeichnen. Obwohl Kluges spröde Poesie von Fakten und Fiktionen jedes fabula docet meidet und dramatische Pointen verschmäht, steht seine fruchtbare serielle literarische Produktion in der späten Nachfolge des rheinischen Hausfreundes Johann Peter Hebel« (Wolfram Schütte: Respektvolle Erinnerung an einen Humanisten. [Rez.] Alexander Kluge: »Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter«. 48 Geschichten für Fritz Bauer. In: deutschlandfunk.de 31. 01. 2014. http://www.de utschlandfunk.de/alexander-kluge-48-geschichten-fuer-fritz-bauer.700.de.html?dram:artic le_id=276296, abgerufen am 09. 04. 2022). 845 Alexander Kluge: Die Chronik der Gefühle. Band I: Basisgeschichten. Frankfurt am Main 2000. Ders.: Die Chronik der Gefühle. Band II: Lebensläufe. Frankfurt am Main 2000. Im Folgenden unter der Sigle ›CdG‹ im Fließtext mit Band- und Seitenangabe nachgewiesen. 846 Auch im Textstück zum prototypischen Textarbeiter ›Hieronymus im Gehäuse‹ aus Geschichte und Eigensinn findet sich der Bezug auf »Orientierungsarbeit«. (Alexander Kluge, Oskar Negt: Geschichte und Eigensinn. In: Dies.: Der unterschätzte Mensch. Band II. Frankfurt am Main 2001, S. 1–1245, hier S. 1007. Im Folgenden im Fließtext unter der Sigle ›GuE‹ nachgewiesen). 847 Alexander Kluge: Die Lücke, die der Teufel läßt. Im Umfeld des neuen Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2003, S. 7.

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Entsprechend dazu inventarisiert Dezember ein »Ensemble von Modellanalysen«848 über konkurrierende Zeitstrukturen als Orientierungsangebot für Auswege aus historisch eindimensionalen Kriegswintern: Zum Kollektivsingular ›Geschichte‹ und dessen geschichtsphilosophischen und historiografischen Konzeptionalisierungen nehmen Kluges Geschichten ein simulierendes, integrierendes, durchkreuzendes und herausforderndes Verhältnis ein. Es geht also nicht darum, durch narrativ-rhetorische Strategien einen Plot herzustellen, der eine »narrative connection«849 aufweist, sondern Zusammenhang durch Konfrontation und fortgesetzte Kommentierung zu erreichen. Die Chronik dient so als Form, diese Art von Zusammenhang herzustellen, die nicht zwingend einer »causal explanation«850 oder der Notwendigkeit eines »unified subject«851 unterworfen sein muss. So entbehren Kluges Erzählungen dramatisierende Elemente und halten eine notwendige Distanz, um das Grausame, von dem erzählt wird, zu »deeskalieren«852 und zur Besserung Übersicht zu reorganisieren. Die Ausdehnung der Perspektive auf prähistorische Zeiträume ist ein erster Schritt, um den gegenwärtigen Unübersichtlichkeiten entgegenzutreten. Entsprechend ist die Geschichte vom 29. Dezember ins Jahr 21.999 v. Chr. datiert. Diese Ausdehnung des zeitlichen Rahmens von Dezember schärft die Aufmerksamkeit für andere Zeitmaße jenseits der schriftbasierten Konvention, normierte Zeit ist damit als historisch gebundenes Konzept ausgewiesen. Damit wird Kluges Anliegen deutlich, die historischen Ereignisse (insbesondere) des Zweiten Weltkriegs nicht isoliert zu betrachten, sondern sie in ihrer Ausdehnung auf einen zeitlich weitläufigen Vorhof hin – im Sinne einer strukturgeschichtlichen Perspektive, welche die übergreifenden Zusammenhänge in einer longue durée853 berücksichtigt – bewusst zu machen.854 Zugleich betonen die bis in die

848 Adorno, Negative Dialektik, S. 39. 849 Noël Carroll: On the Narrative Connection. In: Ders.: Beyond Aesthetics. Philosophical Essays. Cambridge 2001, S. 118–133, hier S. 118. 850 Velleman, Narrative Explanation, S. 2. Velleman bezieht sich wiederum auf Carrolls Forderung eines nicht nur chronologischen (post hoc), sondern zugleich eines kausalen Bedingungsverhältnisses (propter hoc) zweier Ereignisse. Vgl. ebd., S. 3. 851 Carroll, On the Narrative Connection, S. 121. 852 »Unbedingte Sachlichkeit im Erzählen will die moralische und ästhetische Dimension des Grausamen deeskalieren, keinesfalls jedoch vergrößern oder dramatisieren.« (Jens Birkmeyer: Kältezonen aus nächster Nähe. Alexander Kluges neue Erzählungen über Nationalsozialismus und Krieg. In: Fischer, Torben/ Hammermeister, Philipp/Kramer, Sven (Hg.): Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Amsterdam, New York 2014, 293–312, hier S. 298). 853 Der Begriff der longue durée deckt sich in etwa mit Kluges Begriff der »Strategie von oben« (CdG II 48). Die Strategie von oben ist einer abstrakten Anschauung verpflichtet, die Einzelheiten und Individuen als Aspekte eines Gesamtmusters einordnet und deren Eigeninteressen gänzlich ausblendet.

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Gegenwart reichenden Daten die anhaltende Aktualität historischer Ereignisse. Die Idee der Eigenzeitlichkeit von Ereignissen und Menschen – sowie einer spezifischen doppelten Zeitlichkeit von Erzählungen – spiegelt sich in der ›eigensinnigen‹ Realisierung der Struktur von Dezember wieder: Dort finden sich nicht, wie im Untertitel angekündigt, 39 Geschichten und 39 Bilder, sondern es sind weitaus mehr Texte, die sich in Dezember anhäufen und statt 39 gibt es 41 Bilder. Unter einigen Daten sammeln sich zusätzliche, undatierte Geschichten, von denen nicht klar ist, ob sie der Erzählung unter dem entsprechenden Datum zugehören oder nicht. Zweimal wird ein Datum verdoppelt, so dass eine unmittelbare Zeitsplitterung allein durch die Anhäufung von Geschichten entsteht. Zum 10. Dezember gibt es vier verschiedene Erzählungen mit unterschiedlichen Jahresangaben (zu den Jahren 1932, 1941, 1944 und 2009). Diese variierende Wiederholung bzw. Aufsplitterung des Datums in vier Texte erzeugt eine phänomenale Ereignisdichte, in der Kluges »theoretische[s] bzw. poetologische[s] Modell der Ereigniszerdehnung durch Ereignisstreuung«855 deutlich wird. Die Chronographie kommt durch die Iteration in ein retardierendes Stottern. Die lineare Sukzession der Tagesabfolge wird an dieser Stelle kurzfristig ausgesetzt, die Jahresabfolge durch die der Chronologie folgenden Jahreszahlen der vier Texte (1932, 1941, 1944 und 2009) aber eingehalten. In dieser Multiplizierung eines einzelnen Datums entfalten die Texte eine Poetik der Paradigmatisierung, die zugleich die gegenwärtige Zeit zerdehnt, auf mögliche alternative Ereignisverläufe hinweist und das Vergangene als in der Gegenwart Wirkendes markiert. In diesem Sinn leisten Kluges Texte fiktionalen Widerstand gegen das vergangene Geschehen.

5.2.1 Konstellationen – 1. Dezember 1941: Eissturm an der Front vor Moskau An der ersten Geschichte des Bandes lässt sich das konstellative Verfahren Kluges herausarbeiten: Sprachlich zwischen fiktionaler Erzählung, Protokoll und wissenschaftlicher Abhandlung schwankend sowie von einem Satz auf den anderen das Stilregister wechselnd, entfaltet der unter dem 1. Dezember 1941 geführte Text eine Pluralisierung von Perspektiven und Sprachregistern. Er führt, statt sich an Freund-Feind-Oppositionen abzuarbeiten, unterschiedliche Akteure vor, die an einer Situation beteiligt sind. Zu Akteuren können bei Kluge auch Institutionen, das Wetter, Artefakte oder einzelne Eigenschaften von Menschen werden. 854 Die einzelnen zeitlichen ›Stationen‹ sind (in Kluge‘scher Reihenfolge): 1941 (sechsmal), 1991, 1931, 1942, 1989 (zweimal), 1932 (dreimal), 1944 (zweimal), 2009 (neunmal), 1832, 1945, 1943 (zweimal), 1999, 2004, 2003, 21.999 v. Chr., 1940. 855 Genç, Ereigniszeit und Eigenzeit, S. 174.

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Der Titel »Eissturm an der Front vor Moskau« (D 7, alle folgenden Zitate ebd.) klingt wie eine Eilmeldung in den Nachrichten. Gegeben sind drei koordinative Größen: Klimatische Bedingungen, Krieg als aktueller (Welt-)Zustand im Jahr 1941 und die grobe Bestimmung eines Ortes. Die kurze Erzählung beginnt in medias res: Es müßten zwei Armeen in Reserve stehen, sagt Generalfeldmarschall Fedor von Bock, der gegen 17 Uhr mit dem Oberkommando des Heeres telefoniert. An sich brauchen wir, fährt er fort, keine Waffen zur Bekämpfung der Russen, sondern eine Waffe zu Bekämpfung des Wetters. (D 7)

Hier wird der geschlossenen und ausweglosen Erfahrungskonstellation an der Front sogleich der möglicherweise rettende Konjunktiv beigestellt. Auf die sich nicht einstellende Lösung ist bereits im ersten Satz verwiesen. Die durch das Wetter verschärfte Kriegssituation bildet jedoch eine Struktur aus, von der Zwang und Druck auf individuelle wie organisatorische Eigenzeiten ausgeht. Dadurch geraten verschiedene Zeit- und Raumdimensionen miteinander in Konflikt, bzw. sind nicht in der Lage zu interagieren. Denn, so wird mit dem nächsten Satz, der in die Nullfokalisierung wechselt, deutlich: »Nichts von diesem Geschehen im Osten ist in den Häusern Deutschlands unmittelbar wahrzunehmen.« (D 7) Mit der Fokalisierung wechselt auch der Schauplatz des Geschehens. Räumliche Entfernungen verhindern einen sinnlichen Überblick der nur für kurze Distanzen ausgelegten Wahrnehmung des Menschen (Kluges ›Nähesinn‹) und erzeugen so unterschiedliche Situationen mit verschiedenen Ausgangsvoraussetzungen. Es folgt ein Absatz in der Rhetorik eines wissenschaftlich orientierten Berichts, der eine implizite Antwort auf Fedor von Bocks Konjunktiv darstellt: Dr.-Ing. Fred Sauer, ehemals Siemens, für die Versuchsabteilung des Heereswaffenamtes tätig, untersucht die Anatomie von Mammuten. Ließ sich aus den kurzen Rümpfen und gedrungenen Körpern dieser erfahrenen Riesen der Kaltsteppe (die es mit ihren staubigen, immerwährenden, extrem kalten Ostwinden im Jahr 1941 nicht mehr gibt) eine winterfeste Panzerwaffe entwickeln? In den gewaltigen Säulenbeinen, so Fred Sauer, wärmte das sauerstoffhaltige Blut, das aus dem Körper dieser Tiere strömte, das verbrauchte kalte Blut, das zum Körper hinaufstieg. Das war ein Hinweis auf die Möglichkeit durch doppelte Kreisläufe in den Motoren (einer zur Erwärmung des Gerätes und einer für den Antrieb) eine Aushilfe gegen die Tücke des russischen Winters zu finden. Das Projekt kommt für die Entscheidung in diesem Jahr zu spät. (Ebd.)

Über das explorativ-fragende Vergleichen wird ein möglicher Ausweg für die eingangs geschilderte Situation eingeführt, zu der der vorletzte Satz des Zitats wieder überleitet. Mit dem letzten Satz ist die Leser:in wieder in die Ausgangssituation zurückgeworfen und die kurzfristige Öffnung auf einen Ausweg hin bleibt für das Konkrete der Erzählung verschlossen – als Fährte aber ist sie

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ausgelegt und weist auf das unausgeschöpfte und brach liegende Potential nicht realisierter, nicht vollendeter Kreativarbeit von Menschen hin. Dieses Potential wird durch Kluge textuell, wenn nicht befreit, so doch wenigstens modelliert und sichtbar gemacht. Der letzte Satz der Erzählung gibt eine kommentierende Erklärung zum Vorgestellten ab und markiert durch den Wechsel ins (epische) Präteritum eine (zeitliche) Verschiebung des Erzählstandpunkts: »Der Monat Dezember 1941 war durch Zeitarmut charakterisiert« (D 7). Von der unmittelbaren Situation ausgehend zieht der Text Kreise – über die Häuser Deutschlands und die wissenschaftliche Beobachtung eines ausgestorbenen Tieres, dessen uralter Wärmemechanismus Errungenschaften bereithält, die die Kälte bekämpfen helfen könnten, zurück zur historischen Situation im Dezember 1941. Hier wird deutlich, dass Kluges Texte sich – im Gegensatz zu einer linearen Schreibweise – kreisförmig [fortbewegen]; so wie Himmelskörper einander umrunden und alles an sich ziehen. Das ist die gravitative Erzählweise, und die interessiert mich. Deren Endpunkt wäre eigentlich der Kommentar, und der hat kein Ende, sondern eine Vertiefung bzw. eine Vernetzung. (GUL 334)

Die Kommentarfunktion erfüllt einerseits das Bedürfnis nach Aufklärung: Den Lesenden wird ein Grund genannt für den negativen Ausgang der Erzählung. Andererseits aber stellt der Kommentar den Einsatzpunkt für eine Leser:innenaktivierung und den Einsatz von Kritik856 dar, die über die bloß passive Rezeption des Textes hinausgeht. Die Erklärung entbehrt einer ›Lösung‹ der Geschichte, macht aber deutlich, dass der Schlüssel dazu in einer »Ausbildung des Zeitsinns als kritische[m] Vermögen«857 liegt.

5.2.2 Fiktionaler Widerstand des Möglichen Die Geschichte vom 5. Dezember 1942 zeigt, dass die positiven Kräfte des Widerstands gegen ausweglose Situationen auch unter Kriegsbedingungen aktiv sind, selbst wenn sie keine sichtbare Veränderung mehr zu bewirken vermögen: Die Hauptfigur der Erzählung, Hauptmann Slopotka, wird aus dem Mittelmeerraum in den Stalingrader Kessel versetzt: »Alle Lernprozesse im Kessel von Stalingrad hatte er versäumt. […] Mit frischem Blick kam er jetzt in den Kessel.« 856 Dorothea Walzer macht den Übergang vom autoritätsgebundenen Kommentar zum kritischen Kommentar »als Gebrauchsform« unter Rückgriff auf Benjamin für die Texte Kluges (und Negts) deutlich. Siehe dazu Walzer, Arbeit am Exemplarischen, S. 85–145. 857 Jens Birkmeyer: Zeitzonen des Wirklichen. Maßgebliche Momente in Alexander Kluges Erzählsamm lung »Dezember«. In: Text + Kritik (2011), Nr. 85/86: Alexander Kluge (Neufassung), S. 66–75, hier S. 66.

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(D 16) Der Lernprozess wird hier zum »Lernprozess […] mit tödlichem Ausgang«.858 ›Gelernt‹ wird von den Individuen eine mentale Zurichtung der Ausweglosigkeit. Die Wortwahl desavouiert das pädagogische Wortinventar ›Lernen‹ und ›Bildung‹ und legt einen ironischen Zug in Bezug auf den Einsatz solcher Begrifflichkeiten an den Tag. Slopotkas Perspektive hat nicht denselben Frame,859 wie die seiner Kameraden, weshalb er sein Hoffen motivierend einzusetzen und sich über die ausweglose Situation hinwegzusetzen vermag. Seine Geisteshaltung ist der Einsatzpunkt für die Konstitution eines erzählerisch Möglichen: »Den gleichen Zustand des Mutes hätte eine Fallschirmjägerdivision gehabt, die, mit spezieller Winterausrüstung versehen, reichlich im Besitz von Munition auf der Winterfläche abgesprungen wäre und die Verteidigung von Stalingrad bis Anfang März garantiert hätte.« (Ebd.) Die durch den Erzähler eingeschobene Erklärung im Potentialis macht die Widerstandskraft einer »Strategie von unten« (FKDB 18) deutlich, aus der sich begründen lässt, »warum Stalingrad […] vom Menschen aus betrachtet, so überhaupt nicht nötig war« (D 16). Die Rede von einer Division, die einen Unterschied machen könnte, zeigt die Notwendigkeit gemeinsamer Kooperation auf. Slopotka allein kann nichts ausrichten, was den Verlauf der Geschehnisse verändern – und damit den Tod der dort Stationierten abwenden – könnte. Er scheitert an der schmalen Reichweite und geringen Übertragbarkeit seiner Realitätserfahrung und am Gefühl der Ausweglosigkeit, das seine Kameraden erfasst und gefangen hält: Slopotka entsetzte der gewissermaßen doktrinäre Glaube der Kessel-Kameraden ans eigene Unglück […]. Slopotkas Elan, der nur darauf beruhte, daß er aus einem anderen Realitätsstrom hierhergelangt war, übertrug sich auf die kleine Mannschaft. Er riß sie mit. […] Mehr als den engsten Umkreis seines kleinen Hilfsflughafens […] beherrschte Slopotkas klarer Geist nicht. Schon die Funker in Pitomnik […] waren aus ihrer Lethargie nicht zu lösen. (D 16)

Slopotkas Kraft entstammt einer individuellen biografischen Perspektive, die nicht nur eine positive Vergangenheit vorzuweisen hat. Er hat zudem explizite Zukunftspläne, die ihn über den Augenblick und seine scheinbar aussichtslose Lage hinauszutragen vermögen.860 Seine Kameraden hingegen sind dem »Blick 858 Alexander Kluge: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang. Frankfurt am Main 1973. 859 Kluges erzählerische Untersuchungen sind hier auf die in der Psychologie als kognitive Verzerrungen bekannt gewordenen Strukturen gerichtet. Der sogenannte »halo effect« (Daniel Kahnemann: Thinking, Fast and Slow. London, New York 2012, S. 82) ist für die in der Geschichte wirkende Verzerrung verantwortlich, nach der Entscheidungen und Urteile sich häufig auf die präsenten oder schnell zugänglichen Informationen stützen, anstatt zusätzliche, relevante und repräsentative Informationen heranzuziehen. Den Halo-Effekt nennt Kahnemann daher »WYSIATI […] what you see is all there is« (ebd. S. 86). 860 Einen ähnlichen Gedanken formuliert in negativer Umkehr der Ich-Erzähler Paul Bäumer aus Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues: »Gerade für uns Zwanzigjährige

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des Basilisken« (CdG 506), wie der in Dezember unterschlagene Titel der Geschichte in ihrer Fassung aus der Chronik der Gefühle signalisiert, verfallen. Der Basiliskenblick vermag derart zu lähmen, dass Auswege undenkbar werden und die eigene Lage eine übermächtige Realität annimmt. Im Gegensatz zur Mikrostruktur der individuellen Wahrnehmung zeigt der Basiliskenblick die Perspektive einer »Strategie von oben« (FKDB 18). Aus solch einer Makrostruktur wird deutlich, »warum Stalingrad […] historisch notwendig« (D 16) erschien. Ein monokausaler Blick auf historische Ereignisse macht diese zu teleologisch-determinierten Stationen eines vorgeschriebenen Plans. Demgemäß heißt es in der Geschichte vom 5. Dezember: »Die Schlachtentscheidung […] findet in den Köpfen der Kämpfenden statt« (D 18). Der in die Geschichte eingesenkte Potentialis aber zeigt sich noch in seinem Scheitern als die Markierung eines Unterschieds: »Slopotkas Leichnam lag in einer Gruppe von Toten, an einen geschichteten Schneehaufen angelehnt, nur dadurch von den übrigen Toten unterschieden, daß die Fettschicht unter seiner Haut noch intakt schien.« (D 17) Kluges Geschichte realisiert die durch Slopotka verkörperte Möglichkeit eines Auswegs als fiktional modellierte Wirklichkeit und pluralisiert damit die Perspektive auf das historische Ereignis. Die Geschichte vom 3. Dezember 1931 inszeniert ebenfalls eine verpasste Möglichkeit eines anderen Geschichtsverlaufs. Dort bringt Kluge seine eigene Biografie mit potentiellen, in der Realität aufscheinenden, aber verpassten Ereignissen, die den Fortgang der Geschichte hätten beeinflussen können, in einen Zusammenhang. Die Erzählung berichtet von einem Unfall zwischen Hitlers Auto und jenem der »Brautmutter von Goebbels« (D 10): Um ein Haar wären Hitler (in einem schwarzen Mercedes) und die Brautmutter von Goebbels (in einem roten Maybach) von dem Aushilfschauffeur des Rittergutes […] zuschanden gefahren worden. […] In einer langgezogenen Kurve versuchte der Chauffeur des Maybachs, Hitlers Fahrzeug zu überholen. Als er merkte, daß das Fahrzeug rutschte, trat er kraftvoll auf die Bremse. – Nur der Vorsehung ist es zu verdanken, daß die Fahrzeuge sich verfehlten. – Was verstehen Sie unter Vorsehung? ist alles besonders unklar. […] Die älteren Leute sind alle fest mit dem Früheren verbunden, sie haben Grund, sie haben Frauen, Kinder, Berufe und Interessen, die schon so stark sind, dass der Krieg sie nicht zerreißen kann. Wir Zwanzigjährigen aber haben nur unsere Eltern und manche ein Mädchen. Das ist nicht viel – denn in unserm Alter ist die Kraft der Eltern am schwächsten, und die Mädchen sind noch nicht beherrschend. […] Kantorek würde sagen, wir hätten an der Schwelle des Daseins gestanden. So ähnlich ist es auch. Wir waren noch nicht eingewurzelt. Der Krieg hat uns weggeschwemmt. Für die andern, die Älteren, ist er eine Unterbrechung, sie können über ihn hinausdenken. Wir aber sind von ihm ergriffen worden und wissen nicht, wie das enden soll.« (Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues. In der Fassung der Erstausgabe mit Materialien und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln 2014, S. 23f.).

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[…] Inzwischen war ein Ersatzwagen für die Brautmutter eingetroffen, einer der Adjutanten Hitlers war im Indianertrab (50 Meter rennen, 100 Meter gehen) zum nächstgelegenen Telefon gelaufen. Sie können weiterfahren, Herr Hitler, sagte der Landrat. Der merkwürdige Unfall blieb ihm auf zwei Wochen ein interessantes Gesprächsthema.1 1

Ich, einliegend im wohltemperierten Bauch, wäre beinahe geboren worden, ohne daß Hitler ein Stück Zukunft gehabt hätte. Es fehlte am tödlichen Zusammenstoß auf der Eisfläche ein Abstand von 40 Zentimetern zwischen den hochmotorisierten Fahrzeugen. (D 10f.)

Die Erzählung pluralisiert den verpassten Aufprall durch drei verschiedene Beschreibungen und multipliziert damit die möglichen Referenzrahmen (in Form verschiedener Genres) einer Deutung: Das einleitende ›um ein Haar‹ hat anekdotischen Charakter, während der kurze Wortwechsel, der anstelle des auserzählten Unfalls gesetzt wird, von ›Vorsehung‹ spricht. Der Rückgriff auf den Begriff ›Vorsehung‹ misst der Episode das schicksalhafte Gewicht eines Mythos bei und reproduziert zugleich die christlich gefärbte Sprache der Nationalsozialisten, worauf Viktor Klemperer in seiner LTI hinweist.861 Die dritte Beschreibung des Verpassten findet sich in der Fußnote, die dem Text den Status von Wissenschaftlichkeit und dessen Inhalt dadurch geschichtswissenschaftliche Relevanz verleiht. Als ›Nachweis‹, den eine Fußnote im wissenschaftlichen Kontext zu liefern hat, finden sich hier ein autobiographisches Fragment, das auf den ›Fötus Kluge‹ in seinem ›Latenzzustand‹ verweist, und Signalwörter aus dem NS-Diskurs in parodistischer Verwendung. Kluge ›liegt‹ sowohl textuell in der Fußnote wie im Bauch seiner Mutter ›ein‹. Die Fußnote enthält so, statt eines Verweises auf die Quelle, den Verweis auf das (potentiell) Zukünftige. Die Formulierungen ›hochmotorisiert‹ und ›wohltemperiert‹ rufen – unter dem Fokus auf den nationalsozialistischen Diskurs gelesen – die ambivalente Apparatur des nationalsozialistischen Systems auf: ›hochmotorisiert‹ deutet auf den massenindustriellen Vernichtungsapparat voraus, während ›wohltemperiert‹ sowohl einen positiven Gegensatz zur erstarrenden Winterkälte darstellt als auch durch die Anspielung auf Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertes Klavier auf den Topos des ›kultivierten Bösen‹ verweist.862 Beide Worte evozieren 861 Viktor Klemperer bemerkt, »daß der Führer immer und immer wieder sein besonders nahes Verhältnis zur Gottheit unterstrichen hat, seine besondere Auserwähltheit, seine besondere Gotteskindschaft, seine religiöse Mission. Während des triumphierenden Aufstiegs sagt er in Würzburg (Juni 1937): ›Die Vorsehung führt uns, wir handeln nach dem Willen des Allmächtigen. Es kann niemand Völker- und Weltgeschichte machen, wenn er nicht den Segen dieser Vorsehung hat.‹ […] Jahrelang erscheint die Vorsehung, die ihn auserwählt hat, in fast jeder Rede, fast jedem Aufruf.« (Ders.: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1975, S. 134.). 862 Jonathan Littells Roman Les Bienveillantes (Die Wohlgesinnten) führt dies beispielsweise anhand der Hauptfigur des SS-Manns Maximilian Aue vor: »Das Böse scheint hier in der bereits abgekühlten Reflexion der bösen Tat; daß der, der es vertritt nicht nur kalt und

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zudem sich im kulturellen Diskurs wiederstreitende Kräfte von Natur und Technik, die im Text aber anekdotisch unterlaufen werden: Nichts funktioniert so rasch wie im Rausch. Das ähnelt den Motoren, die Naturkräfte sind. Sie haben Pferdefüße, Flügel, atmen Gas. Sie sind nicht wild, sondern technische Diener der kundigen Hand des Menschen, der mit Tritt und sanfter Bewegung an Knüppel und Steuer diese Gewalten in fließender Bewegung hält. Zwar beherrscht der Angeheiterte Zunge und Lautstärke schlecht, dagegen Kanonen und Fahrzeuge umso besser. (D 10)

Hier werden Topoi der rauschhaften Beherrschung von Körper und Technik bzw. deren Verschmelzung, wie sie etwa bei Ernst Jünger oder in den futuristischen Manifesten zu finden sind, parodistisch aufgerufen. Mit der Maßangabe von 40 Zentimetern überführt der Fußnotentext den verpassten Zeitpunkt in eine Verräumlichung. Dadurch wird die von Kluge genutzte Metapher von der Lücke, die der Teufel lässt in ihrer Doppeldeutigkeit sichtbar. Einerseits entkommt ›das Böse‹ durch die Lücke der 40 Zentimeter seiner Verhinderung – der Unfall endet nicht tödlich. Andererseits sind die 40 Zentimeter – darauf weisen Céline Letawe und Maid Hagelstein hin863 – die Größenbeschreibung eines sieben Monate alten Fötus’, was in etwa der Größe des noch ungeborenen Alexander Kluge entspräche. Kluges Text vollzieht hier eine Para-Beziehung, wie sie Hutcheons Konzept der Parodie sowie Lyotards Para-Erfahrung zugrunde liegen: Hitlers beinahe eingetretener Tod und Kluges ›Latenzexistenz‹ im Bauch seiner Mutter werden durch die textuell hergestellten Nähe hinsichtlich ihres Status parallelisiert: Beide sind im Begriff wirklich zu werden. Der konjunktivische Beinahe-Tod Hitlers korrespondiert dem noch potentiellen Beinahe-Leben Kluges. Der Inkubationszeit, die der Semantik von ›Dezember‹ – einerseits als christliche Adventszeit, andererseits als meteorologischer und astronomischer Winter – innewohnt, wird sowohl die Latenz der Schwangerschaft von Kluges Mutter als auch die Latenz des Potentialis zur Seite gestellt. Ihre Realisierung finden diese Latenzen in unterschiedlichen ontologischen Ordnungen: Kluge wird in der Realität geboren, während der (um ein Haar) verunglückte Hitler in einem konjunktivischen Moment zur fiktional-kontrafaktischen ›Realität‹ wird. Die Überführung eines entschlossen, sondern auch kultiviert und gebildet ist, Plutarch, Kant, Hegel, Schopenhauer, Hannah Arendt und Trevor-Roper gelesen hat, macht das Skandalon des Textes aus.« (PeterAndré Alt: Ästhetik des Bösen. München 2010, S. 496). 863 »Protégé du froid glacial du mois de décembre, Kluge dans le ventre ›bien tempéré‹ de sa mère devait encore attendre un peu plus de 2 mois pour naître (il est né le 14 février 1932). On a vérifié: selon les standards, un bébé à 7 mois de gestation mesure environ 40 cm.« (Céline Letawe, Maid Hagelstein: Images et textes en tension: le dialogue Kluge/Richter. Vortrag auf der internationalen Konferenz Reading/Viewing Alexander Kluge’s Work am 11. Dezember 2012 an der Université de Liège. Zitiert nach Christoph Streckhardt: Kaleidoskop Kluge. Alexander Kluges Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln. Tübingen 2016, S. 255).

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Beinahe-Ereignisses in die fiktionale, »dritte imaginäre Wirklichkeit«864 macht aus dem Nicht-Geschehenen ein im schriftlichen Modus rückwirkend mögliches Textereignis. Der Text verbindet daher drei Existenzmodi (Realis – Latenz – Potentialis) und drei Zeitdimensionen (historisch-allgemein – biografisch-individuell – poetisch-konstellativ)865 miteinander. So veranschaulicht der Text die Gleichzeitigkeit des Verpassens und der Chance. Die erzählerisch in den Fokus gerückte Lücke wird zum Exemplarischen einer der vielen Lücken im Gewebe der Geschichtsschreibung, das damit jeder fatalistischen Auffassung von Geschichte widerspricht. Die Lücke zeigt sich hier als Zufall, der numerisch-räumlich bezifferbar wird und sich fiktional funktionalisieren lässt: Das Zeitmaß des Zufalls wird auf diese Weise zu einer relevanten und erzählbaren Qualität […]. Immer geht es in dieser Prosa auch darum, simplifizierte, einseitige und ungenaue Vorstellungen von ausschließlich irreversibel chronologischer Zeit komplexer, intelligenter und gehaltvoller zu gestalten.866

Der hergestellte Zusammenhang fügt sich aber nicht zu einem kausalen oder hierarchisch geordneten Bedingungsverhältnis. Hans Magnus Enzensberger bezeichnet diese Haltung Kluges als eine »Art von Solidarität, wenn auch wider Willen, und sogar eine schriftstellerische Moral: nicht mehr und nicht weniger Sinn zu produzieren, als in den Erfahrungen selber drinsteckt, das heißt, weder Sinn noch Sinnlosigkeit künstlerisch zu pauschalieren.«867 Auszuhalten wäre für die Lesenden, der Versuchung zu widerstehen, Kluges Existenz als Nachweis für Hitlers Überleben zu setzen und sich dem verlockenden und sinnfälligen Gedankenspiel anheim zu geben, dass, wäre Kluge nicht geboren worden, hätten die 40 Zentimeter, die sein kleiner Körper ausmachte, nicht gefehlt, wäre Hitler entsprechend unschädlich gemacht worden. Kluges Texte verfolgen nicht die Strategie des tatsächlichen Umschreibens von Geschichte, sondern eine an Henri Bergson angelehnte Vorstellung des Möglichen als »Spiegelbild des Gegenwärtigen im Vergangenen«:868 Seine Texte ge864 Streckhardt, Kluges Konstellationen, S. 66. 865 Die Zeitdimensionen lassen sich noch weiter ausdifferenzieren, wenn in der historischen Betrachtung lineare Zeit um die zyklische Zeit erweitert wird. Der gespaltenen Geschichtszeit (von Geschichte im Großen und der Geschichte im Kleinen, Individuellen) wird die fiktional-modellierende Zeit hinzugestellt, in der das Mögliche seine Realisierung findet. Das deckt sich mit der Aussage Kluges, er schaffe eine »dritte imaginäre Wirklichkeit« (Streckhardt, Kluges Konstellationen, S. 66). 866 Birkmeyer, Zeitzonen des Wirklichen, S. 69. 867 Enzensberger, Ein herzloser Schriftsteller, S. 83. 868 Henri Bergson: Das Mögliche und das Wirkliche. In: Ders.: Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge. Hamburg 2000, S. 110–125, hier S. 121. »›[…] Sie wollen doch wohl nicht behaupten, daß die Zukunft die Gegenwart beeinflußt, daß die Gegenwart etwas in die Vergangenheit einführt, daß die Handlung dem Strom der Zeit entgegenwirkt und ihren Stempel der Vergangenheit aufdrückt?‹ – ›Das kommt darauf an. Ich habe niemals

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stalten den Möglichkeitsraum des Wirklichen. In Das Mögliche und das Wirkliche entwickelt Bergson den Gedanken, dass die Vorstellung des Möglichen erst anhand des Wirklichen entwickelt werden kann, so dass ein stetiges Bearbeitungsverhältnis von Gegenwart und Vergangenheit (und Zukunft) entsteht: Wie sollte man nicht sehen, daß, wenn ein Ereignis sich nachträglich durch diese oder jene vorhergehenden Ereignisse erklärt, ein ganz andersartiges Ereignis sich nicht ebensogut unter denselben Umständen, durch anders ausgewählte Vorgänge hätte erklären lassen, – was sage ich? durch dieselben Vorgänge, die aber durch die retrospektive Aufmerksamkeit anders herausgeschnitten, anders verteilt, schließlich anders wahrgenommen wären. So vollzieht sich nach rückwärts eine beständige Umbildung der Vergangenheit durch die Gegenwart, der Ursache durch die Wirkung.869

Zu einer solchen Umbildung ist auch der Mensch in seinem Selbstentwurf fähig. Eine auf die Zukunft ausgerichtete Idee des eigenen Selbst nährt sich dabei von der Vorstellung des Möglichen, das mit dem Wirklichen der Vergangenheit zugleich entsteht und dadurch die Vorstellung von etwas Neuem, nicht aus den Regeln des Vergangenen Herzuleitendem, öffnet. Diese Konzeption des Möglichen aus dem Vergangenen untersucht der Text Futur antérieur aus Dezember anhand des ihm zugrundeliegenden sprachperformativen Potentials. Der grammatikalische Modus des Futur II entwirft das aus der Vergangenheit entstehende Mögliche auf eine wirkmächtige, weil die Gegenwart beeinflussende Zukunft hin: »Es gibt aber das ICH WERDE GEWESEN SEIN, eine der stärksten Projektionen der Willenskraft. Nicht zu verwechseln mit dem, was ich wirklich tue oder tun werde.« (D 111)870 Der Text markiert die Wirkmacht sprachlicher Selbst- und Weltentwürfe, die in der Struktur der Sprache liegt: »– Grammatik ist

behauptet, daß man etwas Wirkliches in die Vergangenheit einfließen lassen und so dem Zeitverlauf entgegenarbeiten kann. Aber daß man das Mögliche dort unterbringen kann, oder vielmehr, daß das Mögliche sich selbständig in jedem Augenblick hier einnistet, das ist nicht zweifelhaft. In demselben Maße, wie die Wirklichkeit sich erschafft als etwas Unvorhersehbares und Neues, wirft sie ihr Bild hinter sich in eine unbestimmte Vergangenheit […]‹« (ebd., S. 120). 869 Bergson, Das Mögliche und das Wirkliche, S. 123. 870 Der Text perspektiviert diesen Möglichkeitsraum mit direktem Bezug auf Lacan, da sich dort ein leicht verändertes, unmarkiertes Zitat aus dessen Aufsatz »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse« findet: »Ich identifiziere mich in der Sprache, aber nur indem ich mich dabei in ihr Objekt verliere. Was sich in meiner Geschichte verwirklicht, ist nicht die abgeschlossene Vergangenheit (passé défini) dessen, was war, weil es nicht mehr ist, auch nicht das Perfekt dessen, der in dem gewesen ist, was ich bin, sondern das zweite Futur (futur antérieur) dessen, was ich für das werde gewesen sein, was zu werden ich im Begriff stehe.« (Jacques Lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse. In: Ders.: Schriften I. Frankfurt am Main 1975, S. 71–169, hier S. 143, die Hervorhebung stammt von mir und markiert den Text, der sich, leicht abgeändert, bei Kluge wieder findet).

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eine gefährliche Waffe, ein Mordwerkzeug. – Die einzige, über die das Bewußtsein verfügt.« (D 111f.) Bergson verwendet in seinem Entwurf des Möglichen in Das Mögliche und das Wirkliche – markanter Weise ebenfalls in der Inszenierung eines fiktiven Gelehrtengesprächs wie es Kluge in Futur antérieur entwirft – den gleichen grammatikalischen Modus des Futur II: »Ich räume Ihnen höchstens ein, daß es einmal möglich gewesen sein wird. […] Das ist ganz einfach. Es tauche ein Mann […] auf und schaffe ein Werk: in diesem Augenblick ist es wirklich, und dadurch gerade wird es rückblickend und rückwirkend erst möglich.«871 Folgt man dem Gedankengang Bergsons, dass das Mögliche erst mit dem Wirklichen entsteht und dass es sich rückwirkend in unsere Auffassung des Vergangenen einnistet, dann werden die Unterschiede zu einer fatalistisch-deterministischen Geschichtsauffassung, die das Mögliche als Variante zum vergangenen Wirklichen nicht in den Blick nimmt, deutlich. Ignoriert man die sich nachträglich zeigenden Perspektiven auf Vergangenes, werden sie »ausgesondert aus dem Wirklichen und kommen doch im Möglichen nicht an. Das ist der Fluch des Kronos […] eines ungezähmten Monstrums, das wir für die Zeit halten.« (D 75) Um zu verhindern, dass die Vergangenheit einseitig-monolithisch erscheint, ist es notwendig, die mit dem Geschehenen entstehenden Möglichkeiten einer auf Festsetzung ausgerichteten Geschichtsschreibung pluralisierend zur Seite zu stellen. Den Protest an der vergangenen Wirklichkeit inszenieren Kluges Texte so nicht als einfache Umschreibung, sondern fordern den Rezipierenden ab, die ›rettende‹ Umschreibung der Vergangenheit als Potentialis zu erfassen, die eben nicht als abgeschlossene Geschichte mit einem – wenn auch fiktiven – Happy End zu erzählen wäre, sondern – in Anlehnung an den Zukunftsentwurf aus Futur antérieur – als Quelle für zukünftige, wirkmächtige Weltentwürfe, die Engagement erfordern.

5.2.3 Konstellationen, noch einmal – Verdichtungen All die widerständigen Texte Kluges stellen implizit die Frage nach jenen Strategien, deren es bedurft hätte, um den historischen Verlauf zu ändern und welche Kooperationen dazu führ(t)en, dass sich aus »einer wirren Struktur von Unbestimmtheiten die EINE BESTIMMTHEIT, die zum Unheil führt, [entwickelt], während andere Unbestimmtheiten (›Möglichkeiten‹) sich einfach nur zerstreuen« (D 26), wie es im Text zum 8. Dezember 1941 heißt. Dort werden historische Ereignisse derart zeitlich komprimiert, dass die katastrophalen Zusammenhänge des organisatorischen Verwaltungsapparates während des Na871 Bergson, Das Mögliche und das Wirkliche, S. 120.

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tionalsozialismus in einer Konstellation von Fakt und Fiktion lesbar werden. Kluge nennt das Vorgehen eine Entscheidung für ein »aus der Vielfalt gesellschaftlicher Phänomene […] heraus[ge]wählt[es Bild], das dann wie ein Kristallgitter funktioniert. Um dieses Kristallgitter, die ursprüngliche idée fixe, kristallisiert sich jetzt ein ganzer Zusammenhang«.872 Unter dem Titel Blauer Montag wird von der Terminverschiebung der Wannseekonferenz berichtet. 8. Dezember 1941: Blauer Montag. Langsam kommt das Getriebe der Reichsführung in Gang. Der Führer, der sich um 11 Uhr vormittags aus dem Bett erhebt, ist bis 1 Uhr nachts emsig. Die Einladung des SS-Obergruppenführers Heydrich zu einer Konferenz aller beteiligten Ressorts unter Federführung des Reichssicherheitshauptamtes lautete auf den 8. Dezember 1941. Das Treffen wurde um sechs Wochen auf den 20. Januar 1942 verschoben. Dies war die WANNSEEKONFERENZ. Für den 8. Dezember 1941 rechnete man mit der Einberufung des Reichstags. Der Darwinist (Biologe und Historiker) Horst Boecker hat 2006 das Phänomen der Kurzzeit-Evolutionen am Beispiel des Dezembers 1941 untersucht. […] Boecker arbeitet an einer ›Artengeschichte des Bösen‹. – Wäre eine ›Wannseekonferenz‹ am 8. Dezember anders verlaufen als die historische am 20. Januar 1942? – Vermutlich. – Warum? – Aus Zeitdruck. (D 26)

Dass Kluge sowohl den ursprünglichen Termin der Wannseekonferenz als auch die Einberufung des Reichstags auf den 8. Dezember legt, anstatt die tatsächlich geplanten Termine zu nennen,873 reproduziert und verdichtet die vorherrschende Ereignisfülle des Dezembers 1941 auf eine für die Lesenden anschauliche Weise in einem Tag. Durch die Markierung eines einzigen Datums werden die Lesenden herausgefordert, der ausgelegten Spur nachzugehen. Mag der Text nahelegen, dass die Wannseekonferenz, wäre sie wie geplant abgehalten worden, weniger katastrophale Auswirkungen nach sich gezogen hätte, stoßen die Rezipierenden bei der Recherche nach den zeitlichen Abläufen der nationalsozialistischen Pläne auf die Tatsache, dass [a]m 8. Dezember 1941 […] die Vergasung von arbeitsunfähigen polnischen Juden und Zigeunern im Lager Chelmno, auf deutsch Kulmhof, im Warthegau begann – der ›ersten Mordfabrik in der Geschichte der Menschheit‹, wie es der niederländische Historiker L.J. Hertog genannt hat.874

Den ursprünglichen, gescheiterten Termin der Wannseekonferenz setzt Kluge auf den Tag des tatsächlichen Beginns der Planungsumsetzung, den die Wann872 Ulrich Gregor: Interview Alexander Kluge. In: Peter W. Jansen, Wolfram Schütte (Hg.): Herzog/Kluge/Straub (Reihe Film 9). München, Wien 1976, S. 153–178, hier S. 157. 873 Der Reichstag wurde erst am 11. Dezember einberufen und für den 10. erwartet. Auch der ursprüngliche Termin der Wannseekonferenz war nicht auf den 8., sondern auf den 9. Dezember 1941 angesetzt. Siehe dazu Robert Seidel: Deutsche Besatzungspolitik in Polen. Der Distrikt Radom 1939–1945. Paderborn, München 2006, S. 291. 874 Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Bd. 2: Deutsche Geschichte vom ›Dritten Reich‹ bis zur Wiedervereinigung. München 2000, S. 94.

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seekonferenz beschließen sollte, so dass durch diese Schichtung deutlich wird, wie seine Texte »von der Peripherie her« (GUL 342) auf die zentralen historischen Ereignisse ausgerichtet sind. Die detaillierten Beschreibungen von Raum- und Zeitverhältnissen öffnen den Text auf einen aktiven Leseprozess hin, der Einsatz und Kooperation von den Lesenden erfordert. Kluges Ereigniskonstellationen sind »nicht so sehr Darstellung als vielmehr Technik zur Stimulierung des Lesers, sich eine visuelle Darstellung zu konstruieren, ein Bild zu machen.«875 Kluges Inszenierung einer »dritte[n] imaginäre[n] Wirklichkeit zwischen den Dingen«876 macht den Status der Fiktion als System mit eigener, doppelter Referenz bewusst und weist jeden Zugang zur Welt als einen notwendigerweise bestimmten Beschreibungs-, Kategorisierungs- und Perspektivierungsmustern folgend aus.877 Damit sind nicht nur sprachliche Diskurshierarchien878 eingeebnet und zugleich kritisch kommentiert, den Lesenden ist es zudem aufgegeben, den jeweiligen Referenzwert (etwa historisch oder fiktional) sowie den Bedeutungswert (Ermöglichung neuer Perspektiven, Konfrontationen, die zu veränderten Bewertungen führen) des Erzählten einzuschätzen und in einen aktiven Prozess der kritischen Auseinandersetzung mit dem Erzählten zu treten.

5.2.4 Lesen als produktives Konstellieren Der Text vom 5. Dezember 1942 liefert sogleich ein Vorbild für den Umgang mit der wuchernden Unübersichtlichkeit der Kluge‘schen Texte: Die Figur Slopotkas lässt sich als textinternes Modell einer engagierten Leser:in fassen: Ein:e ›Slopotka-Leser:in‹ gibt sich – trotz der sie umgebenden und zu erschlagen drohenden Textmasse und der darin eingewobenen Unsicherheiten – nicht lethargisch dem Fluss der textuellen Ereignisse hin. Diese Modell-Leser:in begibt sich auf die Suche nach außertextuellen Referenzen, konstelliert und erzeugt – darin 875 Umberto Eco: Les sémaphores sous la pluie. In: Ders.: Die Bücher und das Paradies: über Literatur. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München 2006, S. 189–211, hier S. 210. 876 Streckhardt, Kluges Konstellationen, S. 65f. 877 Folgerichtig werden die pseudowissenschaftliche Theorie des ›Erfundenen Mittelalters‹ von Heribert Illbig und die fiktionale Theorie der »ZEITKOMPRIMATION« (D 106) des real existierenden sowjet-russischen Schriftstellers Andrej Bitow in der Geschichte Über Kalender-Reform (D 105–107) gleichwertig behandelt und gehen unmarkiert ineinander über. 878 Diese kaleidoskopische Entfaltung verschiedener Ansätze führt dazu, dass unsere vertrauten, autoritären Diskurssysteme und Weltzugänge wie »die Wissenschaft neben Gnosis, Kosmogonie, Militärplänen, boardroom capitalism talk und Mythologie, als eine mögliche Form des Weltbezugs dargestellt und kritisch evaluiert« werden (Mertens, Alexander Kluges literarisches Oeuvre als »Cli-Fi«, S. 196f.).

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Slopotka gleich – minimale Räume der Übersicht, adaptiert darin das Kluge‘sche Verfahren und produziert weitere Anschlüsse, die wiederum zu neuen Fragen und Recherchenotwendigkeiten führen. Zieht man die Thematisierung des Gelehrten (Hl.) Hieronymus (im Gehäuse) hinzu, auf den sich Kluge und Negt in Geschichte und Eigensinn als prototypischen Forscher-Produzent-Leser berufen, dann wird das Lesen zum produktiven Kommentieren: »Lesen heißt hier kommentieren, insofern offensichtliche oder auch geheime Verknüpfungen und Lücken im Textgebäude gesucht werden, – und es heißt vor allem dem Gelesenen Spuren des eigenen Gebrauchs einzutragen«.879 Es gilt daher auch für Dezember, was Kluge und Negt im Vor- und Nachwort zu Geschichte und Eigensinn betonen: »Wir legen ein Gebrauchsbuch vor« (GuE 5) heißt, den Betrachter zur Eigeninitiative und zum immer neuen Lesen aufzufordern: Eines ist ausgeschlossen: Daß einer sich mäklerisch oder zu den Widersprüchen seines Lebens als bloßer Betrachter verhalten kann. Es ist daher keine Phrase, daß wir auf die Eigentätigkeit des Lesers setzen. Ein verkehrtes Verhalten würden wir darin sehen, wenn die von uns sichtbar gemachten und damit einer kollektiven Diskussion geöffneten Sachverhalte zugunsten einer Kritik verdeckt werden, die ausschließlich orientiert ist an der Wegarbeitung unseres Vorschlags. Alles wirklich Brauchbare besteht in Aushilfen. (GuE 1245)

›Bewältigung‹ als Begriff, der auf Abschließung zielt, ist dabei kategorisch auszuschließen. Kluges Texte verhandeln so performativ immer neu, was und wie erzählt und modelliert werden, sprich was archiviert, erinnert und – im historiographischen Projekt – als unsere Geschichte angeeignet werden soll. Das provoziert zugleich die Frage »Was geschieht in den – nicht geschriebenen, nicht erzählten – Lücken der Geschichtsnarration?« Die Antwort der Geschichte vom 5. Dezember 1942 lautet: Slopotka. Die Figur verkörpert die Möglichkeiten, die jede realisierte Situation begleiten und die dem »Regime des Faktischen«880 konkurrierende Alternativen beistellen. In den Texten Kluges findet daher »etwas Platz, das traditionell dem Bereich der ›Geschichten‹ – ein Begriff, auf dem Kluge in seinen Vorworten auffallend beharrt – angehört: das vermeintlich Irrationale, das sich als die eigentliche Macht der Historie herausstellt.«881

879 Komfort-Hein, Kritik am Werk, S. 206. 880 Birkmeyer, Zeitzonen des Wirklichen, S. 69. 881 Thomas von Steinaecker: Die Seele der Welt. Alexander Kluges Stil. In: text+kritik, (2011), Nr. 85/86, 31–36, hier S. 36.

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Inter-, Intratextualität und Intermedialität

Das Verfahren des unablässigen Kommentierens und Verweisens durch Neuund Wiederaufsuchen von Vorgefundenem lässt sich für Dezember nicht nur innerhalb eines Textes, sondern auch zwischen verschiedenen Texten aus dem Band (1), zwischen den Texten und den Bildern von Gerhard Richter (2) und zwischen Kluges Texten aus verschiedenen Sammelbänden (3) ausmachen. Wir haben es also mit einer Vielzahl intra- und intertextueller sowie intermedialer Beziehungen zu tun, die eine rhizomatische Verweisstruktur ausbilden, in der sich die Leser:in selbstständig orientieren muss, so dass gilt, was Kluge und Negt im Vorwort zu Geschichte und Eigensinn schreiben: »Vom Leser wird bei diesem Buch Eigeninteresse erwartet, indem er sich die Passagen und Kapitel heraussucht, die mit seinem Leben zu tun haben. […] Mehr als die Chance, sich selbständig zu verhalten, gibt kein Buch.« (GuE 5)

5.3.1 Intratextuelle Verweisstrukturen in Dezember »Sibirische Zeitreserve« (D 112) aus dem datumslosen Textkonvolut »Kalender sind konservativ«, das auf die Texte vom 1. bis 31. Dezember folgt, bezieht sich kreisförmig auf die Erzählungen vom 1. und 2. Dezember zurück. Ihre zeitliche Situierung – dies wird erst im vorletzten Absatz durch die Selbstbezeichnung des Ich-Erzählers als »letzter Assistent Gorbatschows« (D 114) klar – bezieht sich auf den Text zum 2. Dezember 1991 (D 8). Dort sind die Müdigkeit Gorbatschows und das Ende der Sowjetunion Gegenstand der Erzählung: »Er war müde. Er wollte ausgerechnet jetzt, in einer Dämmerstunde des Dezembers, in der er und alle anderen auf das Ende der Krise warteten, DISKUTIEREN. […] – Fing mit Notizen an für sein Erinnerungsbuch. Da wußten wir: es ist aus.« (D 8) »Sibirische Zeitreserve« handelt etwas über einen Monat früher, kurz nach der Madrider Nahost-Friedenskonferenz am 30. Oktober 1991. Das historisch frühere Ereignis wird strukturell später präsentiert, so dass es zu einer rückwärtigen Intratextualität kommt, die (fast) das Ende des Bandes mit seinem Beginn verbindet. Kluge stellt im Text zum 2. Dezember eine von den Fakten unberührte, fiktionale Mikrostudie des möglichen mentalen Zustands der impersonierten Macht (Gorbatschow) und dessen Erfahrung des Scheiterns vor. Gorbatschow, mit seinen Notizen zum Erinnerungsbuch, ist im Begriff, sich als mediale Erinnerung und damit als der Vergangenheit angehörig zu entwerfen. »Sibirische Zeitreserve« zeigt sich als intradiegetische Erzählung eines Ich-Erzählers aus dem Umfeld derselben Mikrostruktur: der »letzte Assistent Gorbatschows« (D 114), der Gorbatschows ›Verfall‹ erlebt, erinnert sich an Lermontows Überlegungen zur »›Lähmung im entscheidenden Moment‹« (D 113): »Es ist eine seltsame

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Tatsache, daß die großen Täter der Weltgeschichte oft eine Lähmung ergreift, und zwar in entscheidenden Momenten.« (D 113) Lermontov verweist neben Napoleons fataler Waterloo-Entscheidung und dem Verlauf des GriechischTrojanischen Kriegs auch auf die »eigentümliche Lähmung Hitlers, seine Blendung (im Moment des Fiaskos der Front vor Moskau). Im Dezember 1941: ›wie schneeblind‹. Er erklärte den USA den Krieg. Das müßte er nach den Verträgen nicht. Er besiegelt das Ende des Deutschen Reichs.« (D 114) Damit perspektiviert der Text die Ebene der Makrostruktur, wenn aus den zunächst getrennten, individuellen Fällen Gorbatschow und Hitler Beispiele werden, aus denen eine Konstellation, ein »Ensemble von Modellanalysen«882 entsteht. Zugleich verweist die Formulierung ›Front vor Moskau‹ durch wörtliche Wiederholung auf den Text zum 1. Dezember 1941 (D 7), die vor der Kriegserklärung Hitlers an die USA (am 11. Dezember 1941) datiert ist. Im Gegensatz zur auf der Makroperspektive herrschenden Blindheit Hitlers, die Lermontov in Sibirische Zeitreserve konstatiert, zeigt sich, dass Fedor von Bock in der situativen Mikroperspektive die Umstände, in denen sich seine Heeresgruppe Mitte befindet – ähnlich wie die Figur Slopotka –, hellsichtig erfasst. Die von Kluge vorgeführten Konstellationen scheitern an den immer wieder thematisierten Zeitverknappungen, Kommunikationsabbrüchen und den fehlenden Reichweiten von Motivation und Wissensverbreitung, kurz die Mikroebene scheitert an der Blindheit der Makroperspektive. Diese Blindheit wird durch die konstellative Ordnung der drei Geschichten auf der Meta-Ebene der Rezeption nachträglich aufgehoben, so dass die Leser:in das kommunikative Bindeglied zwischen den Geschichten und den darin präsentierten Perspektiven darstellt: Die ›fehlende Lösung‹ aus der ersten Geschichte kann nun in der bereitgestellte Erklärung der ›Lähmung im entscheidenden Moment‹ gefunden werden. Die Komplexität und Ausweglosigkeit einzelner Situationen werden in Kluges Texten durch die poetologisch-performative Herstellung von Zusammenhäng verstehbar und fiktional überwindbar gemacht.

5.3.2 Intermediale Verweisstruktur – Gerhard Richters Bilderfolge Die Bilder Gerhard Richters stellen den Geschichten Kluges Fotografien zu Seite, die sich streng an das Wintermotiv halten und durchweg Schneelandschaften zeigen – wie auch die Daten sich der strikten Tagesabfolge des Dezembers unterordnen. Sie korrespondieren durch verschiedene Perspektiven auf das Motiv des Winterwalds mit Kluges Geschichten. Im Untertitel des Buches sind die Bilder Richters grafisch als Äquivalente zu den Texten angekündigt: 882 Adorno, Negative Dialektik, S. 39.

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Alexander Kluge 39 Geschichten Dezember Gerhard Richter 39 Bilder (D 3)

Die Geschichten und die Bilder lassen sich als zwei Seiten – hier vor allem als zwei mediale Ausgestaltungen – eines thematischen Komplexes aufeinander beziehen. Anders als auf dem Titelblatt angekündigt, zeigt das Buch 41 Abbildungen von 39 verschiedenen Bildmotiven. Zwei der Bilder sind doppelt abgedruckt. Diese Abweichung knüpft an Kluges Spiel mit Jahreszahlen und Tagesdaten an. Zudem verweisen die Zahlen ’39 und ’41 auf den Kriegsbeginn 1939 und auf den Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges 1941, der zum Ausgangspunkt für die in Stalingrad kulminierenden Ereignisse wurde und damit zum Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs geriet. Alle Bilder zeigen den Engadiner Winterwald: Schneebedeckte Äste und Bäume in variierender Distanz. Die Abfolge von Texten und Bildern hat einen regelmäßig erscheinenden Rhythmus, ohne dass sich die Geschichten zu einem Datum obligatorisch mit einem Bild abwechseln würden. Die Bilder befinden sich entweder rechts oder links auf einer Doppelseite, so dass die Wahrnehmung der Rezipierenden zum flexiblen Wechsel beim Entziffern der zwei medialen Codierungen zwischen einem sehenden und einem lesenden Blick aufgefordert ist. Das Schwarz-Weiß der horizontal geordneten, durch die Schriftlinien strukturierten Textseiten wechselt mit der beweglicheren, überwiegenden schwarz-weiß-Struktur der fotografischen Ansichten von verschneiten Ästen und Bäumen, die wechselnde Gitterformationen bilden. Die Nahaufnahmen und die meisten horizontal strukturierten Bilder erzeugen den Eindruck von Flächigkeit. Dem stehen Bilder gegenüber, die den Blick durch Tiefenschichtung (D 9, 43) auf dreidimensionale Räumlichkeit öffnen. Staffelungen verschiedener Tiefenebenen erzeugen sowohl den Eindruck stellenweiser Undurchdringlichkeit als auch den Effekt der palimpsestartigen Schichtung, was als strukturähnlich zum Verfahren des Textes zum 8. Dezember lesbar wird. Obwohl alle Bilder Fotografien sind, wirken einige eher wie abstrakte Gemälde und thematisieren auch auf der Bildebene die vorschnelle Zuordnung von Realismus und Fotografie. Auf einen ersten Blick läuft der Betrachter Gefahr, sich in der relativen Ähnlichkeit der Bilder zu verlieren. Folgt man dem Bilderverlauf, lassen sich Änderungen der Perspektive feststellen. Die scheinbare Ununterscheidbarkeit löst sich dem differenzierten Blick in den sukzessiven, feinen Unterschied auf, den die einzelnen Bilder zu erkennen geben: Die Textur der Bilder verändert sich im Verlauf von der ganz durch Linien und Strukturen beherrschten Bildfläche hin zu weißlich-grauen, planen Flächen von Himmel

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und Schnee auf dem letzten Bild (D 126). Vereinzelt ist die Farbigkeit der Bäume durch das Weiß des Schnees zu erkennen. Nur auf drei Bildern (D 76, 125 und 126) sind Artefakte und Lebendiges zu sehen: Ein Reh, ein Haus und eine Straße. Die Straße auf dem letzten Bild macht eine Rechtskurve, die in den Wald hinein zu führen scheint. Diese plötzlich auftauchenden Artefakte bieten dem über die Bilder streifenden Betrachterauge Anhaltspunkte für narrative Impulse – allerdings ohne sich als eindeutige Zeichen lesen zu lassen: Ob mit dem Haus ein verwunschenes Märchenschloss, ein Handlungsort verschiedenster Horrorfilme, ein Hexenhaus oder das abgelegene Nazianwesen assoziiert wird – die drei Objekte verleiten dazu, sie im Kontrast zur vorherigen Abstraktheit, die mit der Abwesenheit von Deutbarem einhergeht, als Elemente einer Erzählung zu deuten: Statik und Langeweile des Wintermotivs [liegen] auf der einen, Historizität und Durchtriebenheit auf der anderen Seite näher beieinander, als sich das von Beginn an vermuten lässt. Unversehens wird das Auge in die von Richter geschickt ausgelegten Klischeefallen gelockt. Doch sowohl sein beharrliches Durcharbeiten des Themas als auch die Klugesche Textkomposition verhindern jedes Absacken in eine falsche Eindeutigkeit.883

Kluge, auf die Deutung der Bilder Richters hin gefragt, antwortet: Ich finde die Bilder mit den farbigen Blättern berührend. Ich deute die Verschränkung der Bäume im Engadin als Dickicht. Das erinnert an die Hecken von Dornröschen. Da spielt die dreizehnte Fee eine Rolle. Sie wurde ausgeschlossen. Daraufhin hat sie das ganze Schloss in Schlaf versetzt. Auch das ist im Dickicht der Bilder enthalten.884

Auch hier folgen Deutungsangebot und -entzug eng aufeinander. Kluge bietet eine erste assoziative Interpretation der Bilder an, deren Motiv mit jenem aus dem Text zum 31. Dezember 2009 korrespondiert. Die Geschichte trägt den Titel »EINDRUCK VON UNDURCHDRINGLICHKEIT« (D 98), dessen Semantik auch auf die Bilder Richters zutrifft. Die Geschichte führt einen Vergleich zwischen der 13. Fee aus dem Märchen der Brüder Grimm und der einseitigen Faktenwahrnehmung und -verarbeitung in Katastrophensituationen vor: »Die 13. Fee wurde nicht eingeladen. Ähnlich wie […] die Fakten ausgegrenzt werden, die wenig später Unglück bringen.« (D 98) Den angebotenen Deutungsansatz nimmt Kluge im zitierten Interview mit den Worten »Aber ich würde mich hüten, Richters Bilder mit Worten zu deuten. […] Man muss sie schauen.«885 sogleich wieder zurück, um den Betrachter auf seine eigene Begegnung mit den Bildern zu verweisen. Blickt man vor diesem 883 Hulpe, Historisch, ahistorisch? o. S. 884 Philipp Holstein: Gerhard Richter zeigt den Winter. Interview mit Alexander Kluge über seine Zusammenarbeit mit Gerhard Richter. In: Rheinische Post 21. 10. 2010. 885 Ebd.

