Sozialer Zusammenhalt in der Krise: Interdisziplinäre Perspektiven auf Heterogenität und Kohäsion moderner Gesellschaften 9783839462065

Krisen verschärfen gesellschaftliche Problemlagen bzw. lassen diese besonders deutlich hervortreten. Zugleich werfen kri

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Sozialer Zusammenhalt in der Krise: Interdisziplinäre Perspektiven auf Heterogenität und Kohäsion moderner Gesellschaften
 9783839462065

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Sozialer Zusammenhalt in der Krise
Zwischen Entschleunigung, Entgrenzung und Überforderung
Sozioökonomische Krisenfolgen und Geschlechtergerechtigkeit im Wissenschaftsbereich
Strukturelle Geschlechterunterschiede in den Arbeitsbedingungen
Lernen in und aus der Pandemie
Die Krise in der Krise
Lebenswelt Nachbarschaft als Möglichkeitsraum sozialer Kohäsion
Prekäre Arbeit in und nach der Krise
Menschen mit Behinderung in kollektiven Ausnahmeszenarien
Kritischer Realismus und Ideologiekritik
Lockdown-Corona-Fictions als Seismograph für sozialen Zusammenhalt
Autor*innen

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Barbara Ratzenböck, Katharina Scherke, Annette Sprung, Werner Suppanz (Hg.) Sozialer Zusammenhalt in der Krise

Gesellschaft der Unterschiede Band 62

Barbara Ratzenböck, geb. 1985, ist Senior Scientist am Zentrum für InterAmerikanische Studien der Universität Graz. In ihrer Forschung befasst sie sich mit den Verschränkungen von Digitalisierungsprozessen, (Medien-)Generationen und Gender. Katharina Scherke, geb. 1969, ist außerordentliche Universitätsprofessorin am Institut für Soziologie der Universität Graz. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören neben der Soziologie der Emotionen auch die Kultur- und Kunstsoziologie, Geschichte der Soziologie, Soziologische Theorie sowie die Wissenschaftssoziologie. Annette Sprung, geb. 1968, ist Professorin für Migration und Bildung am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz. Sie forscht und lehrt zu den Schwerpunkten Erwachsenenbildung in der Migrationsgesellschaft, rassismuskritische Bildung, Diversity, politische Bildung und Active Citizenship. Werner Suppanz, geb. 1961, ist assoziierter Professor für Zeitgeschichte am Institut für Geschichte der Universität Graz. Er forscht zu den Schwerpunkten Gedächtnisgeschichte, Identitätspolitik, Kulturgeschichte des Politischen und Populärkultur.

Barbara Ratzenböck, Katharina Scherke, Annette Sprung, Werner Suppanz (Hg.)

Sozialer Zusammenhalt in der Krise Interdisziplinäre Perspektiven auf Heterogenität und Kohäsion moderner Gesellschaften

Open Access publiziert mit Unterstützung der Universität Graz, des Landes Steiermark und des Forschungsnetzwerkes »Heterogenität und Kohäsion« der Universität Graz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2023 im transcript Verlag, Bielefeld © Barbara Ratzenböck, Katharina Scherke, Annette Sprung, Werner Suppanz (Hg.) Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Elisabeth Stadler, www.zwiebelfisch.at Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839462065 Print-ISBN 978-3-8376-6206-1 PDF-ISBN 978-3-8394-6206-5 Buchreihen-ISSN: 2702-9271 Buchreihen-eISSN: 2702-928X Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Einleitung Barbara Ratzenböck, Katharina Scherke, Annette Sprung, Werner Suppanz............ 7

Sozialer Zusammenhalt in der Krise Überlegungen zu Heterogenität und Kohäsion moderner Gesellschaften im Lichte des Solidaritätskonzeptes Émile Durkheims Katharina Scherke .................................................................. 17

Zwischen Entschleunigung, Entgrenzung und Überforderung Erwerbstätige Frauen zwischen 21 und 30 Jahren im ersten Lockdown Sabine A. Haring-Mosbacher und Karin Scaria-Braunstein ............................ 41

Sozioökonomische Krisenfolgen und Geschlechtergerechtigkeit im Wissenschaftsbereich Barbara Hönig und Simone Liesnig.................................................. 69

Strukturelle Geschlechterunterschiede in den Arbeitsbedingungen Eine beispielhafte Analyse der sozioökonomischen Folgen der Coronakrise im systemrelevanten Care-Bereich Margareta Kreimer (†), Hanna Hof und Simone Liesnig ................................ 91

Lernen in und aus der Pandemie Effekte der »Corona-Krise« auf die Bildungschancen von Migrant*innen in der Erwachsenenbildung Annette Sprung .................................................................... 113

Die Krise in der Krise Zum partiellen Verlust bildungsrelevanter Krisenerfahrungen in bewegungs- und sportpädagogischen Kontexten Sebastian Ruin, Jana Baumgärtner und Christoph Kreinbucher-Bekerle ............. 137

Lebenswelt Nachbarschaft als Möglichkeitsraum  sozialer Kohäsion Regina Mikula ...................................................................... 161

Prekäre Arbeit in und nach der Krise Szenische Wege der Solidarisierung Michael Wrentschur ................................................................179

Menschen mit Behinderung in kollektiven Ausnahmeszenarien Eine existenzanalytische Betrachtungsweise Manfred Sonnleitner............................................................... 207

Kritischer Realismus und Ideologiekritik Zur Aktualität von Alois Riehls (1844-1924) wissenschaftlicher Philosophie als trans- und interdisziplinärer Vermittlungsversuch Josef Hlade und Rudolf Meer ...................................................... 231

Lockdown-Corona-Fictions als Seismograph für sozialen Zusammenhalt Yvonne Völkl und Julia Obermayr .................................................. 255

Autor*innen ................................................................... 281

Einleitung Barbara Ratzenböck, Katharina Scherke, Annette Sprung, Werner Suppanz

Krisen scheinen derzeit allgegenwärtig zu sein. Die mediale Berichterstattung ist voll von Krisen aller Art – ökologischen Krisen, ökonomischen Krisen, politischen Krisen, sozialen Krisen, Gesundheits- und auch Sicherheitskrisen. Diese Liste ließe sich beliebig erweitern. Die Soziologen Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa (2021: 12) charakterisieren die Zeit, in der wir leben, daher als »Ballung gesellschaftlicher Krisenmomente«. Der Historiker Adam Tooze (2022) spricht in einer ähnlichen Art und Weise von einer »Polykrise«. So omnipräsent verschiedene handfeste Krisen und kulturell sowie sozial geformte Krisendiskurse auch sind, der ursprünglich aus der Ästhetik und Medizin stammende Begriff der Krise (Holton 1987: 504) selbst bleibt im Kontext moderner Geistes- und Sozialwissenschaften definitorisch nicht einfach festzumachen. Blickt man beispielsweise in den Duden (2022), wird die Krise dort als »schwierige Lage, Situation, Zeit [die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt]; Schwierigkeit, kritische Situation; Zeit der Gefährdung, des Gefährdetseins« beschrieben. Krisen, so ist uns auch im Alltagsverständnis klar, bezeichnen demnach Problemlagen, Herausforderungen und Unsicherheiten, die in ihrer Gestalt substanziell und dadurch schwer zu überwinden sind (vgl. Reinhold, Lamnek und Recker 2000: 370). Dies gilt insbesondere deshalb, da in Krisen bis dato gängige Problemlösungsstrategien nicht mehr greifen (vgl. Rammstedt 2011: 383). Krisen zeichnen sich dadurch aus, dass sie gefährlich und risikobehaftet sind. Es ist jedoch zugleich eines ihrer konstitutiven Merkmale, dass sie unterschiedliche, positive wie negative, Ausgänge nehmen können (Walby 2015: 24; Merkens 2010: 190f). Hier zeigt sich die Ambivalenz von Krisen. Negative Ausgänge sind sozialen Akteur*innen in Krisensituationen meist präsenter als neutrale oder positive Konsequenzen, was dazu führt, dass diese – unabhängig von ihrer tatsächlichen Wahrscheinlichkeit – auch diskursiv in den Vordergrund gerückt werden (vgl. Walby 2022: 504).

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Krisen ist zudem eine komplexe Zeitlichkeit eigen. Sie beginnen plötzlich (vgl. Rammstedt 2011: 383; Reinhold et al. 2000: 370), auch wenn ihnen mitunter lange Entwicklungen vorausgehen. Auch hier zeigt sich erneut die Ambivalenz von Krisen: Sie sind prozessual und punktuell zugleich. Die Krise ist »Höhepunkt« (Merkens 2010: 190) und »Wendepunkt« (Rammstedt 2011: 383). Sie ist ein – mitunter gedehnter – Kipppunkt (vgl. Walby 2015: 20; Thumfart 2010: 120). Krisen unterscheiden sich damit deutlich von bereits erreichten Entwicklungsendpunkten und unabänderlichen Katastrophen (vgl. Schäfers 2010: 151; Thumfart 2010: 121). Im Unterschied zu diesen sind Krisen in ihrem Ausgang – abhängig von den konkreten Umständen mehr oder weniger – offen. Dazu kommt, dass sich Krisenfolgen non-linear entwickeln und somit meist schwer abschätzbar sind (vgl. Walby 2022: 511). Auch auf andere Weise wirken Krisen auf sozial-zeitlicher Ebene, indem sie Zeitdruck in Bezug auf Handlungen erzeugen, die auf das Abfedern von unmittelbaren Kriseneffekten und das Entwickeln von – mehr oder weniger nachhaltigen – Lösungsstrategien abzielen (vgl. Schäfers 2010: 149). Krisen sind im mehrfachen Sinne für das Soziale bedeutsam. Wie Alexander Thumfart (2010: 121) formuliert: »Krisen sind (zum allergrößten Teil, wenn nicht gar ausschließlich) soziale Phänomene, soziale Großereignisse, menschliche Produkte.« Krisen haben eine soziale Dimension, weil Akteur*innen sie sowohl individuell als auch kollektiv – mitunter unterschiedlich – deuten und interpretieren (vgl. Walby 2022: 501, 511; Walby 2015: 14). Zum einen müssen auftretende Krisen erfolgreich in bestehende Sinnkontexte eingebettet werden, um entstehende Kontingenzen bewältigen zu können. Relevant sind solche Kriseninterpretationen insbesondere deshalb, da sie das Ausmaß einer Krise wie auch ihrer Konsequenzen potenziell sowohl unter- als auch überschätzen können (vgl. Walby 2015: 14). Zum anderen werden sowohl bestehende als auch überwundene Krisen von unterschiedlichen Individuen und Gruppen mit dem Ziel der Durchsetzung von Eigeninteressen und Interpretationshoheiten immer wieder um- oder gar gänzlich neu gedeutet. Mitunter kommt es sogar vor, dass eine real schon länger bestehende Krise erst zu einem späteren Zeitpunkt diskursiv ›entdeckt‹ wird (vgl. Merkens 2010: 199). Krisen sind somit auch als Diskursphänomene sozial relevant. Das von William Isaac Thomas and Dorothy Swaine Thomas (1928: 572) erstmals formulierte ›Thomas Theorem‹ beweist auch im Kontext von Krisen seine Gültigkeit: Die Situationsinterpretation ist für die Handlungen von Menschen bedeutsamer als die objektive Situation als solche. Wenn Akteur*innen eine Situation für real halten, obwohl sie es nicht ist – oder

Einleitung

umgekehrt, eine Situation für nicht real halten, obwohl sie es ist –, handeln sie dennoch auf Grundlage ihrer Deutungen (vgl. Reichertz 2016: 9). Selten ist dies sichtbarer geworden als im Kontext der Covid-19-Pandemie und der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in deren Verlauf. Krisen sind wie erwähnt auch deshalb sozial, da sie Handlungsdruck auf Gesellschaften und ihre verschiedenen Teilbereiche erzeugen (vgl. Merkens, 2010: 190; Schäfers 2010: 149). Krisen verlangen von gesellschaftlichen Entscheidungsträger*innen zeitnah kompetente Reaktionen. Auch in diesem Zusammenhang wird ihre Ambivalenz deutlich. Verantwortliche und Betroffene können durch ihre Handlungen in und an Krisen scheitern. Genauso können Krisen und Krisendiskurse aber auch den Ausgangspunkt für gesellschaftliche Veränderung und politische Mobilisierung bilden (vgl. Holton 1987: 504). In Krisen können vielfältige individuelle sowie kollektive Lern- und Bildungsprozesse stattfinden. Das Spektrum reicht dabei von der Aneignung bestimmter Fertigkeiten (wie z.B. neuer Skills für die Gestaltung von Distance- und Onlineunterricht im Rahmen der Covid-19-Pandemie) bis hin zu sogenannten transformativen Bildungsprozessen (Mezirow 1991). Letztere bezeichnen tiefgreifende Veränderungen von Selbst- und Weltverhältnissen bei Individuen, die insbesondere aus einer intensiven Krisenerfahrung (»disorienting dilemma«) resultieren können. Krisen sind kein Phänomen erst der jüngeren Zeit, auch wenn die CoronaKrise besonders breitflächige mediale und öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt hat. Die Wahrnehmung der eigenen Gesellschaft als von Krisen gezeichnet findet sich beispielsweise schon im 18. Jahrhundert (vgl. Koselleck 2017). In den Sozial- und Geisteswissenschaften wird seitdem die Krise als Kennzeichen der Moderne diskutiert. »Krisen der Moderne« oder »die Moderne selbst als Krise« sind Vorstellungen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert, oft im Rahmen einer konservativen politischen Agenda, die gesellschaftlichen Diskurse prägten. Bestimmte historische Phasen wie die Weimarer Republik wurden dabei als krisenhafte Zuspitzung, vor allem als Verlust von verbindlichen Ordnungskonzepten aufgefasst. Als deren Ursache wurde die (liberale) Moderne identifiziert und deren Überwindung demgemäß als Lösung propagiert (vgl. Ash 2007; Kempter und Engelbrecht 2021). Manche Gegenwartsdiagnostiker, wie Reckwitz und Rosa, spitzen dies für die heutige Zeit zu, indem sie von einer allgemeinen »Metakrise« der Moderne sprechen. Was bei Reckwitz (in Reckwitz und Rosa 2021: 126) die »Krise der Moderne insgesamt« ist, ist bei Rosa (2019: 707) eine umfassende »Krise der Weltbeziehung«. Diese umfasse die »Art und Weise, wie die moderne Gesellschaft institutionell und