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Hintergrund auf die Geschichte vom 31. Dezember 2009, so liegt in ihr einerseits die Bewegung der Rache – die Fee versetzt das Reich in tausend Jahre Schlaf und erzeugt ein »Verhak« (D 98) aus Geäst um das Schloss –, durch die »der Eindruck von Undurchdringlichkeit« (ebd.) entsteht. Andererseits bietet der Text zugleich einen möglichen Ausweg an: »In der Lebenspraxis aber zeigt sich, daß am Boden eines solchen Geästs ein Weg durch leichten Schnee zu finden ist. Man muß nur das Bild bis unten verfolgen, wo auf einem Quadratmeter Erde Milliarden Milben siedeln.« (Ebd.) Die Lösung, so suggeriert der Text, liegt hier in der Frage nach der richtigen Perspektive, die jedoch – wörtlich genommen – außerhalb des Menschenmöglichen zu liegen scheint. Der Betrachter ist somit herausgefordert, ein genaues Unterscheidungsvermögen zu entwickeln und selbst minimalste Abweichungen zu registrieren: Das auf den ersten Blick seltsam Brave der Richterschen Winterfotos […] stellt sich als präzise Studie über die Darstellungsmöglichkeiten winterlicher Landschaften heraus. Die Langsamkeit der Abfolge fordert hier die ganze Aufmerksamkeit des Betrachters hinsichtlich der minimalen und vor allem strukturellen Veränderungen der Perspektive heraus.886

Dies gilt insbesondere für die sich wiederholenden Bilder (D 37, 59 sowie D 85, 91) Richters, die farbliche Abweichungen und Veränderungen in der Schärfe bzw. in der Klarheit des Himmels aufweisen. Durch ihren jeweilig anderen Kontext verschiedener Geschichten verweisen auch sie auf die konstitutive Problematik von Iteration und Abweichung. Auch jene Form der Abweichung, die durch das Nebeneinanderstellen von Mikro- und Makroebene sichtbar wird, ist in Richters Bildern realisiert, wenn etwa die Bilder 33 und 34 (D 108f.) eine Doppelseite einnehmen und jeweils eine Tanne in verschiedener ›Einstellungsgröße‹ zeigen: Nahe und Halbnahe, Mikro- und Meso-, oder Makroebene, sind gleichzeitig sichtbar (Abb. 8). Diese Gleichzeitigkeit zeigt sich hier, im Gegensatz zur Darstellung der sich häufig widerstreitenden Perspektiven in Kluges Texten, gerade nicht konflikthaft und verweist so statt auf eine gewaltsame Hierarchisierung auf ein produktives Nebeneinander. Die Text- und Bildanordnungen fordern die Rezipierenden zu aufmerksamer Kooperation auf und zielen auf eine vernetzte Form historischen Denkens ab, das »can be described as a move from thinking in concepts to thinking in images. Kluge’s narrative art […] is part of this mode of thinking in images«.887

886 Hulpe, Historisch, ahistorisch? o. S. 887 Bernhard Malkmus: Intermediality and the Topography of Memory in Alexander Kluge. In: New German Critique 36 (2009), H. 2, S. 231–252, hier S. 233, Herv. K.K.

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Abb. 8: Undurchdringlichkeit und Gleichzeitigkeit verschiedener Perspektiven: Die Winterbilder Gerhard Richters.

5.3.3 Intertextuelle Verweisstrukturen – Enthierarchisierung auf Produktionsebene Der vielfältige Verweisungszusammenhang innerhalb von Dezember stellt keinen Einzelfall dar. Die Mehrzahl der Erzählungen aus Dezember ist zuvor schon in anderen Kontexten veröffentlicht worden. Es finden sich Geschichten aus den vorher veröffentlichten Bänden Chronik der Gefühle (Band I, 2000), Die Lücke, die der Teufel läßt (2003) und Tür an Tür mit einem anderen Leben (2006). Andere Texte haben in Dezember ihre Erstveröffentlichung und erscheinen im 2012 veröffentlichten Sammelband Das fünfte Buch wieder. Die Leser:in kann sich wie in einem Katalog auf die Suche durch die Texte und Filme Kluges machen, nach Stichworten (wie nach ›tags‹) suchen und über diese Verknüpfungen neue Verbindungen herstellen. So zeigt sich das intratextuelle Verweisspiel von Dezember als Teil eines übergreifenden Verfahrens des gesamten Textkorpus Kluges, das nach dem rhizomatischen Vernetzungsprinzip strukturiert ist. Die Texte erscheinen wie geisterhafte Widergänger und Wanderer zwischen verschiedenen (Text-)Formaten und Medien. Entsprechend gilt mit Georg

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Stanitzek: »Was heißt aber Kluge lesen? Es heißt: Beziehungen herstellen, heißt Hyperlinks realisieren zwischen textuellen und bildlichen und akustischen Einheiten. ›Realisieren‹ ist zweideutig, hat zwei Aspekte; es heißt einerseits: solchen Links folgen, andererseits: selber solche Links herstellen.«888 Diese Praxis hat Konsequenzen für Status und Semantik der Texte sowie die ihnen innewohnende Zeitlichkeit. Das soll am Motiv der Kälte exemplarisch skizziert werden. Zeitgleich mit dem Erscheinen von Dezember veröffentlicht Kluge eine DVD mit dem Titel Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd889, in dessen Begleitbuch »Stroh im Eis« Texte versammelt sind, die sich ebenfalls mit dem Thema Kälte beschäftigen. Zwei Jahre später wird ein Kapitel aus Das fünfte Buch ebenfalls den Titel Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd tragen, in dem einige der Geschichten aus Dezember wieder abgedruckt sind. Die drei Veröffentlichungen sind so durch übereinstimmende Teilmengen miteinander verbunden. Immer wieder taucht in ihnen Theodor W. Adorno als außerfiktionale Referenz auf. In dessen Negativer Dialektik bietet er eine anthropologische Deutung von Kälte, die er als »Grundprinzip[…] der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre«,890 bezeichnet. Sie wird zur Metapher für gesellschaftlich-anthropologische Strukturen, aus denen Böses entsteht.891 So tritt, chiffriert durch das Kältemotiv und ähnlich wie in Meineckes Roman, Auschwitz in den verzweigten (Inter-)Diskurs von Kluges Texten ein. Unter der Überschrift Adorno über den Kältestrom ist im Begleitbuch der DVD zu lesen: Kälte, davon ging er [d.i. Adorno, K.K.] aus, ist eine die Moderne durchherrschende Strömung. Sie sei, notierte Adorno, ›abgezweigt von der libidinösen Energie des Gattungswesens Mensch, ähnlich der Erkenntnisleistung. Anders als diese produziert sie Gleichgültigkeit, den Kältestrom.‹ […] dort fehle die MODERNE METAMORPHOSE des Subjekts (das nunmehr in Partikel zerfällt). Wie das? Es ist in Marxens Beobachtung enthalten, daß der Mensch, als Produzent seines Lebens, als Warenproduzent, neben 888 Stanitzek, Autorität im Hypertext, S. 25. 889 Alexander Kluge: Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd. Filme und Texte. DVD. Mit einem Begleitheft »Stroh im Eis«. Berlin 2010. Nachweise im Folgenden unter der Sigle ›Kälte‹ im Fließtext. 890 Adorno, Negative Dialektik, S. 355f. 891 Die Verbindung von Kälte und Bösem findet Kluge in Dante Alighieris Darstellung der Hölle in der Göttlichen Komödie. Dort ist der neunte, innerste Kreis der Hölle als mit Eis bedeckt beschrieben, was zum Thema des Texts Der ALTE DRACHE unter dem Tempelberg (D 21f.) wird: »Die Eislandschaft schimmert grün. […] Es ist der neunte und tiefste Ring der Hölle. In der Mitte des Eis-Sees, in dem die bösesten Täter der Geschichte eingefroren sind, ruht der GEWALTIGE DRACHE« (D 21). Weitere intertextuelle Verweise, in denen Kälte als anthropologisches Phänomen beschrieben wird, findet Kluge in Andersens Märchen der Schneekönigin. Dort, so Kluge, wird »die Metapher der Eiseskälte, [als] die TÖDLICHE GLEICHGÜLTIGKEIT« (Stollmann, Die Entstehung des Schönheitssinns aus dem Eis, S. 13) dargestellt.

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dem Produktionsprozeß zu stehen kommt. Dies ist die Entfremdung. Es begründet die Beobachtung, daß dort, wo ein Mensch und seine Wirklichkeit voneinander abgeschnitten werden, Kälte entsteht. (Kälte 69)

Dass Kluge Adornos negative Perspektive nicht einfach übernimmt, zeigt sich an seiner mehrfachen Codierung von Kälte. Denn Kluge verortet das Böse nicht im Menschen, er begreift den anthropologischen Grundzug, als den Adorno die menschliche Kälte beschreibt, nicht als statisch oder eindimensional. Das Böse entsteht für Kluge im Zwischenraum, in verpassten Chancen oder durch fehlende Übersichten: »Das Befremdliche liegt darin, daß diese Art der Kälte in den Einzelpersonen nur mikroskopisch oder überhaupt nicht vorhanden ist. Sie entsteht zwischen den Menschen, so wie zuvor Freundlichkeit, das Erzählen, die Geselligkeit und das Denken.«892 Böses entsteht in sedimentierten Strukturen, die keine Möglichkeiten für einen – gedanklichen oder realen – Ausweg eröffnen und in denen »Bewegung […] auf Tausende von Jahren fixiert« (D 22) ist. Kälte ist zugleich der Nährboden für die Entstehung des menschlichen Unterscheidungsvermögens. In der Geschichte Die Entstehung des Schönheitssinns aus dem Eis aus dem Band Die Lücke, die der Teufel läßt – die sich dort direkt hinter Adorno über den Kältestrom findet – verbindet Kluge seine Vorstellung von den menschlichen Wärmeressourcen aus der Eiszeit mit Bruno Tauts893 Überlegungen zu seiner Alpenarchitektur: URERLEBNISSE DER MENSCHLICHEN EINBILDUNGSKRAFT […] sei[en] in die kollektive menschliche Erinnerung eingebrannt. Das sei geschehen, als die Züge der […] Menschen an den gewaltigen Hürden der Gletscher entlanggezogen, jahrzehntelang über Ebenen gewandert seien […]. Das waren schlimme hoffnungslose Jahre, und nur im Inneren blieb Mensch und Tier eine Art von Glimmen aus früherer Zeit, das Wärme versprach. Zuletzt nur noch Erzählung. […] Die Erinnerung an das geschärfte Unterscheidungsvermögen, das in den Jahren der Kälte entstanden war, verschloß sich in den Herzen. (LdT 751f.)894

892 Kluge, Das fünfte Buch, S. 234f. 893 Bruno Tauts ideologische Fundierung seiner Alpenarchitektur kann auch für Kluges erzählerisches Pluriversum in Anspruch genommen werden, wenn Taut betont: »Ihr Kern ist eine pazifistische Idee, ich will damit den Krieg bekämpfen« (Bruno Taut: Alpine Architektur. Eine Utopie – A Utopia. Hg. von Matthias Schirren. München 2004, S. 122). 894 »Die Quelle des Schönheitssinns ist die Erinnerung an Wärme – die Genese der Schönheit aus einem Erlebnis der Not und der Expansion, sozusagen der ersten Globalisierung des Lebendigen.« (Stollmann, Die Entstehung des Schönheitssinns aus dem Eis, S. 13). Agamben begründet das Erzählen interessanterweise von der anderen Seite der Wärmeskala, vom Feuer, her. In Die Erzählung und das Feuer gibt er eine Anekdote von Gershom Scholem wieder, nach der Erzählen aus der Erinnerung an das verlorene Feuer entsteht. Siehe dazu Giorgio Agamben: Die Erzählung und das Feuer. Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko. Frankfurt am Main 2017.

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Alexander Kluges Parallelgeschichte(n) – Dezember und 30. April 1945

In Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd findet sich ein an Kluge gerichteter Brief Adornos, in dem es heißt: Ein solcher Film käme einer Sache sehr nahe, die mich immer mehr beschäftigt: der Frage nach der Kälte. In dem Vortrag über Auschwitz habe ich darüber gesprochen, plane aber doch, wenn meine großen Pläne etwas weiter sind, einmal einen Essay über die Kälte zu schreiben (Kälte 4).895

Diese Idee ›realisiert‹ Kluge in einer intermedialen Konstellation von Filmessay und Textbuch. Er verhilft damit nicht nur einer in der Kulturgeschichte unverwirklicht gebliebenen (theoretischen) Idee zur ästhetischen Wirklichkeit, sondern tut dies gerade im Modus des beständigen Weiterverweisens.896 Kälte wird durch ihre Eigenschaft der Unbeweglichkeit einerseits als Gegenpol zu Kluges erzählerischem Projekt produktiver Konstellationsbewegungen lesbar, in denen nicht nur vielfältige Austauschbewegungen zwischen einzelnen Geschichten durch Motivparallelen, sondern auch Mehrfachveröffentlichungen der gleichen, häufig leicht veränderten Geschichten in neuen Kontexten zum Programm werden. Andererseits vermag die Unbeweglichkeit Ressourcen und Kräfte aufzubewahren, die dazu verhelfen, gegenüber der monolithisch erscheinenden Realität erfinderisch zu werden und Widerstandskräfte zu entwickeln. Kälte als poetologische Figur ist entsprechend ambig. In ihrer Funktion provoziert sie gerade durch ihre Ambiguität eine Öffnung einseitiger Perspektiven. Aus dieser Struktur des – im doppelten Wortsinn aufzufassenden – ›Erscheinens‹ der Kluge‘schen Texte wird zweierlei ersichtlich: Zum einen neigt diese Form der Anordnung zu einer enthierarchisierenden Weise der Vernetzung, die eine Verweigerung einmaliger und endgültiger Festsetzung von Sinn mit sich bringt. Diese radikale Enthierarchisierung widerspricht dem Konzept von Originalität – lässt sich bei vielen Texten doch nur noch von zeitlich vorgängigen Versionen, nicht aber von einem Original im Gegensatz zu seinen nachrangigen Derivaten sprechen.897 Durch die immer neuen De- und Re-Kontextualisierungen können – und müssen – die Texte immer wieder neu gelesen werden. Kluges Veröffentlichungspraxis weist dadurch einen radikal antifatalistischen Zug auf. Die Erzählkerne der Geschichten sind beweglich und verweigern sich – soweit dies im Medium der Schrift, die mit ihrem Druck einen Text

895 Ebenfalls in Kluge, Das fünfte Buch, S. 223. 896 In ähnlicher Weise referiert Godard in seinen Histoire(s) du cinéma auf das unrealisierte Filmprojekt über Don Quixote von Orson Welles. 897 Thomas Combrink erkennt in Kluges Textstrategien eine strukturelle Nähe zu Heinrich von Kleists Vorgehen in den Berliner Abendblättern. Vgl. dazu Ders.: Ein Medium, das die Lichtstrahlen bündelt. Über das Verhältnis zwischen Heinrich von Kleist und Alexander Kluge. In: Glass Shards. Alexander Kluge-Jahrbuch 2 (2015), S. 203–212.

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zur Unbeweglichkeit fixiert, möglich ist – einer inhaltlichen, und auf der Ebene von Textversionen auch formalen Schließung, zugunsten von (potentiell endlosen) Reaktualisierungen, Variationen, Anschlusserzählungen und Öffnung auf neue, mögliche Kontexte. Zum anderen konstituiert sich das zentrale Thema der Zeit schon auf der formalen Ebene der Anordnung, wenn durch verschieden ›alte‹ Texte in einem Band mehrere (Entstehungs-)Zeiten zugleich gegenwärtig sind. Die Poetik Kluges besteht in einer Vernetzung und gegenseitigen Verlinkung einzelner Text- und Bilderzeugnisse, die zu einer Pluralisierung von Gegenwart und Geschichte führt. Dass diese Vernetzung dabei nicht unmittelbar zu mehr Klarheit führt,898 sondern vielmehr herkömmliche narrative Konventionen durch »Fragment, notwendige Provokation (aufgrund des Zitats, das der Inkompetente an die Stelle der Kompetenz setzt) und Eigentätigkeit des Lesers«899 sprengt, ist dabei Programm. Denn, um es mit Helmut Heißenbüttel deutlich zu machen: Wer im Fragment redet und erzählt, hat den Illusionscharakter des zentralen Bezugs durchschaut. […] Identifikation mit vorfabrizierten Subjektmodellen und ebenso vorfabrizierten Standardsituationen der bürgerlichen Überlebensstrategie ist nicht möglich.900

Die Überführung in »aufgehende kompositorische Rechnungen, in Objekte einer ›klassisch‹ verstehenden Hermeneutik«901 stünde sowohl Kluges theoretischen Ausführungen als auch seinem praktischen Umgang mit Erzähltexten entgegen, indem er sich »zumindest einige Mühe gegeben [hat], den Akzent auf der unaufgelösten Äußerlichkeit von Darstellungen selbst nicht wieder zurückzubiegen in eine instrumentell-funktionale Ordnung anderer Art.«902 Daher ist Winfried Menninghaus in seinem Urteil über Kluges materialistische Ästhetik, das er schon 1990 formulierte, zuzustimmen: Kluges Ästhetik »postuliert […] als ›realistische Methode‹, was in den USA und Frankreich zur gleichen Zeit als Motor dekonstruierender Lektüren wirksam war: ›die Differenz […] des individuellen Materials mit sich selbst‹, den kritischen ›Konflikt‹ der textuellen Elemente untereinander«.903 Diesen Konflikt der Elemente untereinander, der innerhalb eines Textes zu finden ist, verschärft Kluge durch die Variation des Kontextes für einzelne Texte: Die in Dezember gesammelten Texte erhalten mit ihrem Eingang in die Sammlung ein neues, zweites, drittes oder gar viertes 898 »Paradoxerweise wird durch eine solche Vervielfältigung von Reflexions- und Kommentarverhältnissen innerhalb des Werks dessen Gegenstand gleichzeitig verrätselt und präzisiert.« (Walzer, Arbeit am Exemplarischen, S. 128). 899 Heißenbüttel, Zur Methode, S. 3. 900 Ebd., S. 4. 901 Menninghaus, Geschichte und Eigensinn, S. 269f. 902 Ebd., S. 270. 903 Ebd., S. 259.

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Alexander Kluges Parallelgeschichte(n) – Dezember und 30. April 1945

Datum. Dezember ist also zweierlei: Wiedergefundenes als Zusammengetragenes unter der Verdichtung zu einem Motivkomplex (des Monats Dezember, aber auch damit verbundene Motivfelder der Kälte und des Kriegs) sowie Pluralisierung der Geschichten durch die Erzeugung neuer Motivfelder in einem je neuen, kontextuellen Zusammenspiel.

5.4

Exkurs: 30. April 1945

Zeiterfahrung – und ihre Verstörung – wirkt unmittelbar auf die Realitätserfahrung zurück. Diese Korrelation von (historischer) Situation und verschiedenen individuellen oder institutionellen Wirklichkeitserfahrungen – und deren Relevanz – kommt auch in Kluges Erzählband 30. April 1945 in einer auf einen Tag zugespitzten und verdichteten Form in den Blick. Entsprechend schreibt er dort im Vorwort: »Der Zusammenbruch einer Großorganisation wie Deutschland schafft Trümmerstücke. […] im Seelensack eines jeden dortigen Menschen liegen Stücke unterschiedlicher Realitäten durcheinander.« (30. April 9) Waren die Geschichten in Dezember durch den Titel in der jahreszeitlichen und semantischen Einheit eines Monats gebündelt, spitzt 30. April 1945 die kalendarische Beschränkung durch das textuelle Kaleidoskop eines einzigen Tags zu. Fixpunkt der zirkulierenden Geschichten ist Hitlers Selbstmord, der jedoch im Buch nur ein Ereignis unter vielen darstellt. Die vielfältigen Erzählungen erzeugen plurale Perspektiven auf diese 24 Stunden.904 Der Untertitel des Buches läuft dieser Vielperspektivität zuwider, wenn er den Tag als denjenigen fixiert, »an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann« (30. April 3). Doch schon die Konjunktion teilt die Bestimmung des Tages in zwei Ereignisse auf, so dass alle Geschichten des Bandes in der gegenläufigen Spannung von historischer Bedeutsamkeit und alltäglicher ›Normalität‹, von Sammlung und Zerstreuung, von privatem Erleben und öffentlichem Agieren oszillieren. Der von Kluge stellenweise eingesetzte, autobiographisch inszenierte Erzähler kommentiert aus der nachträglichen Übersicht Handlungen und Bewegungen einzelner Individuen und Institutionen. Die jeweiligen Konstellationen der Geschichten und das Figurenwissen aber sind an das zeitgenössische, beschränkte – und zugleich unterschiedlich verteilte, weil auch unterschiedlich schnell transportierte – Wissen über die weltpolitischen Ereignisse gebunden. Das zeigt sich insbesondere am Text, der dem Band in Kursivschrift vorangestellt ist. Die ersten Sätze lauten: »Ich habe diesen Tag in einer Stadt nördlich des Harzgebirges erlebt. Mit 13 Jahren.« (30. April 9) Diesen einführenden Sätzen 904 Die enge Rahmung, die der Titel vorgibt, wird dabei durch die einzelnen Geschichten nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich gesprengt.

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folgt mit dem Wechsel des Tempus ins Präsens der Wechsel in den historischen Zeitraum des 30. April 1945 in Halberstadt: »Unsere Stadt ist seit dem 11. April von den Amerikanern besetzt. Vom Rest der Welt weiß ich zu diesem Zeitpunkt aus unmittelbarer Erfahrung nichts (was ich höre, was ich lese, wäre mittelbar).« (30 April 9, Herv. K.K.) Auch hier spielt die Formulierung auf Kluges Konzeption des Nähesinns an, so dass erneut das Verhältnis von weltgeschichtlichem Geschehen und individuellem Erfahren ausgelotet wird, um anhand ›radikaler Nachahmung‹ die Mechanismen der jeweiligen Realitätskonstruktionen freizulegen. In 30. April 1945 gelingt dies durch das Ausstellen, Reproduzieren und Erzeugen einer Schwellen-Ordnung.

5.4.1 Schwellen-Ordnung Durch das erzählerische Kaleidoskop eines einzelnen Tages macht Kluge verschiedene Zeit-Räume sichtbar, die sich an der Schwelle zu einer gesellschaftspolitischen Neustrukturierung befinden. Menschen und Institutionen stehen vor dem Umstand der im Begriff verloren zu gehenden, stellenweise längst schon überkommenen Ordnung. In der Leere des Übergangs entstehen Überhänge an Befehlsketten, letzte Handlungen von Treue und Loyalität, aber auch der Eindruck von Befreiung sowie Situationen, die schon vom Gefühl des Um- und Aufbruchs durchdrungen sind sowie das Phänomen richtungslosen Handelns. Schon die Überschrift des Kapitels »Ankunft am Endpunkt« (30. April 7) unterstützt semantisch die paradoxe Struktur, die den Tag auszeichnet. Dem Wort ›Ankunft‹ wohnt noch die Bewegung eines Verlaufs inne, die am Ziel erst zum Stillstand kommen wird. Zugleich zeugt die Ankunft von einem (räumlichen und zeitlichen) Wechsel von Vorher und Nachher und von Dort nach Hier. Das Ziel ist durch die Wortwahl ›Endpunkt‹ doppeldeutig: Einerseits kann der Endpunkt neutral oder positiv das ersehnte und gewollte Ziel bedeuten. Andererseits kann der Endpunkt ebenfalls die letztmögliche Station darstellen, nach der es, ob gewollt oder nicht, nicht mehr weitergeht. Bezogen auf den Titel liegt die zweite Deutung nahe. Der Endpunkt des nationalsozialistischen Regimes ist mit dem 30. April 1945 erreicht. Er wird von Kluge einerseits als »letzter ausgeübter Werktag des Deutschen Reiches« (30. April Klappentext) deklariert und damit innerhalb der Konvention der kalendarischen DIN verortet. Andererseits gerät er zum Tag des Übergangs, an dem sich in besonderer Weise die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Ordnungen zeigt: Die mit dem Tod Hitlers, der sicheren Niederlage und der kommenden Kapitulation obsolet gewordenen Strukturen des nationalsozialistischen Regimes von Hierarchie, Verwaltung und Befehlslogik erzeugen ein »einwöchige[s] Niemandsland« (ebd.), ein raumzeit-

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liches Vakuum, in dem sich widerstreitende Kräfte breit machen, ohne dass eine neue Ordnung schon greifbar wäre. Die Überschriften der Kluge‘schen Kapitel zeigen im vergleichenden Blick zunächst eine sich verengende Bewegung an: Von »In einem anderen Land« (30. April 73) über einen Zwischenschritt »In der Reichshauptstadt« (30. April 101) zu »In einer kleinen Stadt« (30. April 133). Danach folgt ein extrem distanzierender Zoom, der die Geschehnisse »Auf dem Erdball« (30. April 161) in den Blick rückt und den Tag mit dem Weltgeschehen in einen Zusammenhang bringt. Derart konturiert, wird der Selbstmord Hitlers als historisch-relevante Größe relativiert und in ein Netz anderer Ereignisse, wie etwa die auf der von 25. April bis 26. Juni dauernden Konferenz von San Francisco erarbeitete Charta und Gründung der Vereinten Nationen, eingefasst.

5.4.2 Ideologische Überhänge Mit den letzten beiden Kapiteln geht Kluge vom mimetischen Durchmessen der historischen Verhältnisse dazu über, die unmittelbaren wie mittelbaren Folgen der nationalsozialistischen Konstellation und deren Gefahrenpotential offenzulegen. Sie werden anhand der akribischen Beobachtung und Verwaltung der »Requisiten und Kleider […], die für das Dritte Reich charakteristisch sind […] [und] auch nach jahrelanger Gewöhnung unheimlich« (30. April 274) bleiben, ebenso verfolgt wie anhand der mentalen ›Überreste‹ sowohl in den überzeugten Nationalsozialisten wie in der deutschen Bevölkerung, die das Regime ohne ausdrücklichen Zuspruch durchlebte.905 Die Dimensionen der von den Nationalsozialisten hinterlassenen Zerstörung zeigt sich in der Geschichte »Finsternis im Kopf der Täter«, in der drei Mörder, »ausgestattet mit nationalsozialistischen Symbolen« (30. April 273) von einem »forensischen Gutachter« (ebd. 274) wie folgt beschrieben werden: Charakteristisches Merkmal aller drei Täter sei ›marmorne Kälte gegenüber ihrem Opfer‹. Ob das als eine Fortsetzung des Dritten Reichs mit anderen Mitteln verstanden werden könne? Der Gutachter hielt das für ausgeschlossen. Er sprach von ›Finsternis im Kopf der Täter‹. Die Mörder seien Produkt unserer gegenwärtigen Gesellschaft, soweit man ›in solcher Weise zerstörte Menschen‹ ein Produkt nennen könne. (Ebd.)

Das Überdauern oder Fortsetzen nationalsozialistischer Gedanken und Handlungen bis in die Gegenwart wird von der fiktiven Figur verneint. Zugleich aber 905 Entsprechend trägt das vorletzte Kapitel den Titel »Heidegger auf Burg Wildenstein« (30. April 193) und das letzte Kapitel wechselt in die personalisierte, aber zugleich anonym bleibenden Ich-Perspektive mit der Überschrift »Ich, der letzte Nationalsozialist von Kabul« (30. April 231).

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stellt die Erzählung durch die Erwähnung nationalsozialistischer Symbole in der Täterbeschreibung und das durch den Gutachter ins Spiel gebrachte Stichwort der Kälte gerade Bezüge zur nationalsozialistischen Gesellschaftsstruktur auf extra-, intra- und außerdiegetischer Ebene her. Adornos Aussage über die Kälte als gesellschaftliche Gemütshaltung, die Auschwitz ermöglichte, schwingt hier ebenso mit wie der Umstand, dass die ›Finsternis im Kopf der Täter‹ nicht durch den einfach vergleichenden Rückgriff auf Historisches erklärt werden kann, sondern der Analyse der gebrauchten Zeichen im gegenwärtigen Kontext bedarf. In dieser Kippbewegung liegt das feine Unterscheidungsvermögen, das nötig ist, um solch politische Re-Kodierung historischer Zeichen nicht als diese zu missdeuten, sondern auch darin die Abweichungen zum Vergangenen auszuweisen, ohne jede Kontinuität zu leugnen. So ist es kein Zufall, dass die folgende Geschichte von den oben erwähnten Requisiten handelt, die deren Verwalter mit Vorsicht bewacht, da er um die »Macht der Kostüme, nicht nur über schwache Gemüter« (30. April 275) weiß: »So viel Vorsicht wenigstens scheint mir angebracht, daß wir in den Nachtstunden aufpassen, wenn sie unbeschäftigt und bei sich selbst sind.« (Ebd.) Diese Aussage beschreibt gleichzeitig die drei Mörder der vorangehenden Geschichte insofern treffend, als dass sie an einem »Abend […] den Zug verpaßt[en] […]. Sie mußten nunmehr bis vier Uhr morgens auf dem Bahnhof warten.« (Ebd. 273) Eben jene unbeschäftigte Leere der Nacht, die sie mit ›Landser‹-Lieder singen füllen (vgl. ebd.), führt zum Mord. Die mentalen Nachwehen der kriegerischen Zustände sind auch im autodiegetisch perspektivierten Text Eroberung nachspielen (30. April 142) spürbar: »Draußen ist der Krieg gestorben. Seit 22 Tagen. In unseren unbeschäftigten Schülerherzen bebt die Erregung nach.« (Ebd.) Im Spiel »Reiche verteidigen und erobern« (ebd.) werden »Terrain[s] abgesteckt« (ebd. 143), Geschütze aufgefahren, Angriffe angetäuscht und »Heimatgebiete« (ebd.) bedroht und als verspätete Nachbeben die alltägliche Kriegswirklichkeit nachgeahmt. Unter den Spielern macht der Erzähler zusätzlich eine Nachahmungsstrategie aus, die durch Aggression und Reaktion erzeugt wird: »Alfred Müller und sein Bruder Gerhard sind an sich friedliche Zeitgenossen. Auf meine Aggression antworten sie nachahmend aggressiv« (ebd.). Der nüchterne Stil, in dem die Situation präsentiert wird, konturiert die potentielle Gefahr und das Unbehagen umso schärfer. Das Potential, als literarische Figur selbst zum tatsächlichen Täter zu werden oder geworden zu sein, klingt als implizite Aussage mit. Dabei liegt auch hier der Fokus keineswegs auf einem moralischen Urteil oder der Zuschreibung von Schuld, sondern in der klaren Benennung und Beschreibung des strukturellen Gefahrenpotentials: Wie sich nach ernüchternden Tagen, schon unter amerikanischer Besatzung und nach einem eindrucksstarken Luftangriff, der die Stadt zerstörte, die spielerische Anspan-

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Alexander Kluges Parallelgeschichte(n) – Dezember und 30. April 1945

nung, der Ehrgeiz nach Gebietsgewinn, noch hält! Es braucht lange, um die Unterströmung, die uns abstrakt (oder traumartig) ergriffen hat, abfließen zu lassen. Rote Ohren vor Eifer. (Ebd.)

Die einzige Markierung einer erzählerischen Bestürzung liegt im für Kluge untypischen Ausrufezeichen, das hier eine umso stärkere Wirkung zeigt. Die angedeutete, lauernde Grausamkeit des Spiels mit seinem Gewaltpotential wird durch kein moralisches Urteil oder einen parteilichen Erzählstil eingedämmt. Wenn die Erzählkonstruktion dabei suggeriert, dass Kluge sich selbst als fiktionale Figur in das Zentrum der lauernden Gefahr versetzt, bzw. sich selbst als Herd der potentiellen Gewalt inszeniert, stellt er sich beispielhaft ins Kreuzfeuer der Konfrontation mit Fragen nach der Mitschuld und der anhaltenden ideologischen Wirkung totalitärer Regime und deren Denkrestriktionen. Noch ein zweites Mal wird das auf den realen Alexander Kluge verweisende Ich vertextet: Im Gegensatz zur Geschichte Blauer Montag aus Dezember, die dem Verfahren der Verdichtung folgt, lässt der Text »Ein Tag mit einer Überraschung« die makroperspektivische Bedeutung des 30. April 1945 für das weltpolitische Geschehen und die mikroperspektivische Bedeutung des 1. Juni 1945 für das fiktionale, individuelle Ich auseinanderfallen: Ich hatte meine Mutter seit einem Jahr nicht gesehen. […] Ich kenne wenige ›Übersprünge‹ von Elend (frierend im Gelände, unter offenem Regenhimmel am Vormittag) ins Glück am selben Tag. Dieser Tag ist für mich unvergeßlich und wichtiger als der 30. April 1945. Er ist allerdings mit nichts anderem in Halberstadt oder im Weltmaßstab so recht in Verbindung zu bringen. (30. April 151)

Durch die reflektierte Zusammenhanglosigkeit erzeugt der Text eine nicht-erzählerisch modellierte Beziehung zwischen dem weltpolitisch bedeutsamen Tag und dem für das Ich bedeutsamen Tag. Das Einfügen der Ich-Figur zeitigt einen weiteren relevanten Effekt für Kluges gesamtes Schreibprojekt. Durch das Einbringen eines fiktionalen Doppelgängers ins textliche Zeichenspiel multipliziert Kluge sich in textuellen Figuren. Jede dieser Figuren »erhält dabei Eigencharakter, der textimmanent, aber nicht länger subjektimmanent ist. […] er [d.i. der Autor, K.K.] setzt das Subjekt aus, zerstreut es gleichsam in sein Textfeld«.906

906 Heißenbüttel, Zur Methode, S. 4. Ich gehe hier frei mit den Zeilen Heißenbüttels um, weil ich im Einfügen der Ich-Figur eine analoge Bewegung sehe, wie sie Heißenbüttel eigentlich für Kluges »fragmentarische […] Erzählweise« (ebd.), die sich zentral durch das Zitieren auszeichnet, skizziert.

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Alexander Kluges Dezember und 30. April 1945 – Fazit

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Alexander Kluges Dezember und 30. April 1945 – Fazit

Kluges Zugang zur Thematik von Nationalsozialismus und Holocaust lässt sich als Poetik der distanzierten Annäherung fassen, in der Kluges selbstbezeichnete Annäherung von der Peripherie her zum Ausdruck kommt.907 Beweggrund dafür sind einerseits die Herstellung von Zusammenhängen als Orientierungsangebot – worin sich Kluges in der Moderne verwurzelte Haltung zeigt – sowie andererseits, von Adornos Auffassung Negativer Dialektik herkommend, das Streben nach »Denkmodellen« und einem »Ensemble von Modellanalysen«908, die sich nicht in einem (Ober-)Begriff fassen oder einem System subsumieren lassen. Nähe zu einer »Sache selbst«909 erzeugt Kluge durch das Interesse an partikularen Individualgeschichten und -situationen, die seine Geschichten auf Strukturen des Misslingens und des Unglücks ebenso durchleuchten wie auf konfligierende Wünsche und Bedürfnisse beteiligter Parteien. Statt eine Geschichte allerdings auszuerzählen und sie mit melodramatischen Handlungsverläufen oder moralischer Gefühlslenkung auszustatten, operieren Kluges Erzählstimmen aus einer Distanz heraus. Verschiedene Perspektiven werden, einem Gemälde der Kubisten ähnlich, nahtlos zueinander montiert, es entstehen allenfalls Erzählsplitter, die von häufigen Textsorten- und Stilwechsel geprägt sind. In Dezember macht Kluge die Textform der Chronik zum Band-übergreifenden Strukturprinzip. So stehen Kluges Texte in Kontrast zum Konzept eines klassischen, schließenden Erzählens: Statt eines »erkenntnisblinden Sichtbarmachens«910 setzen die Texte Kluges auf drei wesentliche Aspekte, auf die Helmut Heißenbüttel in seiner Lektüre der Nachbemerkung von Geschichte und Eigensinn hinweist: den fragmenthaften Charakter seiner Texte, die stets nach (Anschluss-)Kommunikation rufen, die »notwendige Provokation (aufgrund des Zitats, das der Inkompetente an die Stelle der Kompetenz setzt) und Eigentätigkeit des Lesers. Nicht das Dokumentarische oder Authentische ist wichtig, sondern das Lückenhafte«.911 Kluges Texte entfalten eine Poetik der Konstellation, in der das Material der Wirklichkeit durch das Verfahren der ›radikalen Nachahmung‹ ›seinen Atem behält‹, aus dem

907 »Der Dezember 1941, der in ›Tür an Tür mit einem anderen Leben‹ ein ganzes Kapitel ausmacht, hat seinen Kern in dem Ereignis, daß die Wannseekonferenz (wegen der Überfülle von Zeitgeschichte) vom 8. Dezember auf den 20. Januar verlegt werden muß. Dies ist genau der Detailpunkt, von dem man direkt berichten kann. Und das geschieht von der Peripherie her, und die große Frage ist nun, ob der Rand nicht das Zentrum ist.« (GUL 342). 908 Adorno, Negative Dialektik, S. 39. 909 Ebd., S. 36. 910 Scherpe, Literatur nach der Kritischen Theorie, S. 318: »Die klassische Erzählung steht bei den Nachfahren der Kritischen Theorie […] im Verdacht der ›falschen‹ Repräsentation, des erkenntnisblinden Sichtbarmachens.« (ebd.). 911 Heißenbüttel, Zur Methode, S. 3.

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Alexander Kluges Parallelgeschichte(n) – Dezember und 30. April 1945

öffentlichen Diskurs Ausgeschlossenes sowie die verpassten Möglichkeiten im Vergangenen ihren Platz finden. So verfolgen seine Texte eine kritische Ästhetik: Eine kritische Ästhetik müßte, so Kluge, den Krieg selber als Kritiker seiner Vernichtungsleistung aufrufen, damit die Überlebenden den Krieg nicht als Schicksalsmacht, als tragische Erzählung hinnehmen. Das klingt universalistisch. Es ist dies aber ein minimalistisches und marginales, auch ein komisches und groteskes Unternehmen, dem Kluge für seine Beschreibungsprosa den Namen der ›radikalen Nachahmung‹ gibt. […] nicht das Geheimnis der Dinge, wohl aber den Mechanismus ihres konsequent ›verdrehten Verhältnisses‹ kenntlich mach[en] – nicht substantiell, sondern dem Verfahren nach.912

Die ›radikale Nachahmung‹ fungiert als Brennglas, das einzelne Situationen in der Komplexität der ihnen innewohnenden individuellen und institutionellen Wünsche, Ziele und Überzeugungen verstehbar macht und sie zugleich in einen übergreifenden, zeitlichen und räumlichen »Vermittlungszusammenhang[…], in dem die […] Gründe und Umstände ins Blickfeld«913 geraten, einbindet. Der Kunst kommt dabei die Funktion zu, für Erfahrungen, die im Sinne der Lyotardschen Para-Erfahrung zu gewaltig sind, als dass sie im Erfahren begriffen werden können, ästhetisch verlangsamte Zugänge zu ermöglichen und die Mikroperspektiven in einen durch Montage erzeugten Zusammenhang mit der Makroperspektive zu stellen. Streuung und Verdichtung von Ereignissen sind zwei entgegengesetzte Umgangsweisen, Zeiterfahrungen in ihrer Bedeutsamkeit deutlich zu machen: Während Kluges Veröffentlichungspraxis zentral von wiederholender Publikation und Variation einzelner Geschichten in verschiedenen Kontexten geprägt ist, um die Gesamtheit seiner Texte in einer beständigen oszillierenden Bewegung zu halten, entwickelt das konstellative Erzählen die Tendenz zur punktuellen Verdichtung. All diese Verfahren der Konfrontation von Mikro- und Makroperspektiven sowie das textuelle Modellieren des Möglichen aus vergangenen Ereignissen zeigen zudem Auswege aus monokausalen, auf Einseitigkeit und Endgültigkeit zielenden (Geschichts-)Perspektiven auf. Kluges Poetik verfolgt ein pluralistisches Geschichtsprojekt, das sich in immer neuen Textkonstellationen zeigt, in denen das für unsere gesellschaftspolitische Gegenwart Relevante am Vergangenen sichtbar gemacht und aktualisiert wird.

912 Scherpe, Literatur nach der Kritischen Theorie, S. 330f. 913 Christian Schulte: Kritik und Kairos. Essayismus zwischen den Medien bei Alexander Kluge. In: Hermann Blume, Elisabeth Großegger, Andrea Sommer-Mathis, Michael Rössner (Hg.): Inszenierung und Gedächtnis. Soziokulturelle und ästhetische Praxis. Bielefeld 2014, S. 243– 260, hier S. 256. Konkret hieße das beispielsweise, dass die Schuldfrage »aufgehoben [ist, K.K.] zugunsten der Frage nach dem organisatorischen Aufbau der Tat« (ebd., S. 256).

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Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma »The one duty we owe to history is to rewrite it.«914

»Faire une description précise de ce qui n’a jamais eu lieu est le travail de l’historien.«915

Jean-Luc Godards monumentaler Film Histoire(s) du cinéma (1988–1998)916 erhebt den Anspruch, eine alternative, selbstreflexive Mediengeschichte des Kinos im Medium des Films vorzulegen. Erst damit kommt das Potential und die geschichtsphilosophische wie gesellschaftspolitische Bedeutsamkeit des Mediums ganz zum Vorschein. Schon der Titel der Histoire(s) du cinéma kündigt ein multiperspektivisches Geschichtsprogramm an. Godards Wahl des Plurals verweigert die Vorstellung, dass es die eine Geschichte bzw. die eine Geschichtserzählung geben könnte. Das französische ›histoire‹ bedeutet sowohl Geschichte als auch Erzählung. Damit impliziert der Titel die Tendenz zur Einebnung der Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen. Beide haben hinsichtlich ihrer Fähigkeit, bedeutsame Aussagen über die Wirklichkeit und Geschichte zu machen, innerhalb der Histoire(s) du cinéma den gleichen Stellenwert. Der Modus, in dem Godard seine Histoire(s) du cinéma als Beitrag zur Geschichte und zur Geschichtsschreibung verstanden wissen will, wird durch den 914 Oscar Wilde: The Critic as Artist (1981). In: Ders.: Intentions. New York 1905, S. 93–217, hier S. 128. 915 Jean-Luc Godard: Histoire(s) du cinéma, 2a. 916 Die Histoire(s) du cinéma bestehen aus vier Kapiteln zu je zwei Teilen mit den Titeln: 1a: Toutes les histoires (1988, 51 min.), 1b: Une Histoire seule (1989, 42 min.), 2a: Seul le cinéma (1997, 26 min.), 2b: Fatale beauté (1997, 28 min.), 3a: La Monnaie de l’absolu (1998, 27 min.), 3b: Une Vague Nouvelle (1998, 27 min.), 4a: Le Contrôle de l’univers (1998, 27 min.), 4b: Les Signes parmi nous (1998, 38 min.). Formal ist der Film eine unablässige Montage von Ausschnitten aus Filmsequenzen, Standbildern, Bildern aus unterschiedlichen Medien und Quellen, die zu einem wahrnehmungsphysiologisch überfordernden Bilderkaleidoskop führt. Die verschiedenen, hier genutzten Ausgaben werden wie folgt nachgewiesen: Der Bild-Text-Band Jean-Luc Godard: Histoire(s) du Cinéma. Paris 1998, im Folgenden unter der Sigle ›Hdc 1998‹ nachgewiesen; Jean-Luc Godard: Histoire(s) du Cinéma 1988–1998. 4 DVDs. Gaumont Video 2014, Nachweise im Folgenden unter der Sigle ›Hdc 2014‹; Jean-Luc Godard: Histoire(s) du Cinéma. The Complete Soundtrack. 5 CDs und 4 Textbände. München 1999, Nachweise im Folgenden unter der Sigle ›Hdc 1999‹. Übersetzungen werden für die Fälle, in denen sie vorliegen, in den Fußnoten zitiert.

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Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma

Rückgriff auf Fernand Braudel917 als Vertreter der geschichtswissenschaftlichen Annales-Schule mit deren Prinzip der »offenen Geschichte«918 in Kapitel 3b einerseits und auf Ludwig Wittgenstein in Kapitel 1b andererseits deutlich. Die Histoire(s) du cinéma beanspruchen, einen Beitrag zur Geschichts- und Filmwissenschaft leisten zu wollen, ohne jedoch deren modus operandi zu übernehmen: Godards Geschichtsauffassung kulminiert in seiner Vorstellung dessen, was Montage ausmacht.919 Das Verhältnis von Geschichte, Vergangenheit und Gegenwart wird von Godard durch den Begriff der Beziehung bestimmt.920 Auf die Frage in einem Zeit-Interview von 2011, ob die »Montage das bessere Mittel zur Analyse von Geschichte als die Sprache«921 sei, antwortet Godard: »Ja. Weil die Montage der Bilder die Linearität der Geschichte, die Linearität des Denkens und der Schrift durchbrechen kann.«922 Geschichte ist daher weniger verstehbar als vielmehr ansichtig zu machen: [C]ar il devenait dangereux, non pas de raconter des histoires, mais de voir de l’histoire. Mais pour la voir, encore faut-il l’étaler, et faire ce que Lévi-Strauss, Einstein ou Copernic ont fait. Si on dit que Copernic, vers 1540, a amené cette idée que le Soleil a cessé de tourner autour de la Terre, et puis si on dit qu’à quelques années près Vésale a publié De Corpis Humanis Gabria, alors on a Copernic dans un livre, et dans l’autre Vésale. […] Et puis, quatre cents ans plus tard, on a François Jacob, le biologiste, qui écrit: ›La même 917 »la dernière leçon/de Fernand Braudel/il ne raconte pas d’histoires/[…] le saint homme relève des traces/et prend des mesures« (Hdc 1999 3b 43–44). Dt.: »die letzte Lektion/von Fernand Braudel/er erzählt keine Geschichten/[…] der heilige Mann sichert Spuren/und nimmt Maß« (ebd. 54). Braudels Konzept der longue durée, die Entwicklungen über einen sehr langen und weit ausgreifenden Zeit-Raum verfolgt, ist strukturähnlich zu Godards Bestimmung der Montage, weit Entferntes in einen Zusammenhang zu bringen. 918 So der deutschsprachige Titel der Monographie Peter Burkes über die Annales Schule: Peter Burke: Offene Geschichte. Die Schule der Annales. Berlin 1991. 919 Für die Darstellung von Geschichte in filmischen Medien prägt Hayden White den Begriff der »historiophoty« als »the representation of history and our thought about it in visual images and filmic discourse« (Hayden White: Historiography and Historiophoty. In: The American Historical Review 93 (1988), Nr. 5, S. 1193–1199, hier S. 1193). So hilfreich eine solche Bezeichnung sein mag, um zwischen verschiedenen medial vermittelten Zugängen zur historischen Vergangenheit zu unterscheiden, so sinnvoll erscheint sie tatsächlich erst, wenn das Spezifikum und die – kognitive, emotionale und gesellschaftliche – Funktion eines solchen visuellen Zugriffs auf Geschichte erläutert wird. 920 Dieser methodische Ansatz findet sich auch in neueren geschichtswissenschaftlichen Arbeiten wieder. »Unter dem Eindruck der Realismuskritik hat sich der Charakter des Referenten verändert. Aus dem Gegenstand, dem der Historiker gegenüberstand, wurde eine Beziehung, die der Historiker zur Vergangenheit sucht. Fortan werden alle Aussagen über Vergangenes zu Aussagen über die Beziehung zu Vergangenem, aber nicht über die Vergangenheit selbst.« (Hans-Jürgen Goertz: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität. Stuttgart 2001, S. 118). 921 Katja Nicodemus: »Es kommt mir obszön vor«. Warum Jean-Luc Godard den Technikwahn des Kapitalismus für unanständig hält. Ein Gespräch über Geld, Europa, seinen Hund und sein neues Werk Film Socialisme. In: Die Zeit 06. 10. 2011. 922 Ebd., o. S.

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George Stevens und Elizabeth Taylor im Konzentrationslager

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année Copernic et Vésale.‹ et bien, là, il ne fait pas de biologie, Jacob, il fait du cinéma. Et l’histoire n’est que là. Elle est rapprochement. Elle est montage.923

Durch die assoziative Verknüpfung der von Godard montierten Bilder, Texte, Töne und Musik sind die Rezipierenden angehalten, aktiv in den Prozess der Bedeutungsherstellung einzutreten. Die folgenden Ausführungen haben eine Sequenz aus den Histoire(s) du cinéma zum Zentrum, in der popkulturelles Filmmaterial mit hochkultureller, christlicher Bildtradition und dokumentarischen Bildern aus dem Konzentrationslager Dachau zu einem Tableau montiert werden. In dieser Sequenz kommt Godards Auffassung der filmischen Verantwortung und Wirkungskraft für einen aktualisierten und differenzierten Diskurs über den Holocaust verdichtet zum Ausdruck. Nach der Skizze der filmtheoretischen Grundlagen von Godards (diskursivem) Filmschaffen folgt eine Analyse der in der Sequenz wirksamen Verfahren. Godard gelingt es durch diese spezifische Ästhetik, den im Holocaust Vernichteten einen Ort inmitten der (popkulturellen) Kulturgeschichte zu schaffen, ohne sie als narratives Movens zu integrieren.

6.1

George Stevens und Elizabeth Taylor im Konzentrationslager oder: Der Zusammenhang eines Lebens

Die am kontroversesten diskutierte und für den Themenkomplex Holocaust und Nationalsozialismus bedeutendste Sequenz924 der Histoire(s) du cinéma findet sich in Kapitel 1a Toutes les histoires (Hdc 2014 1a 47:16–47:59). Dort überblendet Godard fünf Bilder aus verschieden Kontexten: einen um 90 Grad gedrehten Ausschnitt aus Giotto di Bondones Gemälde Noli me tangere von 1306 (Hdc 2014 1a 47:44 und Abb. 9), zwei Filmausschnitte aus George Stevens A Place in the Sun 923 Jean-Luc Godard: HISTOIRE(S) DU CINÉMA. À propos de cinéma et d’histoire. In: Alain Bergala (Hg.): Jean-Luc Godard par Jean-Luc Godard. Band 2: 1984–1998. Paris 1998, S. 401– 407, hier S. 403, Herv. K.K., Nachweis im Folgenden unter ›Godard par Godard 2‹. Dt: »[D]enn es wurde gefährlich, nicht Geschichte zu erzählen, sondern die Geschichte zu sehen. Aber um sie zu sehen, muß man sie übereinanderschichten und machen, was Lévi-Strauss, Einstein und Kopernikus gemacht haben. Wenn man sagt, daß Kopernikus um 1540 die Idee aufgebracht hat, die Sonne drehe sich nicht mehr um die Erde, und wenn man dann sagt, daß um fast dieselbe Zeit Vesalius De humanis corporis fabrica veröffentlicht hat, dann hat man Kopernikus in dem einen Buch und in dem andern Vesalius. […] Und wenn vierhundert Jahre später der Biologe François Jacob schreibt: Kopernikus und Vesalius im selben Jahr … [sic!] ja, dann macht er damit nicht Biologie, sondern Jacob macht Kino. Und die Geschichte gibt es nur da. Sie ist Nahaufnahme. Sie ist Montage.« (Jean-Luc Godard: Sätze über Kino und Geschichte. Rede zum Adorno-Preis. In: CINEMA 41 (1996): Blickführung, S. 113–118, hier S. 114f.). 924 Im Folgenden auch als ›Stevens-Sequenz‹ bezeichnet.

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Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma

von 1951 (Ein Platz an der Sonne 56:32, Abb. 10 und Ein Platz an der Sonne 55:56, Abb. 11) und zwei Filmbilder, die in den Farben blau und rot nachkoloriert wurden. Die Farbgebung unterstützt den durch die Bilder erzeugten Gegensatz von Leben (= Wärme: rot) und Tod (= Kälte: blau). Auf einem der Filmbilder sind von einer Öffnung gerahmt Körper(-teile) zu sehen (Hdc 2014 1a 47:26). Das Bild ist so geschnitten, dass nicht erkennbar wird, um was für eine Öffnung es sich handelt. Es wurde von George Stevens bei der Befreiung des Lagers Dachau in Farbe aufgenommen, wie der Fernsehfilm Der Geist der Befreiung (2017) von Konstantin von zur Mühlen zeigt (Abb. 12).925 Das Still aus den Histoire(s) du cinéma zeigt denselben Bildausschnitt aus einem etwas anderen Blickwinkel. Auf dem anderen Filmbild (Hdc 2014 1a 47:40) ist ein ausgemergelter Körper zu sehen, von dem nicht eindeutig zu sagen ist, ob es sich um einen Toten handelt. Der Mund klafft weit auf, wie zu einem stummen Schrei926, was an Gemälde von Francis Bacon oder an Darstellungen von Christus als Schmerzensmann927 erinnert. Aus Giottos Bild Noli me tangere, das eine zentrale Szene der christlichen Glaubenslehre festhält,928 verwendet Godard nur ein kleines Detail, das um neunzig Grad gedreht ist, so dass am oberen wie am unteren Rand des Aus925 George Stevens war als Teil der Special Coverage Unit (SPECOU) unter der Kontrolle der Supreme Headquarters’ Allied Expeditionary Force (SHAEF) mit der Dokumentation entdeckter Kriegsverbrechen betraut. Die Bilder entstanden auf 16 mm Kodak Farbfilm. Das von Godard gewählte Bild (Hdc 2014 1a 47:26), das er irrtümlicherweise dem Lager Ravensbrück zuordnet, ist eine Aufnahme des in Dachau stehenden, mit Leichen beladenen Zugs aus Buchenwald. Konstantin von zur Mühlen montiert in seinem Dokumentarfilm Der Geist der Befreiung – Spirit of Liberation (2017) historische Filmaufnahmen verschiedener Kameramänner, unter anderem jenes Bild von Georges Stevens. 926 Das Motiv des unhörbaren Schreis findet sich in der Filmgeschichte im Zusammenhang mit der Erinnerung an den Holocaust in Sidney Lumets The Pawnbroker (1964). Dort ist gegen Ende des Films ein Close Up des Gesichts von Sol Nazerman (Rod Steiger) zu sehen, einem Juden, der Insasse eines nationalsozialistischen Lagers war und den seine Erinnerungen heimsuchen, was sich bei Nazerman in einem stummen Schrei zeigt, als ein Freund in seinen Armen stirbt. Lumet selbst nannte seinen Film insgesamt einen »stumme[n] Schrei der Überlebenden« (Sidney Lumet: Interview. In: Imaginary Witness. Hollywood and the Holocaust. R.: Daniel Anker. USA 2004) der Todeslager. 927 »Le cri est comme cristallisé sur son visage, un cri de cauchemar comme dans un tableau de Bacon.« (Céline Scemama: Histoire(s) du cinéma de Jean-Luc Godard. La force faible d’un art. Paris 2006, S. 115). Zum Motiv des Christus als Schmerzensmann vgl. beispielsweise die Kreuzigung Christi von Matthias Grünewald auf dem Isenheimer Altar. 928 Der auferstandene Jesus begegnet im Gewand des Gärtners Maria Magdalena. Sie erkennt ihn erst, nachdem er sie beim Namen nennt. Er verweigert ihr mit den Worten ›Rühre mich nicht an!‹ (So lautet Luthers Übersetzung des bekannten ›Noli me tangere‹ der Vulgata, das wiederum aus dem griechischen ›mè mou haptou‹ übersetzt ist. Siehe Die Bibel. Lutherübersetzung. Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984. Stuttgart 1999) die Berührung, »denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater«. (Johannes 20, 17). Er beauftragt sie aber, von seiner Auferstehung und bevorstehenden Himmelfahrt zu künden.

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Abb. 9: Berührungslose Berührung, Giotto di Bondone: Noli me tangere (1304–1306).

schnitts Hände zu sehen sind – mehr nicht. Die durch die Drehung von oben in den Bildkader reichenden Hände sind jene Maria Magdalenas, die im Original ihre Hände nach dem auferstandenen Christus ausstreckt. Von Christus sind in der Version Godards, nun am unteren Bildrand, ebenfalls nur die Hände zu sehen, als strecke er sie aus der Tiefe nach Maria Magdalena aus. Aus dem abwehrenden Christus bei Giotto wird hier ein bittender. Der Filmregisseur und Kameramann George Stevens stellt das Verbindungsglied für die von Godard montierte Sequenz dar.929 Innerhalb der Sequenz ist es der Kommentar Godards, der die Bilder Stevens mit dem Gemälde in einen als provokativ oder skandalös zu bezeichnenden Zusammenhang bringt. Er wird von Godard mit sonorer Stimme vorgetragen und lautet: »et si George Stevens n’avait utilisé le premier/le premier film en seize en couleurs/à Auschwitz et Ravensbrück/jamais sans doute/ le bonheur d’Elizabeth Taylor/n’aurait trouvé une place au soleil« (Hdc 1999 1a 929 Nach seinem Kriegseinsatz im Zweiten Weltkrieg hat George Stevens keine Komödien mehr gedreht, ein Genre, dem er zu Beginn seiner Karriere sehr zugeneigt war. The More the Merrier (1943) sollte seine letzte Komödie bleiben. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Erfahrungen in Dachau sich auf sein weiteres filmisches Schaffen auswirkten. Mit Das Tagebuch der Anne Frank (1959) hat Stevens überdies das Schicksal Anne Franks für die amerikanische Gesellschaft in massenmedialer Form zugänglich gemacht.