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kulturell auf Welt Bezug nimmt, und dass diese Krise im Stadium der Spätmoderne die institutionalisierte Reproduktionsweise dieser Sozialformation in ihren Grundfesten erschüttert« (Rosa 2019: 707). Ob man nun dem Befund von der Gesellschaft der Moderne als »Gesellschaft in der Dauerrevision und daher auch in der Dauerkrise« (Reckwitz in Reckwitz und Rosa 2021: 119) folgt und deren universelle Grundlagen zu bestimmen versucht, oder ob man den Begriff der Krise doch enger fasst und spezifische ökologische, ökonomische, politische, soziale und gesundheitliche Krisen in den Blick nimmt – zentral bleibt dabei stets die Frage nach ihren Konsequenzen. Folgt man der Systematik von Krisensoziologin Walby (vgl. 2022: 502, 504), lassen sich idealtypisch vier wesentliche Ausgänge von Krisen ausmachen: Regeneration, Intensivierung/Beschleunigung, Transformation und Katastrophe. Während in ersterem Szenario die Krise relativ schnell und ohne signifikante Effekte eingedämmt werden kann, sind die Auswirkungen in zweiterem ausgeprägter: hier intensiviert oder beschleunigt die Krise bereits bestehende problematische Entwicklungen. Im dritten Szenario führt die Krise zur grundlegenden Veränderung sozialer Systeme, wohingegen das vierte Szenario gar in der Systemauflösung endet (vgl. Walby 2022: 502, 504). Wie die Typologie Walbys zeigt, lassen sich Krisen somit nicht nur aufgrund ihrer Reichweite und ihres unmittelbaren Handlungszusammenhanges, sondern auch aufgrund ihrer Auswirkungen klassifizieren, wodurch auch der Umgang mit diesen mitbestimmt wird. Der vorliegende, aus dem Umfeld des Forschungsnetzwerkes »Heterogenität und Kohäsion«1 der Karl-Franzens-Universität Graz heraus entstandene, Sammelband befasst sich in diesem Sinne mit unterschiedlichen Dimensionen von Krisen und rückt dabei die Frage sozialen Zusammenhaltes in den Fokus. Die Covid-19-Pandemie spannt sich dabei als roter Faden durch die Beiträge, wobei diese auch im Vergleich zu anderen Krisen diskutiert wird. Als »eine Krise in existenziellem Ausmaß und in ungeheurem Tempo« (Psota 2020: 48) verlangt sie nach multiperspektivischer wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Wie erörtert, verschärfen Krisen gesellschaftliche Problemlagen bzw. lassen diese besonders deutlich hervortreten. Ebenso werfen krisenbedingte Einschnitte in bisher selbstverständliche Gewohnheiten grundlegende Fragen zum Zusammenleben in modernen Staaten und zur Funktionsweise gesellschaftlicher Institutionen auf. Nicht zuletzt machen sie viel1

https://huk.uni-graz.at/

Einleitung

fältige – mehr oder weniger solidarische – Handlungsstrategien von Individuen, Gruppen oder Institutionen im Umgang mit den jeweiligen Herausforderungen sichtbar. Die interdisziplinäre Zusammenschau zu gesellschaftlichem Zusammenhalt in der Krise versammelt Beiträge aus den Bewegungswissenschaften, Erziehungs- und Bildungswissenschaften, der Geschichte, Literaturwissenschaft, Soziologie sowie der Ökonomie. Die Aufsätze unterschiedlicher Fachrichtungen erörtern grundlegende (sozial-)theoretische Fragen, präsentieren Ergebnisse empirischer Studien zum Themenkomplex Krise, Heterogenität und Kohäsion und analysieren kulturelle Krisenrepräsentationen. Einige Beiträge machen darüber hinaus konkret auf Handlungsansätze im Sinne der Stärkung eines solidarischen Miteinanders aufmerksam. Der Band ermöglicht dabei Einblicke in unterschiedliche Gesellschaftsebenen und -sphären. Katharina Scherke führt mit ihrem Beitrag »Sozialer Zusammenhalt in der Krise. Überlegungen zu Heterogenität und Kohäsion moderner Gesellschaften im Lichte des Solidaritätskonzeptes Émile Durkheims« in die zentralen Grundthemen des Sammelbandes ein. Ausgehend von einer im medialen und politischen Diskurs wahrnehmbaren Krisenrhetorik wird eine begriffliche und sozialtheoretische Analyse von Konzepten sozialer Kohäsion sowie dem Spannungsfeld von Heterogenität und Homogenität geleistet. Zugleich erkundet die Autorin das Potenzial des Solidaritätsbegriffes in diesem Zusammenhang, womit ein wesentlicher Reflexionsimpuls auch für die weiteren Kapitel entfaltet wird. Krisen, ihre Konsequenzen und Bewältigungsmöglichkeiten werden in den weiteren Beiträgen anhand unterschiedlicher sozialer Felder sowie diverser Alltags-, Arbeits- und Bildungskontexte diskutiert. Sabine A. Haring-Mosbacher und Karin Scaria-Braunstein analysieren in ihrem Beitrag »Zwischen Entschleunigung, Entgrenzung und Überforderung: Erwerbstätige Frauen zwischen 21 und 30 Jahren im ersten Lockdown« die Erfahrungen junger Frauen in der Coronakrise. Dabei präsentieren sie Ergebnisse einer Mixed-Methods-Studie zu den Lebensrealitäten von Frauen während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020. Die Autorinnen arbeiten detailliert Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede der Erfahrungen heraus. In diesem Kontext nehmen sie besonders die Gegensatzfelder Entschleunigung/Beschleunigung, Entgrenzung/Verdichtung sowie Einschränkungen/ Freiräume in den Blick und zeigen somit Ambivalenz und Diversität im Erleben des ersten Lockdowns auf. Der Beitrag von Barbara Hönig und Simone Liesing behandelt, ausgehend von einer interdisziplinär sozio-ökonomischen Perspektive, die Frage, wel-

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che Auswirkungen die Coronakrise auf Geschlechtergerechtigkeit in der Wissenschaft hat. Unter dem Titel »Sozioökonomische Krisenfolgen und Geschlechtergerechtigkeit im Wissenschaftsbereich« untersuchen sie ebendiese mithilfe einer Literatur- und Diskursanalyse zu Kriseneffekten in der Wissenschaft anhand ausgewählter deutschsprachiger Qualitätsmedien. Dabei stellen sie einen komplexen Konnex zwischen der Position der Geistes- und Sozialwissenschaften im Wissenschaftsfeld sowie der Geschlechtergerechtigkeit in ebendiesem her. Margareta Kreimer (†), Hanna Hof und Simone Liesnig widmen sich in ihrem Beitrag unter dem Titel »Strukturelle Geschlechterunterschiede in den Arbeitsbedingungen – Eine beispielhafte Analyse der sozioökonomischen Folgen der Coronakrise im systemrelevanten Care-Bereich« den Auswirkungen, die die während der Coronakrise vorgenommene Einstufung der Pflegeberufe als systemrelevant auf diesen Sektor hatte. Sie zeigen, dass diese Einstufung keine Verbesserung der ohnehin prekären Arbeitssituationen in diesen frauendominierten Berufen mit sich brachte, und plädieren für ein künftiges ›Care Mainstreaming‹ der Politik, um Arbeitsplätze im Care-Bereich attraktiver zu gestalten und damit auch den absehbaren künftigen Bedarf an fachgerechter Pflege abdecken zu können. Annette Sprung befasst sich in ihrem Artikel mit dem »Lernen in und aus der Pandemie« und legt dabei den Fokus auf die »Effekte der ›Corona-Krise‹ auf die Bildungschancen von Migrant*innen in der Erwachsenenbildung«. In ihrem Resümee kommt die Autorin zu einem kritischen Befund: Soziale Ungleichheiten wurden aus verschiedenen Gründen – u.a. als Ausdruck der digitalen Kluft – verstärkt. Gerade in Bereichen wie der Alphabetisierung und Basisbildung scheint ein beträchtlicher Anteil an Lerner*innen verloren gegangen zu sein, obwohl Probleme partiell durch das persönliche Engagement von Erwachsenenbildner*innen oder auch freiwillig Tätigen kompensiert wurden. Für das Bildungswesen besteht die Herausforderung, diverse Lehren aus der Covid-19-Pandemie u.a. in Bezug auf Exklusions- und Inklusionsmechanismen zu ziehen. Ein Verständnis von Krise als bildungsrelevanter Erfahrung, die u.a. im Rahmen sportlicher Betätigungen entstehen und bewusst angestrebt werden kann, steht im Zentrum des Beitrages von Sebastian Ruin, Jana Baumgärtner und Christoph Kreinbucher. Unter dem Titel: »Die Krise in der Krise – zum partiellen Verlust bildungsrelevanter Krisenerfahrungen in bewegungs- und sportpädagogischen Kontexten« diskutieren sie die Konsequenzen, die sich aus den während der Covid-19-Pandemie vorgenommenen Einschränkungen sportlicher Betä-

Einleitung

tigungen ergeben haben, und bieten damit zugleich auch Einblick in die soziale Rahmung des Sports und seinen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt. Regina Mikula lotet die Frage nach der Stärkung des sozialen Zusammenhalts mit Blick auf das lokale Wohnumfeld sowie die Menschen, welche die Lebenswelt »Nachbarschaft« konstituieren, aus. In ihrem Beitrag »Lebenswelt Nachbarschaft als Möglichkeitsraum sozialer Kohäsion« werden insbesondere Formen privater Nachbarschaftshilfe während der Covid-19-Pandemie thematisiert und das Spannungsfeld zwischen Fremdheit/Distanz versus temporäre Nähe und Fürsorglichkeit reflektiert. Michael Wrentschur zeigt anhand eines szenisch-partizipativen Forschungsprojektes die krisenhaften Erfahrungen prekärer Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse auf. Der Text »Prekäre Arbeit in und nach der Krise. Szenische Wege der Solidarisierung« veranschaulicht, wie durch künstlerische – im vorliegenden Beispiel theaterpädagogische – Methoden kollektive Erkenntnisprozesse angestoßen und begleitet werden können. Nicht zuletzt ermöglicht der Beitrag ein Nachdenken über partizipative Verfahren zur Entwicklung und Erprobung solidarischer Lösungsstrategien. Unter dem Titel »Menschen mit Behinderung in kollektiven Ausnahmeszenarien. Eine existenzanalytische Betrachtungsweise« erörtert Manfred Sonnleitner in seinem Aufsatz die Frage, wie Menschen, insbesondere jene, die mit einer Behinderung leben, mit Krisenerfahrungen produktiv umgehen können. Ausgehend von Alfried Längles Existenzanalyse und den dort postulierten vier existenziellen Grundmotivationen lotet er Möglichkeiten und Grenzen individueller Krisenbewältigung vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie aus. Ebenfalls das Werk eines Autors und dessen möglichen Beitrag zum Verständnis der Krise rücken Josef Hlade und Rudolf Meer ins Zentrum der Überlegungen. In ihrem Beitrag »Kritischer Realismus und Ideologiekritik. Zur Aktualität von Alois Riehls (1844-1924) wissenschaftlicher Philosophie als trans- und interdisziplinärer Vermittlungsversuch« gehen die beiden Autoren von der Ideologie- und Metaphysikkritik der Zeit um 1900 aus. Welcher Beitrag zur Präzisierung des Verständnisses von Wissenschaft und Abgrenzung von (oft Wissenschaftlichkeit beanspruchenden) Verschwörungstheorien kann daraus gewonnen werden? Hlade und Meer bleiben dabei nicht nur bei theoretischen Überlegungen, sondern behandeln am Fallbeispiel eines als Verschwörungserzählung eingestuften Werkes die Anwendung Riehl’scher Ideologiekritik. Der Beitrag von Yvonne Völkl und Julia Obermayr zu »Lockdown-CoronaFictions als Seismograph für sozialen Zusammenhalt« analysiert kulturelle Repräsentationen der Coronakrise am Beispiel von »Corona Fictions«, wobei dieser

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Begriff Kulturproduktionen in einem breiten Sinne umfasst. Im Mittelpunkt steht dabei die Rolle des Erzählens in seinen unterschiedlichen Formen als Mittel zur Herstellung sozialen Zusammenhalts durch aktive Vernetzung. Besonderes Augenmerk erhalten die neuen, digitalen Kommunikationstechnologien, die die transnationale Verbreitung von audiovisuellen und literarischen Corona Fictions ermöglichen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes wurden einer Peer-ReviewBegutachtung unterzogen. Als Herausgeber*innen des vorliegenden Bandes bedanken wir uns herzlich bei den Gutachter*innen, die durch ihre Arbeit wesentlich zum Gelingen dieses Buchprojektes beigetragen haben. Wir bedanken uns außerdem herzlich bei Elisabeth Stadler für das sorgfältige Korrektorat und den Satz des Manuskriptes. Unser Dank gilt auch dem Land Steiermark und der Universität Graz, die die Open-Access-Publikation finanziell unterstützt haben. Die Idee zu diesem Buch wurde innerhalb des Forschungsnetzwerkes »Heterogenität und Kohäsion« der Universität Graz entwickelt. Wir hoffen, dass die Beiträge des Bandes zu weiterführenden Diskussionen rund um die Auswirkungen von Krisen auf sozialen Zusammenhalt, auch über das Forschungsnetzwerk hinaus, anregen werden. Barbara Ratzenböck, Katharina Scherke, Annette Sprung, Werner Suppanz im Oktober 2022

Literatur Ash, Mitchell. »Krisen der Moderne oder Modernität als Krise? Stimmen aus der Akademie«, in: Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin 19141945, hg. von Wolfram Fischer. Berlin: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, 2007, S. 121-142. Duden. Krise, die, 2022, https://www.duden.de/rechtschreibung/Krise. Aufgerufen am 3. Aug. 2022. Fuchs-Heinritz, Werner und Otthein Rammstedt. »Solidarität«, in: Lexikon zur Soziologie, hg. von Werner Fuchs-Heinritz, Daniela Klimke, Rüdiger Lautmann, Otthein Rammstedt, Urs Stäheli, Christoph Weischer und Hanns Wienold, 5., überarb. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011, S. 619. Holton, Robert J. »The Idea of Crisis in Modern Society«, in: The British Journal of Society, No. 38, 1987, S. 502-520.

Einleitung

Kempter, Klaus und Martina Engelbrecht (Hg.). Krise(n) der Moderne. Über Literatur und Zeitdiagnostik. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2021. Koselleck, Reinhart. »Krise«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie online, hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Basel: Schwabe AG Verlag, 2017 [1976], https://doi.org//10.24894/HWPh.5228. Merkens, Hans. »Bildungskrise«, in: KRISE und ihre Bewältigung in Wirtschaft, Finanzen, Gesellschaft, Medizin, Klima, Geschichte, Moral, Bildung und Politik, hg. von Frank Ettrich und Wolf Wagner. Berlin: LIT, 2010, S. 190-210. Mezirow, Jack. Transformative dimensions of adult learning. San Francisco, CA: Jossey-Bass, 1991. Psota, Georg. »Gemeinsam statt einsam: Wie wir in der Krise psychisch gesund bleiben. 9. April 2020«, in: Protokolle der Krise. Wie Corona unser Leben verändert. Wiener Vorlesungen, hg. von Ulrike Guérot, Christian Korunka, Barbara Prainsack und Georg Psota. Wien: Picus, 2020, S. 47-56. Rammstedt, Otthein. »Krise«, in: Lexikon zur Soziologie, hg. von Werner FuchsHeinritz, Daniela Klimke, Rüdiger Lautmann, Otthein Rammstedt, Urs Stäheli, Christoph Weischer und Hanns Wienold, 5., überarb. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011, S. 382. Reckwitz, Andreas und Hartmut Rosa. Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? Berlin: Suhrkamp, 2021. Reichertz, Jo. Qualitative und interpretative Sozialforschung: Eine Einladung. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2016. Reimann, Bruno W. »Heterogenität, soziale«, in: Lexikon zur Soziologie, hg. von Werner Fuchs-Heinritz, Daniela Klimke, Rüdiger Lautmann, Otthein Rammstedt, Urs Stäheli, Christoph Weischer und Hanns Wienold, 5., überarb. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011, S. 280. Reinhold, Gerd, Siegfried Lamnek und Helga Recker (Hg.). Soziologie-Lexikon, 4. Aufl. München, Wien: R. Oldenbourg, 2000. Rosa, Hartmut. Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp, 2019. Schäfers, Bernhard. »Krise«, in: Grundbegriffe der Soziologie, hg. von Bernhard Schäfers und Johannes Kopp, 10. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010, S. 149-151. Thomas, William I. und Dorothy S. Thomas. The Child in America. Behavior Problems and Programs. New York: Knopf, 1928. Thumfart, Alexander. »Die Krise als Hochzeit politischer Ordnungsreflexion«, in: KRISE und ihre Bewältigung in Wirtschaft, Finanzen, Gesellschaft, Medizin,

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Barbara Ratzenböck, Katharina Scherke, Annette Sprung, Werner Suppanz

Klima, Geschichte, Moral, Bildung und Politik, hg. von Frank Ettrich und Wolf Wagner. Berlin: LIT, 2010, S. 119-146. Tooze, Adam. »Zeitwende oder Polykrise? Das Modell Deutschland auf dem Prüfstand«. Willy Brandt Lecture 2022, 07.09.2022, https://www.youtube .com/watch?v=K80HOp5MOpA. Aufgerufen am 21.10.2022. Walby, Sylvia. »Crisis and society: developing the theory of crisis in the context of COVID-19«, Global Discourse 12 (3-4), 2022, S. 498-516, https://doi.org/1 0.1332/204378921X16348228772103. Walby, Sylvia. Crisis. Cambridge: Polity, 2015.

Sozialer Zusammenhalt in der Krise Überlegungen zu Heterogenität und Kohäsion moderner Gesellschaften im Lichte des Solidaritätskonzeptes Émile Durkheims Katharina Scherke

Abstract Ausgangspunkt für den Beitrag ist die oftmalige öffentliche Thematisierung von sozialem Zusammenhalt während der Covid-19-Pandemie, wobei sowohl eine Gefährdung des sozialen Zusammenhaltes als auch Chancen einer Steigerung desselben durch die Krise konstatiert wurden. Der Beitrag beleuchtet diese Debatte unter Rückgriff auf klassische sozialtheoretische Konzepte – insbesondere jenem der mechanischen und organischen Solidarität Émile Durkheims – und möchte damit für oftmals unausgesprochene Prämissen öffentlich geäußerter Krisenrhetorik sensibilisieren. Insbesondere der häufig konstatierte Zusammenhang zwischen sozialer Heterogenität bzw. Homogenität und sozialer Kohäsion wird dabei beleuchtet und im Hinblick auf die damit verknüpften Vorstellungsbilder und normativen Aufladungen reflektiert.   Keywords: Heterogenität, Kohäsion, Solidarität, Krisenrhetorik

1.