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Abb. 10: Angela Vickers Zusage und Entschwinden, Filmstill aus George Stevens: A Place in the Sun (1951).

15).930 Der Kommentar begleitet die Überblendung von A Place in the Sun und dem dokumentarischen Bild aus Dachau und verdoppelt so den gezeigten Zusammenhang (siehe Abb. 13 (S. 360) und Hdc 2014 1a 47:27) zwischen Stevens bezeugendem Kamerablick im Lager, dem Leiden der nationalsozialistischen Opfer und dem filmischen Glück von Elizabeth Taylor in einer modellierten Konstellation, die die Bilder nicht narrativ integriert. In die Lücke zwischen Maria Magdalena und Christus auf Giottos Gemälde überblendet Godard Elizabeth Taylor als Angela Vickers aus A Place in the Sun, die im Begriff ist, aus ihrer sitzenden Position aufzustehen, einen Arm nach oben, den anderen nach unten zu ihrem Liebhaber George Eastman (Montgomery Clift) ausgestreckt. Taylors Hand bewegt sich dabei auf die Hände Christus’ zu, als wolle sie sie berühren (siehe Abb. 14 (S. 364) und Hdc 2014 1a 47:52). Der See im Hintergrund – aus dem sie allerdings nicht steigt – erhöht den

930 Dt.: »und wenn George Stevens nicht als erster/den ersten 16-mm-Farbfilm/in Auschwitz und Ravensbrück/verwendet hätte/hätte wahrscheinlich das Glück von Elizabeth Taylor/ niemals einen Platz an der Sonne gefunden« (Hdc 1999 1a 29).

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George Stevens und Elizabeth Taylor im Konzentrationslager

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Abb. 11: Angela Vickers Geste der Zuwendung, Filmstill aus George Stevens: A Place in the Sun (1951).

vieldeutigen Symbolgehalt der Szene, ist das Wasser im christlichen Kontext doch mit der Taufe verbunden.931 In welchem Zusammenhang stehen die montierten Bilder aus Dachau zum christlichen Motiv des Noli me tangere und zum Hollywoodfilm der Nachkriegsunterhaltung? Wie lassen sich die Bilder aus dem Lager mit der Darstellung eines Hollywoodstars932 in einer Liebesszene und dem Ausschnitt aus der Be-

931 Auch das biblische Motiv der ›Susanna im Bade‹ ist durch den Kontext des Wassers mit aufgerufen. Siehe dazu Buch Daniel 13, 9–64. 932 Jacques Rancière liest diese Sequenz im Zeichen christlicher Erlösung und bezeichnet Elizabeth Taylor als einen gefallenen »Engel der Auferstehung« (Jacques Rancière: Eine Fabel ohne Moral. Godard, das Kino, die Geschichten. In: montage/av 14 (2005), Nr. 2, S. 158–177, hier S. 174), weil sie die »Auferstehung des Sünders selbst zeigt« (ebd., S. 173): »Elizabeth Taylor, die aus dem Wasser steigt, steht so für das Kino selbst, auferstanden aus dem Reich der Toten. Es ist der Engel der Auferstehung […], der aus dem Himmel der BILDER heruntersteigt, um dem Kino und seinen Heldinnen das Leben zurückzubringen.« (Ebd., S. 173f., Herv. im Original). Diese stark assoziative Ausdeutung interpretiert das tatsächlich Gezeigte in seiner symbolischen Bedeutung und belässt die Bilder damit in ihren narrativen Kontexten. Im Gegensatz dazu wird die Sequenz hier auf ihre Struktur hin untersucht, es geht weniger um Taylor als Person, sondern um die Funktionsstelle, die ihre Figur in Stevens’ Film und in der Godard’schen Sequenz einnimmt.

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Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma

Abb. 12: ›Todeszug aus Buchenwald‹, dokumentarisches Filmmaterial von der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau am 29. April 1945, Filmstill aus Konstantin von zur Mühlen: Der Geist der Befreiung – Spirit of Liberation (2017).

gegnung Maria Magdalenas mit dem auferstandenen Christus in Giottos Gemälde verbinden? Bevor in einer Analyse der Sequenz diese Fragen beantwortet werden, wird das Großprojekt der Histoire(s) du cinéma in seinen impliziten und expliziten Annahmen und den daraus resultierenden rhetorischen Strategien kurz dargestellt. Relevant sind dafür erstens Godards Anspruch an das Medium Kino und zweitens seine grundlegende Auffassung von Film als Montage mit einem ausdifferenzierten Konzept des filmischen Bildes. Im Anschluss daran wird drittens Godards Annäherungsweise an die Thematik des Holocaust in der Stevens-Sequenz untersucht.

6.2

Godards ›Filmtheorie‹: Anspruch und Scheitern des Mediums Film

Aus den Histoire(s) du cinéma lässt sich (insbesondere auf der Ebene des Kommentars) die These herauskristallisieren, dass das Kino sein Potential, zum Leitmedium des 20. Jahrhunderts zu werden, auf doppelte Weise verspielt hat.

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Godards ›Filmtheorie‹: Anspruch und Scheitern des Mediums Film

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Zunächst konnte das Kino, so Godard, seine Bestimmung, einerseits Verkörperung und andererseits zentrales Geschichtsmedium des 20. Jahrhunderts zu sein, nicht erfüllen, weil es an den neuralgischen Punkten der Geschichte nicht zugegen war: Die Filmkamera hat, mit wenigen Ausnahmen, bei den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, von Auschwitz bis zu den Balkankriegen der neunziger Jahre, weggesehen. Dies lastet schwer auf der Instanz cinéma, die sonst, wie keine andere, befähigt ist, das Jahrhundert zu enthalten.933

Grund für den endgültigen moralischen Wertverlust des Mediums ist in Godards Augen die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma sowie vieler anderer politisch, religiös und ideologisch Verfolgter durch die Nationalsozialisten: »la flamme s’éteindra définitivement à Auschwitz« (Hdc 1999 3a 9).934 Im Zuge dessen attestiert Godard dem fiktionalen Kino der 1920er bis 1940er Jahre, insbesondere La Règle du jeu (1939) von Jean Renoir und Charles Chaplins The Great Dictator (1940), eine prophetische Kraft, die kommenden Ereignisse der nationalsozialistischen Gewalttaten vorhergesehen zu haben. Godard will in beiden Filmen die (metaphorische) Thematisierung und Bebilderung der kommenden Schrecken erkennen: trente-neuf quarante quarante et un/trahison de la radio/mais le cinéma tient parole// parce que de Siegfried et M le maudit/au dictateur et à Lubitsch/les films avaient été faits/ n’est-ce pas//quarante quarante et un/même rayé à mort/un simple rectangle/de trentecinq millimètres/sauve l’honneur de tout le réel. (Hdc 1999 1a 11)935

Diese von Godard als prophetische Kraft bezeichnete Fähigkeit des Kinos, die Realität zu bebildern und dem Menschen vor Augen zu führen, geht jedoch mit der nationalsozialistischen Herrschaft verloren: Aus der Kinogeschichte seien »histoires du cinéma/avec des s/des SS« (Hdc 1999 1a 10)936 geworden. Während dieser Jahre ist das Kino von den Nationalsozialisten propagandistisch vereinnahmt und vermag daher nicht, die wirklich eintretende Gefahr zu erkennen und ihr filmisch etwas entgegenzusetzen. Während Europa sich in der Katastrophe befindet, bilden nur wenige Beispiele wie etwa Roberto Rossellinis Roma, città aperta (1945) und Robert Bressons Les dames du Bois de Boulogne (1945) eine 933 Klaus Theweleit: Bei vollem Bewußtsein schwindelig gespielt. In: Jean-Luc Godard: Histoire(s) du cinéma/Geschichte(n) des Kinos. DVD. Mit einem Begleitheft. Frankfurt am Main 2009, S. 3–31, hier S. 24. 934 Dt.: »die Flamme wird endgültig verlöschen/in Auschwitz« (Hdc 1999 3a 22). 935 Dt.: »neunundreißig vierzig einundvierzig/Verrat des Radios/aber das Kino hält Wort//weil von Siegfried und M dem Mörder/bis zum Großen Diktator/und bis zu Lubitsch/die Filme schließlich gemacht worden waren/nicht wahr//vierzig einundvierzig/selbst völlig zerschrammt/rettet ein einfaches Rechteck/von fünfunddreißig Millimetern/die Ehre alles Realen« (Hdc 1999 1a 25). 936 Dt.: »Histoires du cinéma/beide mit s/mit SS« (Hdc 1999 1a 25).

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Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma

Ausnahme – nur ihnen spricht Godard Widerstandspotential zu. Das Kino macht sich jedoch nicht nur durch fehlenden Widerstand, sondern vor allem auch durch das versäumte Bezeugen der katastrophalen Ereignisse der Konzentrationslager schuldig. Ihren Anfang nimmt die – ideologische – Niederlage des Mediums Kino in Godards Augen schon mit dem Ersten Weltkrieg. Der technische Fortschritt des Kinos sei stets zu kriegsrelevanten Zwecken vereinnahmt worden. Seine Verbreitung und zunehmende massenmediale Rezeption sei vor allem durch den Nährboden kriegerischer Propaganda einerseits und durch die zunehmende Industrialisierung und Vereinnahmung durch Hollywood und das Fernsehen andererseits vorangetrieben worden: »le cinéma est une industrie/et si la première guerre mondiale/avait permis au cinéma américain/de ruiner le cinéma français/avec la naissance de la télévision/la deuxième lui permettra de financer/ c’est à dire de ruiner/tous les cinémas d’Europe« (Hdc 1999 1a 16).937 Das Kino habe »its scientific heritage, documentary power, and artistic calling«938 zugunsten seiner Popularität verraten, »in dem [sic!] es seine Seele an die Erzählindustrie des Hollywood-Kinos verkauft habe.«939 Dass Godard in der zentralen Sequenz zur Bezeugung der nationalsozialistischen Konzentrationslager mit George Stevens gerade auf einen Vertreter des ›klassischen Hollywood‹ zurückgreift, zeigt, dass sein Filmprojekt zum einen die holzschnittartige Opposition von Hollywood und Autorenkino unterläuft und zum anderen die pluralistische Fülle der tatsächlichen Kinogeschichte beweist. Die Histoire(s) du cinéma stellen demnach zugleich Godards ›Abrechnung‹ mit dem ökonomisch gesteuerten Hollywood-Kino und eine performative Realisierung des dem Medium innewohnenden, ungenutzten Potentials dar. Daraus ergibt sich der paradoxe Grundgedanke der Histoire(s) du cinéma: »Sie wollen zeigen, dass das Kino zusammen mit seiner Bestimmung zur Präsenz seine historische Aufgabe verraten hat. Aber die Darlegung dieser Bestimmung und des Verrats gerät zum Beweis ihres Gegenteils.«940 937 Dt.: »eine Industrie/und wenn der Erste Weltkrieg/dem amerikanischen Kino erlaubt hatte/ das französische Kino zu ruinieren/sollte der Zweite mit der Entstehung des Fernsehens/ihm erlauben, das gesamte europäische Kino/zu finanzieren, das heißt zu ruinieren« (Hdc 1999 1a 30). 938 Michael Witt: Jean-Luc Godard, Cinema Historian. Bloomington 2013, S. 119. 939 Vinzenz Hediger: Eine Vorbemerkung zu Jacques Rancières »Eine Fabel ohne Moral. Godard, das Kino, die Geschichten«. In: montage/av 14 (2005), Nr. 2, S. 153–157, hier S. 155. 940 Rancière, Eine Fabel ohne Moral, S. 176. Céline Scemama bezeichnet diese Fähigkeit des Kinos als »force faible« (Scemama, Histoire(s) du cinéma de Jean-Luc Godard), dt.: »schwache Kraft« (Übers. D.K.). Entsprechend zeigt ein Textinsert aus Kapitels 3a Anspruch und Wirklichkeit von Godards Unternehmen: »qu’est-/ce/que/le/cinéma//rien//que/veutil//tout//que/peut-il//quel/que/chose« (Hdc 2014 3a 07:48–09:28; Hdc 1998 3a 43–45), dt.: »Was ist das Kino//Nichts//Was will es//Alles//Was kann es//Etwas« (Übers. D.K.).

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Denkende Montage

Zentral für Godards filmisches Schaffen und die eingangs skizzierte Sequenz ist seine Auffassung des filmischen Bildes und der Montage als der zentralen Errungenschaft des Mediums Film. Dabei geht es um die Art der Verknüpfung mehrerer Filmbilder. Der Übergang vom Einzelbild zum bewegten Bild im Film ist grundlegend durch zwei Arten der Kontextualisierung möglich: durch Montage und durch Narration.941 Entgegen der Einbindung des Filmbildes in eine teleologische, sinnfestsetzende Narration, die ikonische Bilder erzeugt, setzt Godards Konzept der Montage, das er als filmisches Denken bezeichnet, auf das Auslösen der Bilder aus ihren ursprünglichen Narrativen zugunsten vielfältiger Ent- und Rekontextualisierung.942

6.3

Denkende Montage

Die filmische Montage stellt für Godard das spezifische Merkmal des Films dar.943 Sie »ist die einzige und genuine Erfindung des Kinos, sie ist die ›Antwort‹ auf den Perspektivenzwang der kanonisierten Malerei«.944 Montage ist bei Godard die Bezeichnung für sehr unterschiedliche Phänomene. Sechs Aspekte der ›Montage‹ werden im Folgenden beleuchtet. 941 Montage und Narration sind hier keine Bezeichnungen für die Bild- (Montage) und die Sprachebene (Narration), sondern werden als Begriffe für Verknüpfungsverfahren verwendet, die auf der Bild-, der Sprach- und der Tonebene bzw. der Ebene der Musik gleichermaßen zum Einsatz kommen können. 942 »Der Konflikt zwischen der phänomenologischen Unmittelbarkeit des Filmbildes und seiner narrativen Artikulation […] ist für die filmische Arbeit von Godard von zentraler Bedeutung. Immer wieder kommt Godard auf den Gegensatz von vorsprachlicher Unmittelbarkeit und sprachlicher Artikulation, von Präsenz (des Filmbildes) und Aufschub (durch dessen Einbettung in ein Narrativ) zurück.« (Hediger, Eine Vorbemerkung zu Jacques Rancières »Eine Fabel ohne Moral. Godard, das Kino, die Geschichten«, S. 155). 943 Dass Godards Position keinen gänzlich neuen Gedanken innerhalb der Filmtheorie darstellt, ist beim Blick auf die weite Definition von Montage als Anordnung von Filmbildern trivial. Die Filmtheorie beschäftigt sich von ihren Anfängen an mit dem Phänomen der Montage. Die russischen Regisseure der Stummfilmzeit haben intensive Studien zur Montage vorgelegt: Sergei Eisenstein mit der Differenzierung der fünf Montagetypen »metric, rhythmic, tonal, overtonal, intellectual« (Michael Witt: Montage, My Beautiful Care, or Histories of the Cinematograph. In: Michael Temple, James S. Willians (Hg.): The Cinema Alone. Essays on the Works of Jean-Luc Godard 1985–2000. Amsterdam 2000, S. 33–50, hier S. 37) und seinen »claims for film’s unique power to articulate thought outside language« (ebd., S. 36); Dziga Vertov in seinem »quest to perfect an extra-linguistic, visual, symphonic-cinematic form« (ebd.) und Wsewolod Pudowkin, der die Montage als die »Grundlage der Filmkunst« (Wsewolod Pudowkin: Über die Film-Technik [1928]. Zürich 1961, S. 7) bestimmt. Für eine ausführliche Darstellung von Godards Verhältnis zu Eisenstein siehe den Aufsatz von Michael Witt, Montage, My Beautiful Care, or Histories of the Cinematograph. 944 Hanns Zischler: Dialog mit einem Dritten. In: Harun Farocki, Kaja Silverman (Hg.): Von Godard sprechen. Berlin 2002, S. 6–11, hier S. 9.

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Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma

Montage als Ideal

Als programmatischer Begriff ist die Montage bei Godard zunächst als – vielleicht niemals zu erreichendes – Ideal zu verstehen, das ein theoretisches Konzept des Mediums Film mit relevanten medienästhetischen und -teleologischen Implikationen darstellt. Godard entwirft eine teleologische Entwicklung der Kunst der Moderne, die mit Manets Verwendung des Bildkaders ihren Anfang nimmt und mit dem Kino Godards945 seine Vollendung findet:946 »et qu’avec Édouard Manet commence […] le cinématographe/c’est-à-dire des formes […] très exactement une forme qui pense« (Hdc 1999 3a 9, Herv. K.K.).947 (2)

Montage als Merkmal filmischer Medienspezifik

Godards Konzeption der Montage zieht eine dezidierte Medienspezifik nach sich: Das filmische Bild folgt eigenständigen Verknüpfungs- und Bedeutungsregeln, die nicht mit jenen anderer Medien in Deckung zu bringen sind und ist konstitutiv durch semantische Offenheit gekennzeichnet: Die Ausdifferenzierung eines autonomen malerischen Feldes vollzog sich insbesondere durch die Abwehr alles ›Literarischen‹ im weitesten Sinne. […] Daraus erklärt sich die zunehmende Tendenz zur ›Offenheit‹ und zum ›Unvollendeten‹: Beides unterlief die Möglichkeit, dem Bild eine bestimmte Aussage abfordern zu können.948

Damit stellt das ›Denken‹ der Montage eine Alternative zu den herrschenden Dispositiven sprachlicher Bedeutungszuweisung949 und der Perspektive in der 945 Insbesondere mit den Histoire(s) du cinéma, die sowohl auf der Materialebene (weil weitgehend aus Videostücken zusammengestellt) und auf der Ebene der Ausdehnung (mit über vier Stunden Länge) die prototypische Definition von Film sprengt. 946 »L’idée que je défends dans l’Histoire du cinéma que je prepare, Quelques histoires à propos du cinéma, c’est que le montage fait la spécifité du cinéma, et sa différance par rapport à la peinture et au roman. […] son originalité, qui n’aura jamais vraiment existé, comme une plante qui n’est jamais vraiment sortie de terre, c’est le montage.« (Jean-Luc Godard: Le montage, la solitde et la liberté. In: Godard par Godard 2, S. 242–248, hier S. 242). 947 Dt.: »und mit Édouard Manet beginnt […] der Kinematograph/das heißt die Formen […] genau genommen eine Form, die denkt« (Hdc 1999 3a 22). 948 Michael Lüthy: Bild und Blick in Manets Malerei. Berlin 2003, S. 13. 949 Diese Bestimmung kommt den Überlegungen Roland Barthes über das fotografische Bild als »Botschaft ohne Code« nahe (Roland Barthes: Rhetorik des Bildes. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt am Main 1990, S. 28–46, hier S. 39; 40). Sie eröffnet eine »neue Kategorie der Raum-Zeitlichkeit: örtlich unmittelbar und zeitlich vorhergehend« (ebd., S. 39), wird zu einer »reale[n] Irrealität« (ebd., S. 39, Herv., auch in den folgenden Zitaten, im Original), eine »unlogische Verquickung zwischen dem Hier und dem Früher« (ebd., S. 39). Damit stellt sie eine »Realität [dar,] vor der wir geschützt sind« (ebd., S. 39). Barthes unterscheidet die Fotografie als »Dagewesensein« (ebd., S. 40) damit wesenhaft vom Film, den er als »Dasein[…] der Sache« (ebd., S. 40) bestimmt, was ebenfalls Godards Auffassung des Films entspricht. Denn Barthes’ Ansicht, der Fotografie hafte von

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Denkende Montage

Malerei (als Instrument zur Implementierung von Bedeutungs- und Hierarchiestrukturen) dar. Die Montage erzeugt einen eigenen, anderen Verweisungszusammenhang als die narrative und die logisch-diskursive Verknüpfung. Ihre ›Übersetzung‹ in eine propositionale, logisch-begriffliche Form kann nicht verlustfrei gelingen. Die exzessive Nutzung von Sprache in den Histoire(s) du cinéma widerspricht dieser Auffassung nicht. Im Gegenteil: Godard setzt Sprache und Texteinblendungen – häufig auch als Interaktion zwischen Schrift- und Tonebene in Form von Wortspielen – auf eine Weise ein, in der die Verweisungsfunktion von Sprache außer Kraft gesetzt, Bedeutung irritiert bzw. ihre Tendenz zur Eindeutigkeit zugunsten von Klang und Assoziation unterlaufen wird.950 Dies zeigt sich beispielsweise an einem Textinsert aus Kapitel 1b, das ein synästhetisches Sprachspiel evoziert und zugleich die Deutungshoheit des kulturell ›schweren Zeichens‹ (christlicher) Erlösung aufruft: »l’image//viendra//oh!/temps//oh!/temps//l’image/viendra/au/temps/de/la/résurrection« (Hdc 2014 1b 05:34–06:46, 21:00–23:55; Hdc 1998 1b 166–169, 207–211, 216).951 Die Texteinblendung variiert das biblische Versprechen, wonach der Erlöser auferstehen und die Gläubigen ins Paradies führen wird. An die Stelle des Erlösers wird hier das Filmbild gesetzt. Hörte man das Insert nur, bliebe es bei der bloßen Ersetzung des Erlösers durch das Bild. Die Lautschrift ersetzt aber zusätzlich das ›aux‹ durch den Ausruf ›oh!‹, der sich als ironische Brechung dieser Prophezeiung lesen lässt. Das wiederholte Einblenden suggeriert ein Stottern, das die Prophezeiung zusätzlich ins Stocken geraten lässt. Wenn aber das je neue, aktuelle Bild an die Stelle des Erlösers rückt, ist die Erlösung aus dem transzendenten Jenseits in eine sehr konkrete, stets aktualisierte, gegenwärtige Zeitlichkeit ein- und an einen bestimmten Kontext gebunden. Zudem wird durch das unablässige Präsentieren von Bildern in den Histoire(s) du cinéma das im Satz enthaltene Bedingungsverhältnis umgekehrt: weil die Bilder da sind, steht die Erlösung nicht etwa noch aus, sondern ist vielmehr in der bildlichen Darstellung – ganz ohne transzendente Übersteigung – schon realisiert. Die Betonung einer Erlösungsgegenwart verweist die Rezipierenden erneut auf das von Symbolisierung zunächst freie Medium des Bildes – »ce n’est/pas/une image/juste//juste Natur aus »etwas Tautologisches« (Roland Barthes: Die helle Kammer. Frankfurt am Main 1989, S. 13) an, würde Godard für den Film in Anspruch nehmen, wie das Zitat aus den Histoire(s) du cinéma zeigt: »le cinéma projetait/et les hommes ont vu/que le monde était là« (Hdc 1999 1b 47), dt.: »das Kino projizierte/und die Menschen haben gesehen/daß die Welt da war« (Hdc 1999 1b 59). 950 Siehe dazu auch seine Unterscheidung zwischen ›langue‹ und ›langage‹ in Godard, HISTOIRE(S) DU CINÉMA. À propos de cinéma et d’histoire, vor allem S. 403. 951 Dt.: »Das Bild wird kommen oh! Zeit oh! Zeit das Bild wird kommen zur Zeit der Auferstehung« (Übers. D.K.).

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Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma

une/image/juste une/image« (Hdc 2014 1b 26:31; Hdc 1998 1b 224)952 – ohne jedoch die diskursive Teilhabe an einem der wirkmächtigsten Diskurse des Abendlandes und seiner semantischen Tragweite aufzugeben. Die rhetorische Überblendung von christlichem und filmästhetischem Diskurs parallelisiert beide und führt, wie in den Ausführungen zu Krachts Faserland gezeigt, zu einer gegenseitigen semantischen ›Infizierung‹: der Fiktion kommt die Semantik religiöser, heilsversprechender Kraft im transzendentalen Sinn zu und an die Semantik des religiösen Glaubens haftet sich der fiktionale Status an. Der Rückgriff auf die religiöse Rhetorik unterstützt zudem die Medienspezifik des Filmbilds als einer alternativen Welt- und Geschichtserfahrung, die nicht der linguistischen Aussagenlogik folgen muss. Godard zitiert dafür unmarkiert Ludwig Wittgenstein, nach dem eine religiöse Aussage zwar einen propositionalen Gehalt besitzt, ihr jedoch kein Wahrheitsgehalt zuzuschreiben ist:953 le cinéma comme le christianisme/ne se fonde pas sur une vérité historique/il nous donne un récit/une histoire et nous dit maintenant crois/non pas accorde à ce récit/à cette histoire la foi qui convient/de l’histoire/mais crois quoiqu’il arrive/et ce ne peut être le résultat/de toute une vie/tu as là un récit/ne te comporte pas avec lui/comme envers les autres récits historiques//donne-lui une place toute autre dans ta vie. (Hdc 1999 1b 51f.)954 952 Interessant wäre es, der Parallelität zu Magrittes La trahison des images nachzugehen, dessen Bildtext »Ceci n’est pas une pipe« eben jenes Verhältnis von Bild und Realität unter negativen Vorzeichen ins Visier nimmt. 953 Ludwig Wittgenstein spricht in seinen Vermischten Bemerkungen vom spezifischen religiösen oder biblischen Für-Wahr-Halten. Matthias Kroß beschreibt dies folgendermaßen: »Diesen anderen Modus des Für-wahr-Haltens zeigt der Glaube dadurch an, daß er etwas dem empirischen Wahrheitskriterium sich Widersetzendes, scheinbar Paradoxes sagt: ›glaube, durch dick und dünn und das kannst Du nur als Resultat eines Lebens. Hier hast Du eine Nachricht, – verhalte Dich zu ihr nicht, wie zu einer anderen historischen Nachricht! Laß sie eine ganz andere Stelle in Deinem Leben einnehmen. – Daran ist nichts Paradoxes!‹ (VB 494) ›Paradox‹ wäre die religiöse Botschaft, wenn es sich um ein referentielles Sprachspiel handelte. Aber gerade in dieser offenkundigen Unhaltbarkeit des Behaupteten liegt ihr eigentlicher Sinn, den freilich nur der Gläubige aufnehmen kann.« (Matthias Kroß: »Glaube Du! Es schadet nicht.« Ludwig Wittgensteins Vermischte Bemerkungen zur Religion. In: Wulf Kellerwessel, Thomas Peuker (Hg.): Wittgensteins Spätphilosophie. Analysen und Probleme. Würzburg 1998, S. 257–292, hier S. 282). Durch die Übernahme dieser religiösen Figur sind die Histoire(s) du cinéma vom Anspruch befreit, »to provide the all-important critical elements of historical discourse: evaluation of sources, logical argument, or systematic weighing of evidence.« (Robert A. Rosenstone: History in Images/History in Words: Reflections on the Possibility of Really Putting History Onto Film. In: The American Historical Review 93 (1988), Nr. 5, S. 1173–1185, hier S. 1177). 954 Dt.: »das Kino wie das Christentum/ist nicht auf einer historischen Wahrheit gegründet/es liefert uns eine Erzählung/eine Geschichte/und sagt uns jetzt: glaube/miß dieser Erzählung, dieser Geschichte/nicht die Glaubwürdigkeit zu/die der Geschichte zukommt/sondern glaube was auch geschieht/und dies kann nur das Ergebnis eines ganzen Lebens sein/du hast hier eine Erzählung/verhalte dich zu ihr nicht/wie zu einer anderen historischen Nachricht// laß sie eine ganz andere Stelle/in deinem Leben einnehmen« (Hdc 1999 1b 63f.). Das Zitat

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Denkende Montage

Einen äquivalenten Aussagemodus beansprucht Godard für das filmische Bild: »le cinéma projetait/et les hommes ont vu/que le monde était là/un monde encore presque sans histoire/mais un monde qui raconte« (Hdc 1999 1b 47).955 Dazu greift er auf die Rhetorik christlicher Erlösung zurück, wenn er betont »que l’image est d’abord/de l’ordre de la rédemption/attention, celle du réel« (Hdc 1999 3b 45).956 Erlösung ist hier nicht als Erlösung auf ein Transzendentes hin zu denken, sondern – liest man das ›Reale‹ im Sinne Lacans als das Vorsymbolische – vielmehr als (Her-)Auslösung der in symbolisch-schließenden Narrationen gefangenen Dinge und Menschen und ihre Überführung in eine andere Art des Zusammenhangs, den Godard als Fiktion oder als Modellieren bezeichnet. Ich werde unten darauf zurückkommen. Godard adaptiert die Terminologie der Erlösung – und der Transsubstantiation957 – daher unter einer inhaltlichen wie sprachlichen Verschiebung und Zurücknahme. Die Histoire(s) du cinéma stellen damit alternative Möglichkeiten dar, Geschichte (auch) außerhalb der kausalen Verkettung von Ereignissen zu zeigen. Das Kino als Form, die denkt, operiert im Modus einer poetischen Verknüpfung, die die Vielstimmigkeit des Wirklichen erhält.958 (3)

Montage als Technik der Überblendung – Das Dritte (Bild)

Godard trägt dieser Vielstimmigkeit Rechnung, indem er in den Histoire(s) du cinéma den Schnitt zur Überlagerung mehrerer Bild- und Tonebenen steigert und den Betrachter in diese Struktur der Verknüpfung integriert. Auf der Ebene des Materials und der Technik bedeutet Montage daher die Zusammensetzung und Schichtung von Einzelbildern durch den Schnitt. Das Bildmedium Video, das Godard in seinen Histoire(s) du cinéma vielfach eingesetzt hat, bietet vor allem die Möglichkeit, Überblendungen zu erzeugen, die eine gleichzeitige An-

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stammt, fast wortgetreu, aus: Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlass. Hg. von Georg Henrik von Wright. Frankfurt am Main 1977, S. 67. Dt.: »das Kino projizierte/und die Menschen haben gesehen/daß die Welt da war/eine Welt noch fast ohne Geschichte/aber eine Welt, die erzählt« (Hdc 1999 1b 59). Dt.: »daß das Bild in erster Linie/unter die Kategorie der Erlösung fällt/aber aufgepaßt, der des Realen« (Hdc 1999 3b 55). Auf die Transsubstantiationslehre spielt der Kommentar »Le Christ est-il dans l’Eucharistie en réalité ou symboliquement? Un homme filmé est-il un homme réel? ou déjà la fiction d’un homme?« (Hdc 2014 1b 41:12) an. Die Montage-Begriffe von Godard und Kluge kommen sich hier sehr nahe, wenn Kluge betont, dass er »Montage in meinen Texten oder Filmen weder dazu gebrauche, Zusammenhänge zu verstärken, noch, um etwas rednerisch zu verkaufen. Die Montage ist vielmehr Ausdruck der Autonomie dessen, was ich beschreibe, der Versuch, etwas schwer Verständliches in seinem Eigenleben zu erhalten.« (Alexander Kluge: Der Autor als Dompteur oder Gärtner. Rede zum Heinrich-Böll-Preis 1993. In: Ders.: Personen und Reden. Berlin 2012, S. 23–40, hier S. 25f.).

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Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma

sicht mehrerer Bilder ermöglichen. Montiert wird in diesem Fall nicht an- oder nacheinander, sondern übereinander. Am Videoschneidetisch aber können Bilder auch derart schnell geschnitten, das heißt in höchster Geschwindigkeit ein- und wieder ausgeblendet werden, dass ein Flackern entsteht, so dass das Auge den visuellen ›Inhalt‹ kaum verarbeiten, geschweige denn semantisch decodieren kann. Aus diesen Überlagerungen und Geschwindigkeitssteigerungen entsteht das von Godard so genannte dritte Bild. Die für die Histoire(s) du cinéma typischen und inflationären Überblendungen sowohl auf der visuellen als auch auf der akustischen Ebene verunsichern das narrativ geschulte Auge. Das eben gesehene Bild entgleitet dem Betrachter durch Aus- oder Einblenden und kann kaum erkannt werden: Das schnelle Aufrufen bestimmter Bildkomplexe […] verrückt etwas in unserer Wahrnehmung; jede Überblendung ändert das Bild so sehr, daß es seinen Herkunftsort verliert; Video kann Bilder so schichten, daß das überblendete Bild zwar sichtbar bleibt, aber mit dem überblendenden eine neues bildet, ein drittes Bild (das Godard auch so nennt); und das wir vorher nicht sahen. Das wir vielleicht auch jetzt nicht sehen, aber denken können, um uns ein neues Bild zu machen. Mit dem alten Kinohirn, das irgendwo im Narrativen festhängt, können wir die Histoire(s) du cinéma tatsächlich nicht sehen.959

Die Histoire(s) du cinéma zu sehen bedeutet, einen Verzicht auf konventionelle Verfahren der Bedeutungserzeugung durch Kamerabewegung, -stillstand, Zoom oder Close Ups. Das zentrale Verfahren der Überblendung macht Bilder vielmehr buchstäblich transparent für ein dahinterliegendes Bild. In den Ein-, Aus- und Überblendungen entstehen Augenblicke, in denen zwei – oder mehrere – Bilder tatsächlich visuell neue Bilder erzeugen, weil die Bildräume zusammen interagieren und neue geometrische Konstrukte erzeugen (wie beispielsweise die nach Elizabeth Taylor ausgestreckten Arme Christus’ und Maria Magdalenas). Die Überblendungen zeigen so zwei einzelne und zugleich die vielen sich unablässig erzeugenden dritten Bilder, die in der Überblendung miteinander interagieren. Sie sind ephemeren Charakters, die der augenblickhaften Verschmelzung zweier Seheindrücke, welche im nächsten Moment möglicherweise schon wieder verschwunden sind, entstammen: superimposition involves a constant interplay of the patent and the latent – it enacts a process of thought that is not reducible to what coalesces on the screen. Each short-lived, concrete image is shadowed by the multiplicity of possible manifestations into which it might extend or recede.960

959 Theweleit, Bei vollem Bewußtsein schwindelig gespielt, S. 28. 960 Rick Warner: Difficult work in a popular medium: Godard on ›Hitchcock’s method‹. In: Critical Quarterly 51 (2009), Nr. 3, S. 63–84, hier S. 81.

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Der mehrfache Tempowechsel von Zeitlupe (und verlangsamtem Ton), über schnelle Schnitte hin zum überfordernden Flackern von Einzelbildern, entwirft ein visuelles Konzept von Erinnerung, das sich selbst sichtbar macht: als wechselnder Rhythmus von Gegenwärtigkeit und dem Einbruch von etwas anderem in momenthaften Bildern. Die dort präsentierte Vorstellung davon, wie Vergangenes mit dem Gegenwärtigen interagiert, deckt sich mit Walter Benjamins Auffassung: »Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.«961 (4)

Montage als Verfremdung

Godards Montagen lassen sich als filmische Poetik der Verfremdung (ostranenie)962 im Sinne Sˇklovskijs fassen:963 Erst das Medium Film vermag, dem Begriff der Konstellation Adornos strukturähnlich, die »Dinge so zu zeigen, wie sie sind«:964 »le cinéma projetait/et les hommes ont vu/que le monde était là« (Hdc 1999 1b 47).965

961 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, 2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, S. 691– 704, hier S. 695. 962 Auf die Schwierigkeiten, den Begriff des Ostranenie bei Sˇklovskij zu fassen, weisen Renate Lachmann: Die ›Verfremdung‹ und das ›neue Sehen‹ bei Viktor Sˇklovskij. In: Poetica 3 (1970), S. 226–249 und Frank Kessler: Ostranenie. Zum Verfremdungsbegriff von Formalismus und Neoformalismus. In: montage/av 5 (1996), Nr. 2, S. 51–65 hin. Sˇklovskij verwendet den Begriff nicht immer trennscharf und er setzt ihn zur Beschreibung von Phänomenen auf kategorial unterschiedlichen Ebenen ein: »einmal als ästhetisches Verfahren innerhalb eines Textes […], dann als allgemeines Gesetz der historischen Formenentwicklung, schließlich als Mittel, um Kunst und Nicht-Kunst voneinander zu unterscheiden« (Kessler, Ostranenie, S. 56). 963 Das amerikanische Hollywoodkino gilt dabei als narrative Norm, der im Diskurs die Deutungshoheit zukommt. Es wird dabei gleichermaßen als historisches Faktum und als heuristische, kategoriale Größe konzipiert, die nicht von einer neuen Norm – etwa Godards Montagepraxis – abgelöst, sondern lediglich durch verfremdende Abweichungen herausgefordert wird. Damit ist Godards Position einem Strang der neoformalistischen Filmtheorie nahe, in der von zentraler Bedeutung ist, »daß die Norm nicht mehr von den abweichenden Formen abgelöst wird. Der Hollywood-Film wird im Gegenteil als eine transhistorische Norm den Analysen verschiedener anderer Praktiken unterlegt« (Kessler, Ostranenie, S. 61). Eine solche Auffassung sichert Godard den Standpunkt desjenigen, dessen Verfahren stets auf der Seite der Herausforderung des Systems operieren und selbst keine Gefahr laufen, ihrerseits zu Automatismen zu werden. 964 André Bazin: Farrebique oder das Paradox des Realismus. In: montage/av 18 (2009), Nr. 1, S. 169–174, hier S. 170. 965 Dt.: »das Kino projizierte/und die Menschen haben gesehen/daß die Welt da war« (Hdc 1999 1b 59).

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Le montage permettait de voir des choses et non plus de les dire, c’était ça qui était nouveau. On pouvait voir que le patron volait les ouvriers, il ne suffisait pas de le dire alors effectivement. Arriver à montrer que les patrons volaient les ouvriers sans le dire, devenait évident… ça devenait évident que le patron était un mauvais type ou je ne sais pas quoi. Mais le voir comme on dit, c’est clair, on le voit.966

Der Topos des ›Zu sehen Gebens‹, den Godard für die filmische Montage in Anspruch nimmt, weil sie die Dinge aus ihren konventionalisierten Bedeutungen und ihrer automatisch gewordenen Wahrnehmung herauslöst, ist auch ein zentraler Bestandteil von Sˇklovskijs Auffassung der Ostranenie: »Nur die Erschaffung neuer Formen der Kunst kann dem Menschen das Erlebnis der Welt wiedergeben und die Dinge wiedererwecken […]. Unumgänglich ist die Erschaffung einer neuen, einer ›sperrigen‹ (ein Wort Krucˇenychs) Sprache, die nicht zum Wiedererkennen, sondern zum Sehen bestimmt ist.«967 Denn: »Das Gewohnte wird nicht wahrgenommen, nicht gesehen, es wird nur wiedererkannt.«968 Sˇklovskij beschreibt in seinem Aufsatz »Literatur und Kinematograph«, von der Literatur(-wissenschaft) und damit von einem sprachlichen (Text-)Modell für die Beschreibung von Kunst her argumentierend, mögliche innertextliche Verfahren des ›Fremd-Machens‹: Der Dichter nimmt das Schild von den Dingen […]. Die Dinge erheben sich […] und nehmen mit den neuen Namen ein neues Aussehen an. Der Dichter vollzieht eine semantische Verschiebung, er zieht den Begriff aus der Reihe, in der er sich gewöhnlich befindet, heraus und setzt ihn mit Hilfe des Wortes (der Trope) in eine andere Bedeutungsreihe, wobei wir die Neuheit dessen spüren, daß sich der Gegenstand in einer neuen Reihe befindet.969

Eine solch andere, neue Bedeutungsreihe kann nicht nur durch sprachliche Neubenennung oder -kontextualisierung, sondern – übertragen auf das Medium Film – durch spezifisch filmische Mittel der Kadrierung, des Schnitts und der Überblendung unerwarteten Materials erzeugt werden. In diesem Sinn ist das spezifische Zeigen, das die Montage vollzieht, mehr als eine Verdopplung von Welt. Durch diese bestimmte Weise des Zeigens soll etwas Neues, Unvertrautes zu 966 Jean-Luc Godard: Introduction à une véritable histoire du cinéma. Tome 1. Paris 1980, S. 175f. Dt.: »Die Montage erlaubte es, Dinge zu sehen und sie nicht nur auszusprechen. Das war das Neue. Man konnte sehen, daß die Bosse die Arbeiter bestahlen, es wurde evident, ohne daß man es aussprechen mußte. Es wurde evident, daß der Boss ein übler Typ war. Wenn man etwas sieht, sagt man: es ist klar, man siehts.« (Jean-Luc Godard: Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos. Frankfurt am Main 1992, S. 177, Herv. K.K.). 967 Lachmann, Die ›Verfremdung‹ und das ›neue Sehen‹ bei Viktor Sˇklovskij, S. 226. 968 Ebd., S. 226. 969 Viktor Sˇklovskij: Literatur und Kinematograph. In: Aleksandar Flaker, Viktor Zmegac (Hg.): Formalismus, Strukturalismus und Geschichte. Zur Literaturtheorie und Methodologie in der Sowjetunion, CSSR, Polen und Jugoslawien. Kronberg 1974, S. 22–41, hier S. 28, Herv. K.K.

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Denkende Montage

sehen sein, das zu einer außersprachlichen Erkenntnis führt: Zu-sehen-geben heißt hier, »ein[en] andere[n] Moment von Realität«970 zu präsentieren, nämlich »Fiktion«971 herzustellen, die Godard als »Moment der Kommunikation«972 beschreibt, der die Überwindung von Gleichgültigkeit und den Übergang vom bloßen Dokument zur engagierten Fiktion markiert: Es ist der Moment, wo man das Beweisstück akzeptiert, wo es mehr ist als nur ein gleichgültiges Beweisstück. Sobald man sich interessiert, ist Fiktion im Spiel. Der Blick macht die Fiktion. […] Der Blick ist die Fiktion […]. Die Fiktion ist nämlich der Ausdruck des Dokuments, das Dokument ist der Eindruck. Eindruck und Ausdruck sind zwei Momente einer Sache. Ich würde sagen, der Eindruck geht vom Dokument aus. Aber wenn man das Dokument betrachten muß, in dem Augenblick drückt man sich aus. Und das ist Fiktion. Aber die Fiktion ist genauso real wie das Dokument.973

Bemerkenswerterweise formuliert Kluge sein Erzählanliegen auf ähnliche Weise: »Man muss die Fakten zu einer Erzählung zusammenfügen. Erlöst die Fakten von der menschlichen Gleichgültigkeit!«974 Mit dieser Konzeptionalisierung von Fakt/Dokument und Fiktion wird der oft oppositionell geführte Diskurs um die beiden Begriffe hinfällig. Denn sobald ich ein Dokument wahrnehme und mich dazu verhalte, erzeuge ich einen Rahmen, innerhalb dessen es von mir ›bearbeitet‹, in den Worten Godards, fiktionalisiert wird: Ein Dokument durch Fiktion zu perspektivieren bedeutet demnach, es mit neuen Kontexten zu konfrontieren und »Beziehungen«975 zu knüpfen. Das Ziel, andere, nicht konventionalisierte Zusammenhänge und Annäherungen herzustellen, eint Kluge und Godard. [L]’idée de base étant que le cinéma à son invention a dévéloppé […] une façon de voir qui était autre chose et qu’on a appelée disons le montage, […] C’était quelque chose qui ne filmait pas les choses mais qui filmait les rapports entre les choses. C’est-à-dire, les gens voyaient des rapports; ils voyaient d’abord un rapport avec eux-même.976

Kino erzeugt stets Verbindungen zwischen entfernten Dingen, die (scheinbar) keine Beziehung unterhalten. Den Grundgedanken der Annäherung entnimmt Godard Robert Bressons Notes sur le cinematographe (1975), aus denen er zitiert: 970 971 972 973 974

Godard, Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, S. 128. Ebd., S. 127. Ebd., S. 127. Ebd., S. 127f. Alexander Kluge: Die Aktualität Adornos. Rede zum Theodor-W.-Adorno-Preis 2009. In: Ders.: Personen und Reden. Berlin 2012, S. 67–75, hier S. 69. 975 Godard, Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, S. 178. Frz.: »montage c’est-à-dire des rapports« (Godard, Introduction à une véritable histoire du cinéma, S. 177). 976 Godard, Introduction à une véritable histoire du cinéma, S. 175. Dt.: »Die Ausgangsidee ist, daß das Kino mit seiner Erfindung eine Art und Weise zu sehen entwickelt und aufgezeigt hat […], die etwas Neues war und die man Montage genannt hat […]. Es bestand darin, daß nicht die Dinge gefilmt wurden, sondern die Beziehungen zwischen den Dingen. Das heißt, man sah die Bezüge.« (Godard, Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, S. 176f.).

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Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma

»Et c’est ça, le cinéma: rapprocher des choses qui doivent être rapprochées, mais qui ne sont pas disposées à l’être.«977 Entsprechend gibt es für Godard »pas d’image, il n’y a que des images. Et il y a une certaine forme d’assemblage des images; dès qu’il y a deux, il y a trois. […] C’est le fondement du cinéma.«978 Klaus Theweleit spitzt das in seiner Rede zum Adorno-Preis für Godard 1995 zu: »1 Bild kann lügen, 2 Bilder nicht, 3 Bilder plus Töne, auseinandermontiert, zeigen etwas, das es gibt. Das sehen verläuft nicht linear, dies ist eine Illusion, oder, besser, ein Diktat der Schriftmenschen. Die Schrift schafft eine illusionistische Version der Welt, Bilder tun dies in Godards Wahrnehmung nicht.«979 Auch hier ist, wie schon bei Kluge, das Motiv der Pluralisierung von immenser Bedeutung: Nur das bewegte Filmbild, das notwendig andere, weitere Bilder einfordert, kann das Potential des Films als nichtdenotative, antiessentialistische Verweisstruktur sicherstellen und die Ambivalenz des dritten Bildes offenhalten. So entsteht aus dem Aufeinandertreffen zweier Bilder nicht nur ein Drittes, sondern »[e]ine andere Art des Sehens«980, die gleichermaßen der visuellen Wahrnehmung wie der durch sie angeregten Vorstellung entspringen kann. 977 Jean-Luc Godard: Une boucle bouclée: Nouvel entretien avec Jean-Luc Godard par Alain Bergala. In: Godard par Godard 2, S. 9–41, hier S. 20. Eine ähnliche Auffassung vom Bild findet sich in Pierre Reverdys Gedicht L’image von 1918: »L’Image est une création pure de l’esprit./Elle ne peut naître d’une comparaison mais du rapprochement de deux réalités plus ou moins éloignées./Plus les rapports des deux réalités rapprochées seront lointains et justes, plus l’image sera forte – plus elle aura de puissance émotive et de réalité poétique. […] L’Analogie est un moyen de création — C’est une ressemblance de rapports; or de la nature de ces rapports dépend la force ou la faiblesse de l’image créée./Ce qui est grand ce n’est pas l’image — mais l’émotion qu’elle provoque; si cette dernière est grande on estimera l’image à sa mesure. […] On crée, au contraire, une forte image, neuve pour l’esprit, en rapprochant sans comparaison deux réalités distantes dont l’esprit seul a saisi les rapports.« (Pierre Reverdy: L’Image. In: NordSud 2 (1918), Nr. 12. o. S.). Dt.: »Das Bild ist eine reine Erzeugung des Geistes. Es kann nicht aus einem Vergleich entstehen, sondern nur aus der Annäherung zweier, mehr oder weniger weit entfernter, Realitäten. Je entfernter und genauer die Beziehungen der beiden einander angenäherten Realitäten sind, desto stärker wird das Bild sein – desto größere emotionale Kraft und poetische Realität erhält es. […] Die Analogie ist ein Mittel der Erzeugung – es ist eine Ähnlichkeit der Beziehungen; nun hängt von der Natur dieser Beziehungen die Stärke oder Schwäche des erzeugten Bildes ab. Was groß ist, ist nicht das Bild – sondern die Emotion, die es hervorruft; ist diese groß, so beurteilt man das Bild nach seinem Maßstab. […] Man erzeugt, im Gegenteil, ein starkes Bild, das neu für den Geist ist, indem man zwei entfernte Realitäten, deren Beziehungen nur der Geist erfasst hat, ohne Vergleich einander annähert.« (Übers. D.K.). 978 Jean-Luc Godard rencontre Régis Debray (1995). In: Godard par Godard 2, S. 423–431, hier S. 430, Herv. K.K. Dt.: »Es gibt kein Bild, es gibt nur Bilder. Und es gibt eine bestimmte Art der Zusammenstellung von Bildern: Sobald es zwei von ihnen gibt, gibt es drei. […] Darauf basiert das Kino.« (Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem. München 2007, S. 193). 979 Klaus Theweleit: One + One. Rede für Jean-Luc Godard zum Adornopreis. Berlin 1995. Godards Medientheorie zeigt sich hier, ähnlich wie Kluges Auffassung des Literarischen als grundlegend konstruktiv und gesellig. 980 Nicodemus, »Es kommt mir obszön vor«, o. S., Herv. K.K.

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Denkende Montage

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Montage als Dazwischen

Ein weiteres Spezifikum des Films bzw. der Montage liegt demnach im hergestellten Dazwischen: »le cinéma c’est ce qui est entre les choses, c’est pas les choses, c’est ce qui est entre quelqu’un et quelqu’un d’autre, entre toi et moi et puis sur l’écran c’est entre les choses.«981 Gilles Deleuze betont die Bedeutsamkeit des Begriffs ›Dazwischen‹ für die Ästhetik Godards: Bei der Methode Godards handelt es sich nämlich keineswegs um Verknüpfung. Ist ein Bild gegeben, dann kommt es darauf an, ein anderes Bild zu wählen, das einen Zwischenraum zwischen beiden bewirkt. […] Wir haben es mit der Methode des ZWISCHEN zu tun, ›zwischen zwei Bildern‹, […]; mit der Methode des UND, ›dies und dann das‹.982

Deleuzes Absage an den Begriff der Verknüpfung macht noch einmal deutlich, dass die Vorstellung einer (narrativen) »Kette von Bildern«983 durch Begriffe der »Differenzierung«984 oder der »Disparation«985 ersetzt werden muss: »Zu einem gegebenen Potential muß man ein anderes […] wählen, und zwar derart, daß sich eine Potential-Differenz zwischen beiden herstellt, die Produzent eines dritten oder von etwas Neuem ist.«986 Das Ergebnis der »Kompositionsbilder Godards«987 ist so eine Kombination aus dem tatsächlich Gesehenen und Gehörten, den aus dem eingespeisten Material entstehenden Konstellationen, dem, was uns darin als Zwischenraum, Verstörung oder Lücke trifft und dem damit Assoziierten: »Das ist das Gute an der Montage: Es ist an Ihnen, das Dritte aus zwei Bildern zu

981 Godard, Introduction à une véritable histoire du cinéma, S. 145, Herv. K.K. Dt.: »das Kino […] ist [das], was zwischen den Dingen ist, und nicht die Dinge selbst, was zwischen einem selbst und einem anderen ist, zwischen dir und mir, und auf der Leinwand ist es dann zwischen den Dingen.« (Godard, Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, S. 145). 982 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt am Main 1997, S. 234. Williams hingegen unterstreicht die Bedeutung des Übergangs: »the emphasis is always on movement and process, or trans rather than in ›the between‹ (Deleuze) or the ›entre-image‹ (Bellour)« (James S. Williams: European Culture and Artistic Resistance in Histoire(s) du cinéma Chapter 3 A, La monnaie de l’absolu. In: Michael Temple, Ders. (Hg.): Essays on the Works of Jean-Luc Godard 1985–2000. Amsterdam 2000, S. 113–139, hier S. 134.) Deleuzes Bestimmungen der Montage in seinen Unterhaltungen lassen sich jedoch ebenfalls als Fokussierung auf den Prozess des Zusammenfügens lesen: »Godard ist kein Dialektiker. Was bei ihm zählt, ist nicht 2 oder 3, oder wieviel auch immer, sondern UND, die Konjunktion UND. Die Verwendung des UND bei Godard ist das Wesentliche.« (Gilles Deleuze: Drei Fragen zu six fois deux (Godard). In: Ders.: Unterhandlungen 1972–1990. Frankfurt am Main 1993, S. 57– 69, hier S. 67; Original erschienen in: Cahiers du cinéma (1976), Nr. 271). 983 Deleuze, Das Zeit-Bild, S. 234. 984 Ebd., S. 234. 985 Ebd., S. 234. 986 Ebd., S. 234. 987 Didi-Hubermann, Bilder trotz allem, S. 181.

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Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma

bilden.«988 Das in der Montage entstehende dritte Bild ist daher weder nur als visuelles noch nur als dialektisch aus zwei Einzelbildern zu schließendes, sondern als wahrnehmbares und kognitiv-imaginäres zugleich zu verstehen. (6)

Die Zuschauenden als konstitutiver Teil der Montage

Damit werden die Zuschauenden konstitutiv und zentral in die Verwirklichung der Montage mit einbezogen, ja die Position der Zuschauenden ist ein wesentlicher Teil der Montage: Ein Bild und ein anderes Bild ergibt nicht mehr ›einfach‹ ein drittes mentales Bild aus dem dialektischen Konflikt der beiden vorangehenden, wie das die ›intellektuelle Montage‹ Eisensteins postuliert hatte. Was um so mehr zählt, ist das, was sie in Beziehung setzt, was zwischen ihnen passiert, dort, wo die Position des Zuschauers ist, wie er sich verhalten kann.989

Damit wird eine einseitige, passive Rezeption zugunsten der Zuschaueraktivität aufgebrochen. Dieses Film-Zuschauer:innen-Verhältnis markieren die Histoire(s) du cinéma gleich zu Beginn: Das Insert »hoc opus/hic labor est«990 steht ganz am Anfang der Histoire(s) du cinéma noch vor jedem Bildeinsatz. Es informiert über die Mühe, die das Anschauen des Folgenden mit sich bringen wird. Und schon die ersten Worte, ebenfalls den Notes sur le cinématographe von Bresson entnommen, fordern die aktive Mitarbeit der Zuschauenden ein, wenn sie mitteilen, dass nicht alle Aspekte eines Sachverhalts oder eines Gegenstands preisgegeben werden: »ne va pas montrer tous les côtés des choses/garde-toi une marge d’indéfini« (Hdc 1999 1a 4).991 Auch die Bildebene unterstützt diese ›Sehanleitung‹. In der ersten Bildeinblendung ist James Stewart (als L. B. »Jeff« Jefferies) in Alfred Hitchcocks Rear Window (Das Fenster zum Hof, 1954) hinter seinem Fernglas zu sehen. Das zweite Insert versetzt die Zuschauenden mit den Worten »que chaque œil négocie pour lui même«992 in eine »active and synthesising role […]. He [d.i. Godard, K.K.] addresses us as diviners of significance, our integral function embodied in Hitchcock’s vigilant, imaginative Jeffries [sic!] (who […] constructs a fuller picture from gleaned details).«993

988 Nicodemus, »Es kommt mir obszön vor«, o. S. 989 Joachim Paech: Wiping – Godards Videomontage. In: Hans Beller (Hg.): Handbuch der Filmmontage. München 1993, S. 242–251, hier S. 245. 990 Hdc 2014 1a 00:22–00:26. Dt.: »Dieses Werk ist Arbeit«. 991 Dt.: »du wirst nicht alle Seiten der Dinge zeigen/bewahre dir einen Rest an Unbestimmbarem« (Hdc 1999 1a 18). 992 Hdc 2014 1a 00:35–00:47. 993 Warner, Difficult work in a popular medium: Godard on ›Hitchcock’s method‹, S. 81.

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Exkurs: Hitchcocks Modell vs. Godards Modellierungen

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Exkurs: Hitchcocks Modell vs. Godards Modellierungen

Godards Montagen ähneln den verschiedenen Fenstern im Hof, die James Stewart einen filmartigen, simultanen aber begrenzten Einblick in das gleichzeitig ablaufende Geschehen im Hinterhof seines Wohnhauses geben. Dass Jefferies, der in Hitchcocks Film versucht, aus den Versatzstücken ein Narrativ herzustellen, von Godard gerade als Prototyp eines anderen Verknüpfungsprinzips modelliert wird, ist bezeichnend. Denn zu Hitchcock unterhält Godard eine ambivalente Beziehung, die gleichermaßen von Faszination und Skepsis geprägt ist. In der Sequenz über ›Die Methode Hitchcocks‹ (Kapitel 4a) unterstellt Godard ihm nicht ohne Bewunderung, in einem narrativ-imperialistischen Zug die Kontrolle über das (bildliche) Universum übernommen zu haben: »parce que à travers eux [das sind die ikonisch gewordenen Bilder der Hitchcockfilme, K.K.]/et avec eux/Alfred Hitchcock réussit là où échouèrent/Alexandre, Jules César, Hitler, Napoleon/ prendre le contrôle de l’univers« (Hdc 1999 4a 10–11).994 Bemerkenswert ist, dass Godard in der Sequenz zudem ein strukturanaloges Bild zu jenem aus Kapitel 1a komponiert, in dem die nach einander ausgestreckten Hände Christus’ und Maria Magdalenas mit der sich aufrichtenden Elizabeth Taylor überblendet zu sehen sind (Hdc 2014 1a 47:52). Hier ist ein Ausschnitt aus Caravaggios Rosenkranzmadonna von 1605/06 mit dem Kopf Hitchcocks derart überblendet, dass die mehrfach ausgestreckten Hände der Gläubigen des Caravaggio-Bildes um den Kopf Hitchcocks angeordnet sind (Hdc 2014 4a 12:30). In Caravaggios Gemälde sind die Hände nach dem Ordensgründer der Dominikaner, dem heiligen Dominikus ausgestreckt, der im Begriff ist, Rosenkränze zu verteilen. Dessen Hände bilden bildkompositorisch die Grenze zwischen der Sphäre der/s Heiligen und dem profanen, weltlichen Bereich der Menschen. Hitchcock wird von Godard nun in die Leere zwischen den Händen eingeblendet, so dass Hitchcock den Status eines Mediums zwischen Heiligem und Profanem erhält.995 Der Rosenkranz wird in der katholischen Glaubenslehre als Waffe im Kampf gegen Sünde und Unglauben eingesetzt. Demnach träte Hitchcock an die Stelle des Rosenkranzes. Durch den Vergleich Hitchcocks mit historischen Diktatoren einerseits und einem Heiligen bzw. dessen ›Waffen‹ andererseits weist Godard Hitchcocks 994 Dt.: »weil mit ihnen/und durch sie/Alfred Hitchcock dort erfolgreich ist/wo Alexander, Julius Cäsar, Hitler, Napoleon/scheiterten/die Kontrolle des Universums zu übernehmen« (Hdc 1999 4a 26f.). 995 Diese Inszenierung lässt sich auch als Verweis auf den Stellenwert Hitchcocks lesen, den dieser für die ›politique des auteurs‹ der französischen Nouvelle Vague hatte (vgl. dazu auch Simon Frisch: Mythos Nouvelle Vague. Wie das Kino in Frankreich neu erfunden wurde. Marburg 2007).

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Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma

narrative Bildverwendung als auf Schließung hin ausgerichtet ab.996 Die narrative Hermetik von Hitchcocks Filmen lässt deren Einzelbilder zu erstarrender Ikonizität und interpretatorischer Eindeutigkeit neigen, wodurch neue, ungewohnte Verknüpfungsmöglichkeiten ausgeschlossen werden. Damit werden die ikonisch gewordenen Filmbilder für das durch Beweglichkeit definierte Medium Film unbrauchbar: [S]i une image/regardée à part/exprime nettement quelque chose/si elle comporte une interprétation/elle ne se transformera pas/au contact d’autres images/les autres images n’auront aucun pouvoir sur elle/et elle n’aura aucun pouvoir sur les autres images/ni action ni réaction/elle est définitive et inutilisable/dans le système du cinématographe. (Hdc 1999 1b 49)997

Anhand der von Godard kritisierten Bildverwendung Hitchcocks lassen sich zwei Arten der Montage bzw. der Bildverwendung gegenüberstellen, die sich, im Rückgriff auf Godards Ausführungen in Introduction à une veritable histoire du cinema, mit den Begriffen des Modells im Gegensatz zum Modellieren fassen lassen: Il faut montrer qu’il y a pas de modèle, il n’y a que du modelage. Qu’est-ce que l’on appelle un modèle? c’est intéressant dans la langue française, on appelle un modèle, un mannequin qui pose, c’est-à-dire la femme dans ce qu’elle a de plus objet, on l’appelle comme ça; et puis, dans la couture, qui est un domaine où les femmes sont très exploitées en tant qu’ouvirières, on appelle un modèle de collection, mais celui qui dirige le modèle c’est-à-dire le premier modèle, en français en tout cas […] ça s’appelle: un patron. […] donc là, al question du modèle est très intéressants, je crois qu’il faut montret qu’un modèle quand il devient trop grand, devient vite… enfin Staline, on devient vite Staline, Hitler… qui? je ne sais pas: Pelé dans le football, Godard dans le cinéma ou je ne sais pas quoi; mois effectivement j’ai réussi à survivre oarce qu’on n’a pas pu faire un modèle de moi, mais alors finalement à la longue, chez les cinéphiles ou dans l’histoire du cinéma, je

996 »De toute sa carrière, Hitchcock n’a jamais tourné un seul plan gratuit. Les plus anodins, en fin de compte, servent toujours à l’intrigue qu’ils enrichissent«. (Jean-Luc Godard: Le cinéma et son double. Alfred Hitchcock. Le faux coupable (The Wrong Man). In: Godard par Godard 2, S. 101–108, hier S. 101f. Dt.: »In seiner ganzen Laufbahn hat Hitchcock keine unnütze Einstellung gedreht. Noch die unauffälligsten dienen schließlich der Handlung und bereichern sie«. Jean-Luc Godard: Das Kino und sein Double. The Wrong Man von Alfred Hitchcock. In: Godard/Kritiker. Ausgewählte Kritiken und Aufsätze über Film (1950–1970). München 1971, S. 45–56, hier S. 46f.). 997 Dt.: »wenn ein Bild/für sich betrachtet/etwas klar ausdrückt/wenn es eine Interpretation enthält/wird es sich nicht/durch den Kontakt mit anderen Bildern verwandeln/die anderen Bilder werden keine Macht über es haben/und es wird keine Macht über die anderen Bilder haben/weder Aktion noch Reaktion/es ist endgültig und nicht weiter verwendbar/im System des Kinematographen« (Hdc 1999 1b 61).

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Exkurs: Hitchcocks Modell vs. Godards Modellierungen

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suis le modèle du non-modèle: celui que l’on ne peut pas cataloguer, mais on me catalogue comme non-modèle ce qui revient au même finalement.998

Das Modell ist auf Kategorisierbarkeit, Ganzheit und Wiederholbarkeit ausgelegt, während Modellierungen stets im Status Nichtdefinierbaren, des Unfertigen, des Neuansetzens verbleiben. Hitchcocks Bildverfahren, und damit verallgemeinernd das auf Genrekonvention abzielende Hollywoodkino, lässt sich diesen Ausführungen gemäß als Modell-bildend bezeichnen. Im Gegensatz zu den auf Fixierung und Ikonik abzielenden Bildern Hitchcocks, strebt Godard mit seinen Bildmontagen an, einen produktiven, anschlussfähigen Sinn zu erzeugen, der einer eindeutigen Festsetzung entgeht. Entsprechend montiert er zu Hitchcocks Ausführungen, wonach die Montage zugunsten einer umfassenden Immersion unsichtbar zu halten sei,999 in Kapitel 4a Bilder aus dessen Filmen zu einem visuellen Gegenprogramm: Er löst Bilder aus Hitchcocks Filmen durch trennende Schwarzbilder und Überblendungen aus ihrem narrativen Zusammenhang und überführt die narrativ funktionalisierten Bilder in Bildmontagen jenseits erzählerischer Parameter, in ein Außerhalb der Narration, das durch Offenheit und Vieldeutigkeit gekennzeichnet ist. Bei Godard »bekommen [wir] kein zusammengesetztes buntes Spielzeugauto, das vor unseren Augen Kapriolen schlägt, Doc Browns ultimatives Spielmobil aus Spielbergs Hollywood. Das Spielbergkino montiert so, daß alles paßt«.1000 Godards Montagen hingegen sind dann ›fertig‹, wenn »der Film auseinandergenommen«1001 ist. Den Seh- und Denkbewegungen der Godard’schen Montage liegt eine wesenhafte Irritation und Offenheit zugrunde, die der subjektiv-visuellen Auffassungsgabe des einzelnen Betrachters und – im Fall der Histoire(s) du cinéma besonders – dessen filmhistorischem Wissen unterliegt. Durch die Beweglichkeit der geschichteten 998 Godard, Introduction à une veritable histoire du cinéma, S. 136, Herv. K.K. Dt.: »Man muss zeigen, dass es Modelle nicht gibt, nur das Modellieren. Was nennt man ein Modell? Das ist interessant. Im Französischen nennt man ein Modell ein Mannequin, das vorführt, also eine Frau da, wo sie am meisten Objekt ist. Das nennt man Modell, man hätte es anders nennen können, aber so ist es nun mal. Und dann in der Modebranche, einem Bereich also, in dem die Frauen als Arbeiterinnen ganz besonders ausgebeutet werden, sagt man ›ein Kollektionsmodell‹, aber das, was diesem Modell zugrunde liegt, also das Modell des Modells, das heisst, jedenfalls im Französischen, […] ›un patron‹. […] Da wird die Frage nach dem Modell sehr interessant. Wenn ein Modell zu gross wird, wird es schnell… Stalin, Hitler. Wer? Was weiss ich. Pele im Fussball, Godard im Kino oder weiss Gott wer sonst. Ich habe es überlebt, weil man es nicht geschafft hat, aus mir ein Modell zu machen. Aber am Ende bin ich dann doch für die Cinephilen oder die Filmgeschichte das Modell fürs Nicht-Modell, das nicht katalogisierbar ist. Und so katalogisiert man mich als Nicht-Modell, was auf das gleiche hinausläuft.« (Godard, Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, S. 137). 999 »the public aren’t aware of what we call montage/or in other words the cutting of one image to another/they go by so rapidly/so that they are absorbed by the content« (Hdc 1999 4a 11). 1000 Theweleit, One + One, S. 32. 1001 Ebd., S. 32.

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Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma

Überblendungen entsteht ein großer Spielraum dessen, was tatsächlich zu sehen ist. Die Bilder Godards sind geradezu übersättigt. Diese Sättigung erzeugt eine semantische Unterbestimmtheit, der kaum ein Erklärungsansatz Genüge tun kann. In den Histoire(s) du cinéma ist demgemäß nicht umsonst die Rede von »une saturation de signes magnifiques/qui baignent dans la lumière/de leur absence d’explication« (Hdc 1999 4b 60).1002 Serge Daney sieht in der strategischen Offenheit der Godard’schen Montage ein implizites pädagogisches Anliegen, das in einem stetigen, disseminativen Verweisen auf Weiteres besteht: À ce que l’autre dit (assertion, proclamation, prône), il répond toujours par ce qu’un autre autre dit. Il y a toujours une grande inconnue dans sa pédagogie, c’est que la nature du rapport qu’il entretient avec ses ›bons‹ discours (ceux, qu’il défend, le discours maoïste, par example) est indécidable.1003

Das bedeutet – für Godard wie für die Zuschauenden – eine konstitutive Unsicherheit im Prozess des ›Gelingens‹ einer Montage derart, dass keine zielorientierten Gelingensbedingungen formuliert werden können: If the affinities generated by superimposition create the conditions for the possibility of historiographic montage, they do not ensure its success; nothing in the technique can serve as a guarantee. And that’s fine. Godard is not Hitchcock; he is not interested in using superimposition to sustain the power of diegesis, to secure his power over viewers. The connections Godard draws – between Baudelaire and Turner, between Baudelaire and Laughton – are only, and can only be, conditional, possible, contingent. The task is then to judge the significance in the contingency of the declared affinities, to determine the scope and validity of the historical arguments.1004

Die Kontingenz der Montagen Godards ist programmatisch: »Die permanente Montage verschiedener Medien als Denken und die Gewißheit, daß etwas gelungen ist erst dann, wenn auch das Nicht-Sichtbare und das Mißlingen mit hineinmontiert sind, ist ein Essential der Godardschen Verfahrensweise.«1005 So ist die Konzeption der Histoire(s) du cinéma – ganz ähnlich wie das Verfahren der Materialsammlung und -anordnung in Thomas Meineckes Hellblau und das erzählerische Unternehmen Alexander Kluges – wesentlich idiosynkratisch um 1002 Dt: »eine Sättigung herrlicher Zeichen/die im Licht/ihrer fehlenden Erklärung baden.« (Hdc 1999 4b 76) Zusätzliche Schichtungen auf der Tonebene steigern zudem den, dem Filmbild ohnehin inhärenten, Zug der Überdeterminierung des Visuellen. 1003 Serge Daney: Le thérrorisé (pédagogie godardienne). In: Ders.: La rampe. Cahier critique 1970–1982. Paris 1983, S. 80. Dt.: »Bei dem was der Andere sagt (Behauptung, Verkündigung, Predigt), antwortet er immer darauf damit, was ein Anderer sagt. Es gibt immer eine große Unbekannte in seiner Pädagogik, die darin besteht, dass die Natur des Verhältnisses, das er mit seinen ›guten‹ Diskursen unterhält (diejenigen Diskurse, die er unterstützt, wie zum Beispiel den maoistischen Diskurs), unentscheidbar ist.« (Übers. D.K.). 1004 Daniel Morgan: The Afterlife of Superimposition. In: Dudley Andrew (Hg.): Opening Bazin. Postwar Film Theory and its Afterlife. Oxford 2011, S. 127–141, hier S. 139. 1005 Theweleit, One + One, S. 30f., Herv. im Original.

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Exkurs: Hitchcocks Modell vs. Godards Modellierungen

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die Person Godard und ihre Subjektivität zentriert. Diese zieht Godard aus seinem Selbstverständnis des historischen Zeugen der Filmgeschichte. Als Mitglied der Nouvelle Vague kommt ihm der Status eines im Verhältnis zum etablierten System rebellischen Revolutionärs zu, aus dessen Revolution sich ein zweiter, zu Hollywood paralleler Strang der Filmgeschichte etablierte. Godard historisiert sich mit seinen Histoire(s) du cinéma und macht sich zum metaleptischen Doppelwesen, wenn er einerseits als kontingent-subjektive Quelle der Materialauswahl die Bilder anordnet. Andererseits wird er im Film als eben jener außerdiegetische Ursprung am Schneidetisch gezeigt und wird damit Teil der antihierarchischen Bildervielfalt. Denn »Godards Filme sind nicht gelungene Kunst außerhalb des schlechten Bestehenden, sie sind Kunst mitten in diesem, und dort müssen sie sich abstrampeln, ein Stück Boden unter die Füße zu bekommen: Une place sur la terre…«1006 Die Vorbehaltlichkeit seiner Montagen entspringt den Grenzen des Godard’schen Denkens, Wissens, Forschens, Findens und Interesses. Strukturell aber – und darin liegt der Gegensatz zur intellektuellen Montage Eisensteins, die nach bestimmten Regeln aufgebaut ist – kann das Ergebnis von Godards Montagen ambivalent und uneindeutig, je nach Rezipient:in und Zeitgenossenschaft verschieden sein. In dieser Unsicherheit liegt der Schlüssel zu einem neuen Verständnis von Zusammenhängen, die sich nicht aus einem sprachlichen, konventionellen Automatismus (der Argumentation, des Schließens, des linearen, narrativen Verlaufs etc.) ergeben können. Georges Didi-Huberman betont, dass die Einbildungskraft »integraler Bestandteil der Erkenntnis«1007 ist, die »auf der Herstellung und Montage einer Vielzahl miteinander korrespondierender Formen [beruht] und […] ihre Produktivität selbst dort – gerade dort – [entfaltet], wo sie das größte Risiko eingeht«.1008 Dass das Kino sein Potential zur Montage laut Godard nie voll ausgeschöpft hat1009, ist für ihn neben der Unfähigkeit der existierenden Filme, Auschwitz auf 1006 Ebd., S. 31, Herv. im Original. 1007 Didi-Huberman, Bilder trotz allem, S. 173, Herv. K.K. Warburgs Mnemosyne-Atlas, Benjamins Passagenwerk und Batailles Zeitschrift Documents dienen ihm als Beispiele einer solchen »Erkenntnis durch Montage« (ebd., S. 175). 1008 Ebd., S. 175. 1009 Godard attestiert vor allem dem Stummfilm, seiner Auffassung der Montage nahegekommen zu sein: »Les gens du muet l’ont senti très fort, et en ont beaucoup parlé. Aucun ne l’a trouvé.« (Godard, Le montage, la solitude et la liberté, S. 242); »Griffith, en codifiant le gros plan, […] cherchait un rapprochement de quelque chose de loin avec quelque chose de près, et surtout dans le temps. […] Les Allemands, eux, ont ignoré le montage, mais ils le recherchaient à leur façon, en partant d’abord du décor, de la lumière, d’une philosophie du monde, vous dites ›Aufklärung‹, je crois.« (Godard, HISTOIRE(S) DU CINÉMA. À propos de cinéma et d’histoire, S. 403). Dt.: »Griffith […] suchte eine Annäherung zwischen etwas Fernem und etwas Nahem, vor allem in der Zeit. […] Die Deutschen wußten nichts von der Montage, aber sie haben sie auf ihre Weise erforscht, indem sie zunächst von dem Bühnenbild, dem Licht und einer Philosophie der Welt ausgingen, die Sie wohl ›Aufklärung‹

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Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma

angemessene Weise bezeugt zu haben, das zentrale Vergehen dieser Kunstform. Beide Aspekte sind dabei wechselseitig bedingt: »Nach Ansicht Godards ist es niemandem gelungen, die existierenden Aufnahmen und historischen Dokumente [aus den Konzentrationslagern] zusammenzustellen, aus ihnen also eine Montage zu machen«.1010 Die folgende Analyse zeigt, dass Godard mit der Stevens-Sequenz den Versuch unternimmt, durch seine Montage den in den Vernichtungslagern Getöteten einen sichtbaren Ort in der Filmgeschichte zu geben und eine nicht-integrierte Einbindung des Holocaust in die Mediengeschichte des Films modelliert. Ich folge Godards ›Umweg‹ über das Noli me tangere, wenn zunächst Jean-Luc Nancys Deutung des biblischen Motivs für die Stevens-Sequenz und damit für die darin zum Ausdruck kommende Auseinandersetzung mit dem Holocaust fruchtbar gemacht wird.

6.5

›Noli me tangere‹ – Berührungslose Berührung

In seiner kurzen Abhandlung Noli me tangere untersucht Jean-Luc Nancy die der biblischen Erzählung innewohnende Struktur einer Doppelbewegung, die sich auf die Stevens-Sequenz übertragen lässt. Für Nancy markiert die Szene ein »Auftauchen […], in dem sich ein Verschwinden vollzieht«.1011 Sie ist durch eine Gleichzeitigkeit von Nähe(-bedürfnis) und Distanz(-nahme) geprägt, die sich durch Christus’ Status als Auferstandenem ergibt. Dabei, und das ist wesentlich für die Lektüre der Godard’schen Sequenz, ist die Auferstehung in Nancys Auslegung »keine Rückkehr zum Leben.«1012 Sie ist gerade nicht, was »für die Religion ein Wiederbeginn einer Gegenwart ist«1013, sondern ein

1010

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nennen.« (Godard, Sätze über Kino und Geschichte, S. 116). Obwohl Godard sowohl der Montage-Theorie Eisensteins als auch Vertovs Ansätzen zur Montage negativ gegenübersteht, bahnen »Vertov’s quest to perfect an extra-linguistic, visual, syphonic-cinematic form, and Eisenstein’s claims for film’s unique power to articulate thoughts outside language, […] the way for the flux and flow of HISTOIRE(S) DU CINÈMA.« (Witt, Montage, My Beautiful Care, or Histories of the Cinematograph, S. 36). Didi-Huberman, Bilder trotz allem, S. 201. Didi-Huberman betont angesichts der filmischen Auseinandersetzungen Alain Resnais’ in Nuit et Brouillard und Claude Lanzmann in Shoah mit dem Holocaust zurecht, dass »Godards Haltung […] ungerecht, aus seiner Denkweise heraus […] aber zugleich auch verständlich« (ebd., S. 202) sei. Didi-Huberman schildert die oppositionellen Positionen Lanzmanns und Godards als eine »ästhetische Polarität[, die] – auf dem Umweg über eine ›Ethik des Blicks‹ – mit einem quasi-theologischen Vokabular abgehandelt« (ebd., S. 181) wird. Jean-Luc Nancy: Noli me tangere. Aus dem Französischen von Christoph Dittrich. Zürich, Berlin 2008, S. 17. Ebd., S. 24. Ebd., S. 22.

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›Noli me tangere‹ – Berührungslose Berührung

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Fortgehen, in dem sich die Gegenwärtigkeit in Wahrheit ablöst und ihren Sinn gemäß diesem Fortgehen trägt. […] Das heißt: Sie ist nicht, nicht in dem Sinne, dass etwas in der Gegenwart gesetzt sei, unbeweglich, mit sich identisch, für einen Gebrauch oder einen Begriff verfügbar. Die Auferstehung ist Aufstehen, das Auftauchen des Unverfügbaren.1014

In der von Godard montierten Szene aus A Place in the Sun vollzieht Elizabeth Taylor eine solche Bewegung des ›Auftauchens‹ und Verschwindens: Sie erhebt sich, um wegzugehen. Dieser Bewegungsablauf bildet in A Place in the Sun die Abschlussszene einer Liebessequenz zwischen Montgomery Clift und Elizabeth Taylor an einem See. Die von Elizabeth Taylor verkörperte Angela Vickers verspricht ihrem Geliebten, ihn zu heiraten: »Angela: I’d go anywhere with you. George: You really mean that? You’d marry me? Angela: Haven’t I told you? I intend to.« (A Place in the Sun 58:46). Verbal trifft sie eine zukunftsgerichtete Zusage, physisch aber vollzieht sie, parallel zu Christus’ Aussage ›Noli me tangere‹, einen Rückzug und entschwindet aus dem Bild.1015 Der Plot des Films unterliegt ebenfalls dieser gegenläufigen Bewegung: Der aufstrebende George (Montgomery Clift) hat sich mit der jungen Arbeiterin Alice Tripp (Shelley Winters) eingelassen, die nun schwanger ist. Zeitgleich aber verliebt er sich, durch die Unterstützung seines Onkels in höheren Kreisen verkehrend, in die wohlhabende Angela Vickers. Während einer Aussprache zwischen George und Alice auf dem See kentern die beiden, woraufhin Alice ertrinkt. George wird des Mordes angeklagt und zum Tode verurteilt. Der mehrfach kodierte ›Platz an der Sonne‹ – als Liebesglück und sozialer Aufstieg etwa – an der Seite von Angela Vickers erscheint erst durch den Unfall von Alice überhaupt möglich und zerschlägt sich sogleich deswegen in der Anklage auf Mord und der vollzogenen Todesstrafe für George. Angela besucht George ein letztes Mal im Gefängnis, um ihm ihre Liebe zu gestehen. Bemerkenswert ist, dass, kurz bevor George dem Vollzug seines Todesurteils entgegengeht, aus seiner Zelle die Worte aus dem Johannesevangelium zu hören sind: »I’m the resurrection and the life; he who believeth in Me, though he were dead, yet shall he live« (A Place in the Sun 01:40:48–01:40:56). Auch wenn der Plot einerseits eine melodramatische Liebesgeschichte entfaltet und andererseits weit zurückgenommene, sozialkritische Tendenzen aufweist, verhandelt der Film strukturell das Auftauchen von Unverfügbarkeiten. Überträgt man diese Struktur mit dem von Nancy Ausgeführten auf die durch Godard eingebundenen Bilder aus den Konzentrationslagern, hieße dies, den Ermordeten als anwesende Abwesende zu gedenken. Die von Godard in der 1014 Ebd., S. 22f. 1015 In Godards Stevens-Sequenz steht Angela in Zeitlupe aus der Hocke auf. Ihr Aus-dem-BildTreten zeigt Godard nicht mehr.

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Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma

Szene montierten Bilder zeigen die Toten als bildliche Re-Präsentation1016 »eines unendlich erneuerten oder verlängerten Verschwindens.«1017 Die Re-Präsentation verweist auf die Absenz der Toten und die mit ihrem Tod entstandene Lücke in der Welt-, Kultur- und Filmgeschichte. Godard greift dafür weder auf ikonische Bildmotive des Holocaust – wie etwa die Leichenberge – zurück noch geht es ihm um didaktisch-pädagogische Aspekte der Wissensvermittlung, der emotionalen Einfühlung, der Identifikation oder einer politisch korrekten Darstellungsweise. Godard geht es um das ›Zu-Zeigen-Geben‹, aus dem eine produktive Störung entsteht. Er gibt zu sehen, was als Abwesendes und Lücke in der Geschichte des Kinos rumort und verwandelt es in eine sichtbare Montage (Abb. 13 und HdC 2014 1a 47:27):

Abb. 13: Bildpalimpsest: Überblendung eines Filmstills aus A Place in the Sun mit dem dokumentarischen Bild eines sogenannten Todes-Zugs aus Dachau, eigene Überblendung; leider war es nicht möglich, Bildrechte zu Histoire(s) du cinéma zu erhalten.

1016 »Re-Präsentation bezeichnet nicht die Funktion der Stellvertretung einer als ›Original‹ greifbaren Ereignispräsenz, sondern die Intensivierung der Präsenzmachung durch performative Wiederholung.« (Metin Genç: Ereigniszeit und Eigenzeit. Zur literarischen Ästhetik operativer Zeitlichkeit. Bielefeld 2016, S. 132). 1017 Nancy, Noli me tangere, S. 23.

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Die von den Nationalsozialisten bewusst angestrebte Unsichtbarkeit, Absenz und »die durch Vernichtung ausgelöschte Erinnerung«1018 der jüdischen Bevölkerung erfährt durch die simulierte Präsenz inmitten einer Narration aus der filmischen Kultur- und Unterhaltungsgeschichte in Form von Bildern eine sichtbare Markierung. Befreit werden können die Vernichteten zwar nicht mehr aus dem Tod, Godard hebt sie aber aus dem »laut- und bildlosen Schatten einer derart grell ausgeleuchteten Medien- und Kulturindustrie«,1019 um sie in dieser als Nichtintegrierbare zu verorten. In ihrer Funktion als indexikalische ›Zeugen‹ haftet den Bildern das vorsprachliche Reale an, das »jenseits aller Bebilderung, Erfindung oder Symbolisierung als unmittelbar Reales kenntlich«1020 wird und von »der im Werkmaterial manifestierten Intention, Narration, Argumentation etc.«1021 unabhängig ist. Die Indexikalität ist ein Effekt, der jenseits sowohl von intentionaler, planender Beeinflussung als auch vom technischen Rahmen […] liegt, […] [und] durch die Aufzeichnung und Übertragung von Realien selbst entsteht, insbesondere von physisch präsenten Personen. Die damit verbundene Herausforderung liegt in der fehlenden oder doch sehr begrenzten Verfügungsgewalt über diese Realien.1022

In diesem Sinn werden die Bilder und damit die von ihnen dargestellten Vernichteten von Godard als Heimsuchende inszeniert, die sich einer restlosen Besetzung durch Symbolisierungen und Narrativierung entziehen und »als ein Machen unterhalb oder neben aller Intention, bisweilen auch dagegen – als Stolpern«1023 in Erscheinung treten. Godard schichtet dabei sowohl drei Zeitebenen als auch drei verschiedene Bildmodi bzw. Filmgenres ineinander, die gleichzeitig sichtbar sind und miteinander interagieren: den dokumentarischen Augenblick des ursprünglichen Sehens und Bezeugens von 1945 (1), den Godard in die Kulturgeschichte Hollywoods – genauer in die aufstrebende fiktionale Nachkriegsunterhaltung von A Place in the Sun 1951 – einschreibt (2); und er wiederholt dieses Sichtbarmachen mit seinem fragmentarischen Essayfilm 1988 (3), 50 Jahre nach der Befreiung, kurz bevor mit dem Mauerfall die ›Nach1018 Harald Welzer: Die Bilder der Macht und die Ohnmacht der Bilder. Über Besetzung und Auslöschung von Erinnerung. In: Ders. (Hg.): Das Gedächtnis der Bilder. Ästhetik und Nationalsozialismus. Tübingen 1995, S. 165–194, hier S. 179. 1019 Harro Segeberg: Erlebnisraum Kino. Das Dritte Reich als Kultur- und Mediengesellschaft. In: Ders. (Hg.): Das dritte Reich und der Film. München 2004, S. 11–42, hier S. 24. 1020 Diederich Diederichsen: Körpertreffer. Zur Ästhetik der nachpopulären Künste. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2015. Berlin 2017, S. 45. Das Zitat von Diederichsen ermöglicht einen überraschenden, theoretischen Zusammenhang zwischen Godards hochkulturell inszenierter Auffassung des filmischen Mediums mit Diederichsen Definition der sogenannten »nachpopulären« Künste, die er auch als »indexikalische Künste« bezeichnet. 1021 Ebd., S. 45f. 1022 Ebd., S. 9. 1023 Ebd., S. 10.

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Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma

kriegszeit‹ zu einem Ende kommen wird und neue Themen und Herausforderungen des Erinnerns den Diskurs zu bestimmen im Begriff sind. Schon 1964 spielt Godard in Une femme mariée ein ironisches Spiel mit der »Urheberschaft«1024 von Bildern aus den Konzentrationslagern, um deutlich zu machen, dass »[d]er point of departure für das Gedächtnis […] kontingent«1025 ist und Erinnern sich nicht in einen wohlgepflegten kulturellen Rahmen einfrieden lässt. Dort trifft sich die Hauptfigur Charlotte mit ihrem Geliebten in einem Flughafenkino, wo sie Nacht und Nebel zu sehen bekommen. Die Szene zeigt Hitchcocks Gesicht im Close Up auf einem Filmplakat in der Vitrine des Kinos ohne weitere Informationen (etwa den Filmtitel). Dadurch wird nicht nur suggeriert, dass Hitchcock Autor der Bilder aus Nacht und Nebel sein könnte, die »Bilder von Auschwitz, die wir sehen, stehen im Kontext des klassischen Hollywoodkinos. Sie sind nicht prinzipiell von anderen Spielfilmbildern unterschieden.«1026 Diesen Kniff der autoritativen Aufmerksamkeitslenkung muss Godard in Histoire(s) du cinéma gar nicht mehr aufrufen, hat er doch in der Filmgeschichte den Zufall ausgemacht, der das Bezeugen der Bilder aus dem Konzentrationslager mit dem Unterhaltungsfilm der 1950er Jahre in einen nichtkausalen Zusammenhang bringt. Hier dennoch von parodistischem Spiel zu sprechen,1027 ist insofern sinnvoll, als dass die beiden Ereignisse bzw. Erfahrungen in der Biografie von George Stevens zunächst getrennt voneinander liegen und erst von Godard in einen ästhetischen Zusammenhang gebracht werden, der eine narrative Struktur suspendiert, die Geste des Narrativen durch die Tonspur aber parodierend evoziert: Das in Godards Kommentar »et si George Stevens n’avait utilisé le premier/le premier film en seize en couleurs/à Auschwitz et Ravensbrück/jamais sans doute/le bonheur d’Elisabeth Tylor/n’aurait trouvé une place au soleil«1028 angedeutete Bedingungsverhältnis liegt nicht in den Bildern, sondern ist durch ein Drittes, hier das Leben George Stevens, begründet: »these are simply two heterogeneous examples linked by the chance presence of George Stevens. The only connection to be made is between the unspeakable 1024 Rembert Hüser: Augen machen. In: Bettina Bannasch, Almuth Hammer (Hg.): Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung: Mediale Repräsentationen der Schoah. Frankfurt am Main, New York 2004, S. 257–279, hier S. 278. 1025 Ebd., S. 274. 1026 Ebd., S. 278. 1027 Hüser spricht in diesem Zusammenhang von »Ironie« (Ebd., S. 277). 1028 Hdc 1999 1a 15. Dt.: »und wenn George Stevens nicht als erster/den ersten 16-mm-Farbfilm/in Auschwitz und Ravensbrück/verwendet hätte/hätte wahrscheinlich das Glück von Elizabeth Taylor/niemals einen Platz an der Sonne gefunden« (Hdc 1999 1a 29). Elizabeth Taylor ist dabei keineswegs als Stellvertreterin der Toten aufzufassen: »We are not, in other words, authorised to think that A Place in the Sun could not have been made if Stevens had never filmed the Nazi camps, nor that Elizabeth Taylor is in any meaningful sense the resurrection of the victims of these camps« (Douglas Morrey: Jean-Luc Godard and the Other History of Cinema. Warwick 2002, S. 54, Herv. im Original).

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horror of the Nazi crimes and that which remains inexpressible in the image.«1029 Die Verbindung zwischen Elizabeth Taylor und den in den Konzentrationslagern Vernichteten lässt sich durch keine logisch-zwingende, direkt kausale oder anderweitig motivierte Beziehung erläutern: »Die Hierarchisierungen, die notwendig wären, um Kausalitätsstrukturen […] zu legitimieren, werden unterlaufen. Von der filmischen Praxis dementiert.«1030 Statt auf narrative oder kausale Verbindungen zu setzen, verhilft Godard anhand des Zufalls in der Biografie von George Stevens, in den Worten Adornos, einer »bewußtlosen Geschichtsschreibung«1031 zu Bewusstsein. Hier kommt der deiktische Charakter der Montage zum Tragen. In der Stevens-Sequenz gibt es keine ›Anleitung‹, die vorgeben würde, wie mit den Bildern umzugehen sei. Deutlich ist aber, dass die Notwendigkeit besteht, diese Bilder jenseits konventionalisierter Wahrnehmungsweisen, ästhetischer Sublimierung oder kathartischer Funktionalisierung in die Kulturgeschichte aufzunehmen. Godard hat hier auch die Geschichte zum Thema gemacht. […] Godards Montage weist also darauf hin, daß die Differenzen, die hier im Spiel sind, der gemeinsamen Geschichte des Krieges und des Kinos angehören1032: Die Alliierten mußten den tatsächlichen Krieg zunächst ganz einfach gewonnen haben, damit George Stevens überhaupt nach Hollywood und zu seinen kleinen fiktiven Geschichten zurückkehren konnte. Hier zeigt sich eine ›Geschichte im Singular‹, da die Leiden von Dachau nicht von dem Blick des Zeugen getrennt werden können, der auch den Körper von Elizabeth Taylor gesehen hat – auch wenn, wie Godard hier nahelegt, dieser Zusammenhang Stevens selbst nicht bewußt war. Zugleich zeigen sich hier aber auch ›Geschichten im Plural‹, da beide Augenblicke sich gegenseitig zu vermeiden suchen, während sie doch in einer gemeinsamen ›Tragödie der Kultur‹ befangen sind.1033

Um dem Holocaust in einer Darstellung (oder wie Nancy es formulieren würde: in einer Berührung) angemessen zu begegnen, müssten wir uns, so die Lesart der 1029 Ebd., S. 54, Herv. im Original. 1030 Hüser, Augen machen, S. 277. 1031 Theodor W. Adorno: Jene zwanziger Jahre. In: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe, Stichworte, Anhang. Gesammelte Schriften Band 10.2. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1977, S. 499–506, hier S. 506. Demgemäß findet sich in den Histoire(s) du cinéma die Aussage, dass »le vrai cinéma/était celui qui ne peut se voir/[…] parce qu’oublié déjà/interdit encore/invisible toujours«. (Hdc 1999 3b 44–45). Dt.: »das wahre Kino/war das, was man nicht sieht/[…] weil schon vergessen/immer noch verboten/immer unsichtbar« (ebd. 55). 1032 Douglas Morrey merkt in einer analogen Denkbewegung an, dass »Godard recognises that the politics of fascism and the mechanics of the Final Solution belong, in part, to the same techno-ideological nexus to which we owe the cinema, centred around an industrial capitalist economy that objectifies human beings even as it seeks, with quasi-scientific rigour, to complete its knowledge of those human beings and to realise their perfectibility.« (Morrey, Jean-Luc Godard and the Other History of Cinema, S. 107). 1033 Didi-Huberman, Bilder trotz allem, S. 207f.

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Godard’schen Montage, des Noli me tangere erinnern: »›Halte mich nicht fest‹ läuft auch darauf hinaus, zu sagen: ›Berühre mich mit einer wahren, zurückgehaltenen, nicht Besitz ergreifenden und nicht identifizierenden Berührung.‹«1034 Die bildlich gezeigte bzw. erzeugte (Beinahe-)Berührung (Abb. 14 und HdC 2014 1a 47:52) kann als Metapher für einen angemessenen, darstellerischen und erinnernden Umgang mit den Toten der Konzentrationslager gelten.

Abb. 14: Bildliche Berührung: Überblendung eines Filmstills aus A Place in the Sun mit einem gedrehten Ausschnitt aus Giotto di Bondones Noli me tangere, eigene Überblendung.

Als »›Übertragungen‹, die sich nicht ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen lassen«,1035 stellen solch metaphorische, anarrative oder montierte Bildkompositionen den »Zwischenraum«1036 dar, der einer aussagelogischen, narrativen oder bildlichen »Verbindung zuvor [kommt]«.1037 Noli me tangere hieße demnach, das Unverfügbare, für das der auferstandene Christus steht und das zugleich dem grausamen Tod der durch die Nationalsozialisten Ermordeten innewohnt, anzuerkennen, und die Bilder und die abgerissene Geschichte der Vernichteten in ihrer Unzugänglichkeit als unintegrierbarer, einem »Gebrauch oder eine[m] Begriff«1038 entzogener Bestandteil unserer 1034 1035 1036 1037 1038

Nancy, Noli me tangere, S. 66. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt am Main 2013, S. 14. Deleuze, Das Zeit-Bild, S. 234. Ebd., S. 234. Ebd., S. 22f.

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kulturellen Praxis und gesellschaftlichen Diskursen hinzuzufügen.1039 Es ist gerade das Unvereinbare in Godards montierter Konstellation (oder: in Godards Modellieren), worin das Potential einer angemessenen, gedenkenden Annäherung liegt. Godards Montage erfasst so strukturell den Widerstreit, von dem Lyotard spricht: in der radikalen Zufälligkeit der Montage ist die inkommensurable Parallelität verschiedener, einander in ihrem Sprachsystem ausschließender Geschichten gleichzeitig sichtbar gemacht. Ganz ähnlich beschreibt Saul Friedländer die Unzulänglichkeit historischer Beschreibungen der nationalsozialistischen Verbrechen als Textcollage: Die Irrealität dieser Textcollage entspringt hier jedesmal der völligen Unvereinbarkeit der zwei Satzhälften. Die erste stellt eine gewöhnliche Verwaltungsmaßnahme dar und ist in ganz normaler Sprache abgefasst; die zweite beschreibt die selbstverständliche Konsequenz, nur daß hier plötzlich ein Mord beschrieben wird. Der Stil ändert sich nicht, kann sich nicht ändern. […] Die beschriebenen Ereignisse sind es, die ungewöhnlich sind, nicht das Vorgehen des Historikers. Wir stoßen mit unseren sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten an eine Grenze.1040

Dass die Grausamkeit und Inkommensurabilität weder durch Bilder noch durch sprachliche Darstellung angemessen zum Ausdruck kommen kann, darf allerdings nicht dazu führen, die Bilder von den Toten symbolisch zu überhöhen und zu sakralisieren, das heißt, sie einer anderen Kategorie von Bildlichkeit zuzuordnen oder zu verbieten. Vielmehr sind in den Histoire(s) du cinéma wie in Une femme mariée die »Bilder von Auschwitz […] immer Bilder in Reihen anderer filmischer Bilder«.1041 Dieser Status der Bilder als Bilder unter anderen Bildern ist für die Montagen Godards von immenser Bedeutung. Denn gerade in der Unvereinbarkeit der anarrativen Verbindung, im Abgrund oder im Dazwischen der Montage öffnet sich ein Raum für Interaktion: »das Filmmaterial selbst ist aber nicht mehr grundsätzlich vom übrigen Filmmaterial unterschieden. Die einzelnen Einstellungen werden in die ohnehin fragmentierte Bildreihe zurückgeholt und fangen an, mit den anderen Einstellungen […] zu interagieren.«1042 Diese Interaktion der Bilder – ihre gegenseitige Infizierung, wenn man so möchte – ermöglicht einen aktualisierten und aktiven Zugang zur Erinnerungsarbeit. Das zeigt sich insbesondere in der Sequenz, die unmittelbar vor der Montage zu A Place in the Sun kommt. Dort thematisiert die Textebene das 1039 Eine narrative Kondensierung ermöglichte, laut Nancy, kein individuelles Eingedenken einer »wirklichen Präsenz […], die aus […]einem Fortgang besteht« (Nancy, Noli me tangere, S. 22), sondern »Identifikation, Fixierung, Eigentum und Bewegungslosigkeit« (Ebd., S. 65f.). 1040 Saul Friedländer: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. Übersetzt von Michael Grendacher und Günter Seib. Frankfurt am Main 2007, S. 92. 1041 Hüser, Augen machen, S. 279. 1042 Ebd., S. 275.

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Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma

Schicksal Valentin Feldmans1043, eines jüdischen Résistance-Kämpfers, während die Bildebene die Fotografie einer Hinrichtung zeigt. Auf ihr sind eine junge Frau und ein junger Mann mit einem Strick um den Hals zu sehen (Hdc 2014 1a 47:07). Statt Valentin Feldman, wie der Kommentar nahelegt, ist auf der Fotografie jedoch Volodia Shcherbatsevich abgelichtet, ein Mitglied der Minsker Résistance, der zusammen mit Masha Bruskina, die ebenfalls auf der Fotografie zu sehen ist, gehängt wurde. Tontext und Bild stimmen nicht überein. Aus der Divergenz entsteht die Möglichkeit zur multidirektionalen Erinnerung: Valentin Feldmans Schicksal wird als singuläres genannt und verweist durch die Verknüpfung mit dem von Godard gewählten Bild gleichzeitig auf die mit ihm Kämpfenden und deren Lebens- und Sterbensgeschichte hin. Von Feldman ist zudem überliefert, dass er im Augenblick seines Todes – er wurde erschossen und nicht gehängt – seinen Mördern zurief: »Imbéciles, c’est pour vous que je meurs!«1044 Dieser Satz lässt sich als Versuch einer WiederAnnäherung des von Lyotard konstatierten Auseinanderfallens der Satz- und Handlungsregeln von Tätern und Opfern auffassen. Indem er seinen Tod entweder als stellvertretenden für den Tod der Nationalsozialisten oder aber als Gabe an seine Peiniger herschenkt, vermag Feldmans Aussage als eine erste (Neu-)Verknüpfung zwischen der Welt der Täter und jener der Opfer fungieren, deren Verbindung durch das Sprach-, Handlungs- und Verwaltungssystem der Nationalsozialisten negiert und vernichtet wurde. So wird Feldman zum Beispiel für ein produktives Offenhalten des Widerstreits bei gleichzeitiger Anknüpfung, die in Godards Montage zugleich verfahrenstechnisch realisiert ist. Die angestoßenen assoziativen Denkbewegungen kommen so niemals zur Ruhe, sondern erfordern das unablässige Aktivbleiben der Zuschauenden, einerseits den Behauptungen der Tonspur nicht blind zu folgen, andererseits in der impliziten Aufforderung, selbst weitere Recherche zu betreiben: »Erinnerungsarbeit ist weiterhin Aufgabe der Betrachter«.1045 Im Kontext der philosophischen Diskussion um den Verlust des eigenen Tods, den die Nationalsozialisten über all die Gewalttaten hinaus den Opfern zufüg-

1043 »on a oublié cette petite ville/[…] mais on se souvient de Picasso/c’est à dire de Guernica// on a oublié Valentin Feldman/le jeune philosophe fusillé/en quarante-trois/mais qui ne se souvient/au moins d’un prisonnier/c’est à dire de Goya« (Hdc 1999 1a 15). Dt.: »man hat diese kleine Stadt vergessen/[…] aber man erinnert sich an Picasso/das heißt an Guernica// man hat Valentin Feldman vergessen/den jungen Philosophen/der dreiundvierzig hingerichtet wurde/aber wer erinnert sich nicht/an zumindest einen Gefangenen/das heißt Goya« (Hdc 1999 1a 29). 1044 Valentin Feldman: Journal de guerre. 1940–1941. Imbéciles, c’est pour vous que je meurs! Tours 2006. (Dt. »Ihr Idioten. Ich sterbe für euch!«). 1045 Hüser, Augen machen, S. 275.

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›Noli me tangere‹ – Berührungslose Berührung

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ten,1046 kann der Gedanke Nancys, Auferstehung im Sinn von »Aufstand«1047 zu verstehen, als Protest und Widerstand gegen diese Enteignung gelesen werden. Widerstand ist dabei wirkmächtig durch Kooperation und gegenseitiges Einstehen. So betont Nancy den der Auferstehung innewohnenden passiven Moment der Ohnmacht, der nur durch den anderen aufgelöst werden kann:1048 »Es ist der andere, der für mich aufersteht.«1049 In der Stevens-Sequenz wird Christus zu dem, der auf den Glauben und die distanznehmende Zuneigung der Gläubigen angewiesen ist. Übertragen auf die von den Nationalsozialisten Getöteten bedeutet dies die Verantwortung zu einer Darstellung, die stets Distanz einhält, um narrative, politische oder emotionale Vereinnahmung und melodramatische Formen der Identifikation zu vermeiden. Damit kehrt Godard die Aufmerksamkeitsstruktur in der Stevens-Sequenz um. Über den bekannt gewordenen, preisgekrönten Film A Place in the Sun, dessen Titel im übertragenen Sinn mediale Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit bedeutet, vermag es Godard, den vergessenen Bildern aus Dachau für Momente eben jenen Platz an der Sonne zu ermöglichen. Godards Stevens-Sequenz verfolgt Stevens biografische Spur von der Fiktion zur historischen Wirklichkeit zurück, um letzterer durch erstere zu einer Sichtbarkeit zu verhelfen.

1046 Für Adorno ist »[m]it dem Mord an Millionen durch Verwaltung […] der Tod zu etwas geworden, was so noch nie zu fürchten war. Keine Möglichkeit mehr, daß er in das erfahrene Leben der einzelnen als ein irgend mit dessen Verlauf Übereinstimmendes eintrete. Enteignet wird das Individuum des Letzten und Ärmsten, was ihm geblieben war. Daß in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar, muß das Sterben auch derer affizieren, die der Maßnahme entgingen« (Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Gesammelte Schriften Band 6. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 2003, S. 355). 1047 Nancy, Noli me tangere, S. 25. 1048 Nicht umsonst vergleicht Godard die Kinoleinwand mit dem Leichentuch, in das sich die Züge Jesu eingebrannt haben und von seinem Gestorbensein zeugen: »le cinématographe n’a jamais voulu faire/un événement/mais d’abord une vision/parce que l’écran/n’est-ce pas/c’est la même toile blanche que la chemise du samaritain//ce que retiendront les caméras légères/inventées par Arnold et Richter/[…] ce n’est pas sur un écran/qu’on le présentera/mais sur un suaire« (Hdc 1999 1a 12f.). Dt.: »der Kinematograph hat niemals/ ein Ereignis herstellen wollen/sondern vor allem eine Vision/weil die Leinwand/doch wohl/ das gleiche weiße Leintuch/wie das Hemd des Samariters ist//was die leichten Kameras festhalten werden/die von Arnold & Richter erfunden wurden/[…] das wird nicht auf einer Leinwand/vorgeführt werden/sondern auf einem Leichentuch« (ebd. 27). 1049 Nancy, Noli me tangere, S. 27. Nancy liest Auferstehung nicht als Wiedergeburt oder Reinkarnation, sondern als »Erhebung […]. Weder dialektisiert noch vermittelt sie den Tod: Sie lässt darin die Wahrheit eines Lebens sich erheben, allen Lebens, insofern es sterblich ist, eines jeden Lebens, insofern es singulär ist.« (Ebd., S. 26). In der Erinnerung an die Figur des »Aufrecht Sterbens«, will Nancy auf die Tatsache hinweisen, »dass der tragische Tod stets ein aufrechter Tod ist, d. h. dass er gewaltsam eintritt und nicht am Ende eines Sterbeprozesses kommt« (ebd., S. 26).

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Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma

Jean-Luc Godards Histoire(s) du cinéma – Fazit

Das assoziative Montage-Verfahren der Histoire(s) du cinéma lässt sich als rezeptionsüberforderndes Palimpsest beschreiben, das den Betrachter mit anarrativen Konstellationen und Modellierungen konfrontiert. Diese können mithilfe der filmischen Montage Sachverhalte vermitteln, die in ihrer Eigenheit und Gänze durch Narration nicht erfasst werden können. Die Montage hat durch ihre grundsätzliche Anschlussfähigkeit das Potential, einerseits Vergangenes als etwas Neues zu sehen zu geben und andererseits bereits Bestehendes durch unablässige Re-Kontextualisierung zu aktualisieren. In ihr treffen so Wiederholung und Möglichkeit aufeinander: [L]a répétition n’est pas le retour de l’identique, mais le retour de la possibilité de ce qui a été. Ce qui revient comme possible. D’où la proximitié de la répétition avec la mémoire: un souvenit est le retour de ce qui a été, en tant que possible. La répétition, elle, est le souventir de ce qui n’a pas été. C’est également une définition du cinéma: le souvenir de ce qui n’a pas été. […] Apparemment, les images que Godard nous montre sont des images d’images, extraites d’autres films. Mais elles acquièrent la capacité de se montrer elles-mêmes en tant qu’images. Elles ne sont plus images de quelque chose dont on doit immédiatement retracer une signification, narrative ou autre. Elles s’exhibent en tant que telles.1050

Damit ist Godards geschichtswissenschaftliches Unternehmen noch einmal klar umrissen: Er will nicht nur dem Kino zu einer eigenen bewussten Geschichte verhelfen, die Geschichte der gemachten Filme bedarf einer mehrfachen ReKontextualisierung und Ergänzung durch die nicht gezeigten, modellierten Geschichten. Dabei rücken vor allem Entstehungs- und Verhinderungsbedingungen einzelner Filmprojekte und formaler Entwicklungen wie Distributions-, Macht- und Kriegsstrukturen in den Vordergrund, um dem Marginalisierten und in der Vergangenheit unmöglich Gemachten zu einer Erinnerung zu verhelfen. Die hier analysierte ›Stevens-Sequenz‹ ist entsprechend als Godards ›Korrektur‹ des von ihm als Missstand ausgestellten Umstands zu lesen, dass die nationalsozialistischen Verbrechen erst spät und dann häufig in fiktionalen Erzählungen, die auf narrative Schließung oder Funktionalisierung zielen, Eingang in die Filmgeschichte gefunden haben. Es geht in der Sequenz daher nicht 1050 Giorgio Agamben: Contribution de Giorgio Agamben. In: Le Monde 6. 10. 1995. Eine englische Übersetzung liest: »repetition is not the return of the same but the return of the possibility of what was. What returns returns as possible. Hence the proximity of repitition to memory: a memory is the return of what was, qua possible. Repetition, for its part, is the memory of that which was not. This is also a definition of the cinema: the memory of that which was not.« (Giorgio Agamben: Cinema and History: On Jean-Luc Godard. In: Henrik Gustafsson, Asbjørn Grønstad (Hg.): Cinema and Agamben. Ethics, biopolitics and the moving image. Bloomsbury 2014, S. 25–26, hier S. 26).

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Jean-Luc Godards Histoire(s) du cinéma – Fazit

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um die Frage nach der Darstellbarkeit, sondern vielmehr um alternative Möglichkeiten, Geschichte zu zeigen und das von einer bestimmten historischen Narration Ausgeschlossene sichtbar zu machen. Godard betreibt damit ›Politik‹ im Sinne Rancières, die dann entstehe, »wenn es einen Ort und Formen für die Begegnung zwischen zwei ungleichartigen Vorgängen gibt«.1051 Die gesellschaftlichen Bereiche werden laut Rancière nach ›polizeilicher Logik‹ in kontingente Rollen, Tätigkeiten und Sichtbarkeiten aufgeteilt. Daraus entstehen Hierarchien, die über die Teilnahme von Individuen und Gruppen an einer Gemeinschaft bestimmen. Entsprechend ist eine »[p]olitische Tätigkeit […] jene Tätigkeit, die einen Körper von seinem […] ihm als natürlich zugeteilten Ort entfernt, das sichtbar macht, was nicht hätte gesehen werden sollen, und das als Rede verständlich macht, was nur als Lärm gelten dürfte«,1052 und dadurch die bestehende polizeiliche Ordnung herausfordert. Die Kunst ist zu solch politischen Tätigkeiten mit dem Übergang vom repräsentativen zum ästhetischen Regime in der Lage. Rancière bestimmt Kunst »mit Bezug auf ihre ästhetischen Fähigkeiten, d. h. in Bezug auf ihre Fähigkeit, sichtbar zu machen, Sichtbarkeiten zu verschieben, Gemeinsames neu aufzuteilen«.1053 Der hier analysierten Sequenz gelingt es, diese Verteilung von Sichtbarkeit neu zu ordnen und den unterrepräsentierten historischen Ereignissen zu Aufmerksamkeit zu verhelfen. Godards Montage-Verfahren ermöglicht eine Annäherung an die Opfer des Holocaust unter der Prämisse der (anarrativen) Distanz. Das Motiv des ›Noli me tangere‹ in der Lesart Nancys liefert den Kontext, um erstens einen Traditionsbezug herzustellen und zweitens eine Struktur der Distanz bei gleichzeitiger Solidarität als Modellierung eines angemessenen, aktualisierten Erinnerns zu konturieren. Auch der Filmausschnitt aus A Place in the Sun weist diese Struktur der Zusage im Entzug oder der Anwesenheit in der Abwesenheit auf. Elizabeth Taylor ist dabei weder Symbol noch Stellvertreterin der Vernichteten. Es ist vielmehr das Gefüge aus dem inhaltlichen Motiv der ›abwendenden Zuwendung‹ und der konstitutiven Fremdheit der Überblendung von Christus und Elizabeth Taylor mit den Toten aus Dachau, das die Inkommensurabilität dieser Aspekte der gemeinsamen (Kultur- und) Filmgeschichte zeigt und dabei zugleich eine sinnstiftende und erklärende Ausdeutung der Sequenz verweigert. Die Bilder der Vernichteten werden nicht in ein Narrativ eingebettet, das die Schrecken mi1051 Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Aus dem Französischen von Richard Steurer. Frankfurt am Main 2002, S. 42. 1052 Maria Muhle: Einleitung. In: Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Hg. von Maria Muhle. Berlin 2008, S. 7–19, hier S. 9f. 1053 Maria Muhle: Jacques Rancière. Für eine Politik des Erscheinens. In: Stephan Moebius, Dirk Quadflieg (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. Wiesbaden 2011, S. 311–320, hier S. 317.

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Jean-Luc Godards Geschichts-Modellierungen – Histoire(s) du cinéma

metisch nachstellen, sie bruchlos integrieren oder symbolisch sublimieren würde. Sie weisen in der ›Störung‹ der Erzählungen, die sie überlagern (hier jene des christlichen ›Noli me tangere‹ und jene des Nachkriegsdramas A Place in the Sun), auf die Lücke hin, die kulturgeschichtlich durch die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden und nach Godards Verständnis auch durch das Unsichtbarhalten dieser Vernichtung entstanden ist. Überdies erzeugen die Bilder im Vollzug ein augenblickliches Erinnern, das keinen Regeln folgt: Der Formel des ritualisierten Abendmahls »tut dies zu meinem Gedächtnis«1054 wird ein nicht ritualisierbares Erinnern entgegengesetzt, das dennoch durch die Montage von Giottos Noli me tangere aus der erzählerischen Wirkmacht des christlichen Glaubens schöpft. Anstatt neue ikonische Bilder aus den Todeslagern zu erschaffen, überführt Godard die Bilder aus Dachau in eine bewegte Sequenz, deren Deutung sich nicht restlos stillstellen lässt. In diesem Sinn erschöpft sich die Stevens-Sequenz nicht in einer neuen Kulturerzählung, sondern erzeugt eine produktive Irritation, die dem Betrachter eine entautomatisierte Begegnung mit dem historischen Erbe zwischen diskursivem Wissen und poetischem Eingedenken ermöglicht: als unablässiges Modellieren eines distanzierten nicht instrumentalisierenden Erinnerns, das geschichtlichem Vergessen entgegenarbeitet, denn »l’oubli de l’extermination/fait partie de l’extermination« (Hdc 1999 1a 13).1055

1054 Lukas 22, 19. 1055 Dt.: »das Vergessen der Vernichtung/Teil der Vernichtung ist« (Hdc 1999 1a 27).

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Exkurs: Meinecke, Godard und Kluge im Zusammenhang

Betrachtet man Hellblau und Histoire(s) du cinéma unter einer vergleichenden Perspektive, fallen verschiedene Ähnlichkeiten auf. Beide haben nicht nur das vergleichbare Ziel, die historischen Ereignisse bzw. deren mentalgeschichtlichen Nachwirkungen für die Filmgeschichte (Godard) und für unsere aktuelle öffentliche, mediale Diskurskultur (Meinecke) sichtbar zu machen, Hellblau ist fernerhin in seinem Rezeptionsprozess den Histoire(s) du cinéma Godards erstaunlich ähnlich: Beide bewirken eine vergleichbare Überforderung der Rezipierenden. Dabei aber müssen die medienspezifischen Unterschiede genauso klar benannt werden wie die verschiedenen kategorialen Orte, an denen die Überforderung entsteht: sie liegt in den Histoire(s) du cinéma schon auf physiologischer Ebene. Durch das schnelle und häufig gleichzeitige Überblenden, Schichten, Flackern mehrerer Bilder und Töne kann das Auge das Dargebotene oftmals nicht aufnehmen. Einzelheiten können erst bei mehrmaligem Schauen oder gar erst durch Pausieren tatsächlich wahrgenommen, kognitiv verarbeitet und dann – je nach Hintergrundwissen der Rezipierenden – auch kontextuell eingeordnet werden. Die Betrachtenden stoßen damit zunächst an ihre wahrnehmungsphysiologischen Grenzen. Nicht von ungefähr bezeichnet Theweleit Godards Verfahren als »Heraufbeschwörungen von Bildern«.1056 Darüber hinaus entstammen die überblendeten und zur Gleichzeitigkeit montierten Bilder unterschiedlichsten thematischen Bereichen, so dass eine zusätzliche kognitive Überforderung eintritt. Diese erfahren auch die Rezipierenden von Hellblau. Je mehr Kenntnis ein:e Leser:in (und Filmzuschauer:in) über Techno – bezogen auf Hellblau – oder über die Filmgeschichte – bezogen auf die Histoire(s) du cinéma – mitbringt, desto geringer fällt die wissensbezogene Überforderung aus. Davon unberührt, bleibt bei Meinecke die Unübersichtlichkeit der Sprecherpositionen bestehen – nicht immer ist klar, wer spricht, genauso wenig ist immer klar, worüber gerade gesprochen wird. Das heißt, einzelne Sätze bilden doppelte Anschlussmöglichkeiten sowohl für das unmittelbar Vorangegangene als auch 1056 Theweleit, Bei vollem Bewußtsein schwindelig gespielt, S. 7; siehe dort auch S. 30.

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Exkurs: Meinecke, Godard und Kluge im Zusammenhang

für das direkt nachfolgende Thema, wodurch sowohl syntaktische wie semantische Ambivalenzen entstehen. Ein ähnlicher Effekt ist in vielen Texten Alexander Kluges zu beobachten, wenn innerhalb einer Episode Stilwechsel derart stattfinden, dass der Status der jeweiligen Textabschnitte unklar bleibt: stellen sie verschiedene Perspektiven dar, sind sie hierarchisch zu verstehen, stehen sie in einem gegenseitigen Kommentierungsverhältnis etc.?

Un-authorisiert: Das Verhältnis zwischen dem erschaffenden Subjekt und seinem Material Nimmt man die mit dem Begriff der Postmoderne verbundene »Angst vor dem Realitätsverlust in der Repräsentation«,1057 die sich »[i]m Zeitalter der Medien […] nirgendwo so deutlich wie beim Thema ›Holocaust‹ [artikuliert]«,1058 ernst, werden einige gesellschaftspolitische Fragen auch für den Bereich der Ästhetik bedeutsam: Wie kann beispielsweise die Gefahr, dass die den ›postmodernen‹ Verfahren zugrundeliegenden Positionen sich nicht in »unverbindlichen Pluralismus d. h. Indifferenz […] auflösen«,1059 abgewendet werden? Bedarf es, wie Bachtin angesichts der Polyphonie der Texte Dostojewskijs schon einforderte, doch wiederum einer »Präsenz des Autors und seiner letzten Sinninstanz«?1060 Die besprochenen Kunstwerke geben bezüglich der theoretischen Konturierung des Autorbegriffs und des damit einhergehenden Produktionsprozesses unterschiedliche Antworten. So unterscheiden sich Meinecke und Godard (und Kluge) in ihrer Auffassung des erschaffenden Subjekts zentral: Für Meinecke gilt die »prophylaktische Arbeitshypothese […]: Das autonome Subjekt ist abge-

1057 Andreas Huyssen: Von Mauschwitz in die Catskills und zurück: Art Spiegelmans Holocaust-Comic Maus. In: Manuel Koeppen, Klaus Scherpe: Bilder des Holocaust. Literatur, Film, Kunst. Köln 1997, S. 171–189, hier, S. 171. 1058 Ebd., S. 171. 1059 Peter V. Zima: Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur. 2., überarbeitete Auflage. Tübingen, Basel 2001, S. 353. Entdifferenzierung sei, so der Vorwurf an die pluralisierende Postmoderne, gerade nicht systemstürzend, sondern eher systemerhaltend, da sie in ihrer Ausprägung der populären Massenkultur potentiell revolutionäre Energie in die Rezeption und Ko-Produktion von lediglich als subversiv bezeichneten massenmedialen Produkten umlenke und sich darin leerlaufe. Die ursprünglich aus der Kritik an totalitären Tendenzen der Moderne entstandene postmoderne Position präsentiert keine gesellschaftspolitische Alternative, sondern verlegt den kritischen Impetus entweder in die private Rezeption kulturindustrieller Artefakte oder führt zu anarchischer Regellosigkeit und strebt dauerhaften Konfliktkonstellation zu. 1060 Michail M. Bachtin: Das Wort im Roman. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. von Rainer Grübel. Frankfurt am Main 1979, S. 154–300, hier S. 205, Herv. im Original.