Einleitung

Der Ausdruck »Sozialer Zusammenhalt in der Krise« kann in mehrfacher Weise verstanden werden. Einerseits kann er nahelegen, die Auswirkungen von Krisen, wie etwa der Covid-19-Pandemie, auf das Phänomen sozialen Zusammenhalts zu beleuchten. »Krise« bezeichnet in dieser Verwendungsweise ein konkretes, raum-zeitlich näher bestimmbares Ereignis bzw. eine Kette von Ereignissen, die als Problem wahrgenommen werden und einen Einschnitt in bisher Gewohntes darstellen. Die nähere Analyse dieser Krise, ihrer Ursachen, Erscheinungsformen sowie ihrer gesellschaftlichen

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Auswirkungen – insbesondere ihrer Auswirkungen auf den sozialen Zusammenhalt – stehen in dieser Perspektive im Vordergrund des Interesses. Ob sich der soziale Zusammenhalt in einer Krise verändert, ist dabei eine empirisch zu klärende Frage. Wie die allfälligen Veränderungen des sozialen Zusammenhaltes in der Krisenzeit bewertet werden (im einfachsten Sinne als positiv oder negativ für die betroffene Gesellschaft oder einzelne ihrer Mitglieder), ist eine weitere Frage. Andererseits kann der Ausdruck »Sozialer Zusammenhalt in der Krise« aber auch eine »Krise« sozialen Zusammenhaltes selbst suggerieren, unabhängig davon, ob diese durch ein oder mehrere außergewöhnliche Ereignisse ausgelöst wird oder auf allmählichen sozialen Wandel zurückzuführen ist. Der Ausdruck »Krise« wird hierbei nicht als Hinweis auf ein konkretes raum-zeitliches Ereignis verwendet, sondern als Hinweis auf eine (zumeist unerwünschte) Veränderung von etwas, in diesem Fall des sozialen Zusammenhaltes. Im Gegensatz zur zuvor genannten Perspektive, bei der prinzipiell auch ein Gleichbleiben oder eine Stärkung des Zusammenhaltes denkbar ist, erscheint im zweiten Verständnis von »in der Krise« sozialer Zusammenhalt jedenfalls gefährdet oder zumindest fragil. In der Verknüpfung beider Perspektiven ergibt sich die Frage, wie sich sozialer Zusammenhalt in Krisenzeiten entwickelt und ob er durch Krisen »in die Krise« gebracht wird? Eine Beantwortung dieser Fragen setzt eine Reihe von Begriffsklärungen und sozialtheoretischen Überlegungen voraus, zu denen im Folgenden unter Bezugnahme auf klassische Konzepte Émile Durkheims und anderer Autoren der frühen Soziologie ein Beitrag geleistet werden soll. Die Ausführungen streben dabei keine (neue) Definition sozialen Zusammenhaltes oder der Krise an, sondern möchten für die Komplexität der Begriffe sensibilisieren, deren Verknüpfungen und Implikationen in der öffentlichen wie auch sozialwissenschaftlichen Diskussion mitunter wenig reflektiert werden. Ein weiterer Ausgangspunkt des Beitrages ist die öffentliche Thematisierung von sozialem Zusammenhalt zu Beginn der Covid-19-Pandemie, welche vor dem Hintergrund klassischer sozialtheoretischer Konzepte – insbesondere jenem Émile Durkheims – beleuchtet wird. Dabei wird vor allem der häufig konstatierte Zusammenhang zwischen sozialer Heterogenität/Homogenität und sozialer Kohäsion thematisiert, der, wie zu zeigen sein wird, nicht nur in klassischen soziologischen Debatten eine Rolle spielte, sondern implizit auch in aktuellen öffentlichen Diskussionen, die sich zumeist auf den Zusammenhalt innerhalb von Staaten beziehen, angesprochen wird. Der Beitrag hofft damit zum Verständnis oftmals unausgesprochener Prämissen öffentlich ge-

Sozialer Zusammenhalt in der Krise

äußerter Krisenrhetorik während der Covid-19-Pandemie beitragen zu können. Im Hinblick auf die Covid-19-Pandemie lassen sich unterschiedliche Deutungsmuster der Krise und ihrer Auswirkungen auf den sozialen Zusammenhalt finden. Es gibt sowohl Annahmen einer Stärkung des Zusammenhaltes durch gemeinsam erlebte (und bewältigte) Krisenerfahrungen als auch jene einer Schwächung desselben. Im ersten Fall wird vermutet, dass die Bedrohung – in diesem Fall gesundheitlicher Art – die Mitglieder eines Gemeinwesens näher zusammenrücken lässt; alltägliche Differenzen würden im Angesicht der als umfassend erlebten Krise in den Hintergrund treten; Gemeinsamkeiten – zumindest das gemeinsame Ausgeliefertsein gegenüber der schicksalhaften Bedrohung – würden in den Vordergrund rücken. Die Krise wird hier gewissermaßen als Chance für eine Stärkung des sozialen Zusammenhaltes beurteilt (vgl. z.B. Kühne et al. 2020: 15; Diem und Tönnesmann 2020; Lessenich 2020a: 225). Eine gegenläufige Annahme vermutet, dass Krisen vorher bereits vorhandene Konfliktlinien in einer Gesellschaft verstärken oder besonders sichtbar machen und damit einen ohnehin schon gefährdeten sozialen Zusammenhalt weiter schwächen. Die Krise fungiert hier gewissermaßen als Brennglas, das vorhandene Konflikte bündelt und verstärkt (vgl. z.B. Grimm et al. 2022; Fratzscher 2021). Unabhängig davon, ob die Krise als Chance für den sozialen Zusammenhalt betrachtet wird oder als Brennglas seiner Probleme, sozialer Zusammenhalt wird offenbar vor allem thematisierbar und erklärungsbedürftig in Anbetracht seiner potenziellen Gefährdung (dies zeigte sich schon in den Ansätzen der soziologischen »Klassiker«, die ihre Ideen zum sozialen Zusammenhalt vor dem Hintergrund der umfassenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse des 19. Jahrhunderts entfalteten, die häufig auch als Krisen wahrgenommen und als solche bezeichnet wurden, vgl. Prisching 1986: 20). Krisen werfen grundlegende Fragen nach den Kennzeichen moderner Gesellschaften im Zustand vor der Krise auf und wirken somit auch inspirierend auf sozialtheoretische Diskussionen (vgl. Thiessen et al. 2019).      

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2.

Begriffliche Vorbemerkungen und Diskussionspunkte

Die Begriffe »sozialer Zusammenhalt«, »Krise« und auch »gesellschaftliche Heterogenität/Homogenität« können auf eine je lange Geschichte unterschiedlicher Verwendungsweisen und damit verknüpfter Vorstellungsbilder, inklusive entsprechender normativer Aufladungen, zurückblicken. Im Folgenden sollen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige für die folgenden Ausführungen wichtige Facetten dieser Begriffsgeschichte angesprochen werden.

2.1

Sozialer Zusammenhalt

Das Sprechen von einer Krise des sozialen Zusammenhaltes oder auch die Überprüfung seiner Veränderungen im Zuge von Krisen setzt eine nähere Beschreibung dessen, was unter sozialem Zusammenhalt verstanden wird und wie er allenfalls operationalisiert werden kann, voraus, wobei in der sozialwissenschaftlichen Literatur bisher keine einheitliche Definition sozialen Zusammenhaltes existiert (vgl. Schiefer und van der Noll 2017: 580). Das 2020 in Deutschland zu diesem Thema gegründete Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) etwa hat sich daher zum Ziel gesetzt, unterschiedliche Perspektiven und Zugänge zur Erforschung gesellschaftlichen Zusammenhalts zu bündeln, und widmet sich dabei auch der Diskurs- und Ideengeschichte des Themas (vgl. FGZ). Inter- bzw. transdisziplinäre Zusammenarbeit wird angesichts der Thematik sozialer Kohäsion jedenfalls verschiedenenorts als erforderlich erachtet (vgl. Scherke 2015; Deitelhoff et al. 2020: 16). Häufig werden »sozialer Zusammenhalt« und »Solidarität« synonym verwendet, wobei auch der Begriff Solidarität vieldeutig ist und zumeist ebenfalls eine normativ-moralische Aufladung findet (vgl. Lessenich 2020a: 224; Lessenich 2020b: 115; zur Bedeutungsvielfalt des Solidaritätsbegriffs vgl. Tranow 2012: 13). Trotz seiner uneinheitlichen Konzeption in den Sozialwissenschaften ist sozialer Zusammenhalt ein wichtiges Thema im politischen und öffentlichen Diskurs, und zwar nicht erst seit der Coronakrise (vgl. Borrmann, Fedke und Thiessen 2019: 1; Deitelhoff et al. 2020: 13; Quent et al. 2020: 73-74). Defizite sozialer Kohäsion werden bemängelt bzw. Möglichkeiten der (Wieder-)Herstellung von Kohäsion gesucht. Unterschiedlich große Gruppen von Menschen dienen dabei als Bezugspunkte für die Rede von sozialem Zusammenhalt. Sowohl kleinere soziale Netzwerke als auch Staaten oder supranationale Ge-

Sozialer Zusammenhalt in der Krise

bilde, wie die EU, können im Hinblick auf vorhandenen oder mangelhaften sozialen Zusammenhalt im Fokus stehen. Je nach Begriffsverständnis variieren die vorgeschlagenen empirischen Operationalisierungen sozialen Zusammenhaltes, die zur (mitunter ländervergleichenden) Messung seiner Zu- oder Abnahme herangezogen werden (vgl. Schiefer und van der Noll 2017: 584-585). Nicht selten schwingt bei diesen Messversuchen auch der Anspruch mit, der Politik Ansatzpunkte für eine Verbesserung sozialer Kohäsion liefern zu können (vgl. Schiefer und van der Noll 2017: 595). Die Bandbreite der zur Operationalisierung herangezogenen Faktoren reicht von der Erhebung geteilter Werte in einer Gesellschaft über geäußerte Zugehörigkeitsgefühle bis hin zum Ausmaß der Partizipation in sozialen Netzwerken (vgl. Schiefer et al. 2012: 16). Einigkeit zwischen den verschiedenen Ansätzen besteht nur insofern, als sozialer Zusammenhalt als multidimensionales Konstrukt und Merkmal von Gruppen (nicht von Individuen) gesehen wird. Schiefer et al. haben einen Überblick verschiedener Definitionskomponenten erstellt und dabei eine Gliederung nach drei Aspekten vorgenommen: ideelle Faktoren (z.B. etwa geteilte Wertvorstellungen oder Verbundenheitsgefühle zwischen den Individuen in einer Gesellschaft), relationale Faktoren (z.B. das Ausmaß der Beziehungen und Netzwerke in einer Gesellschaft) und distributive Faktoren (z.B. das Ausmaß der (Un-)Gleichheit in einer Gesellschaft) (vgl. Schiefer et al. 2012: 18). An dieser Stelle kann nicht näher auf die Probleme der Messung sozialer Kohäsion eingegangen werden, es sollen lediglich einige prinzipielle Fragen angesprochen werden. Zum Beispiel ist es umstritten, ob das Vorhandensein gemeinsamer Werte zum Definitionsbestandteil sozialer Kohäsion gehört. Die Definition des sogenannten »Kohäsionsradars«, welches von Schiefer et al. (2012) für Deutschland in Zusammenarbeit mit der Bertelsmannstiftung entwickelt wurde, bezieht gemeinsame Werte nicht in die Definition mit ein, sieht diese aber als Einflussfaktor für die anderen Kennzeichen sozialer Kohäsion, welche als »Soziale Beziehungen«, »Verbundenheit« und »Gemeinwohlorientierung« beschrieben werden. Andere Ansätze, wie etwa jener des SOEP (Socio-Economic Panel) des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW), erwähnen eine »gemeinsame Wertbasis und als fair akzeptierte demokratische Grundordnung« (Kühne et al. 2020: 2) durchaus als Teilfaktoren sozialen Zusammenhaltes. Ebenso ist umstritten, ob das Ausmaß der (ökonomischen) Gleichheit/Ungleichheit in einer Gesellschaft Teil der Definition sozialen Zusammenhaltes sein sollte oder als eine seiner Determinanten zu werten ist (vgl. Schiefer et al. 2012: 18-22). Während Schiefer et al. das Ausmaß an Gleichheit in ihrer Definition nicht

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berücksichtigten, gehen etwa Thiessen et al. (2019: 2) davon aus, dass soziale Gerechtigkeit sowie die Steigerung von Teilhabe und Lebensbewältigungskompetenzen benachteiligter Gruppen zum sozialen Zusammenhalt beitragen bzw. diesbezügliche Defizite auch Defizite des sozialen Zusammenhaltes aufzuzeigen in der Lage sind. In der Coronakrise wurde im Rahmen entsprechender empirischer Erhebungen zu Beginn ein Anstieg des sozialen Zusammenhaltes festgestellt, so etwa in den Erhebungen des SOEP für Deutschland (vgl. Kühne et al. 2020: 10-14). Dies wurde vor allem auf das persönliche Erleben zwischenmenschlicher Unterstützung und Nachbarschaftshilfe zurückgeführt. Ähnliche Befunde zeigte für Österreich auch das Corona-Panel der Universität Wien (vgl. Austrian Corona Panel Project 2020). Im weiteren Verlauf der Pandemie kam es allerdings zum Nachlassen dieses Effektes und es wurden vermehrt Spaltungstendenzen in der Gesellschaft festgestellt (vgl. Grimm et al. 2022; Kittel 2020; Lebernegg und Kalleitner 2020; Aichholzer und Rohs 2021). Die Krise bietet offenbar Ansatzpunkte für beides: Chancen zur Steigerung des Zusammenhaltes als auch Gefahren einer Schwächung desselben.

2.2

Krise

Auf die umfangreiche Begriffsgeschichte des Terminus »Krise« kann hier nur kurz hingewiesen werden. Die neuzeitliche Verwendung des Begriffs bezog sich lange Zeit auf den medizinischen Bereich und wurde allmählich auf den politischen und vor allem den wirtschaftlichen Bereich ausgeweitet (vgl. Koselleck 1982; 2017). Der Übergang zwischen den Begriffen »sozialer Wandel« (vgl. auch Hillmann 2007: 953-954) und »Krise« ist ein fließender; insbesondere abrupter sozialer Wandel wird vielfach als Krise wahrgenommen, wobei im Unterschied zur Krise der Begriff »sozialer Wandel« auf eine dauerhaftere Veränderung des gesellschaftlichen Zustandes verweist, während »Krise« häufig zeitlich befristet und damit auch überwindbar erscheint. Diese »Überwindung« kann entweder in einer versuchten Rückkehr zum Ausgangszustand bestehen oder eine Adaption an neue Rahmenbedingungen bedeuten, wodurch letztlich sozialer Wandel eingeleitet wird. Sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Krisenerörterungen beziehen sich häufig auf derart längerfristige Transformationsprozesse, die strukturelle Veränderungen des gesellschaftlichen »Ganzen« mit sich bringen (vgl. Prisching 1986: 22-23). Die Vieldeutigkeit des Begriffs »Krise« kann als Hinweis auf seinen Charakter als geschichtlicher Grundbe-

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griff im Sinne Kosellecks gesehen werden, der sich dadurch auszeichnet, dass er unterschiedliche historische Erfahrungen zum Ausdruck bringt und sein Bedeutungswandel insofern auch Einblick in den Wandel des Selbstverständnisses der jeweiligen Zeitgenoss*innen geben kann (vgl. Richter und Richter 2006: 345-348). Der Ausdruck »Krise« wurde – abgesehen von seiner häufigen Erwähnung im Zusammenhang mit Problemwahrnehmungen – in der Soziologie bis heute kaum theoretisch vertieft, wie auch Peukert feststellt: »Die Definition des Begriffs wird jedoch gerade in aktuellen Studien von einem Alltagsverständnis abgeleitet, weshalb der Begriff eine hohe Signalwirkung, aber nur eine geringe theoretische Unterfütterung aufweist.« (Peukert 2011: 439). Hinzu kommt, dass das Sprechen von Krisen in modernen Gesellschaften weit verbreitet ist, scheinbar zu deren »Normalzustand« gehört, und keineswegs erst mit der Corona-Krise Einzug in das öffentliche und sozialwissenschaftliche Bewusstsein fand (vgl. Prisching 1986: 15). Die Finanz-, die Migrationsoder die Klimakrise wären einige Beispiele aus jüngerer Zeit (vgl. auch Lessenich 2020a: 217), aber auch davor gab es zahlreiche Krisen – insbesondere wirtschaftlicher Art –, die breit thematisiert wurden. Koselleck hatte bereits 1982 auf den inflationären Gebrauch des Terminus »Krise« im 20. Jahrhundert hingewiesen (vgl. Koselleck 1982: 649). Das Ausmaß der Betroffenheit durch diese Krisen variierte in erheblichem Ausmaß zwischen einzelnen Weltregionen und auch zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsteilen in diesen. Die Coronakrise, mit ihren für breite Bevölkerungsteile, auch in sozioökonomisch besser gestellten Weltregionen, spürbaren Auswirkungen auf Alltagsroutinen, wird auch deswegen im Unterschied zu anderen Krisen der letzten Jahrzehnte als besonders wirkmächtig – gar als Zeitenwende – wahrgenommen (vgl. Lessenich 2020a: 218; Schulze 2020: 299). Hinzu kommt, dass die Coronakrise mit ihren sozio-ökonomischen Folgen in der Lage ist, andere aktuelle Krisen zu verschärfen – man denke etwa an die Klimakrise oder auch die Fragen sozialer Nachhaltigkeit. Klaus Dörre nennt dies auch eine »epochale Zangenkrise« (Dörre 2020: 167) aus Ökonomie und Ökologie, welche im Übrigen nicht nur durch die Covid-19-Pandemie verschärft wird, sondern aktuell auch durch die internationalen Folgen des Ukraine-Krieges.        