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Un-authorisiert

schafft.«1061 Damit kalkuliert Meinecke ein, dass das ihm zur Verfügung stehende Material und seine Bearbeitung desselben eine Ko-Existenz eingehen. Daraus folgt, dass ihm die Kontrolle über sein Material niemals sicher ist. Godard dagegen etabliert sich selbst auf Bild- und Tonebene als Autorität, bzw. als Zentrum der Histoire(s) du cinéma. Er stellt sich offensiv als in der Traditionslinie des cinéma des auteurs der nouvelle vague stehend aus, als deren Zeuge und Bürge er – sich selbst darin historisierend – gilt. Dieser Inszenierung liegt eine ordnende und strukturierende Geste zugrunde, die durch die Autorität seiner Person gewährleistet wird. Zugleich wird das Bild von Godard am Schneidetisch, das jeweils zu Beginn eines Teils gezeigt wird, ebenso wie sein – häufig wertender – Kommentar in die Flut an Bildern und Stimmen eingegliedert, so dass die autoritative Setzung zugleich ihre Zurücknahme bzw. Relativierung erfährt. Im Zusammenhang mit der als ›Beschwörung‹ beschriebenen Technik der visuellen und akustischen Überforderung, welche die Histoire(s) du cinéma erzeugen, beschreibt Theweleit das metaleptische Paradox, das Godard als Regisseur der Histoire(s) du cinéma einerseits außerhalb sowie andererseits als abgelichteter Bildgegenstand innerhalb der Histoire(s) du cinéma verortet, als Wechselwirkung: »der Beschwörende ist selbst Teil der Geschichte(n), die er montiert, herbeizaubert … […] sein magisches Hantieren … gefesselt an fatale Schönheit«.1062 Als medialer und verfahrensspezifischer Effekt entsteht dadurch ein ähnliches Verhältnis zwischen Material und ordnendem ›Regisseur‹ wie bei Meinecke, wenn Theweleit Godard als von seinem Material gebannt beschreibt: ein unablässiges Wechselspiel zwischen der Materialhoheit und der findenden und ordnenden Geste des ›Autors‹. Alexander Kluges Autorinszenierung steht in einem ähnlichen Spannungsfeld wie Godards Oszillieren zwischen autoritativem Gestus, (selbst-)ironischer Brechung und dem Unterlaufen hegemonialer Behauptung durch die hierarchieaufhebende Bild- und Sprach-Praxis. Seine Beglaubigung generiert Kluge durch den expliziten Rückgriff auf die Kritische Theorie, die rhetorisch zum Garant für Redlichkeit stilisiert wird. Die Integration einer Ich-Figur in sein erzählerisches Universum, das als Alter-Ego gelten kann, nimmt diese Geste der Souveränität zurück. Eine ähnliche Doppelbewegung zeichnet die Interviews in seinen Fernsehsendungen aus. Dort ist Kluge als Interviewer fast nie im Bild zu sehen und damit außerhalb eines visuellen Zugriffs im (oder gar gottgleich außerhalb des?) hors-champ situiert. Zugleich ist er aber durch seine Stimme Teil der audio-visuellen Situation und als solcher involvierter Gesprächspartner. 1061 Thomas Meinecke: Ich als Text (Extended Version). In: Ute-Christine Krupp, Ulrike Janssen (Hg.): zuerst bin ich immer Leser. Prosa schreiben heute. Frankfurt am Main 2000, S. 14–26, hier S. 20. 1062 Theweleit, Bei vollem Bewußtsein schwindelig gespielt, S. 31.

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Exkurs: Meinecke, Godard und Kluge im Zusammenhang

Während Godards Kommentar auf der Tonspur der Histoire(s) du cinéma eine Rhetorik christlicher Erlösung aufweist, ist Hellblau von Rhetoriken geprägt, die der Popkultur, insbesondere der Techno-Szene, entstammen, die ebenso wie der Roman unter antiessentialistischen Voraussetzungen operieren. Meineckes Ausgangspunkt ist damit rhetorisch zunächst als konträr zu Godards und Kluges ästhetischer Selbstinszenierung aufzufassen. Strukturell aber widersetzt sich in allen drei Arbeiten das jeweilige Sprach- oder Bildmaterial »gegen dessen blanke Identität«1063 und damit einer einfach bestimmbaren, autoritären Intention, denn »wo das Subjekt schrankenlos über das ihm Äußerliche verfügt, schlägt Intention um in Ideologie«.1064

Simultaneität und Sukzession – Verfahrensähnlichkeiten der Erzählverweigerung über Mediengrenzen hinweg Nicht nur die Figuren in Hellblau unterhalten sich über Verfahren, Ideologie und Teilnehmer:innen der Techno-Szene, auch in Interviews mit Thomas Meinecke zieht dieser Techno-Begriffe aus der DJ-Praxis zur Beschreibung seiner Produktions- und Rezeptionstätigkeit als Schriftsteller heran: Er spricht von ›Sampling‹, ›auflegen‹ und ›modulieren‹. Die Begriffe zielen nicht auf die Tätigkeit der Produzierenden, sondern auf den Entstehungsprozess, auf die produktiven poetischen Verfahren, denen keine Vorstellung von Originalität oder Ursprung mehr zugrunde liegt. Meinecke beschreibt damit die technischen Prozesse, die für Techno-Musik gelten – und auch auf Godards Film-Projekt angewendet werden könnten –, in Bezug auf Literatur jedoch ihre Grenzen haben: Eine simultane Schichtung ist durch Sprache nicht realisierbar. Auch bleibt die Grammatik in Hellblau intakt, so dass hier keine dem Loop oder dem Sample entsprechenden Äquivalenzen in der Literatur entstehen. Simultaneität muss in der Literatur in Sukzession aufgelöst und übertragen werden. In linguistischen Begriffen formuliert, muss ein Paradigma als Abfolge dargestellt werden, die das Syntagma für den Umfang der Reihung aussetzt und damit die Grammatik bzw. die syntaktische Anordnung kurzfristig stillstellt. Soll Gleichzeitigkeit literarisch erzeugt und dargestellt werden, ist dies durch Bedeutungsschichtung in Form von lexikalischer, syntaktischer oder kontextueller Ambiguität oder Mehrdeutigkeit möglich. In Hellblau findet Ambiguität 1063 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften Band 7. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1970, S. 227. 1064 Andreas Kilb: Die allegorische Phantasie. Zur Ästhetik der Postmoderne. In: Christa und Peter Bürger (Hg.): Postmoderne: Alltag, Allegorie und Avantgarde. Frankfurt am Main 1987, S. 84–113, hier, S. 98.

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Simultaneität und Sukzession

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durch das Konzept des Signifying (Monkeys), dessen theoretischer Hintergrund sich aus Bachtins Konturierung des zweistimmigen, parodistischen Worts ergibt, explizite Bedeutung. Der interne, semantische Widerstreit eines Wortes sowie die gegenseitige semantische Infizierung verschiedener Worte ist, wie in der Analyse von Hellblau – und von Faserland – deutlich wurde, ein zentraler Kern für sprachlichen Widerstand, der hegemoniale Sprachpraktiken zu unterminieren vermag. Godard und Meinecke wenden diese Verfahren der Multiplizierung und der Schichtung auf die sprachlich und bildinszenatorisch herrschenden Diskurse in Literatur und Film an, um der hegemonialen Anordnung von Sprache und Bildern alternative Weisen der Verknüpfung von Sachverhalten und ›parallele Narrative‹ beizustellen. Klaus Scherpe bezeichnet derartige Verfahren als »Gegenstrategie«,1065 die in Bezug auf die künstlerische Verhandlung von Nationalsozialismus und Holocaust in der »Vermeidung der zentralen, sinngebenden und erlösenden Metapher, die Katharsis in der mit dem Namen Auschwitz verbundenen Tragödie«1066, besteht. Ein derartiger Umgang mit dem Holocaust stellt sich bei Meinecke wie bei Godard als Realisierung der Forderung Lyotards nach einer Anknüpfung an Auschwitz dar, die nicht in einem vereinnahmenden Wir aufgeht. Thematisch fokussiert Meinecke Genderdebatten und ethnische Identitätsfragen und bindet diese an popmusikalische Diskurse zurück, um zu einer alternativen Erzählung jüdischer Teilidentität zu kommen. Dies gelingt durch das Aufrufen von Begrifflichkeiten, Themen und Motiven aus dem Zusammenhang des ›Auschwitz-Diskurses‹ (etwa ›Experiment‹ und ›baumeln‹ als Anspielung auf den Galgen in Auschwitz), die in die positive Erzählung einer musikalischen Erfindung überführt werden. Durch diese Rekontextualisierung der Worte werden diese nicht nur neu konnotiert, auch dem mit ihnen aufgerufenen motivischen Kontext des passiven Erleidens jüdischen Schicksals wird eine andere, aktive Vorstellung jüdischer Identität beigeordnet, die an den Diskurs über den Holocaust anknüpft und ihn zugleich nicht als alleinige, einzige Erzählung jüdischer Identität und Kultur verabsolutiert. Die Anbindung an den popkulturellen Techno-Diskurs stellt die Vorstellung jüdischer Identität zudem in einen Gegenwartsbezug. Dies wiederum impliziert, dass die ›Narration‹ jüdischer Identität nicht als abgeschlossene – und schon gar nicht auf die Opfer-Erzählung der Vernichtung zu reduzieren und – zu verstehen ist. Meinecke gelingt dabei zweierlei: Er markiert zum einen die Unüberbrückbarkeit zur historischen 1065 Klaus R. Scherpe: Von Bildnissen zu Erlebnissen. Wandlungen der Kultur »nach Auschwitz«. In: Hartmut Böhme, Ders. (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek bei Hamburg 1996, S. 254–282, hier S. 257. 1066 Ebd., S. 257.

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Exkurs: Meinecke, Godard und Kluge im Zusammenhang

»Zeitschaft«1067 und die Unzugänglichkeit der Para-Erfahrung. Zum anderen gelingt es ihm, eine aktive und auf agency basierende jüdische Identität jenseits des Opfer-Narrativs zu erzählen, ohne die Prämisse des abgeschafften autonomen Subjekts zu wiederrufen und die sprachlich sedimentierten Schrecken des nationalsozialistischen Regimes zu ignorieren. Statt dem Diskurs auszuweichen unterzieht der Roman ihn anhand einschlägiger Worte einem Signifying. Godards Histoire(s) du cinéma vollziehen eine Anknüpfung ohne Vereinnahmung formal durch die Weigerung, wahrnehmungstechnisch und kognitiv erfassbar zu sein: »In view of such a flood of superimposed, clashing, or intertwined references, it appears that a discursive and unifying ›reading‹ is no longer appropriate. Godard dares to offer up a complex film that refuses to be consumed.«1068 Inhaltlich besteht Godards Verfahren der Anknüpfung darin, das aufgerufene Symbol Auschwitz nicht in eine Narration einzubinden. Eine ›narrative‹ Verbindung zwischen diesen Bildern und der Szene aus George Stevens’ A Place in the Sun ist auf der Phänomenebene nicht ersichtlich, es kann aus ihrer Konfrontation demnach keine Erzählung im herkömmlichen Sinn entstehen, beide sind nicht durch einen Plot oder ein symbolisches Motiv miteinander verbunden. Ihre Verbindung ist die des biografischen Zufalls von George Stevens’ Leben. Erzählerischer Zusammenhang entsteht so allenfalls auf einer kategorial anderen Ebene, oder anders gewendet: Der Zufall wird zum Kern eines anderen Verknüpfungsverfahrens, das Jens Birkmeyer auch in den neuen Kriegserzählungen von Alexander Kluge erkennt.1069 Für Godards Histoire(s) du cinéma und Kluges Texte lässt sich zugespitzt postulieren, dass sie den Modus des (alternativen) Erzählens zugunsten eines Modus’ des Zeigens verweigern: Godard konfrontiert massenmedial verbreitete, fiktionale Bilder mit den dokumentarischen Bildern aus Dachau. In dieser Annäherung operiert er ähnlich konstellativ wie Kluge. Die gewählte Szene aus A Place in the Sun liefert den thematischen und strukturellen Kontext für eine produktive Form des Gedenkens, die keinen ritualisierten, sondern vielmehr idiosynkratischen Regeln folgt: Elizabeth Taylor vollzieht als Angela Vickers in der Szene eine paradoxe Figur der abwendenden Zuwendung, die dem Anspruch einer Anknüpfung ohne Inbesitznahme entspricht. Die Schichtung der verschiedenen Bildmaterialien (dokumentarisches Bildmaterial, ein Filmklassiker und das Abbild eines Gemäldes) lenkt die Auf1067 Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. München 1994, S. 78. Siehe dazu auch Kapitel 2.4. 1068 Céline Scemama: Jean-Luc Godard’s Histoire(s) du cinéma Brings the Dead Back to the Screen. In: Douglas Morrey, Christina Stojanova, Nicole Côté (Hg.): The Legacies of JeanLuc Godard. Waterloo, Ontario 2014, S. 99–124, hier S. 99, Herv. im Original. 1069 »Das Zeitmaß des Zufalls wird auf diese Weise zu einer relevanten und erzählbaren Qualität« (Jens Birkmeyer: Zeitzonen des Wirklichen. Maßgebliche Momente in Alexander Kluges Erzählsammlung »Dezember«. In: text + kritik (2011), Nr. 85/86, 66–75, hier S. 69).

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Simultaneität und Sukzession

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merksamkeit auf den Status des Bilds. Obgleich das filmische Bild in Godards Rhetorik häufig als Erlösung und damit als unmittelbare Anschauung oder – im Sinne einer Auffassung des indexikalischen Filmbildes – als Reales beschrieben wird, erweisen sich die Bilder und Filmausschnitte in den Histoire(s) du cinéma durch die Montage als mediale Konstrukte, deren Fähigkeit zu einer Aktualisierung zentral vom Herauslösen aus spezifischen Narrationen und ihrer Überführung in neue, montierte Kontext abhängt. Dabei dient die Diversifizierung durch Sampling, Montagen, Modellierungen oder Stilwechsel bei Meinecke, Godard und Kluge gerade dazu, neue Zusammenhänge herzustellen und Verbindungslinien zwischen Vergangenem und gegenwärtigen Gesellschaftsstrukturen zu ziehen. So entsteht aus der Flut der Bild- und Textzitate, in immer neuen »Versuche[n], Reproduziertes produktiv pulsieren zu lassen […], historische Spannung«.1070 Wenn für Krachts und Meineckes Romane eine neue Poetik behauptet wird, die sich durch Bedeutungsschichtung, Ambivalenzen, Dissemination und Vorbehaltlichkeit auszeichnet, so kann für Godard mit Christina Scherer von einer bestimmten ›Flexionsform des Bildes‹ gesprochen werden: »Die Bildbearbeitung kann […] als Flexionsform gemäß einer ›Grammatik der Zeit‹ verstanden werden, die die Bilder biegt und beugt«.1071 Diese Beschreibung von Kluges Bildeinsatz in dessen Fernsehmagazinen lässt sich auf die Bildbearbeitung Godards ebenso übertragen wie auf die bildliche und sprachliche Wirklichkeitsbearbeitung Kluges in seinen episodischen Fiktionen, in denen die stilistische Vielheit zu jener Flexionsform wird. Kluge skizziert in seiner Heinrich-Böll-Preis-Rede das – häufig imaginäre – Dazwischen als Ort, an dem das Aktuelle, das Zentrale eines Kunstwerks passiert. Seine Beschreibung geht von der filmischen Montage aus – und weist darin erstaunliche Ähnlichkeiten zu Godards Vorstellung des dritten Bilds auf – und sucht zugleich Äquivalenzen zu den Medien Literatur und Kunst: [I]m Schnitt, in der Differenz, dem, was nicht zu sehen war, zwischen den Bildern, liegt der wesentliche Teil der Information. […] Aus zwei Bildern und ihrem Gegensatz ist ein drittes, unsichtbares Bild geworden. Dieses Formprinzip ist in der Musik oder bei Texten nicht anders. Die Auslassung, das Dunkle, die Verkürzung, das Aufeinandertreffen von zwei Unwahrscheinlichkeiten, die gemeinsam ein Stück Leben ergeben, die Weigerung, etwas Lebendiges durch die direkte Bezeichnung festzunageln, die volle Nutzung der Möglichkeit indirekter Beschreibung.1072

1070 Erwin Reiss: Dekonstruktion des Films. Kapitales Fernsehen mit Videoköpfchen. Zum Kulturmagazin-Beispiel »Ten to Eleven«. In: Blimp 17 (1991), S. 26–31, hier S. 31. 1071 Christina Scherer: Das Bild der Schrift und die Schrift der Bilder. Zum Verhältnis von Bild und Schrift in den Kulturmagazinen Alexander Kluges. In: Augen-Blick 23 (1996), S. 34–53, hier S. 48. 1072 Kluge, Der Autor als Dompteur oder Gärtner, S. 25. Ebenfalls in diese Richtung geht Kluges Kommentar in einem Interview mit Rainer Lewandowski: »Eine Methode ist die soge-

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Exkurs: Meinecke, Godard und Kluge im Zusammenhang

Was Kluge hier als indirekte Beschreibung bezeichnet, lässt sich als Poetik des Umwegs fassen, für den Kluge und Godard entgegengesetzte Richtungen wählen. Nationalsozialismus und Holocaust bedürfen notwendigerweise einer medialen Vermittlung, da ihre Gegenwart nicht länger erfahrbar ist. Der Zugriff auf das, was wir mit den Worten ›Nationalsozialismus‹ und ›Holocaust‹ beschreiben, ist jedoch stets gegenwärtig und durch verschiedene Zugänge motivischer, inhaltlicher, symbolischer und formaler Art vorgeprägt. Die Vorstellung eines indirekten Zugangs geht dabei vom Status Quo eines sedimentierten, konventionalisierten Zugangs aus. Diesem entspricht ein Katalog einschlägiger symbolischer Topoi, spezifischer narrativer Formen des Emplotments (etwa durch Emotionalisierung oder Identifikation) und bestimmter Tendenzen zur Sakralisierung und Naturalisierung dieser Darstellungskonventionen. Indirekte Zugänge suchen diese Konventionen zu vermeiden und alternative Erzählformen, vor allem aber Darstellungsweisen außerhalb des Narrativen (wie etwa die Chronik in Dezember) zu finden. Die ästhetische Lösung, die sowohl Godard als auch Kluge zur Auseinandersetzung mit unzugänglicher Erfahrung von Krieg, Nationalsozialismus und Holocaust wählen, ist jene der kontextualisierenden Verfremdung, die eine Alternative zur narrativen Einebnung des Inkommensurablen darstellt. Während die Histoire(s) du cinéma eine Entautomatisierung der Bildrezeption durch Schnelligkeit und hohe Frequenz erreichen, setzt Kluges Terminologie auf das Gegenteil: Die ›Metapher‹ wird für Kluge zum Instrument der Verlangsamung, das es ermöglicht, dichte Erfahrungen zu entschleunigen, um sie prozessierbar zu machen und Übersichten herzustellen. Auch in der motivisch-strukturellen Annäherung an Nationalsozialismus und Holocaust lassen sich bei Kluge und Godard Ähnlichkeiten feststellen: Beide haben die Idee, ein emotionalisierendes Emplotment durch die Darstellung der Organisation und der Mechanismen von Gewalt und des massenverwalteten Tötens zu ersetzen, wie sie Kluge in seiner Schlachtbeschreibung schon früh realisiert hat. Kluges Fokus liegt dabei auf der sich entwickelnden Eigenzeit und -struktur des nationalsozialistischen Kriegs. Godard skizziert in seiner Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos eine ähnliche Idee, die sich allerdings auf einen potentiellen Film über den Holocaust bezieht. Godard zufolge könne das mimetisch, fiktionale Nachstellen eines Konzentrationslagers dem Ausmaß der katastrophischen Realität nicht gerecht werden. Die Grausamkeit werde erst in nannte Epiphanie. Das ist das Ideal der Montage überhaupt. Ich zeige zwei Sequenzen oder verschiedene Bilder und erwarte, daß der Zuschauer aufgrund von Gesetzen, die in jedem Menschen stecken und die in der Selbstregulation der Assoziationstätigkeit bestehen, etwas Drittes sich dazu vorstellt.« (Alexander Kluge im Interview mit Rainer Lewandowski. In: Rainer Lewandowski: Die Filme von Alexander Kluge. Hildesheim, New York 1980, S. 29– 59, hier S. 36).

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der technisierten, bürokratischen Handlungsweise sichtbar, die eine verstörende Nähe zum eigenen Alltag freilegt:1073 Prenons l’exemple des camps de concentration. Le seul vrai film à faire sur eux – qui n’a jamais été tourné et ne le sera jamais parce qu’il serait intolerable – ce serait de filmer un camp du point de vue des tortionnaires, avec leurs problèmes quotidiens. Comment faire entrer un corps humain de deux mètres dans un cercueil de cinquante centimètres? Comment évacuer dix tonnes de bras et de jambes dans un wagon de trois tonnes? Comment brûler cent femmes avec de l’essence pour dix? Il faudrait aussi montrer les dactylos inventoriant tout sur leurs machines à écrire. Ce qui serait insupportable ne serait pas l’horreur qui dégagerais de telles scènes, mais bien au contraire leur aspect parfaitement normal et humain.1074

Eine solche Darstellung ist für Godard nur als Mimesis der organisatorischen Kälte eine Option, die die auszehrenden Ausmaße der Vernichtung durch eine strukturähnliche Verausgabung an Mitteln aufzeigt: Es gibt noch einen Film, den ich wirklich gern gemacht hätte, an den ich schon oft gedacht habe und den ich auch jetzt gern machen würde, nicht mit Unbekannten, sondern mit richtigen großen Stars und viel Geld, das wäre nämlich richtig großes Kino – das ist ein Film über die Konzentrationslager. Ich möchte ihn als Superproduktion machen, einen richtigen Spektakelfilm, und natürlich wird niemand das machen wollen. Ich werde ihn nie machen, weil er zu teuer würde, so wie es sehr teuer war, sechs Millionen Menschen umzubringen. Selbst vierhundert pro Tag umzubringen, kostet schon was. Das muß organisiert sein, eine richtige Superproduktion. Und es auch so erzählen. Die Geschichte der Sekretärin erzählen, die hintippt: vier Goldzähne, fünf1073 »The idea of looking instead at the management of a concentration camp may have resulted from his choice of approaching the subject without easily resorting to any ›horrible scenes.‹« (Junji Hori: Godard, Spielberg, the Muselmann and the Concentration Camps. In: Douglas Morrey, Christina Stojanova, Nicole Côté (Hg.): The Legacies of Jean-Luc Godard. Waterloo, Ontario 2014, S. 67–79, hier S. 70). 1074 Jean-Luc Godard: Feu sur les Carabiniers. In: Alain Bergala (Hg.): Jean-Luc Godard par Jean-Luc Godard. Band 1. Paris 1985, S. 238–241, hier S. 239. Die deutsche Übersetzung in Didi-Hubermans Bilder trotz allem lautet: »Nehmen wir das Beispiel der Konzentrationslager. Der einzige wahre Film, den man über sie drehen könnte, würde ein Lager aus der Sicht der Folterer zeigen – aber ein solcher Film wurde niemals gedreht, und es wird ihn auch niemals geben, weil er nicht zu tolerieren wäre. […] Das Unerträgliche daran wäre nicht das Entsetzen, das solche Szenen auslösen würden, sondern ganz im Gegenteil ihr vollkommen normaler und menschlicher Anschein.« (Didi-Huberman, Bilder trotz allem, S. 202, Fußnote 432). Vgl. auch Godard, Introduction à une veritable histoire du cinéma: »comment évacuer les cadavres? C’était le gros problème des camps de concentration. […] Et si on étudie les camps… C’est pour ça qu’il n’y a jamais de films qui sont vraiment faits sur les camps de concentration, car on y verrait notre propre monde, exactement sous une forme nette.« (Godard, Introduction à une véritable histoire du cinéma, S. 269–270). Dt.: »Wohin mit den Leichen? Das war das große Problem der Konzentrationslager. […] Deshalb werden die richtigen Filme über die Konzentrationslager auch nie gemacht. Dann würde man nämlich unsere eigene Welt sehen, ganz klar, in der reinsten Form.« (Godard, Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, S. 274).

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Exkurs: Meinecke, Godard und Kluge im Zusammenhang

hundert Gramm Haar…, und die nachmittags heimgeht. Jemand, der zugleich etwas wußte und nichts wußte.1075

In ihrer Drastik erinnert Godards Idee einer Poetik des Exzesses an Kluges Protestform der ›radikalen Nachahmung‹. Neben formaler Verfremdung und struktureller, motivischer oder inhaltlicher Nachahmung arbeiten Kluge und Godard mit ihren Texten und Filmen zudem an einer Vervielfachung, die sich in den Histoire(s) du cinéma unmittelbar am geschichteten Einzelbild zeigt, bei Kluge im stetigen Anwachsen der dicken Erzählbände deutlich wird und auch in Meineckes Hellblau durch die Hysterisierung des Diskurses ihren Ausdruck findet. Der erzeugte Zusammenhang operiert damit jenseits von Kategorien des Authentischen oder erzählerischer Plotstrukturen, er ist vielmehr – wie DidiHuberman für Godard konstatiert – laut, vielfältig, barock und also künstlich. […] Sie [Godards Kompositionsbilder, K.K.] sind götzendienerisch und respektlos und scheuen nicht davor zurück, das allgegenwärtige historische Archiv mit dem künstlerischen Repertoire des weltumspannenden Kinos zu vermischen. Sie zeigen viel, und sie montieren alles mit allem.1076

Aus der möglicherweise problematischen Unsicherheit der Montagen Godards und der Vervielfältigung von Geschichte durch Kluges Erzählungen sowie beider Überschreitungen der Grenze von Fakt und Fiktion entsteht zugleich die Stärke beider Gegenstände: In einer gleichermaßen bescheiden-unbescheidenen Geste des Hinzufügens treten Setzung und Zurücknahme in ein permanentes Wechselspiel. So gilt für Kluge wie für Godard, dass sie – nicht zuletzt unter der dirigierenden Hand ihrer ›Autoritäten‹ – immer noch eine weitere Geschichte erzählen… und noch eine… und noch eine… »als gäbe es kein zurück mehr« (FSL 41). Auch Quentin Tarantinos Inglourious Basterds erweist sich als eine Kompilation von Kompositionsbildern, die allerdings noch in ihrer Uneinheitlichkeit zu einem Plot zusammengeknüpft werden. Vielfalt entsteht hier innerhalb einer scheinbar intakten Erzählung, die von Wucherungen, Hybridisierung und Bastardisierung, kurz: von Paradigmatisierung geprägt ist.

1075 Godard, Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, S. 326. 1076 Didi-Huberman, Bilder trotz allem, S. 181f., Herv. im Original.

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Quentin Tarantinos ›Bilderstreit‹ – Inglourious Basterds1077

»Hiermit beauftrage ich Sie, einen Großfilm ›Kolberg‹ herzustellen. Aufgabe dieses Films soll es sein, […] zu zeigen, daß ein in Heimat und Front geeintes Volk jeden Gegner überwindet. Ich ermächtige Sie, alle Dienststellen von Wehrmacht, Staat und Partei […] um ihre Hilfe und Unterstützung zu bitten und sich dabei darauf zu berufen, daß der hiermit von mir angeordnete Film im Dienste unserer geistigen Kriegführung steht.«1078

Quentin Tarantino ist für seinen cinephilen und gewaltlastigen Regie-Stil bekannt und berüchtigt. Zugleich firmiert er als Hollywood-auteur, dessen Handschrift seine Filme grundlegend und unverwechselbar prägt. Innerhalb der ›Traum-fabrik‹ Hollywood ist Tarantino eine der zentralen filmischen Autoritäten, die die sogenannte Low culture der Trash- und Popkultur zu High culture zu machen versteht. Die Bearbeitung historischer Stoffe lag ihm bis zu Inglourious Basterds1079 fern. Wenn ein solcher postmoderner auteur, der für seine selbstreflexiven Medienspiele beliebt ist, sich an der filmischen Geschichtsschreibung beteiligt, geht davon eine Signalwirkung aus. Im Fall von Inglourious Basterds ist das Ergebnis ein Film, der sich unter anderem der nationalsozialistischen Ästhetik bedient, um mit den Mitteln der populären Kultur die Medienindustrie als zentrale Waffe der nationalsozialistischen Weltanschauung zugleich auszustellen und zu bekämpfen. In den folgenden Ausführungen geht es erstens um die Frage nach einem angemessenen Zugang zur Vergangenheit, der stets auf unseren Rezeptionserwartungen, Wahrnehmungen und Beurteilungen der herangezogenen Darstellungen basiert. Mediale Artefakte und insbesondere Filme, die vergangene Ereignisse verhandeln, konstruieren zugleich unablässig selbst Perspektiven auf die Vergangenheit, so dass eine enge Wechselwirkung von Kino und Geschichte

1077 Aufgrund der komplizierten Rechteverhältnisse und fehlender Kulanz war es nicht möglich, die Rechte zum Abdruck von Filmstills aus Inglourious Basterds zu erhalten. 1078 Joseph Goebbels an Veit Harlan, 01. 06. 1943. Zit. nach Erwin Leiser: »Deutschland, erwache!« Propaganda im Film des Dritten Reiches. Reinbek bei Hamburg 1968, S. 104f. 1079 Inglourious Basterds. USA, Deutschland 2009. Regie: Quentin Tarantino. Die Timecodes sind der DVD des Universal Pictures Filmverleih entnommen und werden im Fließtext unter der Sigle ›IB‹ nachgewiesen. Die mit der ›Drehbuch‹ angegebenen Seiten entstammen dem Drehbuch von Quentin Tarantino: Inglourious Basterds. A Screenplay. New York 2009. Standbilder können leider aufgrund schwieriger und unkooperativer Strukturen der Filmproduktionsfirmen und der Unerreichbarkeit Quentin Tarantinos nicht abgedruckt werden.

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Quentin Tarantinos ›Bilderstreit‹ – Inglourious Basterds

entsteht. In dieser Hinsicht sind die Anliegen von Tarantino und Godard analog.1080 Zweitens wirft Inglourious Basterds die Frage nach der politischen Macht der Bilderproduktion auf. Daher führt die folgende Analyse die narrativen und inszenatorischen Strategien der nationalsozialistischen Ästhetik mit derjenigen Hollywoods eng und konfrontiert beide mit Tarantinos Verfahren der Wucherung (von Genres, Filmstilen, Narrationen, Figuren), Hybridisierung und Bastardisierung. Denn drittens operiert Inglourious Basterds im diskursiven Feld postmoderner Selbstreflexivität, indem er sich vor allem aus dem intertextuellen Referenzsystem Film bedient und das Kino (und die Filmrolle) selbst als Figuren des Widerstands einsetzt.

7.1

Ceci n’est pas la Deuxième Guerre mondiale

Die alternative Geschichtserzählung von Inglourious Basterds hat mitnichten die realgeschichtlichen Ereignisse von 1941–44 zum Gegenstand. Das Medium Films dient hier der kritisch-mimetischen Darstellung der gegenseitigen Indienstnahme von Kino als bildlicher Welt(re)präsentation und Geschichtsinszenierung: »Inglourious Basterds reflects critically on the historical uses of cinema and the cinematic uses of history, especially inasmuch as these relate to the exploitation or revision of historical events: here, of course, the film reflects his own practise.«1081 Das Medium Film ist demnach für Tarantino »not a reflection of reality but a world unto itself.«1082 Es gibt kein Durchkommen zur Welt. Äquivalent zur berühmten Pfeife von Magritte auf dessen Bild La trahison des images verweist Tarantinos Film stets auf die filmische Materialität und damit auf die Bildhaftigkeit des Gezeigten, das keineswegs mit dem Gegenstand, den es abbildet, zu verwechseln ist. Im Gegensatz zu dieser Entlarvung von Bildern und ihren Referenten ist die Ästhetik der nationalsozialistischen Inszenierung darauf ausgelegt, eine bestimmte Form von Weltsicht zu erzeugen und durch Bilder eben jene Kluft zwischen der Bildhaftigkeit des Bildes und der Materialität der Wirklichkeit unsichtbar zu machen, sprich das Bild als die Wirklichkeit zu setzen. Die Inszenierung dessen, was Walter Benjamin als »Ästhetisierung der Politik,

1080 Diese Parallele nimmt nicht Wunder, ist Godard doch für Tarantino ein Vorbild. Ausdruck findet das unter anderem im Namen seiner Produktionsfirma, die er nach einem von Godards Filmen (Bande à part) A Band apart benannt hat. 1081 Matthew Boswell: Holocaust impiety in literature, popular music and film. Basingstoke 2011, S. 179. 1082 Sabine Hake: Screen Nazis. Cinema, History, and Democracy. Madison 2012, S. 163.

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Ceci n’est pas la Deuxième Guerre mondiale

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welche der Faschismus betreibt«1083 bezeichnet hat, ist dabei keineswegs eine Erfindung des Nationalsozialismus, und muss unter einem kulturhistorischen Blick perspektiviert werden. Gegen eine verbreitete Kritik an der nationalsozialistischen Ästhetisierung des Politischen, die eine spezifische ›faschistische Ästhetik‹ auszumachen sucht, fordert gerade der Befund der Ununterscheidbarkeit der Ästhetisierung des Politischen durch den Faschismus mit der des Nationalästhetizismus seit der Jahrhundertwende eine theoretische Reflexion heraus. Die Massenwirksamkeit der faschistischen Inszenierungen der Volksgemeinschaft ist nur verständlich vor dem Hintergrund der Umstrukturierung des politischen Raums in der Moderne, der mit der Umstrukturierung der kollektiven Wahrnehmungsdispositionen durch die neuen Medien zusammenhängt.1084

Geerbt hat die Ästhetisierung der Politik ihren Impetus von der avantgardistischen Moderne. Mit der Proklamation des »Neuen Menschen«1085, wie ihn beispielweise der Futurismus preist, geht vor allem eine Veränderung der Wahrnehmung einher. Neue Technologien wie Radio, Fotografie und Film erzeugen eine neue Ästhetik der Bewegung: Ihre Voraussetzung war die Verbindung von fliegerischer Wahrnehmung und Kamerafahrt, die im elektronischen Bild verschmilzt: das neue Sehen formte den politischen Raum zur politischen Gestalt und ermöglichte zugleich die Selbstwahrnehmung der politischen Bewegung.1086

Dies hat eine paradoxe »Gleichzeitigkeit von Versinnlichung und Distanzierung«1087 zur Folge, die in der grundlegenden Ambivalenz der »moderne[n] Wahrnehmungskultur gründet«.1088 Einerseits wird dem Kino eine direkte Wirksamkeit auf die Körper der Rezipierenden durch das Eindringen der fil1083 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [Erste Fassung]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1,2 Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, S. 431–469, hier S. 469. 1084 Inge Baxmann: Ästhetisierung des Raums und der nationalen Physis. Zur Kontinuität politischer Ästhetik vom frühen 20. Jahrhundert zum Nationalsozialismus. In: Karlheinz Barck, Richard Faber (Hg.): Ästhetik des Politischen – Politik des Ästhetischen. Würzburg 1999, S. 79–95, hier S. 84. 1085 »[D]er Aufbau des Menschen [ist] die Synthese aller seiner Funktionsapparate […]; d. h. daß der Mensch in seiner Periode dann der vollkommenste ist, wenn die ihn aufbauenden Funktionsapparate – die Zellen ebenso wie die kompliziertesten Organe – bis zur Grenze ihrer biologischen Leistungsfähigkeit benutzt werden. Die Kunst bewirkt dies […]. – Die Kunst versucht zwischen den bekannten und den noch unbekannten optischen, akustischen und anders funktionellen Erscheinungen weitgehende NEUE BEZIEHUNGEN herzustellen und diese in bereichernder Steigerung von den Funktionsapparaten aufnehmen zu lassen.« (László Moholy-Nagy: Produktion, Reproduktion. In: Ders.: Malerei, Fotografie, Film. Weimar, München 1927, S. 28–29, hier S. 28, Herv. im Original). 1086 Baxmann, Ästhetisierung des Raums und der nationalen Physis, S. 80. 1087 Ebd., S. 90. 1088 Ebd., S. 90.

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Quentin Tarantinos ›Bilderstreit‹ – Inglourious Basterds

mischen Räume und (Bild-)Körper in den wirklichen (Dunkel-)Raum des Kinos nachgesagt. Andererseits erzeugen die neuen Medientechniken die »Möglichkeit einer Wahrnehmung, die den Raum, den Körper (des Anderen) zum Objekt einer distanzierten Beobachtung und moderne Wahrnehmungstechnologien zu Herrschaftsinstrumenten macht«,1089 die im Nationalsozialismus zur Erzeugung einer totalitären Ästhetik eingesetzt werden. Es können aber »Gegenstrategien zu einer totalisierenden und totalitären Ästhetik des Politischen nicht in der Negation der Ästhetisierung liegen.«1090 Daher ist »[d]er Angriff des Kinos auf die geschichtliche Wirklichkeit, den man in Inglourious Basterds zu sehen glaubt, […] zuallererst ein Angriff des Kinos auf das Kino und seine Signifikations- und Ideologieproduktionsmaschine.«1091 Tarantino konfrontiert die ästhetischen Inszenierungsverfahren der Nationalsozialisten mit einer Gegenästhetik, die sich mitunter der gleichen Strategien bedient. Das umkämpfte Feld des Films ist demnach nicht die historische Wirklichkeit, sondern das sie begleitende »politische Imaginäre«1092, das im Film sowohl auf inhaltlicher als auch auf formaler Ebene thematisiert wird. Der Einsatz von Bildmedien ist dabei als strategisches Kriegsmittel zu bezeichnen. Paul Virilio beschreibt in Krieg und Kino die Wechselwirkung von Krieg und Kino als eine Modifizierung und Formung der Wahrnehmung: Die Geschichte der Schlachten ist zunächst die der Metamorphosen ihrer Wahrnehmungsfelder. Anders gesagt, geht es im Krieg weniger darum, materielle – territoriale, ökonomische – Eroberungen zu machen als vielmehr darum, sich der immateriellen Felder der Wahrnehmung zu bemächtigen. Da die modernen Kriegsparteien darauf abzielen, die Gesamtheit dieser Felder zu besetzen, liegt die Feststellung nahe, daß der ideale Kriegsfilm nicht unbedingt irgendein bestimmtes kriegerisches Geschehen wiedergeben müßte, da der Film, vom Moment an, da er in der Lage ist, Überraschungen – technische, psychologische – hervorzurufen, selbst in die Kategorie der Waffen gehört.1093

Tarantino sagt der »kulturelle[n] Mission«1094 einer »Verschmelzung von Kunstund Kriegs-Fanatismus, in der dieses Dritte Reich gleichsam zu sich selbst findet«1095 und deren ästhetische Inszenierungsweisen bis in die Gegenwart überdauern, mit Inglourious Basterds den Kampf an. Bevor die Tarantino’schen 1089 Ebd., S. 90. 1090 Ebd., S. 91. 1091 Benedikt Steierer: Tarantinos Rache an Hitler – Inglourious Basterds als kontroverser Metafilm. In: Medienobservationen 27. 01. 2012, S. 1–19, hier S. 16. http://www.medienob servationen.lmu.de/artikel/kontrovers/steierer_basterds.pdf, abgerufen am 09. 04. 2022. 1092 Baxman, Ästhetisierung des Raums und der nationalen Physis, S. 90. 1093 Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. Frankfurt am Main 1989, S. 13. 1094 Harro Segeberg: Erlebnisraum Kino. Das Dritte Reich als Kultur- und Mediengesellschaft. In: Ders. (Hg.): Das dritte Reich und der Film. München 2004, S. 11–42, hier S. 21. 1095 Ebd., S. 21.

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Janusköpfige ›NS‹-Ästhetik vs. Tarantinos Ästhetik der Exaltiertheit

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›Kriegsstrategien‹ einer genauen Analyse unterzogen werden, lohnt sich ein Blick auf die grundlegenden Strukturen der Doppelstrategie nationalsozialistischer Propaganda- und Unterhaltungskultur und deren ästhetische Verfahren.

7.2

Janusköpfige ›NS‹-Ästhetik vs. Tarantinos Ästhetik der Exaltiertheit

Dass die Nationalsozialisten »von Anfang an Massenloyalität nicht allein durch Terror und Einschüchterung erzwingen wollten, sondern in der symbolisch-visuellen Einbildungskraft der Massen zu verankern suchten«1096 und »daß die Faszination einer Ideologie sich vor allem auf die Macht audiovisuell erregter Imaginationswelten gründe[t]«,1097 bildet die Grundlage nationalsozialistischer Inszenierungsstrategie. Die Psychologin Gudrun Brockhaus bezeichnet daher »Faschismus als Erlebnisangebot«.1098 Vielleicht noch bedeutender für die widersprüchliche Ästhetik des Nationalsozialismus ist die Feststellung Georg Seeßlens, der Faschismus durchbreche Grenzen zwischen in der bürgerlichen Kultur voneinander getrennten Bereichen: Das Problem dessen, was wir als ›faschistische Ästhetik‹ bezeichnen, hängt wohl damit zusammen, daß die in der bürgerlichen Kultur gezogenen Grenzen zwischen Hochkultur, Sakralität, Volkstümlichkeit und Unterhaltungskultur in ihr nicht mehr gelten. Sie verschmelzen zu einem ästhetischen System, zu dem es keine Alternativen mehr geben kann.1099

1096 1097 1098 1099

Ebd., S. 18. Ebd., S. 18. Gudrun Brockhaus: Schauer und Idylle. Faschismus als Erlebnisangebot. München 1997. Georg Seeßlen: Blut und Glamour. In: Filmmuseum Potsdam (Hg.): Leni Riefenstahl. Berlin 1999, S. 193–212, hier S. 193. Siehe dazu auch Eugen Hadamowskys Beitrag Der Rundfunk im Dienste der Volksführung von 1934: »Die nationalsozialistische Bewegung […] hatte und hat Theorien und Ideale zu propagieren, die an sich unpopulär sind; nur besaß sie die Klugheit, all diese Dinge populär zu sagen und so an die Massen heranzutragen. Genau so muß der Rundfunk arbeiten […]. Alles, was das Leben des deutschen Volkes ausmacht, soll der Rundfunk widerspiegeln. Volkshumor, heitere Dichtung, deutsche Volkslieder sind dazu angetan, nach Tagen harter Arbeit Stunden anspruchsvoller Freude zu bringen. Lachen und Freude geben den freudigen Lebenstakt für die harten Stunden der Pflicht […]. Der Rundfunk, wie er heut ist, enthält sich nur scheinbar der Propaganda; er bringt sie indirekt.« (Ders.: Der Rundfunk im Dienste der Volksführung. In: Gestalten und Erscheinungen der politischen Publizistik (1934), Nr. 1, S. 20–30. Zit. nach Erwin Reiss: »Wir senden Frohsinn« – Fernsehen unterm Faschismus. Das unbekannteste Kapitel deutscher Mediengeschichte. Berlin 1979, S. 47).

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Quentin Tarantinos ›Bilderstreit‹ – Inglourious Basterds

So gelingt es der ästhetischen Unterhaltungskultur im Nationalsozialismus, in Anlehnung an den absoluten Film1100 der Weimarer Republik, eine »unübertroffene Mischung aus Authentizitätsversprechen und Kunst-Ästhetik in den Kriegs-Wochenschauen und Dokumentarfilmen«1101 zu etablieren. Diese explosive Zusammensetzung grundiert die gefährliche Allianz von scheinbar absoluter und reiner Realität und der auf inszenatorischen Regeln basierenden Erzeugung von (Lebens-)Gefühlen: Die Zusammenführung von Licht und Rhythmus als affektive, bedeutungsfreie Komponenten des absoluten Films und der narrativen Darstellung von Reinheit, Schönheit und Rassenhierarchie, die häufig den Genrekonventionen des Melodramas folgt, ergibt die der Realität enthobene, aber auf ihr basierende wirksame Widersprüchlichkeit nationalsozialistischer Ästhetik. [D]er Faschismus ist zugleich historische Tatsache und Bilder-Erzählung. Eine über alles Böse bislang hinausgehende Verwirklichung einer Fiktion und eine Fiktionalisierung mörderischer Praxis. Daher geht es nicht nur darum, ob eine Methodik der Bilder-Erzählung einer historischen Wirklichkeit gerecht wird oder nicht, es geht vielmehr um die Auseinandersetzung zwischen Bilder-Erzählungen, eine Begegnung von Systemen.1102

Die Wechselwirkung von Bild und Wirklichkeit impliziert eine teleologische und auf Sinn ausgerichtete Geschichtsvorstellung. Die medialen, politisch-ideologischen Erzählungen des Nationalsozialismus – seien sie explizit fiktional wie im Falle der Propaganda- und Unterhaltungsfilme oder als nichtfiktional propagiert, wie die unzähligen Reden Hitlers oder anderer führender Politiker – tendieren zu einer narrativen Schließung. Gertrud Koch verwendet diese Bezeichnung zur Bestimmung von Geschichtskonstruktionen, die ihren Konstruktionscharakter vergessen machen.1103 Solche Konstrukte stellen »ein Kontinuum

1100 Siehe dazu Rainer Rother: Leni Riefenstahl und der »absolute Film«. In: Harro Segeberg (Hg.): Das dritte Reich und der Film. München 2004, S. 129–150; Uwe Hebekus: »Eine andauernde arbeitende Selbstreinigungsapparatur«. Zum ästhetischen Fundament der nationalsozialistischen Bewegung. In: Cornelia Klinger (Hg.): Blindheit und Hellsichtigkeit. Künstlerkritik an Politik und Gesellschaft der Gegenwart. Berlin 2014, S. 85–102, hier S. 94. 1101 Segeberg, Erlebnisraum Kino, S. 34. 1102 Georg Seeßlen: Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über INGLOURIOUS BASTERDS. 3. korrigierte und erweiterte Auflage. Berlin 2011, S. 228. »Die Nazis arbeiteten so manisch wie an der Vernichtung von Menschen an ihrem Geschichts-Film« (ebd., S. 227). 1103 Die »Narrativierung der Welt [erzeugt einen] leserlichen Text […], der seinerseits wiederum vergessen läßt, daß er Erzählung über und nicht Abbild der Welt ist« (Gertrud Koch: Nachstellungen – Film und historischer Moment. In: Judith Keilbach, Eva Hohenberger (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit. Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte. Berlin 2003, S. 216–229, hier S. 220).

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abgeschlossener und kausaler Geschichtserzählung her«,1104 das der Vergangenheit rückwirkend Sinnhaftigkeit verleihen und dadurch strenge Ein- und Ausschlußmechanismen etablieren soll.1105 Dies wird unterstützt durch die Tendenz einer ahistorischen Kunstproduktion […]. Sie hat die Funktion, den den Faschismus tragenden Schichten das Gefühl zu vermitteln, dass das nationalsozialistische System ihren Interessen dient, und gibt gleichzeitig im ästhetischen Bereich das faschistische System als ›überzeitlich‹ und ›ewig‹ aus.1106

Das nationalsozialistische System operiert derart mit narrativer Schließung, dass Bild und Wirklichkeit sich wechselseitig stützen. »Am Beispiel von Triumph des Willens (1934–35) von Leni Riefenstahl zeigt sich idealtypisch, wie einerseits der Film als Surrogat für Realität1107 benutzt wird und andererseits, wie die Filmin-

1104 Tobias Ebbrecht: Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust. Bielefeld 2011, S. 54. 1105 Die Gewalt und der industrielle Massenmord in den Konzentrationslagern bilden die notwendige, ausgeschlossene, in den Worten Foucaults: die heterotopische Kehrseite des nationalsozialistischen Regimes, welche die Idee von Reinheit, Sauberkeit und Ordnung erst ermöglicht. Dass die damit ausgeschlossenen Sehnsüchte und Wünsche dennoch ihren Wiedereintritt in das kulturelle Unterhaltungsangebot fanden, zeigt sich im Bereich des Films beispielsweise an der schillernden Figur Zarah Leanders. Harro Segeberg weist auf die Nähe des Namens ›Zarah‹ zum zwangsverordneten biblischen Namen ›Sarah‹ für alle Deutschen jüdischer Herkunft einerseits sowie auf das exotische Aussehen des Starlets andererseits hin. Sie verkörpert »den Vamp und die Nazi-Übermutter so […], daß sie dabei zugleich all das vorlebt, was man […] ›eigentlich nicht durfte, was aber unterschwellig da war‹.« (Segeberg, Erlebnisraum Kino, S. 15) Durch beide Komponenten findet das Ausgeschlossene des ›Jüdisch-Exotischen‹ in kanalisierend kontrollierter Weise wieder Eingang in den national-sozialistischen Unterhaltungsalltag. Die »Ventilfunktion [des Unterhaltungsprinzips] war in diesem Bereich wichtiger als die Vermittlungsfunktion« (Jens Eder: Das populäre Kino im Krieg. NS-Film und Hollywoodkino – Massenunterhaltung und Mobilmachung. In: Harro Segeberg (Hg.): Das dritte Reich und der Film. München 2004, S. 379–416, hier S. 408) propagandistischer Inhalte. 1106 Joachim Petsch: Baukunst und Stadtplanung im Dritten Reich. Herleitung – Bestandsaufnahme – Entwicklung – Nachfolge. München, Wien 1976, S. 206. 1107 Susan Sontag schreibt über Triumph des Willens treffend: »Triumph of the Will represents an already achieved and radical transformation of reality: history becomes theater. In her book published in 1935, Riefenstahl had told the truth. The Nuremberg Rally ›was planned not only as a spectacular mass meeting – but as a spectacular propaganda film. The ceremonies and precise plans of the parades, marches, processions, the architecture of the halls and stadium were designed for the convenience of the cameras.‹ How the Party convention was staged was determined by the decision to produce Triumph of the Will. The event, instead of being an end in itself, served as the set of a film which was then to assume the character of an authentic documentary.« (Susan Sontag: Fascinating Fascism. In: The New York Review of Books 06. 02. 1975. http://www.nybooks.com/articles/1975/02/06/fas cinating-fascism/, abgerufen am 09. 04. 2022).

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szenierung in die Dimension inszenierter Realität übergeht.«1108 Alle Aspekte des Lebens werden der nationalsozialistischen Erzählung untergeordnet, wie alle Aspekte des Alltags in den Dienst der Ideologie gestellt werden. In der Degradierung des Einzelnen zum Teil eines Systems wird er paradoxerweise zugleich einer überindividuellen Erhöhung zugeführt. In dieser Einheit von Ideologie und Ästhetik erzeugt der Nationalsozialismus eine hegemoniale Deutungshoheit, die in den Begriffen von Reinheit, Natürlichkeit und Ursprünglichkeit, von Originalität und makelloser Schönheit ihre ideologische Ausrichtung findet. Verfahrenstechnisch geschieht das durch die »wirksame Leistungsfähigkeit eines ›Reales‹ transformierenden künstlerischen Formwillens«.1109 Dieser basiert auf einer Spannung zwischen den gegensätzlichen Anforderungen und Zielen des politisch-ideologischen Systems des Nationalsozialismus. Um effektiv und massenwirksam zu sein, muss der Nationalsozialismus »eine auf Ausschluß setzende Rassenideologie und eine auf die Universalsprache von Gefühlen setzende Kinokultur miteinander […] vermitteln«1110, also Unterhaltung und Propaganda derart in der Waage halten bzw. miteinander vermengen, dass beide Bestrebungen in ihrem Zweckcharakter unsichtbar werden: Der Erfolg des NS-Kinos wäre nicht erklärbar, wenn man nicht die Perfektion berücksichtigt, mit der es immer wieder die aus der Verbindung dieser Cluster folgenden Widersprüche zwischen ›Schauder und Idylle‹, Fortschritt und Tradition, Technik und Natur, Intensität und Kontrolle, Sentimentalität und ›rücksichtsloser Härte‹, Harmonie und Destruktionslust versöhnt hat.1111

Tarantino trägt dieser komplexen Zusammensetzung der nationalsozialistischen Ideologie Rechnung, wenn er in Inglourious Basterds seine eigene Version einer geschichtlichen ›Propagandamaschine‹ entwirft, die sich sowohl nationalsozialistische Verfahren parodierend aneignet als auch ihnen entgegengesetzte Verfahren der narrativen Öffnung und des Aufschubs erzeugt. Inglourious Basterds verweigert auf formaler wie inhaltlicher Ebene narrative Schließung. Dies gelingt dem Film vor allem durch Verfahren der Wucherung, der Hybridisierung und der Bastardisierung anhand intermedialer-textueller Verweisstrukturen. Einzelelemente wie Figuren, Kapitel oder Inszenierungsformen treten zueinander in Konkurrenz bzw. stellen eine Multiplizität her, die sich nicht auf eine einheitliche Erzählung – im Sinne eines konform ausgerichteten, geschlossenen Weltbildes, das die nationalsozialistische Ideologie herzustellen bemüht war – reduzieren lässt. 1108 Helmut Weihsmann: Das Wort aus Stein – eine Welt aus Schein. Architektur im Medium des NS-Propagandafilms. In: CINEMA 36 (1991): Kinos Reden, S. 137–150, hier S. 137. 1109 Segeberg, Erlebnisraum Kino, S. 34. 1110 Ebd., S. 28. 1111 Eder, Das populäre Kino im Krieg, S. 402.

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7.2.1 Wucherung Inglourious Basterds zeigt keinerlei Hang zu einem diktatorischen Einheitsdiskurs, der vereinfachende Bilder und hegemoniale Verhältnisse erzeugt. Im Gegenteil, die Narration des Films vervielfältigt sich. Die scheinbar intakte Erzählung beginnt sich zu vermehren und zu wuchern. Der Film erzählt nicht nur die einleitend vorgestellte Geschichte Shosannas und des von ihr gesponnenen Racheplans (1), sondern ebenso die Geschichte der Widerstands- und Guerrillagruppe der Basterds (2), die wiederum von der englischen Regierung (als weitere Interessenspartei (3)) angeheuert werden, um die ›Nazi-Elite‹ am Abend der Filmpremiere des Propagandafilms Stolz der Nation über den heldenhaften Scharfschützen Fredrick Zoller auszulöschen. So arbeiten mehrere Parteien an der Vernichtung der Nazis und ›Operation Kino‹ wird von einem intradiegetischen Unternehmen der britischen Regierung zum strukturierenden Verfahren des Films, das drei unterschiedliche Erzählstränge ( jener Shosannas, der Rachefeldzug der Basterds und der damit zusammenhängende durch die Basterds auszuführende Plan der britischen Regierung) an einem Ort kulminieren lässt. Diese zeichnen verschiedene Formen des Widerstands nach und setzen einem monokausalen Ansatz eine vielperspektivische Position entgegen: Shosannas Narrativ liest sich als jüdischer Widerstand im Gewand einer Racheerzählung, die Basterds weisen Parallelen zur Résistance-Bewegung auf und das Unternehmen ›Operation Kino‹ zeigt Ähnlichkeiten mit dem historisch überlieferten ›Unternehmen Walküre‹, einem Plan, der zur Grundlage für das Stauffenberg-Attentat wurde.1112 Der Film weist so auf die Entstehung vielfältiger Widerstandsideen an verschiedenen Orten hin und erzeugt ein adäquateres Bild verschiedener Formen des Widerstands, die sich nicht als Heldengeschichten vereinfachen lassen, da die einzelnen Pläne der Figuren zu vielfältig sind, als dass sie sich einem einzigen ideologischen Ziel unterordnen ließen: Die einzelnen Figuren stellen sich nicht in den Dienst einer höheren Sache, sondern operieren vor allem aus eigenem Antrieb. ›Operation Kino‹ bezeichnet nicht nur die unabhängig voneinander entstehenden Rache- und Widerstandsunternehmen, sondern beschreibt zugleich den Medienapparat des Nationalsozialismus, der das Kino als Unterhaltungs- und Propagandamaschine einsetzt. Als Showdown des Plots und zentrales Motiv wird die ›Operation Kino‹ zum Einsatzpunkt der selbstreferentiellen Thematisierung von Kino und Film. Sie dient als a more far-reaching reflection on cinema as an audiovisual archive and an instrument of knowledge and power […]. As a public space and media technology, the cinema in 1112 Siehe dazu etwa Eberhard Görner: Der 20. Juli 1944 im deutschen Film. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (2004), Nr. 27, S. 30–38, hier S. 34.

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Inglourious Basterds organizes an elaborate framework of references shared by friends as well as enemies; it functions as a form of communication and a method of selfidentification and self-construction. […] [T]he cinema creates a system of affective investments and aesthetic rewards that, by establishing a second-order reality or hyperreality, draws attention to reality – and, by extension, ideology – as a construction.1113

Neben dem manischen Bemühen, diese Realitätskonstruktion permanent präsent zu halten, zielt Inglourious Basterds auf Komplexitätssteigerung durch Formen der Hybridisierung. Dieses Verfahren markiert nicht nur ex negativo die naturalisierte und gefährliche Vorstellung von Reinheit (der Rassen, der Sprachen etc.) als scheinbar idealer Gesellschaftszustand, sondern stellt zugleich die unablässige Verunsicherung eindeutiger semantischer Zuschreibungen aus.

7.2.2 Hybridisierung Der Nationalsozialismus strebt mit seinem – durchaus als janusköpfig zu beschreibenden – Ästhetik-Konzept nach narrativer Kohärenz und Naturalisierung. Tarantino hingegen verfährt in umgekehrter Weise: Obwohl der Plot von Inglourious Basterds noch im Zerfallen in unabhängige Narrative intakt bleibt, hält der Film seinen Konstruktionscharakter unablässig präsent. Der stetige Verweis auf die eigene Medialisierung zeigt sich im konstitutiven Hang zur Hybridisierung1114, welche die Zuordnung zu einem bestimmten Genre, einer Gattung bis hin zur eindeutigen Einordnung des Films als Film verunsichert. Inglourious Basterds ist nach dem Schema des klassischen Dramas in fünf Abschnitte untergliedert. Die Teile werden jedoch nicht wie im Drama als Akte, sondern in den Titeleinblendungen als »Chapter« bezeichnet. Der Film weist damit Ordnungsmerkmale des Romans auf. Damit nicht genug, ist das erste Kapitel zunächst mit »Once upon a time…« betitelt. Der doppelte Verweis auf die Eingangsformel des Märchens einerseits und den Italo-Western Once upon a time in the West (1968) von Sergio Leone andererseits multipliziert die Gattungszuordnung des Films. Das sogleich folgende »…in Nazi occupied France« wirft die Zuschauenden aus der erzeugten Erwartung eines fiktionalen Handlungsplots in eine Wirklichkeitsreferenz, die durch die Jahreszahl 1941 historisch bestimmt wird: 1113 Hake, Screen Nazis, S. 178. 1114 Stefan Hirt hingegen behauptet, dass »hybridity is not performed in this film. […] hybridity and minority consciousness are present here only as rationalizations for revenge, and thus reduced to their phantasmatic (and ideologically congruent) basis.« (Stefan Hirt: Adolf Hitler in American Culture. National identity and the totalitarian other. Paderborn 2013, S. 602).

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The ambiguous ›somewhere‹ gives way to a definitive point: Vichy France during WWII. Tarantino has located in this elliptical space that juxtaposes Grimms’ fairy tales, Spaghetti Westerns and an unsettling historical period a site for reflection and interrogation.1115

Der Rückgriff auf das Märchen wiederum verweist die Rezipierenden auf eine spezifische Rezeptionsweise, die gerade nicht realistischen Prinzipien folgt.1116 Das Märchen vermag durch seine Gattungskonventionen Gewalt auf eine Weise auszustellen, die nicht an die authentische Wiedergabe gebunden ist, sondern den Regeln allegorischer Rede folgt: »It seems that through two of his attributes, its violence and its unreality, the fairy tale lends itself to a representation of just that – extreme political violence and the victims’ loss of reality.«1117 Die Ankündigung des Films, eine Märchenerzählung zu sein, verweist damit auch und gerade durch seine Fiktionalisierung auf den traumatischen Grund der Narration von Inglourious Basterds hin.1118 Dieser Hiatus von unmittelbarer Wirklichkeitsreferenz und dem recht unwirklichen Dreifachplot der Rache markiert von Beginn an den hybriden diskursiven Ort, an dem sich Inglourious Basterds ansiedelt: Zwischen postmoderner Verweisstruktur mit ihrer »centrality of intertextuality as mise en abyme – that is, an infinite mirroring«1119 und der referentiellen Verankerung in realhistorischen Geschehnissen und deren Diskursen. Die einzelnen Kapitel zerfallen in distinkte Miniaturen. Sie weisen jeweils spezifische Filmsprachen auf. Während das erste Kapitel (Once Upon a Time in Nazi-occupied France) in seiner mise en scène ein Hybrid aus Western (idyllische 1115 Eric Kligerman: Reels of Justice: Inglourious Basterds, The Sorrow and the Pity and Jewish Revenge Fantasies. In: Robert von Dassanowsky (Hg.): Quentin Tarantino’s Inglourious Basterds. A Manipulation of Metacinema. New York, London 2012, S. 135–162, hier S. 147f. 1116 Die im Gegenteil sogar, wie Georg Lukács formuliert, ein »im letzten Grund immer ungetrübte[s] Sicherheitsgefühl, das die von der Form suggerierte Gewissheit des guten Ausgangs aller trüb scheinenden Geschicke ausstrahlt« (Georg Lukács: Die Ästhetik der Romance. Versuch einer metaphysischen Grundlegung der Form des untragischen Drama. Unveröffentlichtes Typoskript im Lukács-Archiv der Ungarischen Akademie der Wissenschaft [Magyar Tudomanyas Akadémia], Budapest. Zitiert nach: Hanno Loewy: Fiktion und Mimesis. Holocaust und Genre im Film. In: Margrit Frölich, Hanno Loewy, Heinz Steinert (Hg.): Lachen über Hitler – Auschwitz-Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust. München 2003, S. 37–64, hier S. 40), vermittelt und garantiert. 1117 Peter Arnds: On the Awful German Fairy Tale: Breaking Taboos in Representations of Nazi Euthanasia and the Holocaust in Günter Grass’s Die Blechtrommel, Edgar Hilsenrath’s Der Nazi & der Friseur, and Anselm Kiefer’s Visual Art. In: The German Quarterly 75 (2002), Nr. 4, S. 422–439, hier S. 423. 1118 Dieser ist durch die Geschichte Shosannas als verfolgte Jüdin in den Film eingelassen und zeigt sich dezent, aber deutlich in ihrer Hilflosigkeit beim Wiedersehen mit Hans Landa. Auch hier ist die Diskrepanz zwischen der übermütigen Spielweise Christoph Waltz’, die beinahe klamaukhaft anmutet und dem brillanten Spiel Mélanie Laurents, das keinerlei Möglichkeit eines komödienhaften Auswegs aus der Situation bietet, überdeutlich. 1119 Hake, Screen Nazis, S. 164.

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Landschaft mit familiärem Heimatort und herannahendem Einbruch des Bösen) und Holocaust-Film (Verfolgung, Mord, Flucht und Vertreibung) darstellt, ist das zweite Kapitel (The Inglourious Basterds) dem dirty war movie gewidmet. Kapitel drei (German Night in Paris) zeigt Tendenzen des film noir, aber auch des Thrillers und travestiert den klassischen Liebesfilm. Kapitel vier (Operation Kino) trägt Züge eines Kammerspiels mit Einsprengseln der Verwechslungskomödie, Kapitel fünf (Revenge of the Giant Face) trägt Züge eines Katastrophen- und Horrorfilms. Das von Tarantino derart erzeugte multiple und simultane ›Intergenre‹ provides more depth than any ›realist‹ or classic Hollywood mode would today. The open intertextuality cues a reception of the film as purely cinematic and entertaining, yet this hardly affects its ideological potential. Tarantino’s references and genremarkers provide the film with a ›surface-depth‹ and transparency for a culture in which the primary referent is mediated and the audience knows Hitler, Nazism, and World War II first of all through film. The films he cites work referentially i. e., they and their genres (their conventions and aesthetics) are cued to constitute the ›outside‹ realm of this film. […] he draws the viewer into a purified cinematic reality.1120

Schon durch seinen Titel steht der ganze Film unter dem Stern potentiell unendlicher, medialer Verweis- und Repräsentationsstrukturen. Diese Verschiebungen zeigen sich vor allem durch semantische und orthographische Abweichungen. ›Inglourious Basterds‹ ist der – seines Artikels beraubte und falsch geschriebene – englische Titel des italienischen B-War-Movies The Inglorious Bastards von Regisseur Enzo G. Castellari aus dem Jahr 1978. Castellaris Film wiederum geht auf Robert Aldrichs The Dirty Dozen von 1967 zurück, so dass sich Tarantinos Film als Zitat eines Zitats entpuppt:1121 »Tarantino’s film thus announces itself to be a derivative of a derivative in its very title – misspelled, at that, to drive home the point that accuracy is not going to be an issue here.«1122 Die ›Falschschreibung‹ des Titels ist dabei konstitutives Manifest: Abweichung und Deformierung sind zentrale Verfahren von Inglourious Basterds, die sich sowohl an den Bezeichnungen der Figuren sowie an deren Konzeption zeigen. Das zusätzliche ›u‹ in ›Inglourious‹ stellt einen asemantischen Überschuß dar, der zugleich die Funktion einer (idiosynkratischen) Markierung übernimmt. Solch eine 1120 Hirt, Adolf Hitler in American Culture, S. 599. 1121 Zugleich basiert Aldrichs The Dirty Dozen auf einem gleichnamigen Roman von E. M. Nathanson (1965), so dass Castellaris The Inglorious Bastards (dessen Originaltitel Quel maledetto treno blindato lautet und ins Deutsche als Ein Haufen verwegener Hunde übersetzt wurde) schon ein doppeltes Derivat darstellt, Tarantinos Inglourious Basterds demnach eine Ableitung dritter Ordnung ist. 1122 Todd Herzog: »What shall the history books read?« The debate over Inglourious Basterds and the limits of representation. In: Robert von Dassanowsky (Hg.): Quentin Tarantino’s Inglourious Basterds. A Manipulation of Metacinema. New York, London 2012, S. 271–296, hier S. 278f.

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markierende Spezifizierung bringt Moritz Baßler mit »Schreibweisen im Zeichen des Pop«1123 in einen Zusammenhang. Diese zielen darauf ab, Spezifizierungen vorzunehmen »in genau der für den Erzählzusammenhang überflüssigen Weise, die den Text aufs kulturelle Paradigma hin öffnet.«1124 Diese Öffnung rückt damit stets das in den Fokus, was gerade nicht da ist, aber ebenfalls bedeutsam und realisiert sein könnte, kurz: Spezifizierung hat paradoxerweise den Effekt der Pluralisierung – als Teil in der Liste des Paradigmas verweist die Spezifizierung auf die anderen paradigmatischen Optionen am syntagmatischen Ort. Konkret heißt das für Inglourious Basterds, dass das durch den Titel aufgerufene Paradigma der Marginalisierten sowohl auf der Ebene der Signifikanten wie der Figuren stets vom diegetisch situativ Gegebenen (seien es die Basterds, die Jüdin Shosanna, der ›Apache‹ Raine oder der Schwarze Marcel) auf die anderen Marginalisierten in endloser Zirkularität verweist. Im Sinne der Markierungstheorie, wo das Nicht-Markierte als normierter Standard gilt, verstärkt »Spezifizierung […] tendenziell den Grad der Markiertheit und bewirkt damit eine Ent-Naturalisierung und Ent-Automatisierung des vermeintlich normalen, natürlichen Sachverhalts.«1125 Dementsprechend enthält Tarantinos Schreibweise der Basterds statt des ›a‹ der gängigen Schreibweise ein ›e‹, das die Bezeichneten gleichzeitig derangiert und einzigartig macht. Die Idiosynkrasie des Titels wird durch die Einblendung desselben in der Handschrift Tarantinos unterstützt.1126 Auf der Ebene der Bedeutung verdoppelt das Adjektiv ›inglourious‹ die Semantik von Bastard/Basterd, so dass der Titel zur Tautologie tendiert, die über die Informationsvermittlung hinaus sprachliches Material anhäuft und so nicht der ökonomischen Logik des geringsten Aufwands oder der Effizienz folgt. Durch diese spezifische Idiosynkrasie vermag sich der Film gegen Versuche der (politischen, ideologischen) Aneignung zu wehren,1127 indem er eine alternative Signifikationsordnung etabliert: 1123 Moritz Baßler: Definitely Maybe. Das Pop-Paradigma in der Literatur. In: POP. Kultur und Kritik (2015), H. 6, S. 104–127, hier S. 106. 1124 Ebd., S. 109. 1125 Ebd., S. 106. 1126 Auffällig sind die im Vorspann verwendeten, verschiedenen Schriftarten, die auf verschiedene Schriftkonventionen für bestimmte Genres anspielen. Zugleich erzeugen sie die für Inglourious Basterds relevante Pluralisierung. Die handschriftliche Notation des Titels verweigert zudem auf der phänomenalen Ebene eine technisierte Form der Präsentation. 1127 Durch diese antiklimaktische Verdichtung lässt sich das Verfahren des materiellen Überschusses in Form von Tautologie und Pleonasmus bei Tarantino an die Schreibstrategie von Jean Améry anschließen, dessen Anliegen beim Verfassen seines Essays »Die Tortur« unter anderem war, jede Form eines spekulativen Auswegs des Beschriebenen zu blockieren und jede Form des sinnstiftenden Erzählens zu meiden, um ein möglichst unvermitteltes Beschreiben des ihm Widerfahrenen zu leisten (siehe dazu Jean Améry: Die Tortur. In: Merkur 19 (1965), S. 623–638). Klaus Scherpe bemerkt dazu: »Aus der Unmöglichkeit dieses ›pri-

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[T]his title characterises the film as a distinct realm of signification: one that stands apart from the language and known reality of all that came before, in cinema and in history. In this way, the title positions the film as a new and distinctive form of representation that nonetheless exists in a real relationship to the past and its signs – a kind of language written against language. A language that we recognise but that has been polluted by something else.1128

Die deformierte Sprache des Titels und der Figurennamen lässt sich als Widerstand auf der Ebene von Semantik und Sprachmaterial lesen. Die von Tarantino gewählten Eigennamen stellen so, mit Moritz Baßler gesprochen kulturelle Poiesis [dar], sie schafft die Paradigmen erst, von denen sie zehrt, und schreibt an der Gegenwartskultur mit. […] Pop[…] arbeitet nicht, wie konventioneller Realismus, an der Bestätigung von Typischem, sondern ruft Spezifika in ihrem ästhetisch-popsemiotischen Zusammenhang auf.1129

Derartige, ästhetisch produktive ›Deformationen‹ finden sich auch auf der narrativen Ebene sowie auf der formalen Ebene der filmischen Stilistik als Bastardisierung.

7.2.3 Bastardisierung Die orthografische Wucherung des Filmtitels durch das eingefügte ›u‹ verdoppelt die Aufmerksamkeit für die Semantik der Abweichung. Inhaltlich bezeichnet er die – in nationalsozialistischer Ideologie – Ausgeschlossenen: Bastarde. Neben der englischen Bedeutung als Schimpfwort1130 ist das Wort ›Bastard‹ eine veraltete Bezeichnung für ein uneheliches Kind. Impliziert sind damit Unreinheit und Unklarheit der Herkunft sowie das Fehlen von (rechtlicher) Legitimität. Im Zentrum des Films stehen mit den Basterds und Shosanna demnach von der sprachlichen, gesellschaftlichen und filmischen Norm des Nationalsozialismus abweichende und ausgeschlossene Hybridfiguren, die mehrfach codiert sind und sich einer abschließenden Kategorisierung entziehen. Die titelgebenden ›Antimären‹ Darstellungsverfahrens (die Symbiose von Dargestelltem und Darstellung) resultiert eine ganz bestimmte rhetorische Schreibform: die der Tautologie. Die Tautologie hat Jorge Luis Borges als diejenige Sprachform bezeichnet, die Gewißheit allein durch die Anordnung gewinnt. Daher ist sie geeignet, den metaphysischen Sinn auszutreiben. Améry verwahrt sich gegen die metaphorische Rede als Einfallstor der Spekulation, gegen die drohende Enteignung der eigenen Rede« (Scherpe, Von Bildnissen zu Erlebnissen, S. 263). 1128 Boswell, Holocaust Impiety in literature, popular music and film, S. 184. 1129 Baßler, Definitely Maybe, S. 115. 1130 So vermerkt das Oxford Dictionary: »noun: 1 derogatory, archaic A person born of parents not married to each other. 2 informal An unpleasant or despicable person. [. . .]; 2.1 British [with adjective] A person of a specified kind. [. . .]; 2.2 British A difficult or awkward undertaking, situation, or device«.

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Helden‹ taugen nicht für einen identifikatorischen Verehrungskult. Statt einen ›ehrlichen‹, auf Ehre und Ruhm ausgerichteten Krieg zu führen, ist die Kampftechnik der Basterds explizit der indianischen Kriegsführung verpflichtet: Raine bezeichnet seine Truppe als »a bushwackin’, guerrilla army« (IB 00:21:07, Drehbuch 19). Krieg und Rache werden weder als ehrenhaft noch ästhetisierend präsentiert. Sergeant Hugo Stieglitz, ein später rekrutiertes Mitglied der Basterds, ist beispielsweise ein Deutscher, der für den Tod von dreizehn Gestapo Offizieren verantwortlich zeichnet und damit in den Augen der Nationalsozialisten als unehrenhafter Deserteur und Vaterlandsverräter gilt. Die kriegerischen Utensilien des Basterd-Antiheldentums entstammen nicht dem anerkannten Waffenarsenal eines ›ehrenhaften Kriegs‹, sondern sind der amerikanischen Populärkultur entnommen: Der gefürchtete ›Bärenjude‹ (IB 00:23:35, »›the Bear Jew‹« (Drehbuch 21)) Donny Donowitz tötet mit einem Baseballschläger. Sein erster Auftritt imitiert die überhöhende Darstellung eines Helden bzw. in der umgekehrten Logik die furchteinflößende Ankündigung eines todbringenden Monsters: Der erste Auftritt des ›Bärenjuden‹ Sgt. Donny Donowitz wird intradiegetisch parodistisch inszeniert, wenn er, von extradiegetischer Musik unterstrichen, aus dem Dunkel einer Höhle tritt. Bevor der ›Bärenjude‹ zu sehen ist, wird sein Kommen aus der Höhle durch das Geräusch von an eine Wand pochenden Baseballschlägen angekündigt und sorgt für einen Spannungsaufbau. Der »golem« (IB 00:23:37, Drehbuch 21), wie ihn Hitler bezeichnet, entpuppt sich zwar in der Tat als baseballschwingender, nazitötender Jude, seine Erscheinung aber wirkt im Verhältnis zur Inszenierung seines Auftritts eher schmächtig: Er tritt in Feinrippunterhemd und Hosenträgern, den Baseballschläger lässig über der Schulter tragend, aus dem Dunkel. Ein auf Ehre, Ruhm und Nationalstolz grundiertes Heldentum wird hier durch ein popkulturelles Heldentum ersetzt: He [d.i. Tarantino, K.K.] raises the fight against Nazism to another, aesthetic and cinematic level, fighting with popular culture against Nazi propaganda. As with the popicon, American play (baseball) beats Nazi discipline, while, as with the Hollywood WWII film, rugged individualism beats European effeminacy, as the captured Raine headbutts SS Colonel Landa.1131

Diese Inszenierungsform steht im Gegensatz zu den von Harro Segeberg dargestellten Ansätzen einer nationalsozialistischen »medialen Allmachtsphantasie«1132, die darauf ausgerichtet war, »affektiv überzeugende Heldenfiguren in möglichst mitreißend gestaltete und ›realistisch‹ wirkende Konfliktverläufe zu schicken.«1133 Dementgegen wohnt Inglourious Basterds eine inhärente Sturheit inne, die sich auch auf der Ebene der Diegese zeigt. Die Figuren lassen sich nicht 1131 Hirt, Adolf Hitler in American Culture, S. 603. 1132 Segeberg, Erlebnisraum Kino, S. 39. 1133 Ebd., S. 39.

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Quentin Tarantinos ›Bilderstreit‹ – Inglourious Basterds

einem filmischen Plot unterordnen, sondern treten sowohl gegenseitig als auch zur Erzählung in Konkurrenz: »In Tarantino’s film […] each character tries to hijack the movie from the genre it is supposed to be, as if protesting the director’s decision of forcefully situating them out of place. Almost every character in the film tries to own a sub-genre.«1134 So sind die Basterds in ihrer palimpsesthaften Unreinheit »Antagonist[en] des Faschismus, dessen Utopie ja die absolute Reinheit sowohl seines Volkes, als auch seiner Ideologie und damit auch seiner Kunstproduktion und seiner Medienprodukte darstellt.«1135

7.2.4 Vengeance League of Justice – Empowerment der Opfer Durch die beschriebenen Verfahren der Abweichung und der medialen Verweisstruktur steht Inglourious Basterds in keinem unmittelbaren Verhältnis zu den historischen Ereignissen und bezieht seine Legitimation gerade nicht aus Parametern wie Authentizität oder Dokumentarismus. Der Film verbleibt vielmehr im Diskurs der zirkulierenden Bildprodukte über die historischen Ereignisse. Dabei vermag er durch Konfrontation mit konventionellen Darstellungsweisen kritisch auf diesen Diskurs einzuwirken: Importantly, this impious mode of representation remains differentiated from the legitimate genetic link to the past that is the hallmark of testimony. The film does not claim Holocaust representation as its birthright: its relationship to the past is explicitly bastardised, which is to say illegitimate. But it is precisely this position of illegitimacy that allows Inglourious Basterds to explore the human evil that lies behind its violent, vengeful fantasies: the human evil of a Holocaust that it responds to and that is also part of itself.1136

Auch Shosanna Dreyfus, die ›heimliche‹ Heldin des Films und weibliches Pendant Gegenpart zu den Basterds, weist ähnliche Deformierungen in Bezeichnung und Erscheinung auf wie die Basterds. Ihr Vorname fällt in Orthographie und Schreibweise ebenso auseinander wie ihr Aussehen, das anstatt der typisierenden Vorstellung einer Jüdin vielmehr einem »blonde, ultra Aryan-looking Hollywood starlet«1137 gleicht. Ihr Name wird ausgesprochen, als schreibe man ihn ›Sho1134 Srikanth Srinivasan: The grand illusion. In: Robert von Dassanowsky (Hg.): Quentin Tarantino’s Inglourious Basterds. A Manipulation of Metacinema. New York, London 2012, S. 1–14, hier S. 6. Dieses Aufbegehren der Figuren gegen die narrativen Konventionen der Genres zeigt sich schon in früheren Fassungen des Drehbuchs. So waren für viele der Figuren eigene kleine Filme im Film vorgesehen, die deren Herkunft und Geschichte beleuchten sollten. Nur der Film im Film über Hugo Stieglitz ist davon noch übrig. 1135 Steierer, Tarantinos Rache an Hitler, S. 3. 1136 Boswell, Holocaust Impiety in literature, popular music and film, S. 184. 1137 Ebd., S. 183.

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Janusköpfige ›NS‹-Ästhetik vs. Tarantinos Ästhetik der Exaltiertheit

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shanna‹, wie Landa ihn in der Eingangsszene fälschlicherweise notiert (IB 00:11:40). Der Film korrigiert jedoch vorwegnehmend im Vorspann die falsche Schreibweise Landas. Dort ist Mélanie Laurent die einzige Schauspielerin, deren Rolle ihrem Namen als Zusatz beigegeben ist: »Mélanie Laurent as Shosanna« (IB 00:00:28). Ihr Nachname Dreyfus zitiert zudem mit der Dreyfus-Affaire einen der bedeutendsten Fälle von politischem Antisemitismus in Frankreich. Shosanna wird in der Eingangssequenz, versteckt unter dem Holzboden liegend, in einer Position totaler Hilflosigkeit eingeführt. Sie entkommt der Situation, indem sie vor ihrem Verfolger Hans Landa, sozusagen den Kader des einen Films verlassend und mit dem dritten Kapitel in einen anderen eintretend, flieht. Die Szene ist eine Reminiszenz an John Fords The Searchers (1956): In der Schlussszene des Films ist John Wayne, ähnlich wie Shosanna und kurz darauf Landa in Inglourious Basterds (IB 00:19:40), durch eine Türöffnung gerahmt zu sehen. In The Searchers allerdings ist John Wayne der Indianer jagende Held, der die von Indianern erzogene, weiße Debbie Edwards verschont und ›nach Hause‹, d. h. zu einer weißen Familie zurückbringt. Die Konstellation in Inglourious Basterds ist also spiegelverkehrt. Shosanna flieht vor dem »Jew Hunter« (IB 00:11:58, Drehbuch 11) Landa, der sie ebenfalls verschont, um später ihrerseits als Nazi-Jägerin wieder aufzutauchen.1138 Das dritte Kapitel führt sie, gänzlich verwandelt in Position und Identität, zunächst als Emanuelle Mimieux vor ihrem Pariser Kino auf einer Leiter stehend, ein. In dieser Szene vollzieht sich die Rückeroberung und Besetzung der in konventionellen Erzählungen durch die Täter besetzen Position durch eine Umkehrung der räumlichen Verhältnisse. Unterstützt wird diese Umkehr durch die Semantik des bei den Deutschen beliebten Bergfilms: Ausgehend vom »mountain film as the model of a fascist aesthetic in which modernity and myth, and technology and nature, are reconciled«,1139 de- und rekonstruieren sich in Inglourious Basterds die durch räumliche Anordnung von oben und unten realisierten, hierarchischen Machtverhältnisse: Shosanna ist gerade dabei, die Filmankündigung des ›deutschen Abends‹, einer Verordnung des Vichy-Regimes, abzunehmen. Gezeigt wurde Die weiße Hölle vom Piz Palü von G.W. Pabst und Arnold Fanck mit Leni Riefenstahl in der Hauptrolle (IB 00:37:07). Sie demontiert nicht nur den bei den Nationalsozialisten so beliebten Bergfilm, sondern steht auch über dem nationalsozialistischen Scharfschützen Fredrick Zoller, der sie, am Fuß der Leiter stehend, in ein Gespräch über Film zu verwickeln versucht. Auch im letzten Kapitel blickt sie 1138 Vgl. dazu Sharon Willis: »But Inglourious Basterds invokes The Searchers’ terms only to invert them, as Shosanna, sole survivor of her massacred family, will re-emerge later as a Nazi hunter« (Ders., ›Fire!‹ in a crowded theater: liquidating history in Inglourious Basterds. In: Robert von Dassanowsky (Hg.): Quentin Tarantino’s Inglourious Basterds. A Manipulation of Metacinema. New York, London 2012, S. 163–192, hier S. 169). 1139 Hake, Screen Nazis, S. 165.

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Quentin Tarantinos ›Bilderstreit‹ – Inglourious Basterds

vom ersten Stock ihres Kinos auf die ›Nazi-Elite‹ herab. Als ultimative Umkehr lässt sich ihre mediale Position beschreiben, wenn sie als filmisches Close Up von der Leinwand herab auf ihre Opfer blickt und damit zugleich den hegemonialen Heldenfilm Zollers montiert (IB 02:17:28). In der Darstellung der illegitimen ›Opfer‹-Figuren der Basterds und Shosanna gelingt es dem Film, die im Erinnerungsdiskurs noch immer als problematisch empfundene Opferkonkurrenz durch die Figurenkonzeption zu durchbrechen. Shosanna und Aldo Raine bilden im Film einen Chiasmus, der eine Trennung zwischen verschiedenen Opfergruppen erschwert: Lieutenant Aldo Raine gehört als Anführer der Basterds zu der jüdischen Widerstandsgruppe, ist selbst aber nicht jüdischer Herkunft. Er kommt vielmehr aus den Smoky Mountains, dem ehemaligen Gebiet der Cherokee-Indianer und trägt den Spitznamen ›the Apache‹, der ihn zum Repräsentanten der verfolgten indigenen Bevölkerung Amerikas macht. Während Aldo sich mit den amerikanischen Juden seiner Basterds identifiziert und damit Repräsentant zweier Opfer- oder Minderheitenerzählungen ist, übernimmt auch Shosanna am Abend der Premiere von Stolz der Nation für einen Augenblick die Identität der indigenen Bevölkerung Amerikas, wenn sie ihre Schminke in Form indianischer Kriegsbemalung auf ihr Gesicht streicht (IB 01:42:27). Shosannas Flucht vor Hans Landa ist als Inbegriff der historischen Realität von Verfolgung und Mord der jüdischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten lesbar. Inszeniert wird sie durch das filmische Zitat von John Fords The Searchers, der sich wiederum mit der virulenten Thematik der Verfolgung und Vertreibung der Ureinwohner Amerikas auseinandersetzt. Damit überlagern sich beide Diskriminierungsdiskurse in einem Bildmotiv wie in einem Palimpsest: »a link is made between Nazi racism and American racism«.1140 Der schwarze Filmvorführer Marcel erweitert die Reihe der ermächtigten Repräsentanten verschiedener Verfolgungs- und Vernichtungsgeschichten. Die Frage nach einer Opferkonkurrenz1141 kann dadurch gar nicht erst aufkommen, da die Grenzlinien durch einzelne Figuren hindurchgehen und damit unauflösbar miteinander verbunden werden – ohne dass die Singularität des einzelnen historischen, katastrophalen Ereignisses geleugnet würde. 1140 William Brown: Counterfactuals, quantum physics, and cruel monsters in Quentin Tarantino’s Inglourious Basterds. In: Robert von Dassanowsky (Hg.): Quentin Tarantino’s Inglourious Basterds. A Manipulation of Metacinema. New York, London 2012, S. 247–270, hier S. 256. 1141 Siehe dazu vor allem das von Michael Rothberg entwickelte Konzept der Multidirectional Memory, das auf erinnerungstheoretischer Ebene versucht, das Dilemma einer Opferkonkurrenz durch drohenden Wertverlust bei Vergleichen zwischen verschiedenen Genoziden erstmals zu beleuchten und eine Lösung zu finden. Ders.: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford 2009.

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Der Film im Film: Stolz der Nation

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Im Anschluss an die Analyse der sprachlichen, formalen und narrativen Verfahren, mit denen Inglourious Basterds auf narrative Öffnung setzt, um der nationalsozialistischen Inszenierungsweise eine ästhetische Alternative entgegenzusetzen, folgt die Untersuchung von Tarantinos Spiel mit verschiedenen filmischen Inszenierungsweisen. Der Film re-inszeniert die filmischen Mittel von Propaganda, Stereotypisierung und genrehafter Stilisierung sowohl des nationalsozialistischen als auch des Hollywood-Films, entlarvt sie dadurch und setzt so der Tendenz zu einseitiger, schließender Narration eine eigene Inszenierungsweise entgegen. Der Film selbst, seine Materialität und das Kino als Ort der Filmpräsentation, werden dabei zum zentralen Thema und (diskursiven wie räumlichen) selbstreflexiven Austragungsort gegenläufiger Inszenierungsstrategien.

7.3

Der Film im Film: Stolz der Nation

Dass Tarantino die mediale Klaviatur verschiedener filmischer Stile und ideologischer Positionen spielen kann, zeigt sich unter anderem an dem – unter der Regie von Eli Roth geführten – Binnenfilm von Inglourious Basterds, Stolz der Nation. Der Film löst ein, was für Goebbels eines der zentralen Ziele medialer Vermittlung propagandistischer Inhalte war. Es kommt, in Goebbels’ Originalwortlaut, darauf an, »zu elementaren Konfliktstellungen zu kommen, die mit den natürlichen Sinnen, den Augen und Ohren, und ohne komplizierte Denkprozesse aufgenommen, das heißt unmittelbar erlebt werden können.«1142 Das Kino unter dem Nationalsozialismus, genauer »die ästhetische Utopie des Kinos im Dritten Reich[,] meint ein Kino, das als ein die Sinne mobilisierendes affektives Überwältigungskino der Bilder und Töne zu sich selbst [findet]«.1143 Dies entspricht dem Inbegriff des Melodramatischen. Als Filmgenre zeichnet es sich zentral durch die Überdeterminiertheit des Gezeigten aus. Diese Beschreibung trifft ebenfalls auf die totalisierende Weltanschauung der Nationalsozialisten zu, die alles in das eigene System integriert, sei es auf positive oder negative Weise. Es gibt kein Außerhalb der Erzählung, alles Handeln ist restlos auf einen bestimmten Zweck hin orientiert, so dass kein Überschuss entstehen kann, der sich einer Deutung oder Einbettung in die nationalsozialistische Selbsterzählung entziehen würde. Das gilt für Kunst und Leben im nationalsozialistischen Regime gleichermaßen: 1142 Goebbels in seiner Rede »Der Krieg als großer Erzieher« am 14./15. Februar 1941 vor der Reichsfilmkammer nach einem Bericht in: Film-Kurier vom 17. Februar 1941, S. 1f. (Herv. im Original als Sperrdruck), zit. in Hans Helmut Prinzler: Chronik des deutschen Films 1895–1994. Stuttgart, Weimar 1995, S. 142. 1143 Segeberg, Erlebnisraum Kino, S. 18f.

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Quentin Tarantinos ›Bilderstreit‹ – Inglourious Basterds

Eine Kunst um der Kunst willen, als Wirklichkeits- und Erkenntnissphäre sui generis kann es in einem totalitären System genausowenig noch geben wie etwa eine Sache, die um ihrer selbst willen getan wird (›das Begreifen der Nichtigkeit allen Selbstzwecks‹ ist eine der intellektuellen Hauptanforderungen an die SS-Mannschaften gewesen). Warum? Weil ein Mensch nicht vollständig beherrschbar ist, wenn er von einer Sache oder einer Aufgabe völlig absorbiert wird […] und – so muß man hinzufügen – weil die Auseinandersetzung mit einem Gegenstand einen spezifischen Eigensinn erzeugt, dessen Folgen nicht kontrollierbar sind. Deshalb wird die Kunst Mittel zum Zweck und mediatisiert in ein System der instrumentellen Vernunft, in der jede Verrichtung vom Kinderzeugen bis zum Judenvergasen in ein Universum der Zwecke eingeordnet ist.1144

Das zeigt sich exemplarisch an Fredrick Zoller1145, der Figur, die in der Vorstellung einer eindimensionalen, nationalsozialistischen Ideologie aufgeht,1146 und von deren Heldentaten Stolz der Nation erzählt. Der Film zeigt den Helden Zoller, der eingeschlossen in der Spitze eines Kirchturms seine Stellung gegenüber den russischen Feinden drei Tage lang hält und einen heroischen Sieg durch die Tötung von über dreihundert Russen erringt. In penetranter Wiederholung sieht man Zoller mit seinem Gewehr zielen und schießen, so dass der Eindruck entsteht, er habe unzählige Feinde getötet. Durchbrochen wird der beinahe in der Taktung und Geschwindigkeit der Schüsse rhythmisierte Schnitt durch eine Sequenz, in der Zoller fast kontemplativ ein Hakenkreuz in den Holzboden des Kirchenturms schnitzt, um die Bedeutung seines Ausharrens und Tötens mittels des Symbols zu überhöhen und es vom bloßen, sinnlosen Abschlachten von 300 Menschen in eine Vaterlandstat zu transformieren. Durch das Auf-Dauer-Stellen dieser inszenierten Wirklichkeit in Form des medialen Transports, eines »Präsenthalten[s] des eigentlich nicht mehr Sichtbaren und Gegenwärtigen in der unablässigen Wiederholung«,1147 wirken die vervielfältigten Bilder des Tötens – und des damit parallelisierten Siegens – auf die Wahrnehmung der tatsächlichen

1144 Welzer, Harald: Die Bilder der Macht und die Ohnmacht der Bilder. Über Besetzung und Auslöschung von Erinnerung. In: Ders. (Hg.): Das Gedächtnis der Bilder. Ästhetik und Nationalsozialismus. Tübingen 1995, 165–194, S. 170. 1145 Der Name Fredrick ist für eine deutsche Schreibweise ungewöhnlich, im Deutschen wäre Frederick oder Frederik bzw. Friedrich üblicher. Im Hinblick auf das überschüssige ›u‹ von ›inglourious‹ und das variierte ›e‹ der Basterds wird das fehlende ›e‹ als Mangel und Reduktion von Vielfalt lesbar: Im Gegensatz zu den Basterds bietet die Figur Zollers keinerlei Spielraum. Seine Persönlichkeit ist die eines stereotypen, vom System strategisch benutzten und eingesetzten Nationalsozialisten. 1146 Im Gegensatz dazu sind die anderen Nazi-Figuren allesamt multidimensional motiviert. Tarantino entgeht selbst in seiner Darstellung der Täter der gängigen Stereotypisierung. 1147 Welzer, Die Bilder der Macht und die Ohnmacht der Bilder, S. 168.

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Der Film im Film: Stolz der Nation

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Wirklichkeit zurück:1148 Der Film-Hitler aus Inglourious Basterds bricht angesichts dieses Siegesrauschs in beinahe hysterisches Lachen aus. Im Fall von Stolz der Nation wird dieser Mechanismus der gegenseitigen Stützung und Verstärkung von Fiktion und (einseitig perspektivierter) Realität durch die Tatsache verschärft, dass Zoller sich selbst spielt und dadurch verdoppelt. So wird der metadiegetische Held Zoller aus Stolz der Nation zum Maßstab der Wirklichkeitswahrnehmung für den intradiegetischen Soldaten Zoller. Er verlässt, für einen Moment peinlich berührt von der Darstellung seiner Mordtaten auf der Leinwand, den Zuschauerraum und macht sich auf den Weg zum Vorführraum, wo Shosanna die Filmrollen einlegt. Nachdem sie ihn nicht eintreten lässt und seine erneuten Avancen abweist, bricht es, ganz gemäß der Rolle, in der er sich eben auf der Leinwand gesehen hat, in einem Wutanfall aus ihm heraus:1149 »Je ne suis pas un homme à qui on dit ›allez-vous-en‹« (IB 02:13:33, »I’m not a man you say ›Go away‹ to.« (Drehbuch 154)). Es gibt für den nationalsozialistischen Zoller keinen Widerspruch, er übergeht Shosannas Abweisung als gelte sie nichts. Als Beglaubigung zieht er in einer paradoxen Redefigur des stellvertretenden Sprechens, das zugleich eine Drohung ist, die fiktionalisierten Toten als Zeugen seiner Aussage heran: »Il y a plus de trois cents cadavres en Italie qui, s’ils le pouvaient, en témoigneraient« (IB 02:13:36, »There’s over three hundred dead bodies in Russia that, if they could, would testify to that« (Drehbuch 154, Herv. K.K.)).1150 Harald Welzer bezeichnet diese Haltung als »eine Art utopischen Überschwang«,1151 der sich vor allem in der »tragende[n] Idee einer vollständigen Gestaltbarkeit der Welt«1152 Bahn bricht, die »in den medialen Produkten […] das Bild der gestalteten Gesellschaft zugleich vorfinde[t].«1153 Es ist daher kein Zufall, dass Zollers Wutausbruch während der Projektion seiner Heldentat in einer nur von ihm beherrschten Welt geschieht und er, obwohl er in 1148 Die Formung von Wirklichkeit durch mediale Erzeugnisse ist zugleich der Einsatzpunkt des Widerstands, an dem sich das Propagandamaterial durch Shosannas filmische Intervention gegen die ›Nazi-Elite‹ im Kinosaal wendet. 1149 Damit erzeugt die Szene zwei konkurrierende Deutungen. Statt Zollers Verlassen des Kinosaals als – kurzfristiges – Unbehagen an der eigenen Inszenierung zu lesen, wäre es möglich, schon hier zu argumentieren, dass Zoller seiner eigenen Inszenierung verfällt. Damit wäre es für ihn als Helden inakzeptabel, Shosannas abweisendes Verhalten hinzunehmen, was ihn dazu veranlasst, sie aufzusuchen und aggressiv zu bedrängen. 1150 Die Aussage ist zugleich als Anspielung auf die philosophische Debatte über das Paradox der (Un-)Bezeugbarkeit der Konzentrationslager lesbar. Siehe dazu Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten. München 1990; Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III). Frankfurt am Main 2003. In einer gewagten Umkehr sollen die unmöglichen Zeugen aber die Heldentaten Zollers sowie dessen unbeugsame Macht bezeugen, der alles weichen bzw. sich ergeben muss. 1151 Welzer, Die Bilder der Macht und die Ohnmacht der Bilder, S. 175. 1152 Ebd., S. 175. 1153 Ebd., S. 177.

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Quentin Tarantinos ›Bilderstreit‹ – Inglourious Basterds

der Diegese von Inglourious Basterds in dieser Szene von Shosanna getötet wird, bis zum letzten Atemzug in der Verblendung durch seinen eigenen Film gefangen bleibt. Er tötet, schwer verwundet, mit letzter Kraft wiederum Shosanna und macht damit im Vorführraum die durch das nationalsozialistische Weltbild erzeugte Ausweglosigkeit für die Gegner dieser Denkweise (hier Shosanna) zur Realität. Dass sich dabei im selben Moment die Kräfteverhältnisse auf dem medialen Schauplatz der Leinwand umkehren, macht die Szene mehrfach prekär – stellt Tarantino damit doch die Frage nach der größeren Wirkkraft: jener der medialen Inszenierung oder jener der Realität.

Exkurs: Parodistische Überzeichnung des Heldenepos in Stolz der Nation Mit Stolz der Nation führen Tarantino und Eli Roth vor, welche Gefahr in der stereotypen Inszenierung eines Heldenepos liegt. Es bietet lediglich eine formale Struktur für die Darstellung binär angelegter Konfliktsituationen, aus denen eine Partei als moralisch überlegene, ehrenvoll und heldenhaft agierende Siegerin hervorgeht. Bezüglich des ideologischen Gehalts bleibt diese Struktur neutral und kann von jedem System beliebig besetzt werden. In Stolz der Nation wird – entgegen unserer heutigen Seherfahrung – der Nationalsozialist als Held inszeniert: Here, the Nazi soldier, whom we are used to perceiving as evil, is cast as the hero who is fighting other evil forces. This black-and-white film within Tarantino’s film […] lets the audience see that this fictious Nazi movie is not so different in structure from many Hollywood action films.1154

Inglourious Basterds macht so explizit, dass dem Propagandaunternehmen des nationalsozialistischen Films ähnliche Verfahren zugrunde liegen wie manchen Produktionen der Traumfabrik Hollywood. In einer Szene unterhalten sich Leutnant Hicox, ein Filmkritiker, und General Ed Fenech vom britischen Militär im Beisein Winston Churchills über Hicox’ Bücher und das deutsche Kino unter den Nationalsozialisten: »Goebbels considers the films he’s making to be the beginning of a new era in German cinema – an alternative to what he considers the Jewish German intellectual cinema of the twenties and the Jewish-controlled dogma of Hollywood«. (IB 01:03:43–01:03:56, Drehbuch 79) Churchill unterbricht Hicox mit den Worten »You say he wants to take on the Jews at their own 1154 Imke Meyer: Exploding cinema, exploding Hollywood: Inglourious Basterds and the limits of cinema. In: Robert von Dassanowsky (Hg.): Quentin Tarantino’s Inglourious Basterds. A Manipulation of Metacinema. New York, London 2012, S. 15–35, hier S. 23.

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Exkurs: Parodistische Überzeichnung des Heldenepos in Stolz der Nation

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game?« und zielt damit auf die vergleichende Einschätzung der Filmsysteme Hollywoods und des Nationalsozialismus: ›Arbeitet die Propagandamaschine Goebbels’ ebenso effizient wie die Hollywoods?‹ […] Im Film wird die Frage von Hicox positiv beantwortet und damit begründet, dass diese Maschinerie nach eben dem Vorbild Hollywoods arbeitet. Das klassische Hollywoodkino und der Nazifilm unterscheiden sich so gesehen nur durch ihre Vorzeichen. Der Manipulations- und Propagandagedanke ist für beide konstitutiv.1155

In der Produktion von Propagandafilmen operieren beide Filmsysteme mit fixen Vorstellungen von Gut und Böse1156 und sind auf die Erzeugung eindeutiger Positionen und einfacher Freund-Feind-Weltbilder ausgelegt. In der Darstellung von Nationalsozialisten in Hollywoodfilmen gilt dies weitgehend bis heute. Das Mainstream-Hollywoodkino (und mit ihm Mainstream-Produktionen anderer Länder wie beispielsweise Der Untergang) stellt in dieser Hinsicht bis heute eine Verlängerung der nationalsozialistischen Ästhetik dar. Dies geschieht beispielsweise, wenn die auf Authentizität setzenden Retrofilme über den Nationalsozialismus dessen Ästhetik reinszenieren und dessen reduzierende Zuschreibung von Juden und Jüdinnen als zu vernichtende Opfer – und sei es nur als scheinbare, nachahmende Wiedergabe der damaligen Realität – wiederholen. Stolz der Nation parodiert durch Übertreibungen von Stereotypen und Genremerkmalen den nationalsozialistischen Helden- und Propagandafilm. Durch die Fokussierung auf den Helden Zoller, der jeder Einbettung in soziale oder emotionale Seitennarrative1157 entbehrt, wird der Mythos vom nationalsozialistischen Helden überhöhend karikiert. Insbesondere in der fast meditativ anmutenden Szene, in der Zoller das Hakenkreuz in den Holzboden ritzt, wird die Absurdität des ›Heldentums‹ in seiner Isolation nur allzu deutlich und ins Lächerliche gezogen. Auch die stereotypisierende Simplifizierung von heldenhafter Übergröße – Zoller wird als einzige Figur individualisiert – und gesichtsloser Masse stellt der Film in einer Reinform dar, die in nationalsozialistischen Filmproduktionen nicht vorzufinden ist. Der Feind ist in Stolz der Nation jeder metaphorischen Semantik beraubt, so dass die Darstellung von heldenhaftem

1155 Steierer, Tarantinos Rache an Hitler, S. 6. 1156 Dass dabei ein relevanter Unterschied besteht, muss betont werden. Das nationalsozialistische Schema von Gut und Böse ist biologistisch grundiert und lässt keine Möglichkeit zur Veränderung oder zum Ausbruch aus den Positionen für den Einzelnen zu. Im amerikanischen Film hingegen ist die Opposition durch soziale – zuweilen zwar auch rassistisch – grundierte Unterscheidungen inszeniert. Die Gegensätze sind jedoch keineswegs unüberwindbar, so dass sich im Lauf der Filmgeschichte die Positionsstellen des Bösen unterschiedlich füllen lassen, worin sich gesellschaftliche Perspektivenwechsel widerspiegeln. 1157 Nationalsozialistische Filmproduktionen operieren überwiegend mit der Einbettung propagandistischer Gehalte und ideologischer Themen in unterhaltende Plots.

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Quentin Tarantinos ›Bilderstreit‹ – Inglourious Basterds

Nazi und menschlicher Feindmasse zu pornographischer Plattheit gerät und damit die letzte Konsequenz von narrativer Schließung vorführt. Kurz gesagt: Stolz der Nation ist ›besser‹, weil schonungsloser und ehrlicher als jeder nationalsozialistische Propagandafilm. Zugleich erschöpft sich der Film im Film aber nicht in der ausstellenden Karikatur, sondern ist darüber hinaus als stilistische Anspielung auf Actionfilme der 1980er Jahre wie etwa Rambo III oder – vor allem durch die Schnittweise und -geschwindigkeit und die für den Regisseur Eli Roth typischen auch hier erkennbaren Tendenzen zum Splatter – auf Ego-ShooterSpiele zu verstehen. In dem Verzicht auf jegliche motivierende Narration zeigt sich die Kehrseite narrativer Schließung, die meist mit mythifizierender Überhöhung einhergeht und eine karikierende Antwort auf bestimmte Nazi-Ego-Shooter-Spiele darstellt, in der Töten um des Tötens willen als Spielziel ausgewiesen wird. Inglourious Basterds zeigt sich sensibel für verschiedene mediale Ausprägungen von Ideologie und Gewalt, die losgelöst von aufklärerischer Einbettung um ihrer selbst willen verherrlicht und bejaht werden.1158 Die Kino-Leinwand kommt im Folgenden als Austragungsort in den Blick, an dem der Bilderordnung der nationalsozialistischen Ästhetik durch das filmische – und physische – Überschreiben für einen kontrafaktischen Moment Einhalt geboten wird.

7.4

Der Film ist ein Film ist ein Film – Postmoderne mise en abyme oder: Die Bilder schlagen zurück

Die Kino-Leinwand ist in Inglourious Basterds das Motiv, an dem das poetologische Verfahren des Films, durch Selbstreferentialität und Intertextualität unablässig neue mises en abyme zu erzeugen, deutlich wird. Zu Beginn des Films gibt es auf der Leinwand nur etwas zu lesen, aber nichts zu sehen. Der Vorspann läuft auf schwarzem Grund ab. In der ersten Szene ist eine leere Leinwand in Form eines zum Trocknen aufgehängten Leintuchs zu sehen. Auf dem Leintuch ist – wiederum – nichts zu sehen. Es trennt lediglich Frankreich bzw. das durch den märchenhaften Titel »Once upon a time…« angezeigte – sich sogleich als trügerisch entpuppende – idyllische Landleben der Familie LaPadite von seinen Besatzern in der Person des herannahenden Hans Landa.1159 1158 Interessant ist dies vor allem im Hinblick auf Tarantinos gesamtes Filmschaffen, ist ihm doch oft vorgeworfen worden – vor allem mit Kill Bill (2003) und Death Proof (2007) –, selbst gewaltverherrlichende Darstellungen zu inszenieren. 1159 Die weiße Leinwand steht in farblichem Kontrast zum schwarzen Hintergrund des Vorspanns. Sie bildet zudem eine Trennungslinie für den Gegensatz von Ländlichkeit und technischem Fortschritt, der durch das herannahende Auto markiert wird. Landas bedrohliches Herannahen aus der Panoramaeinstellung verwandelt die Szene in einen Wes-

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Der Film ist ein Film ist ein Film

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Wenn die Tochter LaPadites das weiße Leintuch zur Seite zieht, wird der sich nähernde Wagen Landas sichtbar. Der Gegensatz von vor und hinter der Leinwand, von Gut und Böse, der durch die Grenze der Leinwand getrennt scheint, erweist sich als trügerisch. In der inhärenten Filmlogik veranschaulicht die Bildkonstellation, dass die Bedrohung von hinter der Leinwand kommt. Gleichzeitig gibt das Zur-Seite-Schieben des Leintuchs die Sicht auf ein nur vermeintliches Dahinter frei, das keineswegs von anderer Qualität oder anderer Ontologie ist – im Sinn des Unterschieds zwischen Abbild und Realität oder Oberfläche und Tiefendimension –, sondern sich bloß als eine erneute Form der (filmischen) Inszenierung entpuppt. Denn auch Landa, der wohl als das ultimativ Böse des Films, weil radikal opportunistisch, bezeichnet werden kann, entpuppt sich nie als der, der er ist, sondern schlüpft unablässig in verschiedene Rollen. Vom »Jew Hunter« (IB 00:12:57, Drehbuch 11) über den multilingualen effeminierten Elite-Nazi und dem Re-enactment von Aschenputtel in einer Szene, die in animalische Gewalt umschlägt, bis zum selbst ernannten »detective. A damn good detective« (IB 01:59:35, Drehbuch 142), wechselt er beinahe mit jedem Auftritt die Rollen. Jedes Bild macht einem anderen Bild Platz. »Der Film besteht aus einer unendlichen Reihe von Spiegeln und ein Bild verändert das nächste. Es ist wie eine mise en abyme-Struktur.«1160 Aus dieser Verweisstruktur gibt es kein Entkommen. Die Vorstellung eines Zugangs zur faktischen Vergangenheit durch die mediale Vermittlung mit der Möglichkeit eines gesicherten Urteils über das Dargestellte, etwa anhand von Kriterien der Authentizität, verfehlt die Struktur des Films. Die aus dem Film ableitbaren Aussagen über die Wirklichkeit haben den Charakter eines Korrektivs,1161 deren Gehalt – nicht deren Wahrheitswert – sich aus Verfahren der Analogie und der Abweichung ergibt. Filminterne Struktern. Die Erzählungen des Genres setzen häufig mit dem Topos der Bedrohung einer der Wildnis abgetrotzten Farm durch herannahende Banditen ein, so beispielsweise die zweite Sequenz von Zwei glorreiche Halunken (1966) von Sergio Leone (Der Originaltitel lautet: Il buono, il brutto, il cattivo, der internationale Titel heißt: The Good, the Bad and the Ugly). Die Sequenz ist als Negativ-Pendant zum Sprachduell zwischen Landa und LaPadite lesbar, wenn der Eindringling Sentenza und der Hausherr sich am Tisch sitzend mit Blicken ein stummes ›Essduell‹ liefern, bevor es zum tatsächlichen Gewaltausbruch kommt. Im Gegensatz zu den schweigsamen Figuren des Western, ist Landa ein eloquenter Meister des Sprachduells. 1160 Alexander Kluge: Delightful Horror – Attraktion des Bösen. Über die Unschärfe von Gut und Böse in der modernen Literatur. Peter-André Alt im Gespräch mit Alexander Kluge. In: Ders.: 10 vor 11/Ten To Eleven (Fernsehmagazin) 03. 01. 2011. http://www.dctp.tv/filme/de lightful-horror-attraktion-des-boesen/, abgerufen am 09. 04. 2022. 1161 Für Tarantinos Film gilt insbesondere, was Aristoteles über die Unterscheidung zwischen der Arbeit des Historikers und des Dichters formuliert: »sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte.« (Aristoteles: Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1996, S. 29).

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Quentin Tarantinos ›Bilderstreit‹ – Inglourious Basterds

turen sind zunächst nicht in der Form welthaltig, dass aus ihnen eine direkte Aussage über die Wirklichkeit abzuleiten wäre. So lässt sich die Eingangsszene als Hinweis des Films auf die eigene medialisierte, fiktionale Weltgestaltung sowie als filminterner Verweis auf die später folgende Szene der Vorführung von Stolz der Nation lesen. Während der Film im Film läuft, arbeiten Marcel und Shosanna »in counterpoint to the film screening, behind the image, in the space of its material support in the projection booth, and literally, behind the screen itself.«1162 In beiden Szenen kommt die Katastrophe von hinter der Leinwand – in der Kino-Sequenz allerdings mit verkehrten Vorzeichen. Rücken die Bilder in Inglourious Basterds mit dem anfänglichen zur Seite Schieben des Leintuchs in der ersten Szene im Lauf des Films immer weiter in die Tiefe und geben, einer mise en abyme gleich, stets neue Repräsentationen, Identitäten1163, Genres und Spiele frei, so kehrt sich die Richtung mit der Filmvorführung um: Während der Vorstellung von Stolz der Nation legt Marcel das Feuer hinter der Leinwand. Es durchbricht die intradiegetische Leinwand und der in Stolz der Nation fiktional inszenierte (metadiegetische) Krieg bricht, ausgelöst durch das von Marcel angezündete Material des Films, mit all seinen physischen und psychischen Auswirkungen in die diegetische Wirklichkeit von Inglourious Basterds ein und rückt zugleich um eine diegetische Stufe näher an uns als Zuschauende heran. »As the diegetic border collapses in the theater, we viewers are absorbed into the Nazi crowd.«1164 Angekündigt und ausgelöst wird diese Übertretung durch den Film selbst. So zeigt Inglourious Basterds, dass das hermetische Bildersystem zwar niemals mit den Maßstäben von Authentizität oder Tatsächlichkeit in eins gesetzt werden darf, zugleich aber für die Realität hochgradig konsequenzenreich ist. Damit entlarvt es die im Nationalsozialismus erzeugte »Perfektion […], mit der der Film jedwede außermediale Erfahrung hinwegdrängte.«1165 Das Kino als Waffe wird hier von einem Mittel, ein anderes (meist ideologisches oder unterhaltendes) Ziel zu erreichen, zum unmittelbaren Zweck. Waren in Inglourious Basterds bisher alle Referenzen auf andere innerfilmische Punkte, sozusagen in die Tiefe des kinematographischen Raumes gerichtet – und das gilt für die Figuren des Films ebenso wie für die extradiegetischen Zuschauer:innen von Inglourious Basterds –, so läuft die Bewegungsrichtung nun gerade umgekehrt: Fredrick Zoller fragt in Stolz der Nation als Ausdruck einer rhetorisch-heroischen Siegergeste »Who wants to send a message to Germany?« (IB 02:17:26, 1162 Willis, »Fire!« in a crowded theater, S. 179. 1163 Das gilt nicht nur prominent für Landa und Shosanna, sondern beherrscht als Thema das gesamte vierte Kapitel. Dort spielen die Basterds in der Kellerbar La Louisiane mit Bridget von Hammersmark, ihrer Verbindungsperson zur britischen Regierung, und mit einem deutschen Offizier das Spiel ›Wer bin ich?‹. 1164 Willis, »Fire!« in a crowded theater, S. 181. 1165 Segeberg, Erlebnisraum Kino, S. 17.

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Drehbuch 158), um durch die Antwortlosigkeit auf die Totalität des nationalsozialistischen Siegs hinzuweisen. Die ausgestellte Hybris der Filmfiktion im Film erhält eine – zwar filmische – Antwort durch Shosanna, die in die intradiegetische Welt übertritt. Dieser Übertritt stellt sowohl einen Wechsel des Genres (hin zum Horrorfilm) als auch einen diegetischen Sprung in die Metaebene der Selbstreflexivität dar. Zollers rhetorischer Frage in Stolz der Nation fungiert als Geste der Unbesiegbarkeit und Stärke. Zudem unterstreicht sie die Objekthaftigkeit seiner Feinde: Keiner der von Zoller (mund-)tot gemachten Erschossenen ist noch zu einer Replik fähig, was Zollers Frage schon voraussetzt. Shosanna durchbricht nun mehrfach diese Struktur, wenn sie, das Stilmittel der rhetorischen Frage ignorierend, Zoller buchstäblich beim Wort nimmt und auf seine Frage antwortet. Sie montiert ihre Antwort physisch in Stolz der Nation ein und unterbricht das – durch die rhetorische Frage zirkulär und hermetisch wirkende – nationalsozialistische Narrativ, indem sie die mediale Autorität übernimmt. Ihre Antwort ist eine sprachliche und bildliche Präsenz mit physisch spürbaren Konsequenzen. Das montierte Close Up ihres Gesichts antwortet: »I have a message for Germany. – That you’re all going to die. […] – And I want you to look deep into the face of the Jew who’s going to do it« (IB 02:17:28–02:17:45, Drehbuch 159). Nach ihrer Anweisung »Marcel burn it down« (IB 02:17:48, Drehbuch 160) entzündet Marcel das hinter der Leinwand aufgehäufte Filmmaterial. Das Feuer bricht durch die intradiegetische Leinwand, auf der Stolz der Nation läuft, und tötet die Zuschauenden des Binnenfilms. Shosanna wird damit zur stellvertretenden Sprecherin für die in Stolz der Nation getöteten Russen und für die durch das nationalsozialistische Regime ermordeten Juden und Jüdinnen. Damit stellt sie eine zweifache Durchkreuzung der nationalsozialistischen Unternehmung einer totalen Erinnerungszerstörung der Vernichteten dar: Ein spezifischer Zug totaler Herrschaft besteht […] in dem Versuch, eine Erinnerungstotalität herzustellen, deren Einzelstränge die historische Notwendigkeit, die Alternativlosigkeit und die Überlegenheit des totalen Staates komponieren. Zu dieser Erinnerungstotalität gehört aber nicht nur die qua Inszenierung gestaltete Gesellschaft, sondern auch die durch Vernichtung ausgelöschte Erinnerung.1166

Der anonymen Tötung der jüdischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten stellt Shosanna eine starke und selbstbewusste Antwort entgegen. In der beschriebenen Szene kommt keine andere Figur zu Wort. Außer Shosannas Stimme sind nur die Panikschreie der flüchtenden Nationalsozialisten zu hören. Diese finden mit Shosannas Gesicht vor Augen und ihrer Stimme im Ohr ihr Ende: »My name is Shosanna Dreyfus, and this is the face of Jewish vengeance«. (IB 1166 Welzer, Die Bilder der Macht und die Ohnmacht der Bilder, S. 179.

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Quentin Tarantinos ›Bilderstreit‹ – Inglourious Basterds

02:18:27–02:18:34, Drehbuch 160) Damit unterbricht Shosanna die Struktur der Anonymität und gibt den Vernichteten eine stellvertretende Stimme zurück. Sie rettet die Opfer vor einer gänzlichen Auslöschung, das heißt hier vor allem vor einer Vernichtung jeglicher bildlichen Erinnerung, indem sie Zollers Narration durch die Montage ihres Gesichts, die geschlossene Narration gegen die prinzipielle Offenheit des Bildes ersetzt. Sie besetzt als Re-Präsentantin die Position der nationalsozialistischen Opfer im kulturellen Bildgedächtnis, welche die Nationalsozialisten in ihrer totalisierenden Herrschaft bemüht waren, gänzlich aus dem kulturellen Geschichtsnarrativ und dessen Bildarchiv zu löschen. »RePräsentation bezeichnet [dabei] nicht die Funktion der Stellvertretung einer als ›Original‹ greifbaren Ereignispräsenz, sondern die Intensivierung der Präsenzmachung durch performative Wiederholung.«1167 Durch die Großaufnahme oszilliert das Bild Shosannas zwischen tatsächlicher Konkretheit und abstrakter Unpersönlichkeit. Gilles Deleuze spricht der Großaufnahme, die er wesenhaft mit dem Gesicht verknüpft sieht, die Qualität zu, in der Ausdehnung ihres Gegenstands im Bildkader einen rahmenden Bezug zu einer kontextualisierenden Narration oder Räumlichkeit zu suspendieren und aus einer narrativen, semantischen Verweisstruktur auszutreten: Die Großaufnahme ist das Gesicht, allerdings genau in dem Maße, wie es seine dreifache Funktion aufgegeben hat: seine Nacktheit ist größer als die des Körpers, seine Unmenschlichkeit größer als die der Tiere. […] Aber mehr noch macht die Großaufnahme aus dem Gesicht ein Gespenst und liefert es den Gespenstern aus.1168

Als reine Präsenz stellt die Großaufnahme Shosannas ein zugleich mahnendes und zeitloses Bild des Erinnerns dar, das in seiner Zeitlosigkeit allpräsent wirkt und sich einer einfriedenden Narration entzieht und damit der verweisenden und auf Realitätserzeugung ausgerichteten Narration von Stolz der Nation eine andere Ordnung der Bilder entgegensetzt. Als Bild, das noch im auflösenden Rauch sichtbar bleibt, vermag sie – und mit ihr die in Rauch aufgegangenen Opfer der Nationalsozialisten – über ihren realen Tod hinweg, sichtbar und wirkmächtig zu sein (IB 02:19:27). In der Logik der Szene teilt Shosanna einerseits das Schicksal der Ermordeten, da sie als Person nicht mehr antworten kann, in ihrer Bildpräsenz andererseits wird sie zur medialen Rächerin, deren Antwort einer Heimsuchung gleicht. Wenn Tarantino häufig vorgeworfen wird, in Inglourious Basterds gemäß seinen cinephilen Vorlieben zu ›verspielt‹ mit der Thematik umzugehen, so lassen diese Vorwürfe außer Acht, welche Bedeutung die Erzeugung medialer Bilder für die Nationalsozialisten besaß: als Ablenkung, Unterhaltung und propagandistische Manipulation. 1167 Metin Genç: Ereigniszeit und Eigenzeit. Zur literarischen Ästhetik operativer Zeitlichkeit. Bielefeld 2016, S. 132. 1168 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt am Main 1997, S. 139.