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2.3

Soziale Heterogenität/Homogenität

Die Begriffe »Heterogenität« und »Homogenität« dienen nicht nur der analytischen Beschreibung von Gesellschaftszuständen, sondern sie beinhalten, wie auch die zuvor genannten Begriffe, häufig eine implizite oder explizite Bewertung der jeweiligen Zustände und unterliegen solcherart auch gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen (vgl. auch Reckwitz 2017: 394-405). Es stellt sich dabei die Frage nach dem wünschenswerten Ausmaß von Homogenität und Heterogenität: Kann es ein »Zuviel« oder »Zuwenig« davon geben? Gleiches gilt im Übrigen auch für sozialen Zusammenhalt, der – wie oben beschrieben – vielfach als wünschenswert dargestellt wird. Kann es auch ein »Zuviel« des Zusammenhaltes geben und was sind die Konsequenzen eines übergroßen Zusammenhaltes (vgl. Schiefer et al. 2012: 24-25)? Sowohl Homogenität als auch Heterogenität der Gesellschaftsmitglieder können, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, zu sozialem Zusammenhalt beitragen. Es stellt sich jedoch die Frage nach dem jeweils als funktional betrachteten Ausmaß davon und den Konsequenzen bei Überschreiten desselben. Was sind etwa die Konsequenzen eines »Zuviels« an Homogenität? Etwa Ausgrenzung jener, die der Homogenitätserwartung nicht entsprechen und damit mangelnde Dynamik und Kreativität der entsprechenden Gesellschaft (vgl. Schiefer et al. 2012: 24)? Was sind die Folgen eines »Zuviels« an Heterogenität? Etwa mangelndes Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen (vgl. Schiefer et al. 2017: 588)? Die Frage des Zusammenhangs zwischen sozialer Homogenität/ Heterogenität und Kohäsion wurde in der Soziologie schon im Hinblick auf den als rasch empfundenen sozialen Wandel des 18. und 19. Jahrhunderts thematisiert. Die Zeitgenoss*innen (und nachfolgende Autor*innen) verwendeten für diesen Wandel und seine gesellschaftlichen Folgen auch den Begriff der Krise (vgl. Prisching 1986: 20). Die Soziologie gilt manchen überhaupt als Krisenwissenschaft (vgl. Hillmann 2007: 467), bildeten doch die zahlreichen gesellschaftlichen Veränderungen seit der Aufklärung den Hintergrund, vor dem die »Klassiker« des Faches ihre Überlegungen (in denen nicht selten der Wunsch einer Gestaltbarkeit sozialer Ordnung und der Überwindung von Krisen mitschwang) entwickelten und die Soziologie als eigenständige Wissenschaftsdisziplin zu etablieren suchten (vgl. Mikl-Horke 2012: 5-18; Rosa et al. 2018: 1-31). Der Modernisierungsprozess (beschreibbar u.a. durch die Phänomene Industrialisierung, Urbanisierung,

Sozialer Zusammenhalt in der Krise

Demokratisierung, Säkularisierung, Individualisierung; vgl. Haring und Scherke 2000: 13-25; Scherke 2020) hatte zur Herauslösung der Menschen aus traditionalen sozialen Bindungen geführt und die Freiheitsgrade des Handelns, und damit des Gestaltungsspielraums für die Einzelnen, erhöht, wodurch zugleich Individualität und damit die Unterschiedlichkeit der Gesellschaftsmitglieder anstieg. Autoren wie Herbert Spencer oder Émile Durkheim rückten vor diesem Hintergrund die Frage, was die Gesellschaft angesichts ihrer zunehmenden Heterogenität zusammenhält, ins Zentrum ihrer Überlegungen. Bis heute zieht sich die grundlegende Frage durch die wissenschaftliche, und indirekt auch öffentliche, Diskussion, wie angesichts der Heterogenität moderner Gesellschaften deren Zusammenhalt möglich ist? (Diese Frage bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für interdisziplinäre Forschungen, wie unter Hinweis auf die Aktivitäten des Forschungsnetzwerks »Heterogenität und Kohäsion« der Universität Graz deutlich gemacht werden kann, vgl. http s://huk.uni-graz.at/de/). Bei der Verwendung der Begriffe Heterogenität und Homogenität ist allerdings Folgendes zu beachten: In klassischen Sozialtheorien findet sich vielfach eine dichotome Vorstellung einer Unterscheidbarkeit zwischen früheren, »traditionalen« Gesellschaften und jüngeren, »modernen« Gesellschaften. Die Skizzierung der traditionalen Gesellschaften dient dabei zumeist als Kontrastfolie, vor deren Hintergrund die modernen Gesellschaften beschrieben werden (vgl. zum Modernebegriff Scherke und Celestini 2004: 348-355). Begleitet werden diese dichotomen Gegenüberstellungen durch die Vorstellung, dass frühere Gesellschaften homogen, d.h. durch eine große Ähnlichkeit ihrer Mitglieder gekennzeichnet gewesen seien, die deshalb auch einen engen sozialen Zusammenhalt aufgewiesen hätten. Insbesondere bei der Übertragung derartiger Vorstellungen auf heutige Gesellschaften darf nicht vergessen werden, dass Homogenitätsannahmen sich immer auf bestimmte, als wichtig erachtete Merkmale stützen (z.B. gemeinsame Sprache, Ethnie, Religion etc.) und die grundlegende Vielfalt individueller menschlicher Erfahrungshintergründe bewusst im Sinne einer Komplexitätsreduktion ausblenden. Umgekehrt vernachlässigt eine Perspektive, die die Unterschiedlichkeit menschlicher Erfahrungshintergründe hervorhebt, dass situativ stets auch Gemeinsamkeiten vorhanden sind (die etwa durch ähnliche Ressourcenausstattung, einen ähnlichen Lebensstil, ähnliche Generationserfahrungen oder Klassenlagen gegeben sind). Die Frage nach der Homogenität oder Heterogenität von Gesellschaften muss solcherart jeweils als vereinfachende Perspektivierung

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verstanden werden, die der Veranschaulichung ausgewählter gesellschaftlicher Mechanismen und komplexer Problemlagen dienlich sind. Sie dürfen aber weder im Hinblick auf »traditionale« noch auf »moderne« Gesellschaften als letztgültige und einander ausschließende Beschreibungen derselben verstanden werden. Dies muss beachtet werden, wenn an diese Dichotomie angelehnte Denkmuster in heutigen öffentlichen Diskussionen auftauchen bzw. darin nachwirken. Die Frage des sozialen Zusammenhaltes angesichts von gesellschaftlicher Heterogenität erhielt in der Covid-19-Pandemie verstärkte Aufmerksamkeit. Im öffentlichen Diskurs wurden dabei Argumente sichtbar, die auf eine Stärkung der »mechanischen« Art von Solidarität im Sinne Durkheims abzielen, bei der die Ähnlichkeit der Gesellschaftsmitglieder und ein starkes moralisches Kollektivbewusstsein die Gemeinschaften zusammenhalten. Durkheim hatte aber gezeigt, dass moderne Gesellschaften eigentlich eine andere Art von Solidarität benötigen, nämlich eine, die die wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Gesellschaftsmitgliedern zur Basis des Zusammenhaltes macht.

3.

Die Konzepte mechanischer und organischer Solidarität bei Émile Durkheim

Im Folgenden sollen kurz Durkheims Überlegungen zur Solidarität in modernen Gesellschaften präsentiert werden (ohne dabei die unterschiedlichen Akzentsetzungen im Laufe der Entwicklung seines Werkes nachzeichnen zu können, vgl. dazu u.a. Müller und Schmid 1988: 511; Dallinger 2009: 48), bevor kurz auf die öffentliche Debatte während der Covid-19-Pandemie eingegangen wird. Im Sinne einer systematischen Erforschung gesellschaftlicher Zusammenhänge müssen aus Sicht Durkheims sowohl diachrone als auch synchrone Vergleiche zwischen Gesellschaften durchgeführt werden, um zu verstehen, wie ein soziales Phänomen entstanden ist und was seine Funktionen für eine Gesellschaft waren/sind (vgl. Müller und Schmid 1988: 483). Ein zentrales Thema in Durkheims Arbeiten war dabei die Frage, wie sich Solidarität in modernen, durch Arbeitsteilung gekennzeichneten Gesellschaften entwickelt. Das Phänomen Arbeitsteilung beschäftigte vor ihm schon zahlreiche Denker*innen seit der Aufklärung. Durkheim rückt gegenüber den vom methodo-

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logischen Individualismus geprägten Ansätzen der schottischen Aufklärung (etwa bei Adam Smith [1723-1790]) eine holistische Perspektive in den Vordergrund, die sozialen Zusammenhalt letztlich nicht aus den Handlungsmotiven von Individuen ableitet, sondern den Funktionszusammenhang der Gesellschaft als Ganzes zum Ausgangspunkt der Überlegungen macht. Sah Adam Smith 1776 noch in der individuellen Nutzenverfolgung die Ursache von entstehender Arbeitsteilung und daraus resultierendem verbesserten Allgemeinwohl (welches allerdings neben dem Eigeninteresse von Individuen auch die Wirkung von »moral sentiments« zur Voraussetzung hat, vgl. Smith 1977: 7-9, 18; Smith 2002: 47-49; Mikl-Horke 2012: 30), so erweist sich Arbeitsteilung bei Durkheim als Phänomen, das aus der zunehmenden Dichte der Bevölkerung resultiert und über Spezialisierung zur wechselseitigen Abhängigkeit führt, welche letztlich die Grundlage des Zusammenhalts in modernen Gesellschaften bildet (wobei – wie weiter unten gezeigt wird – auch Durkheim die moralische Dimension des Zusammenhaltes betonte). Ein derart holistischer Zugang wurde auch von Herbert Spencer (1820-1903) vertreten (vgl. Mikl-Horke 2012: 34), von dem sich Durkheim aber insofern abgrenzt, als er dessen utilitaristische Grundhaltung nicht übernimmt (vgl. Durkheim 1988: 469; Müller und Schmid 1988: 494; Dallinger 2009: 59). Spencer hatte bereits 1862 mit seiner Idee von der unzusammenhängenden Homogenität, welche sich zu einer zusammenhängenden Heterogenität entwickelt, einen wichtigen Grundgedanken zur Charakterisierung des Unterschiedes zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften formuliert, der das Spannungsfeld zwischen zunehmender Unterschiedlichkeit der Individuen und trotzdem vorhandener gesellschaftlicher Solidarität beschrieb (vgl. Spencer 2009: 489, 495; vgl. Kruse 2008: 44-45). Während Smith und Spencer Arbeitsteilung prinzipiell positiv im Hinblick auf den Zusammenhalt moderner Gesellschaften beurteilten, betonte Ferdinand Tönnies (1855-1936), um noch einen weiteren wichtigen Referenzautor für Durkheim zu nennen, die potenziell negativen Konsequenzen der Arbeitsteilung für den sozialen Zusammenhalt. In seinem Werk Gemeinschaft und Gesellschaft, welches 1887 erstmals erschien, stellte Tönnies Gemeinschaften, die u.a. durch Gefühle der Sympathie und gemeinsame Werte zusammengehalten werden, diesbezüglich den Gesellschaften gegenüber, für die er fortgeschrittene Arbeitsteilung und das Überwiegen unpersönlicher Zweck-Mittel-Beziehungen konstatierte, wodurch sozialer Zusammenhalt letztlich nicht natürlich entstehe, sondern nur gedanklich konstruiert werde (vgl. Mikl-Horke 2012: 102-105; vgl. Müller und Schmid 1988: 484-488).

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»Gemeinschaft ist das dauernde und echte Zusammenleben, Gesellschaft nur ein vorübergehendes und scheinbares. Und dem ist es gemäß, daß Gemeinschaft selber als ein lebendiger Organismus, Gesellschaft als ein mechanisches Aggregat und Artefact verstanden werden soll.« (Tönnies 2019: 126) Gemeinschaft und Gesellschaft werden von Tönnies als zwei verschiedene Formen sozialen Zusammenhalts konzipiert und nicht als Bezeichnungen für historisch aufeinanderfolgende Phasen verwendet; wenngleich er ein allmähliches Überwiegen der gesellschaftlichen Form des Zusammenhaltes in modernen Gesellschaften vermutete. Die Frage, wodurch sozialer Zusammenhalt in modernen Gesellschaften zustande kommt und wie soziale Ordnung trotz zunehmender individueller Freiheiten aufrechterhalten werden kann, zieht sich von Beginn an durch das Werk Émile Durkheims (1858-1917), der mit seinen diesbezüglichen Überlegungen wesentlich zur Etablierung der Soziologie als eigenständiger Wissenschaftsdisziplin in Frankreich und darüber hinaus beigetragen hat (vgl. Müller und Schmid 1988: 482). Sozialer Zusammenhalt wird bei Durkheim durch den Begriff Solidarität beschrieben, der bei ihm aber, im Unterschied zu auch heutigen alltagssprachlichen Verwendungsweisen, nicht nur eine Einstellung der Individuen bezeichnet, die darin besteht, sich wechselseitig Beistand zu leisten, sondern ein umfassendes Konzept sozialer Ordnung repräsentiert. Bereits in seinem 1893 erschienenen Werk De la division du travail social. Études sur l’organisation des sociétés supérieures (Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften) rückt Durkheim zwei Formen gesellschaftlicher Solidarität in den Vordergrund: die mechanische und die organische Solidarität. Zu beachten ist dabei, dass die Begriffe mechanisch und organisch bei ihm im Unterschied zu Tönnies mit einem jeweils anderen Bedeutungsbild verknüpft werden (vgl. Mikl-Horke 2012: 105-106). Solidarität ist bei Durkheim »eine Form der Soziabilität, die den Zusammenhang zwischen der Struktur und Funktionsweise einer Gesellschaft – ihrer sozialen Organisation – und ihrem Regel- und Wertsystem – d.h. ihrer Moral – bezeichnet.« (Müller und Schmid 1988: 490). Die idealtypisch einander gegenübergestellten Formen der Solidarität, die zugleich auch als kennzeichnend für traditionale Gesellschaften (mechanische Solidarität) und moderne Gesellschaften (organische Solidarität) herangezogen werden, unterscheiden sich dadurch, dass jeweils ein anderes Grundprinzip für den Zusammenhalt der Gesellschaft sorgt. In früheren, segmentär organisierten Gesellschaften ist es die Ähnlichkeit der Mitglieder, in modernen, arbeitsteiligen