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[D]ie über jedwede ideologische Vorabnormierung hinausreichende exklusive Monopolisierung der Bilder und Töne war um so wichtiger deshalb, weil die von Hitler immer wieder angekündigte und im Zweiten Weltkrieg dann auch praktizierte technisch-industrielle Massentötung des Holocaust sich nicht anders als im laut- und bildlosen Schatten einer derart grell ausgeleuchteten Medien- und Kulturindustrie vollziehen konnte.1169

Das Schattendasein des Tötens von Millionen von Juden und Jüdinnen wird aus seiner Unsichtbarkeit gerissen und als das ausgestellt was es ist: skrupellose Vernichtung. Dies geschieht inszenatorisch in einem an den Nationalsozialisten ausagierten und damit umgekehrten Ersatzvollzug. In dieser Szene findet das zentrale Thema des Films seinen Kulminationspunkt. Es geht keineswegs um eine harmlose Rachephantasie, sondern um Fragen der erzählerischen – und damit der medialen und erinnerungspolitischen – Hoheit. Die Figuren ringen um das letzte Wort, was Konsequenzen für das historische Gedächtnis hat. Die ausgestellte, tatsächliche Gewalt findet im Film darüber hinaus in den vielen Sprachduellen ein ebenso gefährliches, weil in jedem Moment des Alltags präsentes, Pendant. Das Ringen um Bilder und Töne in Inglourious Basterds reinszeniert, persifliert, pervertiert und konterkariert die bis heute nachwirkenden Inszenierungsweisen nationalsozialistischer Ästhetik, in der die überbordende kulturindustrielle Produktion von Schein und Glanz die notwendige Geräuschkulisse darstellte, um in deren Schatten den ebenfalls industriell perfektionierten Massenmord bild-, ton- und damit zeugenlos zu realisieren. Tarantino setzt dem nationalsozialistischen Bildersturm ein eigenes alternatives Inferno der Bilder entgegen, das in einem buchstäblichen Feuer endet und damit die Vorzeichen des Abends verkehrt. Damit schlägt Tarantino the cinema-loving Nazis at their own game, with the battles being contested in Inglourious Basterds taking place both at the level of the wartime plot and also at the level of competing misrepresentations of history, with Goebbels’s propaganda and what will later be Landa’s attempt to rewrite the past, and specifically his role in it, forming the ideological counterpoints to Tarantino’s revenge fantasy. It is as though the director is saying something like, ›Look, my unreality needs to beat theirs‹. These historiographical battles are all staged, fought out and rendered on the big screen.1170

Shosanna erobert mit dem Einsatz von Bild und Stimme das letzte Wort über die mediale Vermittlung der Geschichte: Shoshanna’s [sic!] revenge is revolutionary in that she writes herself into Nazi aesthetics (by literally editing her face into the Nazi film ›Nation’s Pride‹) rather than allowing her vengeance to be dictated by previously established fascist forms. Her revenge tran1169 Segeberg, Erlebnisraum Kino, S. 24. 1170 Boswell, Holocaust Impiety in literature, popular music and film, S. 179.

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Quentin Tarantinos ›Bilderstreit‹ – Inglourious Basterds

scends the limits of her body (whereas the basterds’ form of revenge relies on inscribing the German body) as she becomes the ›face of Jewish vengeance‹.1171

Dass der Stellenwert medialisierter Fiktionen für das nationalsozialistische System von immenser Bedeutung war und von Goebbels auch als solche erkannt wurde, unterstreicht seine durch Albert Speer überlieferte Aussage über das Scheitern des Stauffenberg-Attentats: Wenn die nicht so ungeschickt gewesen wären. Sie haben eine große Chance gehabt. Welche Trümpfe! Welche Kinderei! Wenn ich denke, wie ich das gemacht hätte! Warum haben sie nicht das Funkhaus besetzt und die tollsten Lügen verbreitet […] Was für Anfänger!1172

Tarantino ›besetzt‹ mit seinem Film posthum das oben zitierte ›Funkhaus‹, indem er Shosanna ihre ›message for Germany‹ die, in den Worten Goebbels, für unsere geschichtliche Wirklichkeit ›tollste Lüge‹ vom frühen Tod der ›Nazi-Elite‹ verkünden lässt.

7.5

Der Verlust der medialen Unschuld

Die strukturelle Anordnung der Filmvorführung von Stolz der Nation zeitigt Konsequenzen für die Zuschauer:innen von Inglourious Basterds. Die umgekehrte mise en abyme wird durch das Motiv des Lachens bis zu den Zuschauenden getragen. Shosannas Lachen, »[which] becomes the form of a free and critical consciousness that mocks dogmatism and fanaticism«,1173 lässt sich als karnevalesker Umsturz lesen. Florian Evers weist »Tarantinos eklektisches PopkulturZitatenspiel Inglourious Basterds«1174 recht unspezifisch als ein Beispiel für das »Karnevaleske in der Darstellung von Versatzstücken des Holocausts«1175 im Kino aus. Substanz erhält diese Beschreibung, wenn man in der Situation der Zuschauer: innen von Inglourious Basterds, deren fiktionale Äquivalente (die Binnenfilmzuschauer:innen von Stolz der Nation) verbrannt werden, einen »Holocausteffect«1176 sehen will, der sich durch ein »reenactment of principles that in a sense 1171 Conrad Leibel: The Fuhrer’s Face: Inglourious Basterds and Quentin Tarantino’s Confrontation with Nazis, Hitler and Fascist Aesthetics in Hollywood Cinema. In: Constellations 6 (2014), Nr. 1. https://doi.org/10.29173/cons24109, abgerufen am 09. 04. 2022. 1172 Albert Speer: Erinnerungen. Frankfurt am Main 1969, S. 398. 1173 Robert Stam: Subversive pleasures. Bakhtin, cultural criticism, and film. Baltimore, London 1992, S. 87. 1174 Florian Evers: Vexierbilder des Holocaust. Ein Versuch zum historischen Trauma in der Populärkultur. Münster, Berlin, Wien u. a. 2011, S. 70. 1175 Ebd., S. 70. 1176 Ernst van Alphen: Caught by History. Holocaust Effects in Contemporary Art, Literature, and Theory. Stanford 1997, S. 99.

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Der Verlust der medialen Unschuld

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define the Holocaust«1177 auszeichnet. Diese Prinzipien liegen in der Analogie des dunklen, abgeschlossenen Kinosaals mit einer Gaskammer:1178 In den abgeschlossenen Raum dringt zwar kein Zyklon-B Gas ein, die Eingesperrten werden aber im Kinosaal und durch den Film bzw. das brennende Filmmaterial – und die wild um sich schießenden Basterds – getötet und verbrannt. Wie die in den Konzentrationslager Vernichteten wird auch die ›Nazi-Elite‹ physisch doppelt vernichtet. Ferner lässt sich argumentieren, dass schon Shosannas filmisches Todesurteil sowie ihr Zerstören von Stolz der Nation durch ihre Bild-Einschreibung eine Tötung darstellt. Hier wird also die Filmkonkurrenz von jüdisch-amerikanischem Hollywood und nationalsozialistischer Propagandamaschinerie, über die Hicox und Churchill sich zuvor unterhalten haben, ausagiert. »Hitler und seine faschistischen Ideologieprodukte«1179 werden zwar ausgelöscht, aber der karnevaleske Umsturz bleibt vorübergehend: »Mit dem Kino-Opfer ist der Film dementsprechend auch nicht beendet. Das Opfer ist selbst nur Teil eines cineastischen Rituals, das es stets von Neuem zu wiederholen gilt. Die Kinoerzählung geht weiter, sie setzt sich im Bewusstsein des eigenen Scheiterns unaufhörlich fort. Das Kino-Opfer ist eben doch wieder nur im Kino möglich.«1180 Inglourious Basterds ist demnach nicht frei von ideologisierenden Inszenierungstechniken, der Film erweist sich aber als selbstreflexiv, wenn er einerseits seinen Plot nicht mit dem brennenden Kino enden lässt und andererseits weder vor der ›Kontamination‹ seiner Figuren noch seiner Zuschauer:innen Halt macht. Denn Shosannas Lachen ist zugleich als Echo des Momente zuvor lachenden Hitler (IB 02:17:24) lesbar. Diese Dopplungs- und Wiederholungsstruktur affiziert potentiell die impliziten Zuschauer:innen, wenn diese, parallel zu Hitler im Kino sitzend, über die auf der Leinwand geschehenden Dinge lachen. Aus der bequemen Position der distanziert Zuschauenden zweiter Ordnung werden die im realen Kinosaal Sitzenden in den Zustand affizierter Zuschauer:innen erster Ordnung versetzt, wenn das Geschehen auf der Leinwand vor die intradiegetische Leinwand tritt und nurmehr die tatsächliche Kinoleinwand zwischen den Zu1177 Ebd., S. 99. 1178 Jan Schulz-Ojala attestierst dem Film diesbezüglich, dass »sogar die Ikonografie der KZÖfen in den historisch bestmöglichen Zweck umgekehrt wird« (Ders: Das schönste Attentat der Welt. In: Der Tagesspiegel 20. 05. 2009. 1179 Steierer, Tarantinos Rache an Hitler, S. 7, Herv. K.K. Bemerkenswert ist zudem, dass Hitler keinen ehrenhaften Tod gewährt bekommt. Er wird vielmehr von dem Bärenjuden in einem Anfall von Raserei durchlöchert, wobei die Kamera ihn nur kurz zeigt, um dann das manisch-verrückte Gesicht des Bärenjuden zu fokussieren. In der Szene ist deutlich erkennbar, dass es sich bei der Figur Hitlers um eine menschliche Puppe handelt, so dass erneut darauf verwiesen wird, dass es darum geht, den überpräsenten Bildern Hitlers den Garaus zu machen. 1180 Steierer, Tarantinos Rache an Hitler, S. 18.

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Quentin Tarantinos ›Bilderstreit‹ – Inglourious Basterds

schauer:innen und dem Geschehen im Film liegt. Der filmischen Logik folgend gibt es keinen strukturellen Grund, warum das Entgegenkommen der Bilder aus der Tiefe hinter der Leinwand vor den tatsächlichen Zuschauer:innen Halt machen sollte. Der Film im Film läuft zuletzt nur noch für die Zuschauer:innen von Inglourious Basterds, da die ›Nazi-Elite‹ im Film damit beschäftigt ist, vor den auf sie schießenden Basterds und dem ausgebrochenen Feuer zu fliehen. Shosannas Rache ist daher auch eine an den Zuschauer:innen, die sich in einen voyeuristischen Modus begeben, sobald sie sich mediale Inszenierungen gesellschaftlichpolitischer Ereignisse der Vergangenheit ansehen. Durch die parallelen Raumverhältnisse der Zuschauer:innen (von Inglourious Basterds) und der ›Nazi-Elite‹ (als Zuschauer:innen von Stolz der Nation) werden jene ohne die sonst übliche Täteridentifikation (etwa durch Sympathie mit dem guten Deutschen wie in Schindlers Liste, das Zeigen der Nationalsozialisten als ›normale‹ Menschen wie in Der Untergang oder aber durch die Erzählperspektive wie beispielsweise in Jonathan Littells Mammutroman Les Bienveillantes – Die Wohlgesinnten) mit der voyeuristischen Täterposition enggeführt. Die Zuschauenden müssen keine Einfühlung leisten, sondern werden strukturell an die Stelle der Nationalsozialisten versetzt, die von ihren eigenen medialen Machtinstrumenten heimgesucht werden.1181 Täter sein wird damit zu einer Frage der Anordnung und der Anschauung. Die Nationalsozialisten werden demgemäß nicht zu Opfern im Sinn des konventionellen Erzählkinos, sondern vielmehr zu einer Positionsstelle in einer Versuchsanordnung, in der sich Zuschreibungen von Opfer und Täter als inhaltlich wechselhafte, strukturell aber an Hierarchie und Anordnung gebundene Positionen erweisen. Die Zuschauer:innen sind damit in eine potentiell paradoxe Situation versetzt. Die strukturelle Anordnung parallelisiert sie mit den nationalsozialistischen Tätern. Zugleich aber besteht die Möglichkeit, über den gesamten Film Sympathie und identifikatorische Gefühle für Shosanna aufzubauen und ihre rächende Wut zu teilen sowie den parahistorischen Plot als verdiente Abrechnung mit der und vorübergehende Befreiung von der tatsächlichen Geschichte zu erleben und zu genießen. Zusätzlich zu dieser strukturellen Versuchsanordnung für die Zuschauenden liegt der Szene eine bildliche Ausgestaltung des von Agamben formulierten Di-

1181 Damit entbindet Tarantino gewissermaßen diese Form der Herrschaftsstruktur augenblickhaft von seinen spezifischen Inhalten. Auch in diesem Sinn sind die ›Nazis‹ nur Figuren, die die stärksten Bilder der Herrschaft darstellen. Tarantino setzt damit die grundlegenden Mechanismen des konventionellen Erzählkinos außer Kraft, wenn er keine Identifikation durch Empathie zulässt, um beispielsweise die Position des Täters durch die Figur eines ›Guten‹ abzuschwächen.

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Überschreibungen und Einschreibungen

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lemmas des unmöglichen Zeugen1182 zugrunde. Die Zuschauer:innen werden zu Zeugen eines Ereignisses, das sie selbst nicht durchlebt haben, aber bezeugen können und müssen. In der Holocaust-Forschung wird der Muselmann eng mit dieser Position zusammengedacht. Der »Muselmann [ist] ein absoluter, und das heißt ein unmöglicher Zeuge. Er ist in gewisser Weise der einzige Zeuge der Konzentrationslager und daher kann er nicht mehr Zeugnis ablegen.«1183 Ähnlich wie der Muselmann haben die Zuschauer:innen gesehen, sie sind aber nicht gestorben, ihnen ist das letzte zu Bezeugende nicht widerfahren.1184 Damit wird die Vorstellung einer scheinbaren Unschuld der Bilder endgültig als ideologische Strategie entlarvt und das Kino als potentieller Ort der Gefährdung ausgewiesen.

7.6

Überschreibungen und Einschreibungen

Durch den Akt des Widerstands in Inglourious Basterds tritt das Kino als potentieller Widergänger der nationalsozialistischen Ästhetik auf, legt es doch eine strukturell ähnliche Gewalt an den Tag. Der Mehrwert der Selbstzerstörung des Mediums Kino im Kino liegt einerseits in seiner imaginären Kraft, andererseits in der Konsequenz der Selbstkontamination: alle Bildinszenierungen sind vor potentieller Ideologisierung nicht gefeit und bedürfen daher der imaginären, reflektierten Zersetzung. Diese Zerstörung ist allerdings ein vorübergehender – einige Minuten dauernder – Umsturz, der auf der Bildebene der Wiederholung (Bildinszenierungen müssen unablässig reflektierend ›zerstört‹ werden) und auf der Plotebene von Inglourious Basterds einer physischen Ein- und Festschreibung bedarf: »Weiter aber geht es nur unter der Bedingung, dass dem Bösewicht tatsächlich auch das Böse eingeschrieben wird.«1185 Während Shosanna auf der Ebene des ideologischen Bilderstreits ihren Sieg durch ein Überschreiben der nationalsozialistischen Bilder erringt, übernehmen die Basterds auf der physischen und ›schriftlichen‹ Ebene der Geschichtskonstruktion die Deutungshoheit, indem sie das Zeichen des nationalsozialistischen Regimes, das Hakenkreuz, in 1182 »[H]ier beruht die Gültigkeit des Zeugnisses wesentlich auf dem, was ihm fehlt; in seinem Zentrum enthält es etwas, von dem nicht Zeugnis abgelegt werden kann, ein Unbezeugbares, das die Überlebenden ihrer Autorität beraubt. […] Wer es übernimmt, […] Zeugnis abzulegen, weiß, daß er Zeugnis ablegen muß von der Unmöglichkeit, Zeugnis abzulegen.« (Agamben, Was von Auschwitz bleibt, S. 30). 1183 Andreas Kriwak: Der Andere als Gabe. Über die Notwendigkeit des Politischen. In: Thomas Gimesi, Werner Hanselitsch (Hg.): Geben, Nehmen, Tauschen. Wien, Berlin u. a. 2010, S. 109–120, hier S. 116. 1184 Nachdrücklich weise ich darauf hin, dass ich keineswegs intendiere, die Zuschauer:innen in die gleiche Position, wie die Überlebenden des Holocaust zu setzen. Es geht mir um die abstrakte Struktur, die dieser Anordnung zugrunde liegt. 1185 Steierer, Tarantinos Rache an Hitler, S. 18.

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Quentin Tarantinos ›Bilderstreit‹ – Inglourious Basterds

die Körper der Täter einschreiben. Rache und Widerstand in Inglourious Basterds werden durch Ein- und Überschreibung von Zeichen vollzogen: »Tarantino’s transformation of cinema into a place of resistance relies on his reoccupation of Besetzung of cinematic history to dismantle specific historical narratives. His subversions are not aimed at the history of WWII, but rather at the medium of film itself.«1186 Die doppelte Rache an den Nationalsozialisten operiert also an zwei zentralen Fronten. Die Einschreibungsverfahren zielen sowohl auf den physischen Körper als auch auf die ideologischen Artefakte der Nationalsozialisten. Beide Schreibakte sind darauf ausgelegt, die Verbrechen und Verbrecher zu brandmarken, sichtbar zu halten und in das kulturelle Gedächtnis zu überführen. These flesh-inscribed swastikas not only constitute an act of writing but, like a message in a bottle, the disfigured bodies are meant to trigger acts of reading and recollecting in those who come across the marked soldiers, whose survival comes at a price – the cut. It is not only a reminder to the perpetrator who intends to hide behind civilian clothes after the war, but to all those who wish to forget the past: this history cannot be concealed.1187

Demnach ist der Tod der Nationalsozialisten nicht die einzige Lösung für die Basterds. Die Markierung der überlebenden Nationalsozialisten mit dem Hakenkreuz »reminds one of God’s marking of Cain after the murder of Abel«.1188 Dieses Mal ist mehrfach zu deuten: als Umkehr der Einschreibung des Judensterns zur negativen Auszeichnung der Juden und Jüdinnen während des Nationalsozialismus und als Zeichen der Unantastbarkeit und Unerlösbarkeit, als God’s warning to others that Cain was not to be touched but forced to live in exile. Yet the Hebrew word translates Cain’s ›mark‹ (’owth), a word that conveys both sign and remembrance, is the same word used for ›circumcision.‹ [sic!] This, the ritual of marking the Jewish body as a sign of identification is transferred to the German, where the swastika forever identifies him as a member of Hitler’s regime. Like Arendt who stresses that the court judged correctly that Eichmann must be removed from humanity, Tarantino proposes another manner in which this removal is to be carried out, albeit in a space outside the law that imaginatively fulfills this removal via the mark.1189

Im Anschluss an Giorgio Agambens Theorie der Biopolitik, die er vor allem anhand der Konzentrationslager der Nationalsozialisten entwickelt, ließe sich die Markierung der Nationalsozialisten durch die Basterds als die Markierung

1186 1187 1188 1189

Kligerman, Reels of Justice, S. 145. Ebd., S. 152. Ebd., S. 153. Ebd., S. 153.

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Quentin Tarantinos Inglourious Basterds – Fazit

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des ›nackten Lebens‹1190 beschreiben. Der Akt, einen Menschen bzw. einen Bürger seiner Rechte zu berauben und jenseits aller Rechte zu setzen, kann in der Zeichnung durch die Basterds lesbar werden. Diese gespensterhafte Lebensform, verdammt dazu, nicht erlöst werden zu können, und zugleich jenseits eines schützenden Rechts zu leben, der Erkennbarkeit der eigenen Taten nicht entkommen zu können, stellt die radikale Umkehrung einer negativen, dem schlichten Ausschluß dienenden, Bezeichnung dar, wie sie die Nationalsozialisten gegenüber den Juden und Jüdinnen vorgenommen haben. Die Basterds stellen die verbrecherische Vergangenheit der Nationalsozialisten durch das Einschreiben des Hakenkreuzes in deren Körper für alle sichtbar und dauerhaft aus. Damit nutzen sie die naturalisierende Verwendung von Narration und Zeichensetzung, auf der die nationalsozialistische Propaganda und Ästhetik beruht und unterbinden einen Identitätswechsel für alle Figuren, die sich zum Nationalsozialismus bekannt haben: das Hakenkreuz wird zu einem fixierten Zeichen, dessen Deutung und Sichtbarkeit nicht zurückgenommen werden kann.1191

7.7

Quentin Tarantinos Inglourious Basterds – Fazit

Inglourious Basterds führt einen Bilderkrieg der Exaltiertheit gegen die überhöhende, ideologisch-schließende Inszenierung der nationalsozialistischen Ästhetik und umgeht so die Reproduktion und Bestätigung nationalsozialistischer Ästhetik und deren Weltanschauung von lebenswürdigem und lebensunwürdigem Leben. Der filmische Widerstand von Inglourious Basterds operiert sowohl auf der Ebene des Inhalts (Juden und Jüdinnen rächen sich an ihren Peinigern und Mördern) als auch auf der Ebene Form, denn [n]iemals sieht seine [d.i. Tarantinos, K.K.] Kamera mit dem faschistischen Blick, niemals rekonstruiert sie die faschistischen Räume, und niemals lässt sie sich von der brutalen Selbstinszenierung auf Distanz halten. Er begegnet seinen Nazis auf Augenhöhe, und dann zwingt er sie zu Boden. Der Widerstand beginnt mit dem Sehen.1192

1190 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Frankfurt am Main 2002, S. 168. 1191 Aldo bekräftigt das durch seine Replik auf Private Butz’ Aussage, er werde seine Uniform nach dem Krieg »nicht nur ausziehen, [er] werde sie verbrennen« (IB 00:35:29, Drehbuch (engl.) 37): »Yeah, that’s what we thought. We don’t like that. You see, we like our Nazis in uniforms. That way, you can spot ’em just like that. (snaps his fingers) But you take off that uniform, ain’t nobody gonna know you as a Nazi and that don’t sit well with us. So I’m gonna give ya a little somethin’ you can’t take off.« (IB 00:35:34–00:36:00, Drehbuch 37). 1192 Seeßlen, Quentin Tarantino gegen die Nazis, S. 216.

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Quentin Tarantinos ›Bilderstreit‹ – Inglourious Basterds

Kritik und Widerstandspotential entstehen in Inglourious Basterds durch die Anordnung der Bilder im Zusammenhang mit der Situation der Zuschauenden. Da die Vorstellung, die Bilderproduktion stoppen zu können, utopisch ist, erzeugt Inglourious Basterds eine Vielfalt an konkurrierenden Bildern, die nicht zur Identifikation zwingen und im Hinblick auf ihren Konstruktionscharakter transparent bleiben. Verfahren der Wucherung (des Racheplots), der Hybridisierung (in Form von Genrewechseln und gegenseitigen Identitätswechseln und -übernahmen auf der Figurenebene) und der Bastardisierung konterkarieren die ideologische, auf Reinheit und Eindeutigkeit zielende Bildästhetik des Nationalsozialismus und setzen auf permanente Grenzüberschreitungen. Der Film imaginiert zwar einen Geschichtsverlauf, in dem das Geschehen der Vernichtung nicht ungeschehen gemacht werden kann. Aber er verleiht durch seine alternative Erzählung den Opfern im Akt der Vernichtung eine Stimme und setzt den nationalsozialistischen Bildern – stellvertretend durch Shosannas Gesicht und Namen – Bilder der Erinnerung und das diskursive wie tatsächliche Bild einer aktiven, ermächtigten jüdischen Identität entgegen. Inglourious Basterds wird somit nicht nur durchlässig für eine Verhandlung der nationalsozialistischen Verbrechen jenseits der nationalsozialistischen Ästhetik und Ideologie, sondern zugleich für strukturell ähnliche Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse. In der Debatte um die Universalisierbarkeit des Holocaust bezieht der Film, im Gegensatz zur Position, die den Holocaust als einzigartig und unvergleichbar ansieht, in beiden Lagern Stellung. Inglourious Basterds gelingt eine vergleichende Universalisierung, ohne die Einzigartigkeit des Holocaust zu schmälern oder gar zu leugnen – gerade durch die Erzählung mehrerer Racheakte, in die verschiedene ›Opfergruppen‹ involviert sind. Neben der Figur Shosanna werden mit Aldo, dem ›Apachen‹, und Marcel als Schwarzem auch die verfolgten Minderheiten der amerikanischen Geschichte zu handlungsmächtigen, idiosynkratischen Agenten der Rache. Sie fungieren als pars pro toto für diese Minderheiten, ohne zu Typisierungen zu verkommen1193 und bilden eine multidirektionale Solidarisierung über Klassifizierungsgrenzen hinweg. Worin sich Tarantinos Film und die »Medialisierung des Ideologischen«1194 im Nationalsozialismus berühren, ist die Art und Weise, in der sie Faktisches, das, was wir für Reales halten, und Medialisiertes bis zur Ununterscheidbarkeit amalgamieren: Insofern spricht vieles dafür, daß bereits in den ästhetisch avancierten Doku-Genres des Dritten Reichs Wirklichkeitserfahrung und Medienerfahrung derart nahtlos kurzge1193 Im Gegensatz dazu stehen Erzählungen wie jene der Familie Weiss in der amerikanischen Serie Holocaust, der sämtliche Gewalttaten der Nationalsozialisten widerfahren und die so zu Typen der Judenverfolgung werden statt Einzelschicksale zu bleiben. 1194 Segeberg, Erlebnisraum Kino, S. 11.

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Quentin Tarantinos Inglourious Basterds – Fazit

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schlossen wurden, daß das eine bis zur Ununterscheidbarkeit im anderen aufging – eine Art von medialer Postmoderne avant la lettre, wenn man möchte.1195

Ihre spezifische Ausrichtung auf eine ästhetische wie gesellschaftliche Schließung lassen Kunsterzeugnisse faschistischer Ästhetik als »eine sonderbare Abart von Pop [verstehen], die sich nicht mehr verbraucht, sondern ewige Gültigkeit verlangt, die kein offenes System mehr ausbildet, sondern Kitsch, der nach den Gesetzen sakraler Kunst behandelt wird.«1196 In diesem Sinn stellt faschistische Ästhetik die Kehrseite von Inglourious Basterds dar und lässt sich als reaktionäre Postmoderne bezeichnen:1197 Die Filme des nationalsozialistischen Kinos teilen das »Paradox von Filmen, die intertextuelle Strukturen und narrative Schließung kombinieren«.1198 Inglourious Basterds überantwortet als narrativ offener Film den Zuschauenden, sich den Bildinszenierungen und der eigenen Verstrickung darin gegenüber kritisch, genießend, voyeuristisch, ablehnend, bestätigend oder gleichgültig – oder alles zugleich – zu verhalten. Wenn demnach die amerikanische Fernseh-Serie Holocaust im Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland als »populärkulturelle und massenwirksame Aufklärung über NSVerbrechen«1199 beschrieben wird, dann ist Inglourious Basterds als populärkulturelle und massenwirksame Aufklärung über solch mediale ›Aufklärungsversuche‹ sowie deren Teilhabe am Mythos der nationalsozialistischen Ästhetik, seines todeskitsch-sehnsüchtigen Symbolhaushalts und der damit verbundenen restriktiven Konventionalisierungen zu verstehen.

1195 Ebd., S. 35. 1196 Seeßlen, Blut und Glamour, S. 193. 1197 Peter Reichel betont, dass die wissenschaftliche Sicht auf »das antimoderne-moderne Doppelgesicht des ›Dritten Reiches‹ […] und die hohe Bedeutung der Ästhetisierung der Politik für dieses Regime […] immer noch nicht Teil des allgemeinen Geschichtsbildes« (Peter Reichel: »Onkel Hitler und Familie Speer« – die NS-Führung privat. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 44 (2005), S. 15–23, hier S. 18) ist. 1198 Matthias Steinle: Rezension zu: Tobias Ebbrecht: Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust. Bielefeld 2011. In: H-Soz-Kult 06. 11. 2012. www.hsoz kult.de/publicationreview/id/rezbuecher-16140, abgerufen am 09. 04. 2022. 1199 Ute Janssen: Holocaust-Serie. In: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld 2007, S. 243.

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Fazit Teil III: Konstruieren – The Good, the Bad and the Ugly

Die beiden untersuchten Filmprojekte von Tarantino und Godard könnten in ihrer Erscheinungsweise nicht unterschiedlicher sein und weisen dennoch markante Gemeinsamkeiten auf. Sie zeigen zwei Seiten einer Medaille. Inglourious Basterds stellt seine Fiktionalität durch unablässige Referenzen auf filminterne Topoi, Genre- und Inszenierungskonventionen mit beinahe jeder Szene aus, ohne jedoch das Narrativ zu zerstören: Obwohl die einzelnen Komponenten des Plots nicht nur in unterschiedlichen, genrespezifischen Bildinszenierungen gehalten sind, sondern sich auch gegenseitig in die Quere kommen und ihre Unternehmen zur Vernichtung der ›Nazi-Elite‹ zum Teil gegenseitig gefährden, wird das Ziel erreicht. Der Weg wird von Anfang bis Ende erfolgreich absolviert, allein die Wegstrecke der Handlung erweist sich als episodisch und sprunghaft. Godards Histoire(s) du cinéma sind dagegen auf der bildvisuellen und der narrativen Ebene beinahe durchweg reine Störung. Simultaneität und Mehrfachcodierung, die das Filmbild wesentlich charakterisieren, werden durch Mehrfachbelichtungen und plurale Tonschichtungen gesteigert. Godards formaler ›Verstörungsfilm‹ produziert potentielle Rückfragen an die Wahrnehmung von (Film-)Narration und die durch sie erzeugten Anschlüsse bei den Rezipierenden, wohingegen Tarantino seine Figuren in einen ›heiteren‹ Konkurrenzlauf um die beste Vernichtungserzählung schickt, bei dem sich die Konkurrenten gleichermaßen stören und unwissentlich zuarbeiten, so dass es letztendlich zwar eindeutige Verlierer – die ›Nazi-Elite‹ – gibt, aber keine beste Erzählung. Nur in dem metaleptischen Kommentar Aldo Raines »I think this just might be my masterpiece« (IB 02:23:20, Drehbuch 164) kommt selbstironisch zum Ausdruck, dass Tarantino seinen Film adelt – aber nicht, ohne die notwendigen Bestärkungs- (›just‹) und Einschränkungsvorkehrungen durch den Konjunktiv und die Rückbindung an die idiosynkratische Meinung Raines (›I think‹), zu treffen: Allein in der (unwissenden) Kooperation der Figuren und mithilfe aller möglichen Genres kann der bildliche wie symbolische Nazimythos bezwungen werden. Die vergangene Wirklichkeit des Nationalsozialismus kann nicht umgeschrieben werden. Der sich häufig in gegenwärtigen Darstellungen

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Fazit Teil III: Konstruieren – The Good, the Bad and the Ugly

des Nationalsozialismus und des Holocaust fortschreibenden Ästhetik nationalsozialistischer Inszenierung aber vermag Tarantino paradigmatisch wuchernde Bilder bei- und entgegenzustellen. Tarantino und Godard finden ihre Antworten auf die Frage nach einem angemessenen Umgang mit den historischen Ereignissen in der unterschiedlichen Auflösung herkömmlichen Erzählens. Andreas Rauscher bringt dieses Verhältnis der beiden Regisseure in einen sinnfälligen Zusammenhang: Er [d.i. Godard, K.K.] durchsetzt die Kino-Geschichten traditioneller Genreerzählungen mit Verfremdungseffekten und Dissonanzen, die auf die äußere Wirklichkeit jenseits des Films verweisen. Darin unterscheidet er sich maßgeblich von seinem begeisterten Anhänger Quentin Tarantino, den er eher skeptisch wahrnimmt. Godard versucht reflexive Bezüge zwischen Film und Geschichte herzustellen, während Tarantino auf subversive Weise verschiedene Kinofiktionen auf Kollisionskurs schickt. Godard kontert hingegen problematische Fiktionen nicht wie Tarantino mit einer weiteren Erzählung als Korrektur, sondern versucht in Brecht’scher Tradition, den Blick der Zuschauer für die Wirklichkeit zu schärfen.1200

Obwohl beide auf der Phänomenebene derart verschieden sind, verfolgen sie dasselbe strukturelle Ziel, das auch von Kluges erzählerischem Kosmos anvisiert wird: In Inglourious Basterds sind ähnliche ›Zerstreuungsstrategien‹ am Werk wie in Godards Histoire(s) du cinéma und Kluges schriftstellerischem Projekt der Pluralisierung von Geschichte: Alle drei haben kein Interesse an einem diktatorischen Einheitsdiskurs, der vereinfachende Bilder und hegemoniale Verhältnisse aufrecht erhält. Durch ihre Verfahren bewirken sie, dass die Autorität der linearen Story außer Kraft gesetzt ist. Stellen wir uns für einen Augenblick vor, nicht nur das Kino, sondern auch die Welt könnte so funktionieren: nicht als zwangsläufige Linie der history, sondern als Geflecht mehr oder weniger autonomer Szenen.1201

Dadurch be- und erhalten einzelne Szenen und Figuren ihr singuläres Gewicht, ohne zu bloß symbolischen Stellvertretern zu werden. Das hat zur Folge, dass auch das Ungehörte und das im hegemonialen Diskurs nicht Berücksichtigte, ja das in der Geschichte und den Künsten nicht Verwirklichte ebenfalls Teil des paradigmatischen Raums wird, der sichtbar gemacht werden soll: Das heißt, die (Film-)Geschichte, wie sie den öffentlichen Diskurs beherrscht, muss durch all die vergangenen, nicht realisierten, verschwundenen oder vernichteten Möglichkeiten und Alternativen herausgefordert werden, um der eigenen Versäum-

1200 Andreas Rauscher: Kriegsbilder und Kino-Geschichten – von Les Carabiniers zu Notre Musique. In: Bernd Kiefer (Hg.): Jean-Luc Godard (Filmkonzepte 20). München 2010, S. 23–36, hier S. 27. 1201 Seeßlen, Quentin Tarantino gegen die Nazis, S. 196.

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Fazit Teil III: Konstruieren – The Good, the Bad and the Ugly

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nisse eingedenk zu werden. Oder um in den Worten Alexander Kluges zu schließen: »Das Nichtverfilmte kritisiert das Verfilmte«.1202

1202 Alexander Kluge: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik. Hg. von Christian Schulte. Berlin 1999, S. 41.

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Schluss »Es nimmt nicht wunder, dass die weitaus größte Zahl von Spielfilmen, die als ›Holocaustfilme‹ bezeichnet werden, die trostspendenden Gesetze dieses Genres und sein konventionelles Dénouement, seine narrative Schließung willig erfüllen.«1203

Kehren wir am Ende noch einmal an den Anfang zurück. Die drei zentralen Probleme der ästhetischen Erinnerungskultur zu Nationalsozialismus und Holocaust sind erstens die Frage nach der (Un-)Darstellbarkeit, zweitens das Ringen um Authentizität und drittens die Popularisierung und Verbreitung von ikonischen Bildern und Topoi. Sie bestimmen den gegenwärtigen Rahmen, innerhalb dessen künstlerische Arbeiten zum Thema, sei es in Übereinstimmung, Ignoranz oder Abgrenzung dazu, produziert, wahrgenommen und rezipiert werden. Zum ›Problem der Darstellbarkeit‹ ist zu konstatieren, dass die Künste und die Wissenschaften immer fähig sind, etwas darzustellen und dass, sobald sich jemand mit der Thematik beschäftigt, tatsächlich Verschiedenes dargestellt wird. Zu fragen ist demnach stets nach dem Status des Dargestellten und der damit verbundenen Agenda. Jeder Darstellung wohnt die Verantwortung inne, diese Agenda transparent zu machen und ethische Gesichtspunkte zu bedenken. Gibt sich eine Darstellung authentisch – oder wird von Dritten als authentisch bezeichnet – ist der zweite Problemkomplex angesprochen. Es geht nun gerade darum, welcher Status einer Darstellung zugesprochen wird. Die Haltung, die vielen Behauptungen über die Authentizität von Kunstwerken zugrunde liegt, folgt einer Agenda der Naturalisierung, mit der sich Werke als ›wirklich‹ ausgeben. Authentizität ist ein Aspekt, der im Deckungsverhältnis zwischen Darstellungsweisen und bestimmten Erwartungen oder Konventionen dessen, was als realistisch gilt, zu verorten ist. Das bedeutet, dass Authentizität als erzeugter Effekt zu verstehen ist: »Historische Authentizität […], ist etwas, das nicht als

1203 Hanno Loewy: Fiktion und Mimesis. Holocaust und Genre im Film. In: Margrit Frölich, Hanno Loewy, Heinz Steinert (Hg.): Lachen über Hitler – Auschwitz-Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust. München 2003, S. 37–64, hier S. 54.

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Qualität eines (historischen) Objektes verstanden werden kann, sondern etwas gemachtes, inszeniertes, das in der Rezeption seine Wirkung entfaltet«.1204 Fiktionsinterne, literarische Aussagen können so zwar als Behauptungen über die Wirklichkeit aufgefasst und im Abgleich mit ihr dann falsifiziert werden. Notwendig wird das jedoch nur dann, wenn ein fiktionales Werk sich selbst – oder eine bestimmte Person, Gruppe oder Institution dieses fiktionale Werk – als authentisch postuliert oder rezipiert und ein direkter, gerade nicht durch ästhetische Strategien und Medien vermittelter Bezug zur Wirklichkeit behauptet wird. In bildlichen Darstellungen lassen sich Referenzen zur Wirklichkeit beispielweise anhand räumlicher Anordnungen oder Ähnlichkeitsbeziehungen im Aussehen (von Personen etwa) feststellen. Fragen nach phänomenaler Deckung mit den Entitäten der Wirklichkeit können ebenso zum Diskussionsgegenstand über Authentizität werden wie strukturelle Analogien bzw. struktureller Realismus, das heißt die Frage danach, ob Handlungs- und Ereignisabfolgen 1:1 wiedergegeben werden.1205 Die in der Öffentlichkeit am weitesten verbreitete und anerkannte Vermittlungsweise des Holocaust und des Nationalsozialismus durch künstlerische Medien sind der (Kino-)Film und das Fernsehen. Die Filmkunst als populärste der Künste bestimmt damit grundlegend die Weise, in der reale Ereignisse in Bilder verwandelt und dadurch für ein breites Publikum zugänglich und erfahrbar gemacht werden. Audiovisuelle Bilder stellen einen unmittelbaren Zugang zu einer inszenierten Welt dar, die – unkritisch und vortheoretisch gesprochen – zunächst kaum von der Erfahrung unserer tatsächlichen Welt abweicht.1206 Für real-historische Ereignisse, insbesondere den Nationalsozialismus und den Holocaust, kommt dem Medium eine didaktische, aufklärerische, informierende und unterhaltende Funktion zu. Dabei entsteht das Paradox, dass 1204 Christine Gundermann: Inszenierte Vergangenheit oder wie Geschichte im Comic gemacht wird. In: Hans-Joachim Backe, Julia Eckel, Erwin Feyersinger, Véronique Sina und JanNoël Thon (Hg.): Ästhetik des Gemachten. Interdisziplinäre Beiträge zur Animations- und Comicforschung. Bielefeld 2018, S. 257–283. 1205 Siehe ebd. Gundermann diskutiert in ihrem Aufsatz verschiedene Strategien der Authentifizierung für das Medium Comic, die sich auch auf andere Medien übertragen lassen. 1206 Damit soll allerdings mitnichten einer naiven filmtheoretischen Auffassung der »selbstverständlichen Annahme eines vom Medium beeinflussten Subjekts« (Laura Katharina Mücke: Politik(en) der Immersion. Machtdiskurse über immersierte Nutzer_innen und Film als Kontingenz in potentialis. In: ffk Journal (2021), Nr. 6, S. 89–107, hier S. 90. https://doi.org/10.25969/mediarep/15873, abgerufen am 09. 04. 2022) das Wort geredet werden. Vielmehr soll damit gesagt werden, dass bestimmte Konstruktionsprinzipien von Kunstwerken den Rezipierenden mehr oder weniger Freiheit in der Deutung ihrer selbst gewähren und dadurch auf Authentizitätseffekte setzen anstatt ihren Konstruktionscharakter transparent zu machen. Eine solche Annahme macht keine Aussage darüber, ob die Rezipierenden von den Medien gelenkt werden oder über eine grundsätzliche Souveränität bezüglich der Unterscheidung von Kunst und Wirklichkeit(en) besitzen.

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im Diskurs der Anspruch auf eine Auseinandersetzung der breiten Öffentlichkeit mit der Thematik bei gleichzeitiger Abwehr massenmedialer Inszenierung aufrechterhalten wird: Bei aller Laxheit der Postmoderne hinsichtlich medialer Strategien und formaler Mittel der Repräsentation, beim Thema ›Auschwitz‹ hört der Spaß auf. Massenmord, so ein weitreichender Konsensus, darf nicht massenmedial vermittelt werden, soll aber gleichzeitig von einer größtmöglichen Öffentlichkeit erinnert werden.1207

Eine breite Vermittlung aber führt notwendig zu einem Minimalkonsens der Darstellungsweise und bedarf einer niedrigschwelligen Zugänglichkeit, die sich in einer dem Alltag ähnlichen Darstellung einerseits und in einer Komprimierung und eventuellen Vereinfachung komplexer Strukturen auf wenige Aspekte und Figuren zur Übersichtlichkeit und für einen möglichen Nachvollzug andererseits zeigt. Meist geschieht dies entweder durch den Rückgriff auf bestimmte Genres und die durch sie transportierten Handlungs- und Erzählabläufe oder aber durch die Erzeugung von Vertrautheit durch bestimmte Realismuseffekte (die keineswegs tatsächlich realistisch sein müssen). Neben der problematischen Einbettung des Holocaust in eine melodramatische oder tragische Inszenierung ist vor allem die häufig damit einhergehende Auffassung der historischen Ereignisse selbst als Tragödie ein von Hanno Loewy ausgewiesener problematischer und missverständlicher Fehlschluss. Der historische Sachverhalt des Holocaust wird dadurch als »eine durch harmatia (durch unausweichliche Schuld, durch eine schicksalhaft determinierte Entscheidung) selbst ausgelöste Katastrophe [beschrieben]. Und es gibt kaum ein Missverständnis, das sich hartnäckiger zeigt.«1208 Denn der Holocaust stellt kein Widerfahrnis dar, das die ermordeten Jüdinnen und Juden etwa aufgrund eines begangenen Fehlers ereilte: »›Glück‹ und ›Unglück‹ [lassen sich] in Bezug auf den Holocaust in keinerlei Verhältnis zu einer ethischen Ordnung bringen. Das Unglück ereignete sich, wie Arendt oder Améry feststellen, jenseits von Schuld«.1209 Die durch die antike Tragödie erzeugte Verbindung von moralischem Handeln und gutem Leben ist angesichts des Holocaust gänzlich verfehlt. Nimmt man diese Auflösung der Kausalität von Handlung und Lebensumständen durch den Nationalsozialismus ernst, gibt es, narratologisch gesprochen, keine Möglichkeit der erzählerischen Kohärenzbildung für die Darstellung

1207 Andreas Huyssen: Von Mauschwitz in die Catskills und zurück: Art Spiegelmans Holocaust-Comic Maus. In: Manuel Koeppen, Klaus Scherpe: Bilder des Holocaust. Literatur, Film, Kunst. Köln 1997, S. 171–189, hier S. 171. 1208 Loewy, Fiktion und Mimesis, S. 43. 1209 Veronika Zangl: Poetik nach dem Holocaust. Erinnerungen – Tatsachen – Geschichten. München 2009, S. 197.

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der historischen Ereignisse. Kultur und Gesellschaft stehen daher vor dem Dilemma, dass nicht allein der Holocaust als Ereignis eine ›black box‹ der Erinnerung darstellt, sondern dass die narrative Leerstelle darüber hinaus in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verortet werden muss. Das heißt angesichts des Holocaust […] dass […] einer Reihe narrativer Rahmen nicht mehr gesellschaftliche Gültigkeit zukommt.1210

Auch Jean-François Lyotards Auffassung des Holocaust als Para-Erfahrung markiert jenen unhintergehbaren Tatbestand, dass, da wir für solch eine Erfahrung keine kulturellen Erfahrungsmuster haben, sich für jede Form der ästhetischen (narrativen) Darstellung das Problem der Kohärenzbildung ergibt. Da diese schon durch das Ereignis selbst verweigert wird, scheint es keine fiktionalen, dokumentarischen, narrativen Schemata zu geben, innerhalb derer die historischen Ereignisse ästhetisch angemessen dargestellt und vermittelt werden können. Gleichwohl besteht die Notwendigkeit einer Anknüpfung und zugleich haben sich von Beginn an narrative, darstellerische Rahmen zur Repräsentation der Thematik ausgebildet.1211 In der Einleitung wurde ausgeführt, dass die (zum Teil durch gesellschaftspolitische Agenden forcierten) Konventionen des öffentlichen wie ästhetischen Erinnerns dabei immer wieder zur Naturalisierung und narrativen Schließung neigen und einer aktualisierten Herausforderung und Auseinandersetzung bedürfen.

1210 Ebd., S. 194, Herv im Original. Lohnenswert scheint mir die Frage danach, ob die in der phantastischen Literatur oder der Novelle genreübliche Deutung des Unwahrscheinlichen, Phantastischen als Wunderbares oder als von einer metaphysischen Instanz erzeugtes Ereignis dem Holocaust einen – metaphysischen oder anders gelagerten – Sinn zuschreiben würde. Vielleicht wäre die formale Funktion der für die Novelle wesentlichen ›unerhörten Begebenheit‹, die die Erzählform überhaupt erst konstituiert, ein strukturelles Äquivalent zu der dem Holocaust zugeschriebenen Struktur einer ›erfahrungslosen Erfahrung‹. Gerade die für Heinrich von Kleists Novellen typischen Gedankenstriche – etwa in Die Marquise von O. –, die für das unaussprechliche und undarstellbare Ereignis stehen, könnten eine fruchtbare Grundlage für eine ästhetische ›Nichtdarstellung‹ des Holocaust liefern. 1211 Siehe dazu etwa Thomas Taterka: Dante Deutsch. Studien zur Lagerliteratur. Berlin 1999 sowie Zangl, Poetik nach dem Holocaust, die schreibt: »Holocaust-Literatur bringt Genres ins Schwanken, die Grenzen und Überschneidungen von Wirklichkeit und Fiktion funktionieren nicht weiter in gewohnter Weise. Wiewohl Holocaust-Literatur kein eigenes Genre hervorgebracht hat, so doch eine Reihe von Erzählstrategien, die trotz aller Unterschiede das Moment der Unterbrechung oder […] des Scheiterns implizieren« (ebd., S. 181).

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Über den Un-Sinn von Erzählen…

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Über den Un-Sinn von Erzählen… Fiktionalen Darstellungen wie beispielsweise der Fernsehserie Holocaust und Steven Spielbergs Schindlers Liste kommt das Verdienst zu, Zugänge zu der diskursiv problematischen und zugleich problematisierten »[u]nannehmbaren Geschichte«1212 durch zwar verkürzende, zugleich aber vertraute Formen der Narration zu ermöglichen. Durch die Parameter konventionellen Erzählens wird eine erste verstehende Annäherung an die historischen Ereignisse des Holocaust für ein breites Publikum ermöglicht, weil es das als unbegreifbar und undarstellbar Geltende anderen, vertrauten Geschichten ähnlich(er) macht, kurz: sie ›übersetzt‹. Die große Reichweite solcher Produktionen liegt in deren Erzeugung eines positiven Identifikationsangebots und emotionaler Nachvollziehbarkeit. Viele der Texte und Filme erfüllen durch ihre klare und eindeutige Zuschreibung von Rollen und Verantwortlichkeiten eine kathartische Funktion, die allerdings »jenseits von Sühne [zu] verorten«1213 und als Verlängerung einer Entschuldungskultur anzusehen ist: Schindlers Liste etwa relativiert und negiert durch die Darstellung eines positiven, konvertierten ›Täters‹ die tatsächlich geschehenen Gewalt- und Vernichtungstaten und etabliert ein Verharmlosungsnarrativ. Durch die Darstellung einer heldenhaften Täterkonversion vermag der Film von der Last der Täterschaft zu befreien. In der Figur Schindlers wird es den (deutschen) Zuschauer:innen möglich, sich mit ihrer ausweglosen Zugehörigkeit zum Tätervolk durch die Läuterungserzählung eines Nationalsozialisten zu arrangieren, wenn nicht gar auszusöhnen.1214 Sigrid Löffler bezeichnet den Film daher als »seelische Schnell-Reinigung«.1215 Ebenso problematisch ist, dass die Inszenierung der Figur Schindlers hegemonial-patriarchalen Strukturen folgt, in der die Jüdinnen und Juden des Films die zu Dank verpflichteten Nebenrollen der Opfer spielen. 1212 Volkhard Knigge: »Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen.« Unannehmbare Geschichte begreifen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 66 (2016), Nr. 3–4, S. 3– 9, hier S. 8. 1213 Zangl, Poetik nach dem Holocaust, S. 197. 1214 Ein ähnliches Beispiel aus der Literatur ist Bernhard Schlinks Bestseller Der Vorleser, der in die Reihe neu aufkommender deutscher Opfernarrative (vgl. Harald Welzer: Zurück zur Opfergesellschaft. In: Neue Züricher Zeitung 03. 04. 2002) zu stellen ist und auf formaler Ebene einen wenig reflektierten Umgang mit bestehenden Klischees – etwa der kultivierten deutschen Täterin, die zugleich als Opfer inszeniert wird – aufweist. So wurde er verschiedentlich als »Holo-Kitsch« (Willi Winkler: Vorlesen, Duschen, Durcharbeiten. In: Süddeutsche Zeitung, 30. 03. 2002) und »Kulturpornographie« (Jeremy Adler: Die Kunst, Mitleid mit den Mördern zu erzwingen. In: Süddeutsche Zeitung 20./21. 04. 2002) bezeichnet. 1215 Sigrid Löffler: Kino als Ablaß. Spielbergs mißlungener Holocaust-Film. In: Christoph Weiß (Hg.): ›Der gute Deutsche‹. Dokumente zur Diskussion um Steven Spielbergs »Schindlers Liste« in Deutschland. St. Ingbert 1995, S. 57–60, hier S. 58.

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Schluss

Angesichts purifizierender Tendenzen wie in Schindlers Liste bleibt zu fragen, inwiefern »emotionales Miterleben ein nachhaltig verändertes Geschichtsbewusstsein erzeugen kann und es überhaupt soll«1216 und ob eine (eher) einseitige Darstellung besser ist als keine. Jede Darstellung dieser Thematik sieht sich der virulenten Frage danach gegenüber, wie sich die totalitäre Struktur des Nationalsozialismus ästhetisch einfangen und darstellen lässt, ohne als Kunstwerk selbst diesen totalitären Mechanismen zu erliegen und das ideologische Weltbild und die tatsächliche wie kulturelle Vernichtungsmacht des nationalsozialistischen Regimes zu reproduzieren. Dies geschieht häufig in ästhetischen Darstellungen, die die historische Wirklichkeit reproduktiv ohne parodistische Distanz repräsentieren und dadurch zu narrativer Schließung in Form von Authentizitätspostulaten oder klischeehaften Darstellungen neigen. Schindlers Liste ist dafür – ebenso wie der oben analysierte Diskurs um den Film Der Untergang oder Takis Würgers Roman Stella (2019) – als beispielhaft anzusehen. Spielbergs Film gehorcht als »Romanzenhandlung, die bis in viele Details der GamblerVariante des klassischen Western entspricht«,1217 klaren fiktionalen Genrebedingungen und wurde dennoch als »Dokument der Wahrheit«1218 rezipiert. Seine grundlegenden, ontologisierenden Authentifizierungsstrategien folgen den Prinzipien der »witness testimony«1219 und des »identificatory regime«1220, wodurch sie sich gegen Kritik am Dargestellten und an der Darstellungsweise immunisieren: Der Film überblendet am Ende Fiktion und Realität durch den Wechsel von Schwarz-Weiß in eine farbige Szene, in der die realen ›SchindlerJuden‹ bei ihrem Gang an Schindlers Grab von den sie jeweils verkörpernden Schauspielern begleitet zu sehen sind. So bindet sich der Film direkt an die Wirklichkeit der Überlebenden und den damit einhergehenden ethischen Diskursbedingungen und erzeugt einen zirkulären Kurzschluss zwischen vergangener Realität und ›authentischer‹ Fiktion. Jede Kritik liefe stets Gefahr, als Kritik am Zeugnis der Überlebenden und den Überlebenden selbst missverstanden zu werden. So zielt etwa der von Godard erhobene Vorwurf gegenüber Spielbergs Film1221 auf dessen Naturalisierung von Erinnerung und die damit einhergehende

1216 Sonja M. Schultz: Der Nationalsozialismus im Film. Von TRIUMPH DES WILLENS bis INGLOURIOUS BASTERDS. Berlin 2012, S. 171. 1217 Loewy, Fiktion und Mimesis, S. 54. 1218 Billy Wilder: Man sah überall nur Taschentücher. In: Christoph Weiß (Hg.): ›Der gute Deutsche‹. Dokumente zur Diskussion um Steven Spielbergs »Schindlers Liste« in Deutschland. St. Ingbert 1995, S. 42–44, hier S. 42. 1219 Duncan Wheeler: Godard’s List: Why Spielberg and Auschwitz Are Number One. In: Media History 15 (2009), Nr. 2, S. 185–203, hier S. 186. 1220 Ebd., S. 186. 1221 »It could even be argued that by turning his attention away from the horrors of the present day to create a simulacrum of past horrors, Spielberg is replicating, in microcosm, the

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…und die Grenzen oppositioneller Kulturvorstellungen

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Schließung und Abschirmung vergangener Geschichte von gegenwärtigen Rezeptionen und Erfahrungen. Problematisch sind solche ästhetisch-fiktionalen Repräsentationen daher, sobald sie sich selbst – oder diskursive Autoritäten sie – als einzig angemessene, verbürgte oder beglaubigte Darstellung postulieren. Dieser Geste liegen Strategien der narrativen Schließung zugrunde, die ein mögliches »Lernen aus unannehmbarer Geschichte«1222 entweder durch Normalisierung oder durch Sakralisierung der Darstellung und des Dargestellten verhindern. Einmal gefundene narrative Rahmen müssen immer wieder auf ihr Potential zur ideologischen, naturalisierenden Fixierung und Sedimentierung untersucht und durch neue Inszenierungsweisen herausgefordert werden. Es bedarf daher stets neuer Tendenzen zur Entautomatisierung und zur Pluralisierung der Darstellung(en) im Umgang mit dem Holocaust: Erst die Vielfalt der Diskurse garantiert eine Erinnerungsöffentlichkeit, wobei selbstverständlich nicht alle Darstellungen gleichwertig sein können. Es gibt nie nur die eine richtige Form der Erinnerung, und die Problematik der Darstellung erschließt sich eher im Vergleich unterschiedlicher Diskurse als in der akademischen Diskussion über die eine korrekte Form der (Nicht-)Darstellung.1223

Bedeutsam für eine ästhetische Darstellung, die zur diskursiven Auseinandersetzung einlädt, ist die in ihr und ihrem Epitext angelegte Fähigkeit zur Selbstreflexion und zur gesellschaftspolitisch aktualisierten Anschlussfähigkeit.

…und die Grenzen oppositioneller Kulturvorstellungen Unabhängig davon, ob ästhetische Verhandlungen von Nationalsozialismus und Holocaust diese Anschlussfähigkeit aufweisen, wird die Frage nach einer angemessenen gegenüber einer unangemessenen (weil kulturindustriellen und massenwirksamen) Erinnerung noch immer »oft ausgetragen in Form eines Streits zwischen Hoch- und Populärkultur«,1224 in dessen Folge viele der ›popkulturellen‹ Arbeiten als trivial oder unangemessen verurteilt und verkannt werden. Wenn Walter Moers’ Comics sich in ihren vorgegebenen Marketingstrategien von Werbung und Hinweisen auf Fortsetzungen zirkulär auf sich selbst berufen, moment, when […] cinema committed its original sin in failing to show the camps to the world.« (Wheeler, Godard’s List, S. 193). 1222 Knigge, »Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen.«, S. 3. 1223 Huyssen, Von Mauschwitz in die Catskills und zurück, S. 174. 1224 Ute Janssen: Holocaust-Serie. In: Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus. Bielefeld 2009, S. 243–244, hier S. 243.

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Schluss

dadurch diese Strategien ins Leere laufen lassen und dennoch innerhalb dieses Systems erfolgreich sind, zeigt das vielmehr, dass es keineswegs um die erneute und wiederholende Festsetzung der Einteilung kultureller Produkte in die Kategorien ›ernsthaft‹ vs. ›unterhaltend‹1225 geht. Vielmehr wird dadurch deutlich, dass mittels des gelungenen Einsatzes popkultureller Verfahren komplexe und selbstreflexive Auseinandersetzungen entstehen können. Eine wertende Verwendung der Begriffe ›Hochkultur‹ und ›Populärkultur‹ wird angesichts der immensen Austauschbewegung zwischen den vormals streng getrennten kulturellen Bereichen immer fragwürdiger, da die Zuschreibungen ihre ursprüngliche Bedeutung verlieren. Inglourious Basterds ist beispielsweise seinem Material nach Teil der Populärkultur, schöpft Tarantinos Bildsprache doch überwiegend aus B-Movies. Seiner Rezeption nach aber gehört der Film der kanonisierten Hochkultur an. Statt eine oppositionelle Haltung für oder gegen Populärkultur in Stellung zu bringen, ist es zielführender, quer zu den kulturell-wertenden Begrifflichkeiten die für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung bedeutenden Aspekte differenziert in den Blick zu nehmen und produktiv zu machen: Fragen nach der Rezeptionsreichweite, nach Produktionshaltungen, dem gesellschaftspolitischen Anspruch einzelner Produkte und danach, ob die narrativ-poetischen Strukturen zur kritisch-distanzierten Auseinandersetzung einladen, ermöglichen einen differenzierten, produktiven Blick für die Wirkungsweise einer ästhetischen Darstellung jenseits von vorschnellen Kategorisierungen. Damit würden die Begrifflichkeiten ›Hoch-‹ und ›Popkultur‹ als historisierende und formale bzw. deskriptive, nicht aber als wertende Kategorisierungen verwendet. So wird deutlich, dass jedes Kunstwerk – unabhängig von seiner Herkunft oder davon, ob es ›popkulturelle‹ oder ›hochkulturelle‹ Wissensbestände verwertet und welcher kulturellen Logiken es sich bedient – auf seine poetischen Strategien und sein Potential, zum kritischen Denken anzuregen, hin untersucht und beurteilt werden muss. Dies gilt insbesondere für ästhetische Darstellungen und Verhandlungen von Holocaust und Nationalsozialismus.

Parodie als strukturelle Unabgeschlossenheit: ästhetische Öffnung Die vorhergehenden sieben Kapitel untersuchten verschiedene ästhetische Artefakte, die das Thema Nationalsozialismus und Holocaust unter der Prämisse narrativer Öffnungen bzw. nicht- oder außernarrativer Verfahren verhandeln. 1225 Dabei muss deutlich gemacht werden, dass etwa Schindlers Liste im Selbstverständnis von Regisseur und Produzent gerade nicht als Popkultur gilt oder gelten soll, sondern vielmehr um einen seriösen, ernsthaften Anstrich bemüht ist.

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Parodie als strukturelle Unabgeschlossenheit: ästhetische Öffnung

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Die Gegenstände operieren allesamt mit popkulturellen und/oder postmodernen Materialien und/oder Verfahren, die ich unter dem vorbehaltlichen Begriff einer Poetik des Parodistischen gefasst und in eine produktive Verbindung mit Adornos Konzept der Konstellation und der theoretischen Grundlage von Lyotards Philosophie zu Auschwitz gebracht habe. Die vorgenommenen Analysen haben gezeigt, dass popkulturelle und postmoderne Verfahren des Parodistischen ausgezeichnet geeignet sind, Nationalsozialismus und Holocaust angemessen und auf selbsttransparente, aktualisierende und historisch bewusste Weise zu verhandeln. Alle analysierten Gegenstände thematisieren selbstreflexiv – explizit oder implizit – die Frage, ob und wie über den Nationalsozialismus und den Holocaust erzählt werden kann, indem sie bestimmte, schließende Formen des Erzählens vermeiden, variieren, erweitern, unterlaufen oder herausfordern. Der geschlossenen Narration als das für diese Arbeit konstruierte, vereinheitlichte ›Gegenbild‹ stehen so verschiedene Grade und Qualitäten eines offenen, alternativen oder parallelen Erzählens bzw. eine Poetik des Parodistischen entgegen, die sich nur noch ungenügend mit dem Begriff eines klassischen Erzählens fassen lässt. In allen hier untersuchten Texten, Filmen, Comics und Kunstwerken lassen sich die von Peter V. Zima formulierten Merkmale einer postmodernen Ästhetik, die jeweils als Einzelphänomene bereits in modernistischen Texten Anwendung finden, ausmachen. Zima nennt: 1. die Selbsttransparenz in Bezug auf das Verfahren, 2. das Verunsichern von Gattungsgrenzen, 3. eine Auseinandersetzung mit der literarischen, ästhetischen Vergangenheit, 4. Intertextualität und 5. den ›Spielcharakter‹, der »möglicherweise erklärt […], weshalb der Leser als Mitspieler des Autors in den Mittelpunkt des Geschehens rückt«.1226 Im Anschluss daran möchte ich einige der Merkmale von Zima herausgreifen und sie mit weiteren Merkmalen, die sich aus den Analysen ergeben,1227 in eine eigene Konstellation bringen, um die verbindenden Aspekte der hier untersuchten Kunstwerke über Nationalsozialismus und Holocaust herauszustellen. Dabei werden die für diese Arbeit relevanten Begriffe des Pop-Paradigmas, der postmodernen Parodie und der Konstellation ebenfalls in ein Verhältnis zueinander gesetzt.

1226 Peter V. Zima: Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur. 2., überarbeitete Auflage. Tübingen, Basel 2001, S. 355. 1227 Einige der Merkmalskomplexe finden sich anderen Texten zum Begriff der Postmoderne, z. B. nennt Ihab Hassan die Aspekte der Hybridisierung, der Karnevalisierung, der Performanz, der Teilhabe und des Konstruktcharakters. Siehe dazu Ihab Hassan: Postmoderne heute. In: Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der PostmoderneDiskussion. Weinheim 1988, S. 47–56.

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Reflexion von Sprach-, Bild- und Geschichtskonstruktionen

Die untersuchten Arbeiten zeigen sich aufmerksam für das strukturelle, ästhetische Erbe des Nationalsozialismus und die mit ihm einhergehende ideologische Formung von Wirklichkeit, indem sie die Strukturen herausarbeiten, nach denen die Verwaltung des Holocaust, die nationalsozialistische Ästhetik und die Formen ideologischer Ab- und Ausgrenzung operieren. Das heißt, sie verfügen über ein Bewusstsein für historische Bedingtheiten sowohl ästhetischer wie politischgesellschaftlicher Inszenierungen: Die herausgearbeiteten ästhetischen Verfahren der Romane Faserland und Hellblau, die den ersten Teil bilden, nehmen gegenwärtige und historische Sprachkonstruktionen in den Blick. Der »mimetic impuls«1228 von Faserland besteht darin, oppositionelle Sprachmuster (karnevalesk vs. hegemonial) parodierend zu reproduzieren und in dieser Reproduktion durch das Einspeisen verunsichernder Sprachpartikeln eine kritische Distanz einzunehmen. Hellblau rekonstruiert einen theoretischen Diskurs derart, dass in dieser Re-Konstruktion sowohl die Hybris seiner auf Herrschaftsfreiheit zielenden Sprachspiele und deren Tendenz zur Bedeutungslosigkeit und Indifferenz als auch die Grenzen der praxeologischen Umsetzung einer solchen herrschaftsfreien Sprache im Allgemeinen deutlich werden. Beide Romane praktizieren einen aktualisierten, an popkulturelle Motive und Verfahren rückgebundenen Umgang mit Nationalsozialismus und Holocaust. Der parodistische Zugang der Adolf-Comics und von Lego. Concentration Camp, die den zweiten Teil dieser Arbeit bilden, nimmt Bildkonstruktionen bzw. die konventionelle Diskursivität von Bild-Ikonen und Topoi kritisch in den Blick. Die ikonisch gewordenen Bilder Adolf Hitlers wie die topischen Motive der Konzentrations- und Vernichtungslager werden von Walter Moers und Zbigniew Libera in den hier untersuchten Arbeiten einer kritischen Re-Produktion unterzogen. Während Moers auf serielle Wiederholung und den pointierenden ›Cartoon-Stil‹ setzt, um die reduktiven Tendenzen dieser einseitigen Perspektivierung herauszuarbeiten, fokussiert Libera die Zusammengesetztheit und Konstruktion jedes ikonischen Bilds und Motivs, das er in seine Einzelteile zerlegt oder den bestehenden Ikonen Gegenbilder, sogenannte Positives, beistellt, um die Rezeption des routinierten Blicks zu entautomatisieren. Die untersuchten Arbeiten des dritten Teils, Dezember und 30. April 1945, Histoire(s) du cinéma und Inglourious Basterds nehmen verschiedene Geschichtskonstruktionen in den Blick. Dazu gehört nicht nur ein akribischer Fokus darauf, wie historische Ereignisse und Personen gegenwärtig medial repräsen1228 Stefan Hirt: Adolf Hitler in American Culture. National identity and the totalitarian other. Paderborn 2013, S. 572.

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Parodie als strukturelle Unabgeschlossenheit: ästhetische Öffnung

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tiert werden, sondern auch eine vergleichende Perspektive auf die ideologische und ästhetische Weltkonstruktion des Nationalsozialismus und die gegenwärtigen Reproduktionen einer solch ideologischen Darstellungsweise. (2)

Selbst- und Verfahrenstransparenz

Die vorhergehenden Analysen haben gezeigt, dass die hier untersuchten Gegenstände ihre Konstruiertheit markieren und sich auf ihre Konstruktionsweise hin transparent machen oder einen fiktionsinternen, häufig auf die Metaebene übergreifenden Disput über Zeichenbedeutungen und deren Konstruktionsbzw. Konventionscharakter führen. Im Gegensatz zu den diskutierten Beispielen, die sich als authentisch oder wahrhaft inszenieren und durch Naturalisierung gegen Auseinandersetzung abschotten, weisen alle hier gezeigten poetischpopkulturellen Zugängen zu Holocaust und Nationalsozialismus durch die Eigensinnigkeit des Materials und seiner Bearbeitung einen idiosynkratischen Zug auf, der sie haftbar macht und an einen spezifischen diskursiven Ort bindet. Diesen erzeugten idiosynkratischen Codes (wie das Karnevalsmotiv in Faserland, das Technomotiv und das Stichwort ›Herder‹ in Hellblau) ist die eigene Fehlbarkeit miteingeschrieben. Das heißt im Umkehrschluss, dass die Arbeiten keinen Anspruch auf unhinterfragbaren, sich naturalisierenden Universalismus und Übertragbarkeit ihrer formalen Strukturen für andere Zugänge zu Nationalsozialismus und Holocaust erheben. Durch die permanente Reevaluierung der eigenen Verfahren – der Pluralisierung möglicher Wege der Rache (Inglourious Basterds), der unbeherrschbaren Erzählung über Deutschland (Faserland), der Auffassung eines Begriffs (Hellblau) – vermeiden die Arbeiten den aus postmodernen Strukturen abgeleiteten nicht unüblichen Umschlag in eine Re-Ideologisierung. Als strukturelle Vorbehaltlichkeit – bei Kracht in Form des Moduswechsels, bei Meinecke als Diskurswechsel, bei Moers durch Serialität, bei Libera in Form von wechselnden Perspektiv- und Spielsettings, bei Kluge als Stilwechsel, bei Tarantino im Wechsel der Genres, und bei Godard in Form eines immer neuen Hinzufügens –, werden die gewählten Zugänge zu Nationalsozialismus und Holocaust nicht zu neuen hegemonialen Topoi, sondern implizieren die Aufforderung zur immer neuen Verknüpfung. Es gibt kein limitiertes Set an konkreten ästhetischen Verfahren oder Handlungsschemata, die einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Thema per se garantierten. In ihrer jeweiligen Eigensinnigkeit (des Materials, der Genre- und Stilwechsel, der Vorbehaltlichkeit) bilden die Gegenstände Verfahrensweisen aus, die im Gemeinsamen das Einzelne fokussiert halten und im Besonderen die Brücke zur Universalisierung sehen (wie etwa in der Opfersolidarität Shosannas und Aldo Raines in Inglourious Basterds). Damit erzeugen die Arbeiten produktive An-

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schlüsse für eine gegenwärtige Auseinandersetzung mit der historischen Thematik und ermöglichen in ihrer Durcharbeitung des Themas eine potentielle Begegnung mit dem Inkommensurablen mittels einer Poetik der Annäherung.1229 (3)

Gegenwartsrelevanz

Alle hier analysierten Arbeiten versetzen die Thematik von Nationalsozialismus und Holocaust in die kulturell-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihrer jeweiligen Gegenwart. Sie machen damit die Thematik über eine hermetische Inszenierung hinaus rezipierbar und öffnen durch ihre Darstellungsweisen das historische Thema für eine an andere, gegenwärtige Themen anschlussfähige, aktuelle und diskursive Verhandlung. Selbst Tarantinos Inglourious Basterds, der zur Zeit des Nationalsozialismus spielt, versetzt seine Fiktion u. a. durch die aus der Nachkriegsfilmgeschichte und der gegenwärtigen Kultur stammende, extradiegetische Musik sowie den auf Figurenebene geführten Diskurs über Minderheiten in ein anschlussfähiges Referenzsystem. Auch Liberas Lego. Concentration Camp, dem man bescheinigen könnte, es versetze die Rezipierenden unmittelbar in die historische Zeit des Nationalsozialismus, löst den Rezeptionsakt gerade durch das Material aus einer historisierenden Perspektive und nötigt zu einer mehrfachen Transferleistung – von der modellhaften Abstraktion und Verkleinerung und der scheinbaren Distanzierung zu einem aktualisierenden, gegenwärtigen Modus des Spielerischen, des vorbehaltlichen Probierens. Die untersuchten Arbeiten leisten so einen Beitrag zur Wahrnehmung unserer Gegenwart, tun dies aber nicht durch die Verwechslung oder das Postulieren ihrer selbst als Wirklichkeit oder als allgemeingültige Aussage über dieselbe. Sie erweitern vielmehr die Phantasie dafür, wie mit der Wirklichkeit auch umgegangen, das heißt, wie die Wirklichkeit neu und überraschend gedeutet werden kann. Diese Struktur kommt in Moritz Baßlers Bestimmung von Pop als Paradigma zum Ausdruck: »Die Erfahrung von Pop ändert nicht ›die‹ Wirklichkeit (Syntagma), sondern den sie überwölbenden Möglichkeitsraum (Paradigma) und damit ihre Bedeutung«.1230 Als eigensinnige Zugänge zur Thematik referie1229 Zangl bringt, was ich mit der Poetik der Annäherung bezeichne, wie folgt auf den Punkt: »Nicht nur die von Didi-Huberman festgestellte ›unvermeidliche Lückenhaftigkeit des Bildes‹, sondern auch sämtliche Poetiken der Unterbrechung, des Uneigentlichen und Scheiterns verdeutlichen, das [sic!] die Auseinandersetzung mit der Erfahrung des Holocaust immer nur im Rahmen einer Denkstruktur möglich ist, die dem Ereignis nicht entspricht, innerhalb derer es aber dennoch möglich war, dieses Ereignis hervorzubringen. Aus dieser Diskrepanz ergibt sich der seltsame Widerspruch zwischen der Annahme eines Zivilisationsbruchs bei der gleichzeitigen Feststellung von Kontinuitäten.« (Zangl, Poetik nach dem Holocaust, S. 207f.). 1230 Moritz Baßler: Definitely Maybe. Das Pop-Paradigma in der Literatur. In: POP. Kultur und Kritik (2015), Nr. 6, 104–127, hier S. 119.

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Parodie als strukturelle Unabgeschlossenheit: ästhetische Öffnung

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ren die analysierten Arbeiten auf sich selbst als Teil eines Paradigmas (sowohl als Teilverhandlungen von Nationalsozialismus und Holocaust neben anderen als auch im Betonen ihrer idiosynkratischen Anordnung und Konstruktion) und erweitern zugleich den von Baßler angesprochenen Möglichkeitsraum auf unterschiedliche Weise: Faserland führt einen Prozess des Ringens um die Erzählhoheit vor, die durch die Sprache selbst immer wieder durchkreuzt wird. Dadurch entstehen variierende Wiederholungen der immer selben Erzählung, die den Raum des Paradigmas füllen. Ihre Variation kann nicht nur Aufmerksamkeit für die bedeutenden Unterschiede konnotativer und verwaltungstechnischer Art – etwa in der gezielten Verwendung von ›Nazi‹ und ›Nationalsozialist‹ – erzeugen, sondern darin zugleich Bedeutung verändern, anreichern und re-evaluieren und klassischen Motiven des Erinnerns neue, aus der Populärkultur entnommene (Marken-)Produkte als Erinnerungstopoi hinzufügen. Thomas Meineckes Diskurs-Roman Hellblau erzeugt eine als hysterisch bezeichnete Aufmerksamkeit für die gesellschaftlichen, medialen Persistenzen antisemitischer und rassistischer Ausgrenzungspraktiken sowie für die Einseitigkeit einer auf der Opferrolle im Holocaust basierenden kulturellen Identität des Judentums bzw. des Jüdischen durch eine parallele Erzählung jüdischer Identität anhand der von Techno-Musik inspirierten Verfahren und Praktiken. Liberas Lego. Concentration Camp und Walter Moers Adolf-Comics pluralisieren die Ausdeutung der Wirklichkeit, indem sie die Rezipierenden dazu auffordern, am öffentlichen Diskurs und seinen herrschenden Deutungen von Geschichte und Wirklichkeit durch neue Ausdeutungen teilzunehmen und diesen dadurch zu diversifizieren. Jean-Luc Godards Histoire(s) du cinéma schafft das Paradigma ›Stevens‹, das – dem Stichwort ›Herder‹ in Hellblau nicht unähnlich – ausgehend von einem zufälligen Sachverhalt einen neuen Zugang zur deutschen Vergangenheit erschließt. Die Bilder der Ermordeten aus dem Konzentrationslager Buchenwald verknüpft er mit dem populären Star-besetzten Film A Place in the Sun. Beide sind lediglich durch den Zufall der Biographie George Stevens verbunden, der beide Filme mit seiner Kamera aufgenommen hat. Durch dieses Aufzeigen eines kaum noch als kausal zu bezeichnenden Zusammenhangs gewinnen beide – zusätzlich durch die Montage eines Ausschnitts aus Giotto di Bondones Gemälde der biblischen Noli me tangere-Szene kulturhistorisch angereichert – einen semantisch erweiterten Deutungsrahmen. Auch die Erzählungen Alexander Kluges sowie Quentin Tarantinos Inglourious Basterds erweitern das Paradigma der historischen Wirklichkeit durch die Parallelisierung verschiedener, häufig unvereinbarer Perspektiven von Mikro- und Makroebene und der fiktionalen Präsentation dessen, was, ausgehend von der faktischen Vergangenheit, auch hätte sein können.

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Das postmoderne Spiel

Im Unterschied zu Jacques Rancières Urteil über die Parodie, die er als »hypercommitment to reality«1231 versteht, bei dem es von einer »parody as critique«1232 übergangslos zu einer »parody of critique«1233 kommen könne, ist die hier konzipierte postmoderne Parodie strukturell in einer interessierten Weise an das von ihr Parodierte zurückgebunden. Das schließt bloßes ins Lächerliche ziehen und ein motivisch-symbolisches Ausbeuten zu spielerischen Zwecken aus. Alle hier untersuchten Arbeiten ›spielen‹ (mit Sprache, Bildern und Topoi) mit dem Ziel, dieses Material selbst zu evaluieren und die Rezipierenden in eine produktive, neue und andere Auseinandersetzung damit zu bringen. Die ästhetischen Verhandlungen treiben die im öffentlichen (politischen wie ästhetischen) Diskurs häufig aufkommenden Nivellierungstendenzen, Bedeutungsverschiebungen und -entleerungen parodierend an ihre Grenzen und erproben Indifferenz und die aus ihr resultierenden Folgen – etwa wenn Walter Moers seinen Adolf in beliebige gesellschaftliche Situationen führt, deren apokalyptische Konsequenzen gleichgültig hingenommen werden. Durch die Darstellungsstrategien und die paratextuelle Rahmung kehrt sich das Dargestellte vom Vollzug der Indifferenz zu ihrer mimetisch-parodistischen Erforschung. Auf diese Weise provozieren die hier untersuchten Arbeiten die Frage danach, was es hieße, wenn wir verschiedenen Darstellungen des Holocaust und Nationalsozialismus, sprachlichen wie bildlichen, gleichgültig gegenüber ständen. Krachts Protagonist sinniert über verschiedene Präsentationsformen der deutschen Vergangenheit und unterzieht selbst die Haltung der Gleichgültigkeit – gegenüber der Entscheidung, ob überhaupt noch erzählt, erinnert, verhandelt werden sollte oder nicht – einer parodistischen Prüfung. Das parodistische Spiel mit der indifferenten Haltung schließt dabei gerade ein Interesse an diesen gesellschaftlich relevanten Fragen ein. (5)

Ästhetische Grenzüberschreitungen: Enthierarchisierung des kulturellen Gedächtnisses

Die diskutierten Arbeiten erzeugen postmoderne Konstellationen kategorial entgegengesetzter und einander scheinbar ausschließender Inhalte (etwa Hanuta und Hafraba, Barbourjacken und Thomas Mann, Techno und Holocaust, Godzilla und Hitler, Lego-Spielzeug und Vernichtungslager, Baseballschläger und Heldentum) und Verfahren (wie disseminierende Sinnzersetzung bei gleichzei1231 Jacques Rancière: The Paradoxes of Political Art. In: Ders.: Dissensus. On Politics and Aesthetics. Hg. von Steven Corcoran. London, New York 2010, S. 134–151, hier S. 148. 1232 Ebd., S. 144. 1233 Ebd., S. 144.

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Parodie als strukturelle Unabgeschlossenheit: ästhetische Öffnung

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tiger Suche nach einer Positionierung). Sie ordnen damit gesellschaftliche Wahrnehmungsdispositive neu und vollziehen ästhetische Grenzüberschreitungen. Den Begriff der ästhetischen Grenzüberschreitungen nutzt Helmut Heißenbüttel schon in der Verfahrensbeschreibung der im gesellschaftlichen Diskurs weitestgehend unhörbar gemachten Konkreten Poesie. Heißenbüttels Beschreibung zeigt signifikante Ähnlichkeiten zur poptheoretischen Vorbehaltlichkeit und deren enthierarchisierten, idiosynkratischen Maßstäben: Grenzüberschreitung als ästhetische Kategorie kennt keinen Vorrang des einen vor dem anderen mehr. Alles ist möglich im Maß des Einsatzes, den der vereinzelte Einzelne gegenüber der Gesellschaft und ihrer Grenzziehung aufzubringen vermag, also auch gegenüber der vergesellschafteten Emotionalität […]. Von Versuch zu Versuch entsteht der je einzelne und als solcher widerrufbare Maßstab des Risikos, das eingegangen worden ist.1234

Dem jeweilig erzeugten Maßstab ist seine Widerrufbarkeit unmittelbar eingeschrieben, so dass die durch die analysierten Arbeiten erzeugten Erweiterungsangebote für das kulturelle Gedächtnis nicht einfach die vorgängig herrschende »Wertperspektive und […] [das] Relevanzgefälle, das den kulturellen Wissensvorrat und Symbolhaushalt strukturiert«1235 reproduzieren und lediglich die »wichtige[n] […] Symbole«1236 ersetzen. Sie befragen vielmehr die Notwendigkeit einer »Verbindlichkeit des Wissens, das im kulturellen Gedächtnis bereitgehalten wird«1237 und die damit einhergehende »Formativität […] und […] Normativität«1238 des kulturellen Gedächtnisses. Mit diesem kritischen Blick auf den Aufbau des kulturellen Gedächtnisses weisen sie zudem darauf hin, dass Normierungstendenzen häufig mit Ausschlusstendenzen einhergehen. (6)

Die Rolle der Rezipierenden

Verbindet man den fortschreitenden Diskurs über Nationalsozialismus und Holocaust, der sich vom Parameter der Bildnisse zum Paradigma des Erlebens1239 gewandelt hat, mit den sich verkomplizierenden popkulturellen Produktions-

1234 Helmut Heißenbüttel: 13 Thesen über ästhetische Grenzüberschreitung. In: Text + Kritik (1978), Nr. 60, S. 48–49, hier S. 49. 1235 Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders., Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1988, 9–19, hier S. 14. 1236 Ebd., S. 14. 1237 Ebd., S. 15. 1238 Ebd., S. 15. 1239 Der Übergang von ›Bildnissen zu Erlebnissen‹ ist vor allem in der musealen Präsentation zu beobachten. Mit der auf das Nacherleben zielenden Konzeption des United States Holocaust Memorial Museums (USHMM) wird gemeinhin ein Paradigmenwechsel in der Ausstellungspolitik konstatiert. Siehe dazu etwa Katja Köhr: Die vielen Gesichter des

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und Rezeptionsbedingungen und den Ergebnissen der obigen Analysen, kann man von einem erneuten Wechsel des Paradigmas vom Erleben zum Ko-Konstruieren oder Prosumieren festzustellen. Die Aktivierung der Rezipierenden lässt sich für alle untersuchten Arbeiten – mehr oder weniger ausgeprägt – konstatieren. Durch die Überantwortung der Sinnherstellung, der imaginären und tatsächlichen Erfindung und Ausführung von ästhetischen Skripten an die Lesenden und Zuschauenden vermeiden die ästhetischen Artefakte jede Form der sich ästhetisch abschließenden, aus gesellschaftlichen Strukturen ausschließenden Selbstbezüglichkeit. Der elitäre Elfenbeinturm wird durch die postmoderne Entdifferenzierung des Publikums1240, der gesellschaftlichen Bedingungen und der Kunstwerke einer Enthierarchisierung unterzogen, woraus sich zugleich neue, in ihrer Zugänglichkeit anders geregelte Re-Differenzierungen ergeben. Im Fall von Pop äußern sich diese durch idiosynkratische »Geheimcodes«1241, die über Zugehörigkeit entscheiden und so Ein- und Ausschlusskriterien formulieren. Diese sind nicht länger an naturalisierte Kategorien wie ›Rasse‹, Klasse, soziale Schicht oder aber elitäre Wissens-, Bildungs- oder Gedächtniskonzepte gebunden und verweigern sich zugleich einer verallgemeinernden Universalisierung. Das heißt, die Aneignung dieser Geheimcodes ist niedrigschwellig, sie sind »gleichzeitig für alle zugänglich«1242. Jede:r kann also, wenn er oder sie möchte, teilhaben. (7)

Potential zur Re-Politisierung

In dieser niedrigschwelligen Teilhabe liegt das Potential des Pop II für eine prinzipielle Politisierung, dem Diederich Diederichsen sonst attestiert, dass, während »Pop I […] immer in grenzüberschreitende Bewegungen verwickelt« war, »diese Bewegungen innerhalb eines neuen Feldes von Pop II bodenständig

Holocaust. Museale Repräsentationen zwischen Individualisierung, Universalisierung und Nationalisierung. Göttingen 2012. 1240 Auf die postmoderne Architektur, nach Charles Jencks, mit einer Doppelkodierung reagieren solle: »Ein postmodernes Gebäude spricht, um eine kurze Definition zu geben, zumindest zwei Bevölkerungsschichten gleichzeitig an: Architekten und eine engagierte Minderheit, die sich um spezifisch architektonische Probleme kümmern soll, sowie die breite Öffentlichkeit oder die Bewohner am Ort […]. So wirkt die postmoderne Architektur zwitterhaft […] Diese Diskontinuität der Geschmackskulturen ist es, die sowohl die theoretische Basis als auch die ›Doppelkodierung‹ der Postmoderne erzeugt.« (Charles Jencks: Die Sprache der postmodernen Architektur. Die Entstehung einer alternativen Tradition. Stuttgart 1980, S. 6). 1241 Diedrich Diederichsen: Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch. In: Stefan Goer, Christoph Jacke Greif (Hg.): Texte zur Theorie des Pop. Stuttgart 2013, 185–195, hier S. 190. 1242 Ebd., S. 190.

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Konstellationen als Poetiken der Ver/Störung

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[bleiben] und [nichts mehr] überschreiten«.1243 Denn obgleich die Chancen einer von beständiger Selbstironisierung betroffenen Unverbindlichkeit ästhetischer Artefakte im Pop II besonders gegeben sind, ist dieser »weder gut noch schlecht« und »[w]as bleibt, ist wohl eh nur die Mitarbeit an Pop II: Nie war die Bedeutungsproduktion so wichtig, als Rohstoff des Marktes wie als Ferment des Gesellschaftlichen – und damit im Prinzip einer neuen Politisierung zugänglich.«1244 Auch die konfrontative Konstellation von Unerwartetem, die alle hier analysierten Gegenstände erzeugen, lässt sich mit Jacques Rancière als politische Tätigkeit bezeichnen. Denn die Verfahren und Materialbearbeitungen der Texte, Filme, Comics und Kunstwerke erzeugen auf einer metareflexiven Ebene eine neue Sichtbarkeit des Nationalsozialismus und des Holocaust: Politische Tätigkeit ist […] jene Tätigkeit, die einen Körper von seinem […] ihm als natürlich zugeteilten Ort entfernt, das sichtbar macht, was nicht hätte gesehen werden sollen, und das als Rede verständlich macht, was nur als Lärm gelten dürfte. Politik entsteht im Dissens, das heißt immer dann, wenn eine Aufteilung des Sinnlichen der polizeilichen Ordnung mit einer anderen möglichen Aufteilung des Sinnlichen, als einer neuen Aufteilung des Sichtbaren und des Sagbaren – des sinnlich Wahrnehmbaren – innerhalb der Gesellschaft konfrontiert wird.1245

Konstellationen als Poetiken der Ver/Störung Poetologisch wirken sich all diese Aspekte in den untersuchten Arbeiten auf der Ebene des Plots (histoire) in Form verschiedener ›Störungen‹ und auf der Ebene der Form (discours) durch Verfahren distanzierter Annäherungen aus. ›Erzählt‹, modelliert und konstelliert wird in allen Arbeiten unter der Prämisse der Selbsttransparenz und der Selbstreflexion. Die Störung der Erzählung fällt auf der Phänomen-Ebene (histoire) der untersuchten Werke unterschiedlich radikal aus. Die analysierten Gegenstände lassen sich diesbezüglich in drei Gruppen einteilen: in eine stotternde bzw. stolpernde1246, in eine Partituren erschaffende und in eine konstruierende Gruppe. 1243 Diederichsen, Diedrich: »Ist was Pop?« In: Ders.: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt. Köln 1999, S. 272–286, hier S. 275. 1244 Ebd., S. 286. 1245 Maria Muhle: Einleitung. In: Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Hg. von Maria Muhle. Berlin 2008, S. 7–19, hier S. 9f. 1246 Das Stolperns als Konzept des Erinnerns ist zum einen seit dem Stolpersteine-Projekt des Künstlers Gunter Demnig (seit Anfang der 1990er Jahre) eng mit den nationalsozialistischen Verbrechen während des Holocaust verknüpft, lässt sich zum anderen aber auf der sprachlichen Ebene als Phänomen einer Störung begreifen, die als eine »›Poetik des Stolperns‹« (Jasmin Wrobel: Topografien des 20. Jahrhunderts. Die memoriale Poetik des Stolperns in Haroldo de Campos’ Galáxias. Berlin, Boston 2020, S. 21) bezeichnet werden

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Schluss

Die Stolpernden Christian Krachts Faserland, Walter Moers’ Adolf-Comics I und II, Alexander Kluges Erzählungen und Quentin Tarantinos Inglourious Basterds entwerfen zwar funktionierende Handlungsabläufe (der Reise, des scheiternden Superhelden, des individuellen Umgangs mit Kriegssituationen, der Rache), wählen dafür jedoch unterschiedliche Verfahren, die die Erzählung inhaltlich und/oder formal ins Stottern, Stolpern oder Straucheln bringen: Verfahren der Vorbehaltlichkeit durch beständige Moduswechsel in Faserland, der seriellen Wiederholung und Genrewechsel in den Adolf-Comics, der konstellativen Pluralisierung durch Perspektiven- und Stilwechsel in Dezember und der Wucherung von internen Plots, Identitäten und Genreüberschreitungen in Inglourious Basterds. Die Partituren Zbigniew Liberas Lego. Concentration Camp und Walter Moers’ Adolf – Der Bonker stellen durch ihre Struktur ein Skript für die Rezipierenden vor. Während Liberas Arbeit dazu auffordert, historische Geschichte (imaginär) nach- oder umzuspielen, ist Moers’ Der Bonker das Angebot der parodistischen Nachahmung einer ästhetischen Repräsentation geschichtlicher Ereignisse (Oliver Hirschbiegels Der Untergang). Beide involvieren die Rezipierenden auf eine aktive Weise, die zu einer ästhetischen Interaktion aufruft. Liberas Arbeit schärft dabei den Blick für verschiedene Positionen im ›historischen Setting‹: Die Rezipierenden können sowohl die Täter- als auch die Opferrollen, die Umkehr beider oder gänzlich neue Erzählhandlungen imaginieren. Walter Moers’ Comic zielt nicht auf eine Einfühlung in die Komplexität der historischen Ereignisse, sondern auf die kritische Einschätzung der von ihnen ausgehenden, sie überlebenden, durch und über sie inszenierten Weltbilder. Beide Gegenstände lassen die Grenze zwischen Produzierenden und Rezipierenden durchlässig werden und konzipieren den und die Rezipierende als ein »medienkompetentes Subjekt, das in der Lage ist, sich zu einem Medium autonom zu verhalten.«1247 Die Konstrukteure Jean-Luc Godards Histoire(s) du cinéma und Thomas Meineckes Hellblau lassen sich auf der phänomenologischen und wahrnehmungspsychologischen Ebene kaum noch als Erzählungen begreifen. Im Fall der Histoire(s) du cinéma werden Bilder, Töne, Gemälde, Filmausschnitte, Geräusche montiert, geschichtet und bis kann, wie sie auch Jasmin Wrobel für das Gedicht Galáxias (1984) von Haroldo de Campos’ entwickelt. Siehe dazu Wrobel, Topografien des 20. Jahrhunderts, dort insbesondere Kapitel 2. 1247 Mücke, Politik(en) der Immersion, S. 90.

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Parodistische Konstellationen

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zur Unsichtbarkeit beschleunigt. Das heraufbeschworene Ideal des Films als Projektion der Wirklichkeit, durch welche die Menschen der Wirklichkeit erst sehend habhaft werden, wird gerade durch Techniken des Schnitts, der Wiederholbarkeit und der Überblendung, die statt auf Epiphanie auf Konstruktion setzen, erreicht. Hellblau wiederum reiht sprachlich fremdes Material markierungslos aneinander, so dass Herkunft und Ausdehnung von Zitaten gegenüber Figurenmeinungen verunklart werden. Will man beide dennoch in narrativen Kategorien erfassen, lassen sie sich als (theoretisierende, essayistische) ›Metaerzählungen‹ beschreiben: Godard stellt die fehlgegangene Filmgeschichtsschreibung aus und erzeugt zugleich ein performatives Korrektiv, während Meinecke die Missstände des öffentlichen Diskurses in Bezug auf die Themen Rassismus und Antisemitismus entlarvt. Sowohl Meineckes Text als auch Godards Film erschüttern Hierarchien der Aufmerksamkeit durch ihre Art der Re-Präsentation der Thematik. Meineckes penetrantes Umkreisen der Themen Nationalsozialismus und Holocaust erzeugt eine hysterische Sichtbarkeit für die Nachwehen nationalsozialistischer Politik der Vertuschung und der Verharmlosung. Godard stellt Sichtbarkeit für die Bilder aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Dachau durch die Montage derselben in die abendländische (Film-)Geschichte her. Das Aufweisen des Nicht-Sinns und der Inkommensurabilität des Holocaust für eine kulturelle Geschichtsschreibung stellt dabei auf einer übergeordneten Ebene den Sinn der Godardschen Konstruktion dar oder in den Worten Adornos formuliert: »Alles hängt daran, ob der Negation des Sinns im Kunstwerk Sinn innewohnt«.1248

Parodistische Konstellationen Alexander Kluges Texte in die Reihen der popkulturellen und postmodernen Arbeiten zu stellen, erzeugt einen bedeutenden, semantisch-infizierenden Mehrwert: Zunächst realisiert dies die theoretischen Prämissen der Einebnung von Hoch- vs. Unterhaltungskultur einerseits und des Umgehens eines oppositionellen In-Stellung-bringens von Modernismus und Postmoderne. Des Weiteren erzeugt die Gegenstandsauswahl ihrerseits eine unerwartete Konstellation, die neue Perspektiven auf die möglichen Synergien und Aufmerksamkeitsstrukturen innerhalb der Holocaustforschung eröffnet. Zudem rahmen Kluges Texte die für die Postmoderne zentrale Bewegung der Pluralisierung durch das Bemühen um Zusammenhang – der ebenfalls in der ›Stevens‹-Sequenz in den Histoire(s) du cinéma, weniger explizit aber auch in den anderen Gegenständen 1248 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften Band 7. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1970, S. 231.

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Schluss

wiederzuerkennen ist. Aus einer Pluralisierung, die zur bloßen Zersplitterung führt, kann schwerlich ein aktualisiertes Verstehen oder Lernen entstehen. In Kluges konstellativem Modus, in dem eine »unerwartete Berührung zwischen Dingen [geschieht], die vorher einander nicht begegnet waren« (GUL 334f.), können – ähnlich wie in Bachtins Konzeption des Karnevals – konkurrierende Diskurssysteme und einander widerstreitende Weltzugänge miteinander in eine produktive Konfrontation gebracht werden. Alle analysierten Werke markieren die Notwendigkeit einer unablässigen Beschäftigung mit der Thematik – aus einer aktualisierenden und den Transfer auf gegenwärtige Problemkomplexe ermöglichenden Perspektive. Im besten Fall entsteht dadurch eine »[h]istorische Spannung […] [, die] wie Wiederbelebung, Verlebendigung nur [funktioniert], wenn der Weg in zwei Richtungen zu beschreiben ist: als Artikulation des gegenwärtigen Interesses am Vergangenen wie das Denken des Vergangenen als gegenwärtig.«1249 Der Bezug zur gegenwärtigen Situation zeigt die Notwendigkeit, aus der Geschichte für die Gegenwart Relevanz zu ziehen. Ein mögliches ästhetisch wie historisches Lernen kann dabei sowohl auf Aneignung von Wissen und Können ausgerichtet sein als auch darauf, durch fiktionale Parodien einen anderen, reflektierten Umgang mit medialen Darstellungen zu ermöglichen: etwa das erzeugte Unrecht für die Dauer einer fiktionalen Darstellung umzuschreiben (Inglourious Basterds) oder zum aktiven Mit- und Selbstumschreiben einzuladen (Adolf und Lego. Concentration Camp); der von den Nationalsozialisten beabsichtigten Auslöschung der Menschen und der Erinnerung an sie verschiedene Erzählungen entgegenzustellen, die individuell oder kollektiv erinnern, die Erinnerung nicht auf die Schicksalserzählung des Holocaust beschränken, sondern als ko-konstruktive kulturelle Identität produktiv erweitern (Hellblau); auf die entstandene Lücke hinzuweisen, die durch die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden entstanden ist und sie als solche sichtbar zu machen (Histoire(s) du cinéma); fiktionale Sprachkorrektive zu entwickeln, um auf die Wirkmacht sprachlicher Welterzeugung hinzuweisen (Faserland); und Geschichtskorrektive auszubilden, die helfen, zwischen verschiedenen privaten und öffentlichen Erfahrungs- und Darstellungskategorien, zwischen Mikro- und Makroperspektiven zu vermitteln (Dezember, 30. April 1945). Die hier untersuchten Arbeiten erreichen einen positiven, ›selbstverständlichen‹ Umgang mit der Thematik durch deren Integration in den Alltag, durch die es möglich wird, den Holocaust als unzugänglichen Gegenstand mit aktuellen gesellschaftlichen Strukturen in Verbindung zu bringen und das nationalsozialistische Erbe in medialen Aufmerksamkeitsstrukturen und einseitigen oder 1249 Christina Scherer: Das Bild der Schrift und die Schrift der Bilder. Zum Verhältnis von Bild und Schrift in den Kulturmagazinen Alexander Kluges. In: Augen-Blick 23 (1996), S. 34–53, hier S. 34.

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Parodistische Konstellationen

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spezifisch gerahmten Berichterstattungen aufzudecken. Das Spannungsverhältnis von Postmoderne, Popkultur und Holocaust/Nationalsozialismus lässt sich produktiv auflösen, wenn die Begriffe Postmoderne und Popkultur nicht als negativ gewertete Kategorisierungen gegen einen elitären Holocaust-Diskurs ins Spiel gebracht werden. Als produktive Herausforderung und keineswegs als Ersatz eines sakralisierenden, ritualisierten Umgangs mit der deutschen Vergangenheit vermögen die hier behandelten ästhetischen Darstellungen autoritative Setzungen der ›Staatspflicht des Erinnerns‹ kritisch zu befragen und zur Reflexivität gemahnen. Parodie kann positive wie negative Korrekturarbeit leisten, das heißt, sie kann nachahmend auf bestehende, positive Strukturen verweisen wie auch Strukturen parodieren, die in der distanzierten Nachahmung kritisch evaluiert und korrigiert werden. Nicht zuletzt ist die Parodie ein geeignetes ästhetisches Verfahren, unwirkliche Wirklichkeiten zu bearbeiten, da sie, wie Christian Kracht in seiner Poetikvorlesung betont, »eine Heilung für den Missbrauch sein kann«.1250 Dies kann durch ihre Struktur gelingen, die Konfrontation aus Distanz ermöglicht. Sie vermag es, Verstehensprozesse in Gang zu setzen, aus denen Produktivität und Handlungsmacht erwachsen können. Dass die Heilung aber eine in sich parodistische, d. h. brüchige bleibt, zeigt sich einmal mehr an Christian Krachts neuestem Roman Eurotrash (2021). Hier parodiert Kracht nicht nur seinen Erstling Faserland. Auch das durch seine Autorinszenierung vielfach geschürte Bedürfnis, jetzt – endlich! nach »einem Vierteljahrhundert«1251 –, der Familiengeschichte Krachts habhaft zu werden, bleibt grandios unerfüllt. Nach seinem Ritt durch verschiedene »Sichtbarkeits-, Diskurs- und Stilparadigma«1252 im Verlauf seiner Romanhistorie, ist es nur konsequent nun einen Text im Genre des Familien- und Europaromans zu präsentieren, der aber die Genreerwartungen parodistisch ›verfehlt‹. Die Befragung der eigenen nationalsozialistischen Familienvergangenheit birgt keine Katharsis und keine substantielle Annäherung. Selbst der Versuch, »aus den schmutzigen Schweizer Franken unserer Familie etwas Sinnvolles zu schaffen«1253 ist zum Scheitern verurteilt, weil die Haltung, mit der das Geld verschenkt werden soll, schon von einem ›falschen Bewusstsein‹ zeugt: Die Mutter der Romanfigur attestiert dieser, dass sie vergeblich eine Katharsis heraufzubeschwören [versucht] […] Katharsis hast Du gesagt, es werde zu einer Läuterung zwischen uns beiden kommen, hast du gesagt, wenn Du nur in Bewegung bleiben würdest mit mir. Deine Mutter. Nimmt sie mit in ein bürgerliches 1250 Christian Kracht: Emigration. Zweite Poetikvorlesung. Frankfurt am Main 19. Mai 2018. 1251 Christian Kracht: Eurotrash. Köln 2021, S. 11. 1252 Siehe dazu Kathrin Kazmaier: Christian Krachts postmoderne Parodien. In: Susanne Komfort-Hein, Heinz Drügh (Hg.): Christian Krachts Ästhetik. Stuttgart 2020, S. 261–276, hier S. 262. 1253 Kracht, Eurotrash, S. 95.

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Schluss

Theaterstück, Tragödie mit komödiantischen Elementen, Hauptdarstellerin yours truly. Verspricht ihr wer weiß was, weil sie sich ja ständig betrinken muß und Tabletten schlucken vor unaushaltbaren Schmerzen. Und schiebt dann alles auf die Schweiz, die Nazis und den Zweiten Weltkrieg.1254

Der Familienroman demontiert sich in seinen metafiktionalen Schleifen selbst – und erweist sich genau darin momenthaft als angemessene Annäherung an den europäischen ›Trash‹ des 20. Jahrhunderts. Postmoderne Parodie erzeugt ein komplexes, nicht in einfachen Urteilen von positiv oder negativ und Kritik oder Affirmation zu fassendes Verhältnis zum parodistisch Wiederholten. In Bezug auf ästhetische Darstellungen zu Nationalsozialismus und Holocaust bedeutet dies, ein fiktional bewusstes Verhältnis zu den medial vermittelten historischen Ereignissen herzustellen, das zu einer nicht vereinnahmenden und offenen Auseinandersetzung unter einer aktualisierenden, für gegenwärtige gesellschaftliche Strukturen relevanten Perspektive befähigt.

1254 Ebd., S. 155f.

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Dank

Die eigenen Worte sind niemals die eigenen, sondern immer schon mit pluralen Herkünften und potentiellen Zukünften angereichert. So hatte ich beim Verfassen dieses Buchs mit einer doppelten Eigenheit zu tun: derjenigen der Worte, Bilder, Werke und Konzepte in ihrem (wissenschaftlichen, kulturellen, alltäglichen …) Bedeutungshof und derjenigen meines idiosynkratischen, angelernten, schrägen Denkens, Schreibens und Formulierens, das nie so geradeaus aufs Papier kam wie ich es mir wünschen würde. Von meinem Ideal eines wissenschaftlichen, klaren und zugänglichen Schreibens bin ich noch einiges entfernt. Immerhin habe ich mich auf den Weg gemacht. Das Ergebnis ist ein Gemeinschaftswerk, bei dem viele andere mitgedacht und unterstützt haben, denen ich herzlich danken möchte: Meinem Doktorvater Heinz Drügh danke ich für seine langjährige Geduld und Unterstützung auch über manche Widrigkeit hinweg, seine ansteckende Begeisterung für Texte (im weitesten Sinne) und eine Reise nach Warschau. Besonders aber möchte ich ihm für das Zutrauen danken, mich diese Arbeit so schreiben zu lassen wie es mein Sturkopf wollte und für eine sehr berührende Rede zur Disputation. Toni Tholen, der meine Arbeit mitbetreut hat, danke ich für ein fulminantes erstes Seminar in meinem Studium, das mir gezeigt hat, wie Universität und wissenschaftliches Denken sein kann und sollte. Dankbar bin ich ihm für sein offenes Ohr und vielerlei Gespräche – fachlicher Natur und darüber hinaus. Immer ging ich aus den Gesprächen bereichert und freue mich auf viele weitere. Beide haben mich in meinem wissenschaftlichen Denken geprägt und mir vor allem stets die Wertschätzung meines Denkens vermittelt, was fürwahr keine Selbstverständlichkeit ist. Im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht geht mein Dank an Julia Schwanke, die mir mit großer Kompetenz, Geduld und vielen Schreiben beratend zur Seite stand. Meinen Eltern danke ich von Herzen für das völlig selbstverständlich wirkende möglich machen von Studium und Promotion durch finanzielle und

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Dank

ideelle Unterstützung. Sie haben beide auf ihre Weise, ganz praktisch und nah etwa durch Möbel aufbauen oder unzählige Male Kinderbetreuung, und ganz aus der Ferne durch ihre stille und fürsorgliche Liebe dazu beigetragen, dass ich diese Arbeit schreiben konnte. Anders Adebahr danke ich für die gemeinsame Entdeckung von Christian Krachts Faserland, viele harte Kämpfe um die angemessenen Deutungen und die gemeinsamen Ideen, die in die Arbeit eingeflossen sind. Meinen Weggefährten des »Tübinger Kreises« Martin Bez, meinem Bruder Daniel Kazmaier, Tobias Mandel und Markus Setzler sei für unzählige Stunden gemeinsamen Denkens, Leidens und gegenseitigen Motivierens gedankt. Ihre Anregungen, Korrekturen, Ermutigungen und nicht zuletzt die Unterstützung bei der Disputation (es war ein weiter Weg für Martin und Tobias, danke, dass ihr ihn auf euch genommen habt!) waren stets heilsam und heiter. Für ebenso intensive Diskussionen zu einzelnen Kapiteln und Anregungen danke ich Judith-Frederike Popp, die mit ihrer Präzision, Kompetenz und Freundschaft viele meiner Schnitzer ausgebügelt hat und Volker Pietsch, dessen überbordendes und flirriges (Film-)Wissen meine Lücken zu füllen wusste. Sie alle haben meine Arbeit so viel besser gemacht, als ich es allein hätte schaffen können! Allen meinen Korrektor:innen Anders Adebahr, Martin Bez, Tanja Jeschke, Daniel und Traute Kazmaier, David Lanius, Franziska Mader, Tobias Mandel, Sascha Michel, Judith-Frederike Popp und Volker Pietsch danke ich mit Bewunderung für etliche Schleifen, unendliche Geduld und ihre unermüdlichen Anmerkungen und die Bereitschaft, die kleinen Schritte mitzugehen. David, der mich getragen hat, wenn ich es nicht gesehen habe und der geduldig war, als ich getobt habe und am Ende war, Anouk und Amon Lanius sei dafür gedankt, das verkopfte Denken an die wirklichen Dinge zurück- und in den Alltag einzubinden, für heitere, enervierende Ablenkung und ihre großartige Liebe.

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Text-, Bild- und Medienverzeichnis

Siglen 30. April AI A II B CdG I CdG II D Drehbuch FKDB FSL Godard par Godard 2 GuE

GUL H Hdc 1998 Hdc 1999 Hdc 2014

Alexander Kluge: 30. April 1945. Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann. Berlin 2014. Walter Moers: Adolf. Äch bin wieder da!! Frankfurt am Main 1998. Walter Moers: Adolf. Äch bin schon wieder da! Teil 2. Frankfurt am Main 1999. Walter Moers: Adolf. Der Bonker. Eine Tragikomödie in drei Akten. München 2006. Alexander Kluge: Chronik der Gefühle. Band I: Basisgeschichten. Frankfurt am Main 2000. Alexander Kluge: Chronik der Gefühle. Band II: Lebensläufe. Frankfurt am Main 2000. Alexander Kluge, Gerhard Richter: Dezember. Berlin 2010. Quentin Tarantino: Inglourious Basterds. A Screenplay. New York 2009. Alexander Kluge: Fontane – Kleist – Deutschland – Büchner. Zur Grammatik der Zeit. Berlin 2004. Christian Kracht: Faserland. Köln 1995. Alain Bergala (Hg.): Jean-Luc Godard par Jean-Luc Godard. Band 2: 1984–1998. Paris 1998. Alexander Kluge, Oskar Negt: Geschichte und Eigensinn. Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden. Band II. Frankfurt am Main 2001. Alexander Kluge: Glückliche Umstände, leihweise. Das Lesebuch. Hg. von Thomas Combrink. Frankfurt am Main 2008, 331–352. Thomas Meinecke: Hellblau. Frankfurt am Main 2001. [H] Jean-Luc Godard: Histoire(s) du Cinéma. Paris 1998. Jean-Luc Godard: Histoire(s) du Cinéma. The Complete Soundtrack. 5 CDs und 4 Textbände. München: ECM 1999. Jean-Luc Godard: Histoire(s) du Cinéma 1988–1998. 4 DVDs. Neuilly-sur-Seine: Gaumont Video 2014.

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448 IB Kälte

MP

Text-, Bild- und Medienverzeichnis

Quentin Tarantino: Inglourious Basterds. DVD. Universal Pictures 2009. [IB] Kluge, Alexander: Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd. Filme und Texte. DVD. Mit einem Begleitheft »Stroh im Eis«. Berlin 2010. Alexander Kluge, Oskar Negt: Massverhältnisse des Politischen. In: Dies.: Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden. Band I. Frankfurt am Main 2001, 693–1005.

Literarische Texte, Comics, Theaterstücke, Kunstwerke Améry, Jean: Die Tortur. In: Merkur 19 (1965), 623–638. Bachmann, Richard: [Stephen King] The Long Walk. New York, London 2016. Basil, Otto: Wenn das der Führer wüßte! Wien 2010. Bedürftig, Friedemann/Dieter Kalenbach: Hitler. Hamburg 1989. Bukiet, Melvin Jules: After. New York 1996. Celan, Paul: Todesfuge. In: Ders.: Sand aus den Urnen. Wien 1948. Croci, Pascal: Auschwitz. Eine Graphic Novel. Köln 2005. Deighton, Len: SS-GB (1978). London 2021. Dick, Philip K.: The Man in the High Castle. London 2001. Dithfurt, Christian von: Der 21. Juli. München 2001. Dithfurt, Christian von: Der Consul. München 2003. Fry, Stephen: Making History. London 2004. Hanika, Iris: Das Eigentliche. Graz, Wien 2010. Harris, Robert: Fatherland. New York 1993. Heuvel, Eric/Rudd van der Rol/Lies Schippers: Die Suche. Braunschweig 2010. Hilsenrath, Edgar: Die Abenteuer des Ruben Jablonski. München 1999. Kafka, Franz: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten. Frankfurt am Main 1994. Kaschnitz, Marie Luise: Zoon Politikon. In: Dies.: Die Gedichte. Gesammelte Werke Band 5. Hg. von Christian Büttrich und Norbert Miller. Frankfurt am Main 1985, 406– 411. Kertész, Imre: Galeerentagebuch. Übersetzt von Kristin Schwamm. Reinbek bei Hamburg 1993. Kichka, Michel: Le deuxième géneration. Ce que je n’ai pas dit à mon père. Paris 2012. Kleeberg, Michael: Ein Garten im Norden. Berlin 1998. Kleist, Heinrich von: Die Marquise von O… In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. Zweibändige Ausgabe in einem Band. München 2001, Band 2, 104–143. Kluge, Alexander: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang. Frankfurt am Main 1973. Kluge, Alexander: Neue Geschichten. Hefte 1–18. ›Unheimlichkeit der Zeit‹. Frankfurt am Main 1977. Kluge, Alexander: Chronik der Gefühle. Band I: Basisgeschichten. Frankfurt am Main 2000. [CdG I]

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Literarische Texte, Comics, Theaterstücke, Kunstwerke

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Kluge, Alexander: Chronik der Gefühle. Band II: Lebensläufe. Frankfurt am Main 2000. [CdG II] Kluge, Alexander: Schlachtbeschreibung. Organisatorischer Aufbau eines Unglücks. In: Ders.: Chronik der Gefühle. Band I: Basisgeschichten. Frankfurt am Main 2000, 509–793. Kluge, Alexander: Die Lücke, die der Teufel läßt. Frankfurt am Main 2003. Kluge, Alexander/Gerhard Richter: Dezember. Berlin 2010. [D] Kluge, Alexander: Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd. Filme und Texte. DVD. Mit einem Begleitheft »Stroh im Eis«. Berlin 2010. [Kälte] Kluge, Alexander: Das fünfte Buch. Berlin 2012. Kluge, Alexander: 30. April 1945. Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann. Berlin 2014. [30. April] Klüger, Ruth: weiter leben. Eine Jugend. München 1994. Kracht, Christian: Faserland. Köln 1995. [FSL] Kracht, Christian: 1979. Köln 2001. Kracht, Christian: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Köln 2008. Kracht, Christian: Die Toten. Köln 2016. Kracht, Christian: Eurotrash. Köln 2021. Lasker-Schüler, Else: MEIN BLAUES KLAVIER. NEUE GEDICHTE. Jerusalem 1943. Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten. München 1990. Levi, Primo: Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht. Aus dem Italienischen von Heinz Riedt. München 2010. Libera, Zbigniew: Lego. Concentration Camp 1996. Set of 7 boxes of LEGO bricks, different sizes, edition of 3. Libera, Zbigniew: Residents. Aus: Positives 2002–2003. Series of staged photographs, printed and reproduced photographically. Littel, Jonathan: Les Bienveillantes. Paris 2006. Mann, Klaus: Mephisto. Roman einer Karriere. Amsterdam 1936. Mann, Thomas: Der Zauberberg. Frankfurt am Main 1991. Meinecke, Thomas: Hellblau. Frankfurt am Main 2001. [H] Meinecke, Thomas: Feldforschung. Frankfurt am Main 2006. Modan, Rutu: Das Erbe. Hamburg 2013. Moers, Walter: Adolf. Äch bin wieder da!! Frankfurt am Main 1998. [A I] Moers, Walter: Adolf. Äch bin schon wieder da! Teil 2. Frankfurt am Main 1999. [A II] Moers, Walter: Adolf. Der Bonker. Eine Tragikomödie in drei Akten. München 2006. [B] Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 2007. Nathanson, E. M.: The Dirty Dozen. Laguna Beach 2013. Peltzer, Ulrich: Bryant Park. Frankfurt am Main 2013. Remarque, Erich Maria: Im Westen nichts Neues. In der Fassung der Erstausgabe mit Materialien und einem Nachwort. Hg. von Thomas F. Schneider. Köln 2014. Roth, Philip: The Plot Against America. London 2004. Ransmayr, Christoph: Morbus Kitahara. Frankfurt am Main 1997. Sachs, Nelly: In den Wohnungen des Todes. Berlin 1947. Schlink, Bernhard: Der Vorleser. Zürich 1997. Schmitt, Éric-Emmanuel: Adolf H. Zwei Leben. Frankfurt am Main 2001. Spiegelman, Art: Maus: a survivor’s tale. I: My Father Bleeds History. New York 1986.

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Text-, Bild- und Medienverzeichnis

Spiegelman, Art: Maus: a survivor’s tale. II: And Here My Troubles Began. New York 1992. Spinrad, Norman: The Iron Dream. Glasgow 1972. Stein, Gertrude: Writings 1903–1932. Hg. von Catherine Stimpson und Harriet Chessman. New York 1998. Weiss, Peter: Die Ermittlung. Oratorium in elf Gesängen. Frankfurt am Main 2003. Weiss, Volkmar: Das Tausendjährige Reich Artam. Neustadt an der Orla 2011. Wilkomirski, Binjamin: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948. Frankfurt am Main 1995. Würger, Takis: Stella. München 2019. Yulsman, Jerry: Elleander Morning oder Der Krieg, der nicht stattfand. München 1986. Ziegler, Thomas: Die Stimmen der Nacht. Frankfurt am Main u. a. 1984.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5:

Walter Moers: Adolf. Äch bin wieder da!! Frankfurt am Main 1998, o.S. Walter Moers: Adolf. Äch bin wieder da!! Frankfurt am Main 1998, o.S. Walter Moers: Adolf. Äch bin wieder da!! Frankfurt am Main 1998, o.S. Der Spiegel vom 22. 08. 2004, Cover, © DER SPIEGEL 35/2004. Zbigniew Libera: Lego. Concentration Camp. (1996) LEGO Set mit 7 Boxen, Hauptlager, Fotografie, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 6:

Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9:

Abb. 10:

Abb. 11:

Abb. 12: Abb. 13:

Abb. 14:

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Zbigniew Libera: Lego. Concentration Camp. (1996) LEGO Set mit 7 Boxen, Lego-Skelette als KZ-Häftlinge, Fotografie, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers. Zbigniew Libera: Residents. Fotografie aus der Serie Positives (2002–2003), mit freundlicher Genehmigung des Künstlers. Gerhard Richter, Alexander Kluge: Dezember. Berlin 2010, S. 108 und 109, © Gerhard Richter 2022 (04022022). Giotto di Bondone: Szene Nr. 37: Auferstehung, Noli me tangere aus dem Freskenzyklus Das Leben Christi, Cappella degli Scrovegni (Arenakapelle), Padua, 1304–1306, Fotografie © Bruno Brunelli. Filmstill aus: George Stevens: Ein Platz an der Sonne [DVD, Universal Pictures Germany GmbH (2016)]. USA: Paramount u. a., © Paramount Pictures. All Rights Reserved. Filmstill aus: George Stevens: Ein Platz an der Sonne [DVD, Universal Pictures Germany GmbH (2016)]. USA: Paramount u. a., © Paramount Pictures. All Rights Reserved. Filmstill aus: Konstantin von zur Mühlen: Der Geist der Befreiung – Spirit of Liberation (2017), © CHRONOS-MEDIA GmbH. Überblendung zweier Filmstills: George Stevens: Ein Platz an der Sonne [DVD, Universal Pictures Germany GmbH (2016)]. USA: Paramount u. a., © Paramount Pictures. All Rights Reserved; Konstantin von zur Mühlen: Der Geist der Befreiung – Spirit of Liberation (2017), © CHRONOS-MEDIA GmbH; Überblendung Jan Dieske. Überblendung von: Filmstill aus George Stevens: Ein Platz an der Sonne [DVD, Universal Pictures Germany GmbH (2016)]. USA: Paramount u. a., © Paramount Pictures. All Rights Reserved; Giotto di Bondone: Szene Nr. 37 Auferstehung, Noli me tangere aus dem Freskenzyklus Das Leben Christi, Cappella degli Scrovegni (Arenakapelle), Padua, 1304–1306, Detailausschnitt gedreht, Fotografie © Bruno Brunelli, Überblendung Jan Dieske.

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