Sozialer Zusammenhalt in der Krise

Gesellschaften ist es die Abhängigkeit der Mitglieder voneinander, die die Basis für den Zusammenhalt bildet. Traditionale Gesellschaften mit geringer Arbeitsteilung weisen ein hohes Kollektivbewusstsein auf, d.h. ein starkes gemeinsames Regel- und Wertsystem, das durch repressives Recht, welches Abweichungen der Mitglieder negativ sanktioniert, aufrechterhalten wird (vgl. Durkheim 1988: 116-117). Moderne Gesellschaften verfügen demgegenüber nur über ein schwaches Kollektivbewusstsein, d.h. wenige gemeinsame Regeln und Werte. Die dominante Rechtsform ist dementsprechend auch das restitutive Recht, welches Verstöße gegen einzelne Regeln im Sinne der Wiedergutmachung des Schadens sanktioniert, nicht aber als Angriff auf das Kollektiv als Ganzes wertet (vgl. Müller und Schmid 1988: 490-491). Solidarität ergibt sich im Fall traditionaler Gesellschaften mechanisch, als quasi automatische Folge der Einbindung der einander ähnlichen Individuen in eine durch eine gemeinsame Moral zusammengehaltene Gesellschaft. Individualität existiert in diesen Gesellschaften so gut wie nicht. Dies ändert sich in modernen, durch Arbeitsteilung gekennzeichneten Gesellschaften, in welchen Individuen sich zunehmend voneinander zu unterscheiden beginnen, und zwar nicht nur durch ihre unterschiedlichen Tätigkeiten, sondern auch im Hinblick auf unterschiedliche moralische Werthaltungen. Die wechselseitige Abhängigkeit bindet diese Individuen organisch, d.h. vergleichbar zum Funktionszusammenhang von Organen in einem Körper, aneinander (vgl. Müller und Schmid 1988: 492-493). Durkheim betont dabei, dass es nicht die individuellen Interessen sind, die die Basis für den Zusammenhalt bilden, sondern dass es auch in modernen Gesellschaften einer moralischen Verpflichtung der Individuen bedarf, die aber anders gelagert ist als in traditionalen Gesellschaften. »Denn wo das Interesse allein regiert, ist jedes Ich, da nichts die einander gegenüberstehenden Egoismen bremst, mit jedem anderen auf dem Kriegsfuß, und kein Waffenstillstand kann diese ewige Feindschaft auf längere Zeit unterbrechen. Das Interesse ist in der Tat das am wenigsten Beständige auf der Welt. Heute nützt es mir, mich mit Ihnen zu verbinden; morgen macht mich derselbe Grund zu Ihrem Feind.« (Durkheim 1988: 260). Die Vielfalt moralischer Bezüge führt dazu, dass es sich bei der Solidarität ermöglichenden Form der Moral um eine Minimalmoral, im Sinne der Einhaltung notwendiger Kooperationsregeln und letztlich der Wertschätzung von Individualität selbst (vgl. Dallinger 2009: 49, 67-69), handelt. Durkheim sah diese Moral in einen quasi religiösen Kult des Individuums mündend, der

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auch Ausdruck in den Menschenrechten fand. Nicht Egoismus sei die Folge dieser Wertschätzung des Individuums, sondern gerade ein Gefühl der Gemeinsamkeit, wie Durkheim bereits 1898 in seinem anlässlich der DreyfusAffäre entstandenen Aufsatz »L’individualisme et les intellectuels« (Der Individualismus und die Intellektuellen) geschrieben hatte: »Der so verstandene Individualismus ist definitiv die Glorifizierung nicht des Ichs, sondern des Individuums im allgemeinen. Seine Triebfeder ist nicht der Egoismus, sondern die Sympathie für alles, was Mensch ist, ein größeres Mitleid für alle Schmerzen, für alle menschlichen Tragödien, ein heftigeres Verlangen, sie zu bekämpfen und sie zu mildern, ein größerer Durst nach Gerechtigkeit. Ist das nicht genug, um in allen Menschen guten Willens das Gefühl der Gemeinsamkeit zu wecken?« (Durkheim 1986: 60). Er erteilte mit dieser Herleitung des moralischen Individualismus aus dem Kollektiv insbesondere utilitaristischen Vorstellungen eine Absage. »Moralisch ist, könnte man sagen, alles, was Quelle der Solidarität ist, alles, was den Menschen zwingt, mit dem anderen zu rechnen, seine Bewegungen durch etwas anderes zu regulieren als durch die Triebe seines Egoismus […].« (Durkheim 1988: 468) Auch der individualistischen Moral wohnt also ein gewisser Zwangscharakter inne (vgl. Kron und Reddig 2003: 166). Arbeitsteilung erzeugt ein ganzes System an Rechten und Pflichten in einer Gesellschaft und bindet auf diese Weise die Individuen dauerhaft aneinander (vgl. Durkheim 1988: 471, 477). Solidarität ergibt sich letztlich also aus der Kombination von Verbundenheitsgefühlen (die durch Abhängigkeitssituationen in modernen Gesellschaften entstehen) und sozialer Kontrolle moralischer Normen, die den Egoismus der Individuen zügeln (vgl. Tranow 2012: 18). Solidarität ist dabei durchaus gefährdet, in Anomie umzuschlagen; diese »stellt sich überall da ein, wo neuartige Organe und Funktionen entstanden sind, ohne daß sich in gleicher Weise und entsprechendem Umfang Regeln der Kooperation und damit soziale Bande ausbilden konnten.« (Müller und Schmid 1988: 501-502) Wie auch Hans-Peter Müller und Michael Schmid betonen, braucht es aus Sicht Durkheims zur Entstehung der solidaritätsstiftenden Regeln weder die ordnende Hand eines Staates noch Verträge auf Basis individueller Interessen, sondern lediglich regelmäßigen Kontakt und ausreichend Zeit zur Festigung der Verbindungen, die letztlich auch zur Entstehung einer symbolischen Ordnung, die den Wert des einzelnen Individuums unterstreicht, beitragen (vgl. Müller und Schmid 1988: 502). Rascher sozialer Wandel und Krisenereignisse erweisen sich in dieser Sichtweise als besonders problematisch für die Aufrechterhaltung von Solidarität (vgl. Durkheim 1988: 478-479). Trotz des

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Hinweises auf die potenziellen Gefahren für die Entstehung und Aufrechterhaltung organischer Solidarität (insbesondere durch den raschen sozialen Wandel) vertritt Durkheim die optimistische Sicht, dass zunehmende Individualität in modernen Gesellschaften und moralischer Zusammenhalt der Gesellschaft einander nicht ausschließen, sondern sogar bedingen (vgl. Müller und Schmid 1988: 506). »Zu Unrecht stellt man also die Gesellschaft, die aus der Gemeinschaftlichkeit des Glaubens entsteht, der Gesellschaft gegenüber, die auf der Zusammenarbeit beruht, indem man nur der ersten einen moralischen Charakter zubilligt und in der zweiten nur eine wirtschaftliche Gruppierung sieht. In Wirklichkeit hat gerade die Zusammenarbeit ebenfalls ihre eigenständige Moralität.« (Durkheim 1988: 285) Durkheims Ansatz organischer Solidarität wurde verschiedentlich kritisiert und weiterentwickelt (vgl. Müller und Schmid 1988: 512-521), insbesondere der Aspekt, ob fortdauernde funktionale Kontakte ausreichen, um Solidarität zu erzeugen, wurde infrage gestellt und der Fortbestand von Formen mechanischer Solidarität in modernen Gesellschaften betont (vgl. Müller und Schmid 1988: 514), was Durkheim selbst aber auch konstatiert hatte (vgl. Durkheim 1988: 286). Durkheims Skepsis gegenüber den solidaritätsstiftenden Effekten individueller Interessen und entsprechender Kooperationsbeziehungen wurde vor allem von der jüngeren spieltheoretischen Diskussion kritisiert, die zeigte, dass die Einhaltung von Regeln auch im Eigeninteresse nutzenorientierter Individuen liegen kann (vgl. Dallinger 2009: 63). Ein weiterer Kritikpunkt betrifft das unklare Verhältnis zwischen Verbundenheitsgefühlen und Sanktionen in der Durkheim’schen Konzeption von Solidarität, die, etwa von Tranow, insgesamt als zu unspezifisch aufgefasst wird. Tranow kritisiert zudem die fehlende Verbindung zwischen Akteurs- und Systemebene (vgl. Tranow 2012: 29-30). Die optimistische Position Durkheims, dass Solidarität in modernen Gesellschaften möglich ist, kann allerdings als Referenzpunkt dafür herangezogen werden, dass gerade auch in Anbetracht der Vielfalt von gegenwärtigen Gesellschaften, durch die gegebenen funktionellen Abhängigkeiten, Solidarität möglich ist, welche auch durch eine wertschätzende und schützende Haltung gegenüber der im Laufe der Zeit ausgebildeten Individualität der Menschen gekennzeichnet ist. Durkheim ging sogar so weit, die durch Arbeitsteilung entstehende moderne Form der Solidarität als eine sich auch über Einzelstaaten hinaus ausdehnende Solidarität zu beschreiben: »Die einzige Macht, die dazu dienen könnte, den individuellen Egoismus zu drosseln, ist die Macht der Gruppe; die einzige, die dazu in der Lage ist, den Egoismus

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der Gruppen zu drosseln, ist die Macht einer anderen Gruppe, die diese einschließt.« (Durkheim 1988: 476) Eine derart allumfassende Weltgesellschaft sah er allerdings zu seiner Zeit noch nicht erreicht. Nicht vergessen werden darf auch, dass Durkheims Überlegungen aus der westeuropäischen Entwicklung seit der Aufklärung entstanden sind. Ob und inwiefern diese daher als allgemeingültige Modelle gesellschaftlichen Zusammenlebens herangezogen werden können, gilt als umstritten. Internationale Arbeitsteilung, die Durkheim als Voraussetzung für die Entstehung einer Art Weltgesellschaft sah, geriet gerade auch in der Covid19-Pandemie in die Kritik (man denke etwa an die Abhängigkeit von internationalen Lieferketten, die als problematisch gesehen wurde (vgl. Schulze 2020: 306), was durch den Ukraine-Krieg und die daraufhin folgenden Versuche (Energie-)Abhängigkeiten zu reduzieren eine Fortsetzung fand).

4.

Sozialer Zusammenhalt im Krisendiskurs der Covid-19-Pandemie

Sozialer Zusammenhalt wird durch Krisen nicht notwendigerweise »in die Krise« gebracht, sondern vor allem in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. An dieser Stelle kann keine systematische Analyse des öffentlichen und politischen Diskurses während der Covid-19-Pandemie vorgenommen werden (vgl. hierfür z.B. Sackmann 2020), sondern Beispiele daraus sollen im Lichte der Solidaritätskonzepte Durkheims interpretiert werden. Anknüpfend an die dichotome Denkfigur homogene versus heterogene Gesellschaften, finden sich bis heute in Politik und im öffentlichem Diskurs Ideen, die eine stärkere Homogenisierung von Gesellschaften – etwa im Sinne nationaler Abgrenzungen – erwirken wollen, um gesellschaftlichen Zusammenhalt (wieder) zu stärken und strukturelle Probleme zu externalisieren (vgl. Lessenich 2020b: 123-128). Derartige Vorstellungen wurden auch im Krisendiskurs am Beginn der Covid-19-Pandemie sichtbar: Man denke etwa an die Zusammenhaltsappelle mit explizit nationaler Konnotation (vgl. auch Lessenich 2020a: 222). Beispiele dafür reichen von Appellen, die die Hilfsbereitschaft als vermeintliche Nationaleigenschaft der Bevölkerung betonen (wie etwa jener des österreichischen Bundespräsidenten zum Nationalfeiertag am 26. Oktober 2020: »Solange es keinen Impfstoff gibt, ist das beste Rezept gegen die Pandemie – neben der Beachtung der Regeln – der Zusammenhalt, das Aufeinanderschauen, das gegenseitige Helfen. Das sind

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sehr österreichische Eigenschaften – die helfen uns jetzt.« [Hervorhebung K.S.] [Kittner 2020a]), bis hin zu nationalistisch gefärbten Vorurteilen gegenüber Migrant*innen (wie etwa den Aussagen des damaligen österreichischen Bundeskanzlers Kurz zu den Reiserückkehrer*innen aus den Balkanländern, in denen er diese für den Anstieg der Infektionszahlen verantwortlich machte: »Wir hatten im Sommer sehr, sehr niedrige Ansteckungszahlen nach dem Lockdown und haben dann durch Reiserückkehrer und insbesondere durch Menschen, die in ihren Herkunftsländern den Sommer verbracht haben, uns Ansteckungen wieder ins Land hereingeschleppt« [Hervorhebung K.S.] [Kittner 2020b]). Auch die zeitweise erfolgenden Grenzschließungen in der EU und die damit verbundene Rücknahme oder Erschwerung der zuvor als Errungenschaft gefeierten Freizügigkeit der Arbeitnehmer*innen (vgl. Rüland 2020: 279) können als Beispiele für einen Rückfall in nationale Denkmuster und damit verknüpfte Homogenitätsvorstellungen herangezogen werden (bei denen dem Schutz der »eigenen« Bevölkerung und Wähler*innenschaft Vorrang eingeräumt wird). Die »zusammenhängende Heterogenität« und die dabei gegebenen funktionalen Abhängigkeiten (etwa wirtschaftlicher Art) gerieten in der Krise in Misskredit (vgl. Rüland 2020: 275). Impfnationalismus und nationale Sonderwege waren die Folge (vgl. Ärzte ohne Grenzen 2021; Lessenich 2020a: 225-226). Wie belastbar sind aber Homogenitätsannahmen als Basis des Zusammenhaltes? Zusammenhalt basierend nur auf einem Gefühl der Gemeinsamkeit qua Ähnlichkeit (bei gleichzeitig starker sozialer Kontrolle) ist eigentlich der Modus mechanischer Solidarität, der in modernen Gesellschaften als überholt galt (vgl. Schiefer et al. 2012: 22). Die Betonung nationaler Geschlossenheit in Anbetracht der Pandemie kann nicht über die auch innerhalb von Nationen gegebene Heterogenität der Lebenslagen und Einstellungen sowie den Fortbestand sozialer Konflikte hinwegtäuschen. Nationale Homogenitätsannahmen sind ebenso wenig geeignet, den grenzüberschreitenden Herausforderungen einer global verflochtenen Welt gerecht zu werden. Die Idee organischer Solidarität, d.h. der Solidarität auf Basis wechselseitiger Abhängigkeit unter Außerachtlassung aller Unterschiede zwischen den Menschen, wäre viel eher anschlussfähig in modernen Gesellschaften, indem sie Solidarität auch mit Unbekannten und Andersdenkenden ermöglicht. Die Basis für diese Form der Solidarität läge im Bewusstsein der arbeitsteiligen Funktionsweise von Gesellschaft und der Akzeptanz einer Minimalmoral, die die Aufrechterhaltung von Individualität selbst als moralischen Wert sieht.

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Diese Form von Solidarität hätte im Sinne Durkheims auch das Potenzial, Zusammenhalt über Nationalstaaten hinweg zu bewirken. Die Pandemie sensibilisierte durchaus für (auch internationale) Abhängigkeiten. Besonders sichtbar etwa im Bereich der Pflegekräfte, die durch nationale Regelungen und Grenzsperren zeitweise bei der Einreise behindert wurden und die Probleme nationaler Gesundheitssysteme deutlich zutage treten ließen (vgl. Kleine Zeitung 2020). Allerdings spiegeln die aus den Abhängigkeitserfahrungen gezogenen Schlussfolgerungen die Bandbreite politischer Grundeinstellungen wider, die dann zur Befürwortung entweder nationaler oder etwa europäischer Lösungen führten (vgl. auch Partheymüller et al. 2020). Die Fragilität des über den nationalen Bereich hinausgehenden Zusammenhaltes wird in der Krise besonders sichtbar. Gleichzeitig zeigte die Coronakrise, dass dem individuellen Nahbereich der Nachbarschaft, der Familien- und Freundesnetzwerke große Bedeutung zukommt. Die für kleine Gruppen, mit gleichen Werten und Merkmalen, angenommene mechanische Form der Solidarität funktionierte zumindest zu Beginn der Covid-19-Pandemie offenbar gut. Im Sinne des Verständnisses der Krise als Chance für eine Steigerung des sozialen Zusammenhaltes kann man auf die während der ersten Phase der Pandemie beobachtbaren Phänomene der Nachbarschaftshilfe oder auch der spontanen Balkonkonzerte und anderer Aktionen, die das »social distancing« leichter zu ertragen helfen sollten, als Zeichen vorhandener Solidarität hinweisen, die aber vielfach auf den Nahbereich kleiner Gruppen konzentriert waren (vgl. auch Springer 2020: 169171). Daneben wird die Krise aber auch als Brennglas von sozialen Problemen betrachtet, die bereits vor der Covid-19-Pandemie Fragen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt aufwarfen, reichend von steigender Armut über Diskriminierung marginalisierter Gruppen bis hin zum Anwachsen demokratiefeindlicher Strömungen (vgl. auch Bochmann und Döring 2020: 1-2; Springer 2020: 167). Mechanische Konzepte von Solidarität kommen in der durch heterogene Lebenslagen gekennzeichneten Gegenwart an ihre Grenzen, insbesondere wenn es um über kleine Gruppen hinausreichende Formen des Zusammenhaltes geht. Die Krise speist zwar auch ein Bewusstsein für das wechselseitige Aufeinander-Angewiesensein der Gesellschaftsmitglieder insgesamt, allerdings erweist sich die Ausbildung einer individualistischen Moral als Basis dauerhafter organischer Solidarität im Sinne Durkheims als schwierig. Man denke etwa an die Konflikte zwischen Impfgegner*innen und Impfbefürworter*innen, in denen das Verhältnis zwischen individuellen Freiheiten und kol-

Sozialer Zusammenhalt in der Krise

lektiven Notwendigkeiten äußerst kontrovers diskutiert wurde und der Boden für eine gemeinsame Verständigung über notwendige gesellschaftliche Regeln häufig nicht gegeben war. Einmal mehr wird deutlich, dass sozialer Zusammenhalt in modernen Gesellschaften nicht selbstverständlich ist, sondern – wie schon Durkheim zeigte – durchaus fragil. Krisen, verstanden als raum-zeitliche Ereignisse, können das sichtbar machen und damit auch zur intensiveren Reflexion der Grundlagen menschlichen Zusammenlebens anregen.

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Zwischen Entschleunigung, Entgrenzung und Überforderung Erwerbstätige Frauen zwischen 21 und 30 Jahren im ersten Lockdown Sabine A. Haring-Mosbacher und Karin Scaria-Braunstein

Abstract Mit dem Beginn der Corona-Krise und dem damit einhergehenden politisch verordneten ersten Lockdown in Österreich im März 2020 haben sich die privaten und beruflichen Lebensalltage aller Menschen schlagartig verändert. In unserem Beitrag verschränken wir zentrale, in ausgewählten soziologischen Gegenwartsdiagnosen herausgearbeitete, Charakteristika spätmoderner Gesellschaften mit empirischen Befunden unserer Studie »Wenn das Leben zu Hause bleibt« und rücken dabei die Lebensalltage von erwerbstätigen jungen Frauen im Alter zwischen 21 bis 30 Jahren in den Fokus. Homogenitäten und Heterogenitäten charakterisieren die Schilderungen dieser bisher noch wenig beachteten Gruppe, detaillierte Zeitverwendungsbögen geben vertiefende Einblicke in deren Ambivalenzerfahrungen zwischen Entschleunigung, Entgrenzung und Überforderung und enthüllen einen oftmals von Einsamkeit und fehlenden Strukturen geprägten Lebensalltag, der eine aktive Gesundheitsarbeit erforderte und von einem Gefühl des Kontrollverlusts überschattet war.   Keywords: Erster Corona-Lockdown, Multioptionalitäten, Entschleunigung, Entgrenzung, beschleunigte Verdichtung

1.

Einleitende Bemerkungen

Der Begriff der Krise ist allgegenwärtig, nicht erst seit Beginn der Covid-19Pandemie. Er wurde und wird von Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen, von Politiker*innen verschiedener Couleur, von Mediziner*innen und Therapeut*innen u.v.m. verwendet; ja, er ist fixer Bestandteil unse-

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Sabine A. Haring-Mosbacher und Karin Scaria-Braunstein

rer Alltagssprache in ganz unterschiedlichen Kontexten.1 »Die Krise gehört zum Repertoire der Verständigung des Menschen im ausgehenden 20. Jahrhundert« (Repplinger 1999: 9), hielt Roger Repplinger in seinem Buch Auguste Comte und die Entstehung der Soziologie aus dem Geist der Krise Ende der 1990erJahre fest; und dieser Befund gilt wohl auch noch mehr als zwanzig Jahre später.2 Ganz allgemein wird unter »Krise«, wie Karl-Heinz Hillmann im Wörterbuch der Soziologie anführt, »eine schwierige, gefährliche, bedrohliche Lage bzw. Phase, das (plötzliche) Auftreten und die Zuspitzung einer Problemsituation« (Hillmann 2007: 467) verstanden. Soziolog*innen analysieren Krisenphänomene auf unterschiedlichen Ebenen: auf der Makro-, der Meso- und der Mikroebene. Die Krise fungiert dabei als Zäsur, als Wendepunkt bestimmter Prozesse (vgl. Hillmann 2007: 467), wobei das jeweilige Handeln in der Krise Problemlagen verstärken, aber auch Lösungskompetenzen befördern kann. Krisen sind also, wie Manfred Prisching (2006) formulierte, »Knotenpunkte«, an welchen sich die Grammatik einer Gesellschaft entziffern lässt. Krisen »beziehen sich grundsätzlich immer auf die Abweichung von der Normalität« (Steg 2020), argumentierte jüngst Joris Steg und erteilte damit Vorstellungen, die Krise als Dauer- oder Normalzustand des modernen Zeitalters zu definieren, eine klare Absage. Das Auftreten des SARS-CoV-2-Virus etwa um die Jahreswende 2019/2020, seine rasche globale Verbreitung und damit einhergehend das meist national organisierte Krisenmanagement bedeuteten zweifellos, zumindest im ersten Jahr der Pandemie, eine radikale Abweichung von der Normalität zahlreicher Lebensalltage. Die sozialwissenschaftlichen Analysen des »absoluten Ausnahmejahres«3 2020 kreierten ein neues Etikett: das der »Corona-Gesellschaft« (Volkmer und Werner 2020).4 Damit ist gemeint, dass der weltweite Kampf 1 2

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Zum Begriff der Krise in der Soziologie und ihren Nachbardisziplinen vgl. u.a. Prisching 1986; Preunkert 2011 sowie im Hinblick auf politisch-ökonomische Krisen Steg 2019. Wie Joris Steg herausarbeitet, gibt es bis dato weder eine allgemeingültige Definition des Krisenbegriffs noch ein allseits akzeptiertes Verständnis über Entstehungszusammenhänge, Ursachen, Verläufe und Folgen von Krisen (Steg 2021: 3). Haring-Mosbacher, Sabine A.: »Sonntagsgespräch mit Wolfgang Schaller zur Studie ›Wenn das Leben zu Hause bleibt‹«, in: ORF Steiermark/Steiermark heute, 27. Dezember 2020. Seit den 1970er-Jahren leben wir, Mitglieder sogenannter mehr oder weniger kapitalistischer, westlicher Systeme, in Gesellschaften, die von unterschiedlichen soziologischen Gegenwartsdiagnostiker*innen mit diversen Etiketten versehen wurden und

Zwischen Entschleunigung, Entgrenzung und Überforderung

gegen die Covid-19-Pandemie und die damit verbundenen staatlichen Maßnahmen tiefgreifende Auswirkungen auf unterschiedliche Lebensalltage hatten und teilweise nach wie vor haben.5 Doch durch welche zentralen Merkmale wird die Normalität spätmoderner Gesellschaften geprägt? Verschiedene soziologische Gegenwartsdiagnosen haben diese in den letzten vier Jahrzehnten identifiziert und detailliert analysiert. In unserem Beitrag werden deren Charakteristika – Pluralisierung, Individualisierung, Optionenzunahme, Steigerungslogik, Beschleunigung und eine starke »Expansion der Singularisierungslogik« (Reckwitz, in: Reckwitz und Rosa 2021: 258) – anhand ausgewählter Autor*innen (Beck und Beck-Gernsheim, Gross, Rosa, Reckwitz sowie Amlinger und Nachtwey) in einem ersten Schritt (Kapitel 2) kurz nachgezeichnet. Sie bilden den Analyserahmen für die im ersten Lockdown gewonnenen empirischen Befunde unserer Studie »Wenn das Leben zu Hause bleibt«, die in Kapitel 3 kurz vorgestellt wird. Dabei konzentrieren wir uns unter Rückgriff auf das Lebenszykluskonzept auf junge Frauen im Alter zwischen 21 und 30 Jahren, die einer Erwerbstätigkeit unterschiedlichen Ausmaßes (von zehn Stunden pro Woche bis zu einer Vollbeschäftigung) vor dem ersten Lockdown nachgingen,6 und auf deren Gestaltung und Wahrnehmung des Covid-19-Alltags vor dem Hintergrund der umfassenden Veränderung ihrer jeweiligen Lebensalltage. Deren Erfahrungen im März und April 2020 im Spannungsfeld der massiven Einschränkung von Optionen im Hinblick auf Sozialkontakte und Freizeitaktivitäten, von fehlenden Routinen und neuen Herausforderungen werden in Kapitel 4 herausgearbeitet und vor dem Hintergrund der in Kapitel 2 vorgestellten zentralen Charakteristika spätmoderner Gesellschaften diskutiert. Von deren Dynamiken und Widersprüchen scheinen gerade jüngere Altersgruppen besonders betroffen zu sein. Orientierungslosigkeit und Unsicherheitsgefühle sind häufig die Konsequenzen davon. Darüber hinaus dürfte die »Corona-Krise« Frauen besonders hart getroffen haben (vgl. u.a. Steer 2020); und im Vergleich zu Männern macht sie diese

5 6

werden. Diese sollten und sollen den von ihnen konstatierten umfassenden tiefgreifenden Wandel – je nach Perspektive und Fokussierung – pointiert zum Ausdruck bringen. Einen Überblick über soziologische Gegenwartsdiagnosen geben die zwei von Schimank und Volkmann herausgegebenen gleichnamigen Sammelbände (2000 und 2002). Stand März 2022. Das bedeutet, dass sich in dieser Gruppe auch Studentinnen befinden, die sowohl studieren als auch berufstätig sind.

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Sabine A. Haring-Mosbacher und Karin Scaria-Braunstein

auch »unglücklicher«, wie eine neue Studie in Deutschland zeigt: »Zählten Frauen im Alter bis 25 Jahren zuvor noch zu den glücklichsten Menschen des Landes [Deutschland; Anm. d. Verf.] und hatten einen ›Glückvorsprung‹ von 0,2 Punkten gegenüber gleichaltrigen Männern, verloren sie während der Pandemie 0,6 Punkte, die Männer hingegen nur 0,3.« Der Unterschied vergrößert sich noch bei Studierenden: Studentinnen »verloren 0,8 Punkte auf der Glücksskala, ihre männlichen Kommilitonen hingegen 0,2.« (Anton 2022: 2) Diese besonders betroffene Gruppe, nämlich jene junger Frauen, untersucht der vorliegende Beitrag mithilfe der in der Studie »Wenn das Leben zu Hause bleibt« gewonnenen empirischen Befunde vertiefend.

2.

»Wenn das Leben zu Hause bleibt« – Die »Corona-Krise«

Die »Corona-Krise« entspricht, hielten Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey (2021 und 2021a) jüngst fest, »dem Muster des gesellschaftlichen Risikos« (Amlinger und Nachtwey 2021), wie es Ulrich Beck und Elisabeth BeckGernsheim im Hinblick auf Gesellschaften der Zweiten Moderne in unterschiedlichen Werken (u.a. Beck 1986; Beck und Beck-Gernsheim 1994) analysierten.7 Denn die »Spätmoderne« (Zweite Moderne, Postmoderne) habe ein hochindividualisiertes Subjekt hervorgebracht, das im Zuge der CoronaKrise an zwei Grenzen stößt. Erstens werden seine Freiheitsgrade in einem unbekannten Ausmaß durch staatliche Maßnahmen eingeschränkt. Zweitens ist das Bedürfnis des spätmodernen Individuums nach eigenem Sinnverstehen nicht erfüllbar: »Es war gewohnt, sich Wissen in einer bestreitbaren, diskursiven Auseinandersetzung selbst anzueignen.« (Amlinger und Nachtwey 2021a: 13) Während einer Pandemie (wie auch unmittelbar vor und während kriegerischer Auseinandersetzungen) findet, so Amlinger und Nachtwey (2021a: 14f), eine beschleunigte und ausgeweitete Politisierung statt. Der Staat reguliert weite Teile des öffentlichen und privaten Lebens in einem ungewohnten Ausmaß: »Insbesondere das Wissen über Risiken wird eminent

7

Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey knüpfen in ihren Analysen gegenwärtiger Bewegungen gegen die Corona-Maßnahmen an die Beck’sche Argumentation an und interpretieren die Konjunktur des »Verschwörungsdenkens« im Laufe der Covid-19-Krise als »paradoxale Nebenfolgen spätmoderner Gesellschaften« (Amlinger und Nachtwey 2021a: 13).

Zwischen Entschleunigung, Entgrenzung und Überforderung

politisch« (Amlinger und Nachtwey 2021a: 15), wobei wissenschaftlichen Expert*innen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung als Grundlage politischer Entscheidungen zukommt. Die politisch gesetzten Maßnahmen waren in Österreich im ersten Lockdown im März 2020 besonders strikt. So wurde im Bereich der Erwerbsarbeit, um die physischen Kontakte und damit das Risiko einer Ansteckung mit dem Coronavirus so weit wie möglich zu reduzieren, nachdrücklicher als zu späteren »kritischen« Zeitpunkten, wenn die Inzidenzen wieder stiegen, appelliert, die Erwerbsarbeit, wo immer dies möglich ist, ins Homeoffice zu verlagern. Für viele Arbeitskräfte wurde damit die eigene Wohnung gleichsam von einem Tag zum anderen zur Arbeitsstätte, für Kinder, Jugendliche und Studierende der eigene Wohnraum zur Kinderkrippe bzw. zum Kindergarten, zur Schule oder Universität: »Das Leben blieb zu Hause«.8 Beschäftigte in sogenannten systemkritischen Berufen, wie z.B. im Handel, in Krankenhäusern und Pflegewohnheimen oder auch in manuellen Berufen sowie im Produktionsbereich, waren hingegen weiterhin an ihren Arbeitsstätten vor Ort tätig.9 Für alle Bevölkerungsgruppen veränderten sich die jeweiligen Lebensalltage von einem Tag auf den anderen in einer unerwarteten und bis dato für die meisten nicht erfahrenen Art und Weise. Die »Zweite Moderne« oder »Spätmoderne« kennzeichnet – folgt man den Analysen namhafter Soziolog*innen – eine Reihe von Charakteristika. Pluralisierung10 und Individualisierung prägen spätmoderne Gesellschaften besonders, wobei unter »Individualisierung« als »soziologische Kategorie im Rahmen von Modernisierungstheorien« [Hervorhebung im Original] in der

8 9

10

So nahmen wir den Beginn des ersten Lockdowns wahr und diese Erfahrung veranlasste uns dazu, unserer Studie den Titel »Wenn das Leben zu Hause bleibt« zu geben. Die gesamte Rechtsvorschrift für das Covid-19-Maßnahmengesetz inklusive diverser Änderungen (bis zum 21. April 2022) findet sich unter https://www.ris.bka.gv.at/Gelte ndeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20011073&FassungVom =2022-04-21. Dabei wird selbstredend auch der Begriff »Pluralisierung« in unterschiedlicher Art und Weise eingesetzt. Peter L. Berger und Thomas Luckmann beispielsweise verwenden »Pluralisierung« bzw. »Pluralismus« als »moderne Form des Pluralismus«, nicht als eine allgemeine Kategorie zur Beschreibung verschiedener Lebensformen in einer Gesellschaft ohne Bezug auf eine gemeinsame Wertordnung. In der modernen Welt werde, so Berger und Luckmann, der Pluralismus als ein Wert an sich über die verschiedenen koexistierenden und miteinander in Konkurrenz stehenden Präferenzsysteme erhoben. Siehe Berger und Luckmann 1995: 30ff.

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Sabine A. Haring-Mosbacher und Karin Scaria-Braunstein

Regel gemeinhin ein Prozess bezeichnet wird, in dem »traditionelle Lebensformen mit ihren hohen Normierungsleistungen für individuelles Handeln […] an Bedeutung für die individuelle Lebensführung [verlieren], und das einzelne Subjekt […] sich im Rahmen gesellschaftlicher Ressourcen eine eigene Lebensform erarbeiten« muss (Keupp 2010: 245).11 Das bedeutet, dass das Individuum aus einer Reihe von Möglichkeiten, sei es im Beruflichen, sei es im Privaten, auswählen kann bzw. muss. Spätmoderne Gesellschaften sind also »Multioptionsgesellschaften«, wie Peter Gross (1994) Mitte der 1990er-Jahre prominent festhielt, in denen sich durch »Entobligationierung«, das bedeutet durch die Auflösung bzw. Zerstörung traditioneller Werthaltungen, Normen und Handlungsmaximen, eine verstärkte Zunahme von Optionen in zahlreichen Aspekten des Berufs- und Privatlebens beobachten lässt. Für Gross ist gerade die »Steigerung der Erlebens-, Handlungs- und Lebensmöglichkeiten, die Optionensteigerung, […] der augenscheinlichste Vorgang der Modernisierung« (Gross 1994: 15). Vervielfältigung der Möglichkeiten, Wachstum bzw. Steigerungslogik und Beschleunigung sind nach Ansicht zahlreicher Soziolog*innen die zentralen Merkmale sogenannter westlicher Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und am Beginn des 21. Jahrhunderts. Letztgenanntes, die Beschleunigung, verstanden als »Logik dynamischer Stabilisierung« (Rosa, in: Reckwitz und Rosa 2021: 260), ist für Hartmut Rosa wiederum das Strukturprinzip der Moderne schlechthin, wobei er drei grundlegende Dimensionen sozialer Beschleunigung, nämlich technische Beschleunigung, die Beschleunigung des sozialen Wandels sowie die des Lebenstempos unterscheidet (vgl. Rosa 2005). Jüngst hätte sich die Geschwindigkeit der Beschleunigung weiter erhöht und kultureller Wandel würde sich nun, so Rosa, intragenerationell, also innerhalb einer Generation, vollziehen (vgl. Rosa 2005). Als Beiwerk dieses beschriebenen Wandlungsprozesses einer zunehmend beschleunigten Gesellschaft identifiziert Heinz Weiß die allgegenwärtige Verheißung einer »Machbarkeit von Gesundheit, Wohlstand und ›Glück‹« (Weiß 2020: 290). Der massive Druck des Optimierungspostulats in Kombination mit Beschleunigungsprozessen offenbart sich u.a. in der Zunahme psychischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter, die von Essstörungen bis hin zu devianten Verhaltensweisen reichen (vgl. Weiß 2020: 290).

11

Zum Konzept der Individualisierung bei Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim vgl. Beck 1986 sowie Beck und Beck-Gernsheim 1994.

Zwischen Entschleunigung, Entgrenzung und Überforderung

Andreas Reckwitz sieht die sogenannte Spätmoderne ab den 1970erJahren insbesondere durch »eine außergewöhnliche Expansion der Singularisierungslogik« (Reckwitz, in: Reckwitz und Rosa 2021: 258) bestimmt. Die »Gesellschaft der Singularitäten« (Reckwitz 2017) ist in unterschiedlichen Bereichen durch das Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit geprägt. Dabei sei dieses aber nicht nur ein subjektiver Wunsch von Individuen, sondern eine »paradoxe gesellschaftliche Erwartung« (Reckwitz 2017: 9). Vor dem Hintergrund der in soziologischen Gegenwartsdiagnosen herausgearbeiteten zentralen Merkmale spätmoderner Gesellschaften markierte der erste Corona-Lockdown im März 2020 zweifellos eine tiefgreifende Zäsur: Die Freiheitsgrade und Optionenvielfalt wurden massiv eingeschränkt: »Das Leben blieb zu Hause«. – Dieser Befund gilt weitgehend für alle Frauen, Männer, Jugendlichen und Kinder jenseits der sogenannten systemkritischen Berufe. Insbesondere die Lage Jugendlicher und junger Erwachsener wurde im Laufe der Krise und in den unterschiedlichen Phasen immer wieder medial, wissenschaftlich und gesamtgesellschaftlich in den Blick genommen. Mit Fortdauer und den wiederholten Änderungen der Maßnahmen und Einschränkungen wurde ersichtlich, dass gerade die Jungen (die nicht der Einstufung als Covid-»Risikogruppe« entsprechen) massiv belastet sind und damit – in Anlehnung an Weiß’ Vorkrisen-Diagnose – weitere negative Entwicklungen hinsichtlich ihrer psychischen Gesundheit in unmittelbarer Zukunft befürchtet werden müssen. Insbesondere Einsamkeitsgefühle in der Corona-Krise gehören zu jenen Faktoren, von denen Junge – neben Frauen und alleinlebenden Menschen – besonders betroffen sind, wie u.a. eine Analyse im Rahmen des Austria Corona Panel Project aufzeigt (vgl. Schiestl 2021). Bezugnehmend auf die kurz skizzierten soziologischen Gegenwartsdiagnosen setzen wir im Folgenden die Themenfelder – Entschleunigung, Entgrenzung, beschleunigte Verdichtung sowie eine starke Einschränkung der Multioptionalitäten – mit den empirischen Befunden unserer Studie »Wenn das Leben zu Hause bleibt« aus dem ersten Lockdown in Beziehung. Während wir in dem gemeinsam mit Martina Beham-Rabanser, Matthias Forstner und Johann Bacher publizierten Aufsatz »Arbeit und Familie im Covid-19-Alltag« (BehamRabanser et al. 2022) Frauen in der Rushhour des Lebens detaillierter untersuchten, und im Aufsatz »›Wenn das Leben zu Hause bleibt.‹ Der Lebensalltag von Frauen im Homeoffice während des ersten Lockdowns« (Haring-

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Sabine A. Haring-Mosbacher und Karin Scaria-Braunstein

Mosbacher und Scaria-Braunstein 2021) Frauen unterschiedlichen Alters in den Blick nahmen, konzentrieren wir uns im vorliegenden Beitrag auf junge, vorrangig in der Steiermark lebende Frauen im Alter zwischen 21 und 30 Jahren und auf deren Gestaltung des Covid-19-Alltags im Spannungsfeld von Arbeit, Familie und Freizeit. Es ist dies jene Gruppe von Frauen, die oftmals alleine oder in einer noch jungen Partnerschaft lebt, noch keine Kinder hat, sich beruflich erst orientieren und ihren Platz in der Erwerbsarbeitswelt finden muss – und gleichzeitig sozial sehr aktiv ist. In dieser Gruppe kumulieren also in besonderer Weise die Aspekte der Optimierungs- und Steigerungslogik der (post-)modernen Gesellschaft einerseits und spezifische Betroffenheiten aufgrund sozialpsychologischer Auswirkungen durch die Corona-Krise andererseits.

3.

Zur Studie »Wenn das Leben zu Hause bleibt«

3.1

Zur Erhebung im März/April 2020

Am Beginn des ersten Lockdowns konzipierten wir, Sabine A. HaringMosbacher und Karin Scaria-Braunstein, die Studie mit dem Titel »Wenn das Leben zu Hause bleibt«, in deren Mittelpunkt die temporär veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen in Österreich während des ersten Lockdowns und ihr Umgang mit dieser völlig neuen Situation standen. Das Besondere der Studie liegt im Vergleich zu zahlreichen anderen Studien zur sogenannten Corona-Krise darin, dass wir bereits in der zweiten Woche des ersten Lockdowns im Feld waren und damit mitten im ersten Lockdown und nicht erst aus der Retrospektive Frauen und Männer unterschiedlichen Alters, heterogener Bildungskontexte und sich in differenten Familienstrukturen befindend befragten. Die Untersuchung war als MixedMethods-Design angelegt und umfasste u.a. Fragen zur Haushaltsstruktur, zu den Arbeitsbedingungen und Einschränkungen der Sozialkontakte im Lockdown, aber vor allem auch detaillierte Zeitverwendungsbögen über einen Zeitraum von fünf Tagen sowie Beschreibungen spezifischer Situationen im Alltag. An dieser Befragung nahmen innerhalb von acht Wochen 132 Personen unterschiedlichen Alters (die jüngste Befragte war 16, die älteste 88 Jahre alt) und Bildungshintergrunds teil. 40 Prozent der Befragten leben in einem Zweipersonenhaushalt, die Mehrheit der Teilnehmer*innen in einer Wohnung (52 Prozent). 30 Prozent der Personen geben an, mit Kindern

Zwischen Entschleunigung, Entgrenzung und Überforderung

zusammenzuwohnen. 91 Personen füllten Zeitverwendungsbögen aus, in denen sie ihren Tagesablauf in der Krisensituation dokumentierten; hier waren es überwiegend Frauen.12 Betrachten wir an dieser Stelle die von uns in diesem Beitrag analysierte Gruppe der Frauen zwischen 21 und 30 Jahren näher: An der Erhebung im ersten Lockdown nahmen in dieser Altersgruppe insgesamt 33 Personen teil, acht Männer und 25 Frauen. Unter den Frauen gibt es keine Pflichtschulabsolventinnen, sieben von ihnen haben eine AHS absolviert, drei Frauen besuchten eine berufsbildende höhere Schule oder einen Fachlehrgang; 15 der teilnehmenden Frauen weisen einen Universitätsabschluss auf Bachelor- oder Masterniveau auf. Zur Zeit der Befragung sind 14 der 25 Frauen in einem Angestelltenverhältnis tätig, neun befinden sich in Ausbildung, eine Frau ist in Karenz und eine weitere selbstständig erwerbstätig. Hinsichtlich des Ausmaßes geben nur drei Frauen an, Vollzeit erwerbstätig zu sein. Zum Zeitpunkt der Befragung befinden sich zwei Frauen in Kurzarbeit, eine weitere gibt an, von Kurzarbeit zukünftig voraussichtlich betroffen zu sein. Die Mehrheit der Frauen in dieser Altersgruppe lebt in einer Wohnung (N=20; neun davon in einer Wohngemeinschaft), fünf in einem Haus. Acht der teilnehmenden Frauen wohnen alleine, neun mit einer zweiten Person zusammen, drei in einem Dreipersonen- und fünf in einem Vierpersonenhaushalt. Nur eine der Befragten hat ein Kind. Hinsichtlich der Wohnungsgröße geben sieben der Frauen an, zwischen 32 und 48m² zur Verfügung zu haben, weitere sieben wohnen auf 50 bis 70m², elf Frauen berichten von einer Wohnungsgröße über 70m², sieben davon wiederum von mehr als 100m².13 Zusammenfassend kann da-

12

13

Die gesamte Studie »Wenn das Leben zu Hause bleibt«, die vier Teile umfasst, gliedert sich in einzelne Querschnittserhebungen und ist für die österreichische bzw. steirische Gesamtbevölkerung nicht repräsentativ. Alle Erhebungswellen erreichten vor allem Personen aus der Steiermark. Grund dafür ist keine gezielte Stichproben- bzw. Sampleauswahl, der Aufruf zur Teilnahme richtete sich an alle in Österreich lebenden Personen. Der geographische Schwerpunkt erklärt sich aus der Reichweite des Teilnahmeaufrufs, der aufgrund der Pandemie-Situation eingeschränkt war und hauptsächlich über Soziale Medien erfolgen konnte. Darüber hinaus wurde für die erste Erhebung auch eine Paper-Version der Studie in Wohnsiedlungen in Graz/Graz-Umgebung verteilt und weitere Exemplare wurden über das Schneeballsystem verbreitet. Auf diesen Wegen wurde im Rahmen der Möglichkeiten und mit den vorhandenen personellen und zeitlichen Ressourcen versucht, möglichst viele Menschen mit unterschiedlichen Lebenshintergründen zu erreichen. Hierbei sind Wohngemeinschaften mitzubedenken.

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Sabine A. Haring-Mosbacher und Karin Scaria-Braunstein

mit festgehalten werden, dass hinsichtlich soziodemographischer Merkmale nach Alter, Bildungshintergrund, Erwerbstätigkeit und Wohnform junge Frauen zwischen 21 und 30 Jahren, die an unserer Studie teilgenommen haben, einen mittleren bis hohen formalen Bildungshintergrund aufweisen. Im Vergleich zu anderen Altersgruppen leben sie häufiger in beengten Wohnverhältnissen, alleine, in Wohngemeinschaften oder in einer Zweierbeziehung ohne Kinder. In der weiteren Analyse betrachten wir sieben Frauen dieser Altersgruppe entlang der Bandbreite heterogener Lebensrealitäten und begleiten sie in ihrem Lebensalltag in der Zeit des ersten Lockdowns. Dabei kommen Frauen zu Wort, die alleine oder in einer Partnerschaft leben, aber auch jene, die in anderen Konstellationen ihren Lebensalltag in dieser Zeit der Corona-Krise meisterten. Alle Frauen sind (im unterschiedlichen Ausmaß) erwerbstätig oder bereits von Arbeitslosigkeit betroffen, nachdem ihre jeweiligen Arbeitsverhältnisse am Beginn des Lockdowns aufgelöst wurden. Die folgende Tabelle zeigt die in diesem Beitrag detaillierter analysierten jungen Frauen: Tabelle 1: Angaben zu den im Beitrag analysierten Frauen Pseudonym

Alter

Wohnsituation

Wohnfläche

Berufsstatus

Miriam K.

22 Jahre

alleinlebend

ca. 75m²

Teilzeit/ Homeoffice, in Ausbildung

Doris L.

21 Jahre

alleinlebend

ca. 50m²

arbeitslos, in Ausbildung

Inge D.

30 Jahre

alleinlebend

ca. 35m²

Kurzarbeit/ außerhäuslich

Sandra Z.

24 Jahre

WohnGemeinschaft

ca. 70m²

Teilzeit/ Homeoffice, in Ausbildung

Karin E.

26 Jahre

ZweipersonenHaushalt

ca. 60m²

Vollzeit/ Homeoffice

Zwischen Entschleunigung, Entgrenzung und Überforderung

  Lisa O.

Luisa P.

3.2

28 Jahre

ZweiGenerationenHaushalt (4 Personen)

ca. 160m²

Teilzeit/ Homeoffice in Ausbildung

26 Jahre

ZweiGenerationenHaushalt (4 Personen)

ca. 140m²

Teilzeit/ Homeoffice (voraussichtlich Kurzarbeit), in Ausbildung

Die Bedeutung von Alter und Lebensstil

Im Zuge der von uns umfassend durchgeführten quantitativen und qualitativen Analysen aller 132 Befragten zeigten sich Muster im Hinblick auf Alterskohorten und Lebensstile. Unter »Lebensstil« verstehen Otte und Rössel – vor dem Hintergrund unterschiedlicher Definitionen – »ein Muster verschiedener Verhaltensweisen, die eine formale Ähnlichkeit und biographische Stabilität aufweisen, Ausdruck zugrundeliegender Orientierungen sind und von anderen Personen identifiziert werden können« (Otte und Rössel 2011: 13). Lebensstile als »Muster von Verhaltensweisen, die eine gewisse Zusammengehörigkeit und eine gewisse zeitliche Stabilität aufweisen« (Rössel 2011: 37), werden, wie zahlreiche Studien belegen, von sozialstrukturellen Faktoren wie Alter, Bildung, Geschlecht, Haushalts- und Lebensform sowie Einkommen mitbestimmt, wobei es zwischen Alter und Lebensstil eine besonders hohe Korrelation gibt. Mit diesem Befund ist jedoch noch nicht geklärt, ob es sich dabei um Kohorten- oder Lebenszykluseffekte, also um Veränderungen im Lebenslauf, handelt. Dieser Frage widmete sich u.a. Bettina Isengard (2011) in der Analyse von individuellem Freizeitverhalten und zeigte darin auf, dass Lebenszykluseffekte stärker wirken als die Kohortenzugehörigkeit.14 Nina Baur und Leila Akremi (2011) untersuchten wiederum insbesondere den Zusammenhang von Lebensstil und Geschlecht, der sich in unterschiedlichen Lebensbereichen zeigt, und plädierten nachdrücklich für die Verortung von Le-

14

Mit den Längsschnittdaten des SOEP (Sozialoekonomisches Panel) wurden RandomEffects-Modelle für fünf Messzeitpunkte im Zeitraum zwischen 1980 und 2008 geschätzt.

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bensstilen an der Schnittstelle von Erwerbsarbeit, Familien- sowie Haushaltsarrangements und Freizeit. Ein näherer Blick hinsichtlich der Effekte von Lebenszyklusprozessen verdeutlicht, dass mit zunehmendem Alter beispielsweise die Erlebnisorientierung kontinuierlich abnimmt, die wiederum als ein wesentliches Merkmal spätmoderner Gesellschaften (vgl. u.a. Schulze 1992) gilt. Oder anders formuliert: Jüngere weisen ein höheres Aktivitätsniveau auf (vgl. Isengard 2011: 306f). Dies gilt es zu beachten, wenn die Auswirkungen der Corona-Krise bzw. die damit verbundenen politischen Maßnahmen auf junge Frauen zwischen 21 und 30 Jahren im Weiteren gesondert behandelt und interpretiert werden.

4.

Lebenswelten von erwerbstätigen Frauen zwischen 21 und 30 Jahren im ersten Lockdown

4.1

Zwischen Entschleunigung, Langeweile und Vereinsamung

Der Beginn der Corona-Pandemie wurde zweifellos von vielen Zeitgenoss*innen zunächst als Zeit der massiv gesteigerten Unsicherheit wahrgenommen. Weite Teile des gesellschaftlichen Lebens wurden angehalten: Dies bedeutete eine Entschleunigung, die ganz und gar einzigartig ist (vgl. Rosa 2020). Während gemeinhin mit Entschleunigung ein Verhalten beschrieben wird, mithilfe dessen man aktiv versucht, der beruflichen und/oder privaten Beschleunigung des Lebens entgegenzusteuern, also wieder langsamer zu werden oder sogar zur Langsamkeit zurückzukehren, sind die Entschleunigungstendenzen während der Covid-19-Pandemie im Allgemeinen und während des ersten Lockdowns im Speziellen nicht auf das aktive Gestalten und Handeln der Akteur*innen, sondern letztlich auf äußeren Zwang, auf staatlich verordnete Maßnahmen, zurückzuführen. Dabei fungiert die von Rosa als Strukturprinzip der Moderne und in gesteigerter Form der Spätmoderne beschriebene Beschleunigung als Hintergrundfolie der von den Befragten zum Ausdruck gebrachten Wahrnehmungen im erzwungenen Lockdown im März 2020. Die »Beschleunigung des Lebenstempos«, die nach Rosa »eine Reaktion auf die Verknappung von (ungebundenen) Zeitressourcen darstellt, weshalb sie sich einerseits in der Erfahrung von Zeitnot und Stress manifestiert und andererseits als Steigerung der Handlungs- und/oder Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit bestimmt werden kann« (Rosa 2005: 463) [Hervorhebung im Original], wurde gestoppt, ja:

Zwischen Entschleunigung, Entgrenzung und Überforderung

»Es kommt einem so vor, als hätte jemand von außen riesige Bremsen ans Hamsterrad gelegt.« (Rosa 2020)

4.1.1

Radikale Einschränkung von Optionen: außerhäusliche Sozialkontakte und Freizeitaktivitäten

Diese ersten Wochen des ersten Lockdowns erfuhr ein Teil der von uns befragten erwerbstätigen Frauen zunächst als eine Zeit der Entschleunigung, Rosa spricht von einer »Super-Verlangsamung des Lebens« (Rosa 2020), in mehreren, unterschiedlichen Dimensionen. Zum einen berichten sie von einer Verlangsamung des Lebenstempos und damit einhergehend einer persönlichen Stressreduktion durch verminderte soziale Verpflichtungen. Die Multioptionalität im Hinblick auf soziale Netzwerke durch physical distancing erfuhr eine bis dato nicht vorstellbare massive Einschränkung, wobei socialising oftmals in den digitalen Raum verlegt wurde. Ebenso wurden die meisten Optionen im Freizeitbereich durch Untersagen zahlreicher Sport- und Kulturaktivitäten in hohem Maß eingeschränkt. Ob dies als Entlastung oder als Belastung empfunden wurde, hängt dabei häufig, wenn auch nicht immer, mit dem Alter bzw. dem Lebenszyklus zusammen. Isengard (vgl. 2011: 306) hatte im Hinblick auf Freizeitmuster gezeigt, dass Kohorteneffekte, also Geburtszeitpunkte, bei der Erlebnisorientierung eine ebenso große Rolle spielen wie das Alter, während bei kulturellen Aktivitäten die Kohorteneffekte etwas schwächer als die Alterseinflüsse sind. Mit zunehmender Bildung werden häufiger Erlebnisorientierung, soziales Engagement und vor allem kulturelle Aktivitäten praktiziert. Wenn sich der Beziehungsstatus ändert, also wenn Singles eine Partnerschaft eingehen oder eine Familie gründen (mit oder auch ohne Partner*in), nimmt wiederum das Aktivitätsniveau ab, und zwar in den Bereichen Erlebnisorientierung, kulturelle Aktivitäten und soziale Kontakte (vgl. Isengard 2011: 309). Die im Rahmen des Covid-19-Gesetzes beschlossenen Beschränkungen im öffentlichen Raum mit den damit korrespondierenden Durchführungsverordnungen bedeuteten für alle in Österreich lebenden Menschen eine rigorose Einschränkung ihres Aktions- und Mobilitätsradius. Dies wurde insbesondere von jenen Frauen als belastend empfunden, die aufgrund ihres Alters und ihrer Lebenssituation in der Regel mehr Erlebnisorientierung und kulturelle Aktivitäten aufweisen und gleichzeitig oftmals alleine leben: also von jungen Frauen. »Ich bin normalerweise kein sehr geselliger Mensch. Es gibt aber ein paar wenige Freunde, mit denen ich mich sehr gerne und auch gerne öfters treffe.

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[…] Aber nun nicht einmal die Wahl zu haben[,] fühlt sich sehr deprimierend an. Ich fühle mich eingesperrt und fast hilflos, weil ich nichts daran ändern kann. Nichtsdestotrotz halte ich mich an die Maßnahmen, da ich weiß, dass sie nicht ohne Grund verordnet wurden« (Miriam K.: 6), hält die 22-jährige Miriam K., die alleine lebt und versucht, ihrem Alltag mit Arbeiten, Computer-Spielen, Filme-Schauen, Sport-Ausüben und Facetimen Strukturen zu geben, fest. Keine Optionen, also keine Wahl mehr zu haben, empfindet sie in der Zeit des ersten Lockdowns als besonders belastend. Die Einschränkung des Möglichkeitsspielraums bei diversen Freizeitaktivitäten, beispielsweise beim Sport oder bei Treffen mit Freund*innen, wird von einer Reihe von Befragten thematisiert. Bei jenen, die alleine leben, bedeuten die Ausgangsbeschränkungen im ersten Lockdown häufig das Wegfallen sämtlicher physischer Kontakte, wie Doris L., die in einer 48m2 -Wohnung ohne Balkon lebt, unterstreicht: »Ich lebe allein, daher bedeutet eine Einschränkung der Sozialkontakte einen Wegfall jedes persönlichen menschlichen Kontakts. Daher nutze ich jetzt soziale Medien und Telefonieren vermehrt.« (Doris L.: 6)

4.1.2

Fehlende Routinen und der Druck – oder die Option –, neue zu entwickeln

Fehlende Routinen erweisen sich in dieser Altersgruppe oftmals als große Herausforderung, sogar als existenzielle Bedrohung: »Keine Routine, keine sozialen Kontakte, keine Deadlines« (Doris L.: 7), fährt die 21-jährige, von Arbeitslosigkeit betroffene Studentin Doris L. fort, die vor allem Angst hat, dass ihr Leben nach der Covid-19-Krise nicht mehr in gewohnten Bahnen verlaufen werde und einen Kontrollverlust über ihr Leben fürchtet (vgl. Doris L.: 9). In ihrem abschließenden Statement beschreibt sie ihren Covid-19-Alltag folgendermaßen: »Besonders schön: so viel Freizeit wie lange nicht mehr, nicht gestresst sein, sich sammeln. Besonders herausfordernd: kein Alltag, jeder Tag ist gleich, Prokrastination, energielos, motivationslos, keine sozialen Kontakte, Unsicherheit, kein Job mehr. Besonders anstrengend: keine Erledigungen/ Arzttermine wahrnehmen können, sein Leben herunterfahren.« (Doris L.: 17) Die Entschleunigung wird von Doris L. demnach zunächst durchaus positiv wahrgenommen, die Reduktion der Freizeitoptionen führt jedoch auch

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zur Langeweile. Gleichzeitig verspürt die Befragte auch besonders viel Druck, ihren Alltag sinnvoll zu gestalten (vgl. Doris L.: 9) – also dem spätmodernen Selbstoptimierungspostulat zu genügen. Die von ihr verfassten Zeitaufzeichnungen vom 1. bis zum 5. April 2020 zeigen ihren entschleunigten Alltag zwischen spätem Aufstehen, »YouTuben«, Telefonieren, Puzzeln und SpazierenGehen sowie ihr Bemühen, diesen neu zu strukturieren und zu optimieren. Die von einigen Befragten beschriebenen fehlenden Strukturen können schließlich auch dazu führen, dass man sich »gehen lässt«, wie die in einer 33m2 großen Garconniere alleinlebende Angestellte Inge D. unterstreicht: »Meine Haut ist pickeliger und blasser. Ich nehme immer mehr zu. Ich gehe jetzt sehr spät schlafen und stehe sehr spät auf.« (Inge D.: 9) Die vom 21. bis 25. März ausgefüllten Zeitverwendungsbögen geben einen detaillierten Einblick in ihren Alltag. Am späten Vormittag steht Inge D., die ihren Gesundheitszustand im Allgemeinen als »sehr gesund« einschätzt, aber betont, dass es ihr derzeit »weniger gut« gehe, auf. Danach liest sie die Zeitung, hört Radio, surft häufig im Internet oder sieht sich einen Film oder eine Serie an. Die im Lebensmittelhandel Tätige wurde in Kurzarbeit geschickt, ist jedoch dankbar, dass sie aufgrund ihrer Tätigkeit »noch außer Haus gehen« darf (vgl. Inge D.: 5 und 8), und beobachtet an sich selbst: »Mittlerweile kann ich den ganzen Tag nichts tun, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Aber ich habe heute gemerkt, dass ich einkaufen gehe und nur Süßkram und Chips und Alkohol gekauft habe, was alles wertlos ist; Hauptsache ich gehe außer Haus.« (Inge D.: 6f) Die massive Einschränkung der Optionen für Freizeit und Sozialleben, die die Normalität der jeweiligen Alltage vor dem ersten Lockdown prägten, geht mit dem Verlust von Routinen einher. Dass der Alltag nicht wie gewohnt gelebt werden kann, verunsichert viele der von uns befragten jungen Frauen und kann mitunter zu starken Kontrollverlustängsten führen. Doch zeigen sich bei den 21- bis 30-jährigen Frauen auch heterogene Wahrnehmungen insofern, als in dieser Gruppe vereinzelt über hauptsächlich positiv wahrgenommene Entschleunigungserfahrungen berichtet wird. So beschreibt die mit zwei anderen Frauen in einer 76m2 großen Wohngemeinschaft lebende 24-jährige Studentin Sandra Z. ihre momentane Lebenssituation folgendermaßen: »Ich bin ein sehr stressanfälliger Mensch und kämpfe auch oft mit mir selber. Innerlich habe ich mir schon lange eine Pause von allem gewünscht, es aber im täglichen Leben nie geschafft, mir weniger für die Uni einzuteilen, weniger zu arbeiten oder weniger mit Freunden zu unternehmen. Dass dies

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jetzt erzwungen wird, hilft mir in gewisser Weise. Ich genieße die Zeit für mich, mache viel Kreatives und beschäftige mich auch mit mir selbst. Mein Freund und ich führen eine Fernbeziehung, also ist diese Kontaktform für uns normal. Es ist natürlich schon sehr schwierig, dass wir uns jetzt für längere (und ungewisse) Zeit nicht sehen können. Viele meiner guten Freunde bzw. regelmäßigen Kontakte leben nicht in Graz, mit denen telefoniere ich immer. Dass ich mich hier jetzt nicht mit Freunden treffen kann, geht mir schon ab, aber bis jetzt finde ich es auch sehr entspannend.« (Sandra Z.: 6) Sandra Z., die studiert und in einem Teilzeitangestelltenverhältnis erwerbstätig ist, schafft sich neue Möglichkeiten, ihren Alltag zu gestalten. Kurzzeitig, im ersten Lockdown, wird für sie die massive Einschränkung von sozialen Kontakten und Freizeitoptionen eine Ressource, für sich persönlich Neues zu entdecken und auszuprobieren. Sie fühlt sich in ihrem Alltag insgesamt weniger gestresst als gewöhnlich, denn sie habe mehr Ruhe, um sich auf bedeutende Dinge zu konzentrieren, sowie mehr Zeit für sich selbst und für Menschen, die ihr wichtig sind (vgl. Sandra Z.: 7). Auch wenn sie auf einer persönlichen Ebene die Unsicherheit insbesondere im Hinblick auf ein geplantes Auslandssemester und die massiven Reisebeschränkungen und auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene die Corona-Toten, eine drohende Wirtschaftskrise sowie die Auswirkungen der Covid-19-Krise auf ärmere Länder und Flüchtlinge besonders belasten, genießt sie doch auch viele entlastende Momente, die sich aus der verordneten Entschleunigung ergeben, wie sie im Fragebogen festhält: »Dass ich endlich Zeit habe. Vor allem für Sport – ich war jetzt öfter Rad fahren und mache jetzt viel Yoga und zwar so, dass ich nicht um eine bestimmte Uhrzeit wieder wo sein muss, sondern einfach so lange es eben dauert. Zeit für mich [zu haben; Anm. d. Verf.] empfinde ich auch als entlastend. Und die leere Stadt bzw. die Ausnahmesituation. Man kann einfach herumschlendern, ohne dass es komisch ist. Es fühlt sich irgendwie so an, als würden jetzt viele soziale Regeln nicht mehr gelten. Draußen ist man irgendwie gemeinsam alleine. Ich habe auch das Gefühl, dass dieser soziale Druck (immer was Cooles mit anderen Leuten zu machen) abfällt. Jeder ist jetzt mal für sich und hat eine Auszeit.« (Sandra Z.: 8) Die detailliert ausgefüllten Zeitverwendungsbögen über fünf Tage (vom 30. März bis zum 3. April 2020) spiegeln die Verlangsamung ihres Alltags wider: Sie steht gegen 9:00 auf, frühstückt gemütlich, arbeitet im Homeoffice,

Zwischen Entschleunigung, Entgrenzung und Überforderung

geht laufen, macht Yoga, meditiert, »chillt«, bäckt, näht Mundschutzmasken mit ihren Mitbewohnerinnen, telefoniert mit ihrem Partner oder mit Freundinnen und geht dann gegen Mitternacht schlafen. Im Vergleich zu Miriam K., Doris L. und Inge D. ist festzuhalten, dass für Sandra Z. aufgrund der Wohnsituation in einer WG jener zentrale Faktor nicht im gleichen Maße zum Tragen kommt, der in dieser Altersgruppe während des ersten Lockdowns als besonders belastend gelten kann: die Einsamkeit. Aber auch zu viel Nähe ohne Ausweichoptionen, wie dies in einer WG auftreten kann, bewirkte im ersten Lockdown mitunter soziale Probleme. Bei Sandra Z. scheint dies allerdings, wie ihre Ausführungen zeigen, nicht der Fall gewesen zu sein.

4.2

Ambivalente Wahrnehmungen im Homeoffice: Zwischen Entschleunigung, Entgrenzung und beschleunigter Verdichtung

Die von uns befragten jungen Frauen gingen während des ersten Lockdowns zum Großteil ihrer Tätigkeit im Homeoffice nach, nur einige wenige arbeiteten in systemrelevanten Berufen außer Haus. Im Zusammenhang mit Homeoffice werden von den Befragten viele unterschiedliche – positive wie negative – Aspekte genannt. Die jungen Frauen, die in unserer Stichprobe bis auf eine Ausnahme keine Betreuungspflichten für Kinder haben, können sich teilweise im Homeoffice besser konzentrieren, da sie sich weniger abgelenkt fühlen als in ihrem üblichen Arbeitsalltag außer Haus. Die Folge davon ist, dass sie ihr Arbeitspensum schneller erfüllen können; und das insbesondere dann, wenn die Zusammenarbeit mit Kolleg*innen und Vorgesetzten gut funktioniert, wie dies die 26-jährige Karin E. detailliert beschreibt: »[Das Homeoffice; Anm. d Verf.] funktioniert sehr gut. Ich fühle mich sehr produktiv und auch die Zusammenarbeit mit meinen Kollegen funktioniert ausgesprochen gut. Auch Meetings funktionieren konstruktiv und einwandfrei. Die Abstimmung mit meiner Führungskraft erfolgt regelmäßig und adäquat – ich kann selbstständig arbeiten, werde aber trotzdem immer wieder abgeholt und nicht alleine gelassen.« (Karin E.: 5) Die vollbeschäftigte Angestellte Karin E., die mit ihrem Lebensgefährten in einer Zweizimmerwohnung lebt, fühlt sich weniger gestresst als gewöhnlich in ihrem Alltag und hat während des ersten Lockdowns mehr Zeit für sich selbst – ein Befund, der sowohl auf Stressreduktion im Homeoffice, durch konzentriertes Arbeiten sowie durch den Wegfall des Arbeitsweges und vie-

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ler Termine, als auch auf Stressreduktion im Freizeitbereich zurückzuführen ist. Auf die Frage, was in ihrem Alltag für Karin E. besonders entlastend sei, antwortet diese: »Ich habe Zeit zu kochen und ich kann länger schlafen – bin dadurch ausgeschlafener und fitter in der Arbeit. Die Zeit, die ich sonst zum In-die-ArbeitFahren gebraucht habe, kann ich nun für mich selbst in der Früh nutzen. Auch Besprechungen sind weniger geworden und ich habe mehr Zeit, mich auf die Dinge zu stürzen, für die ich in der Arbeit keine Ruhe und Zeit gefunden habe. Entlastend ist auch die gewonnene Zeit, die ich für meine Hobbies nun habe, für z.B. lesen, stricken, kreative Sachen und vor allem Sport, da ich sonst fast jeden Tag nach der Arbeit einen Termin hatte und nur sehr schwer zu all diesen Dingen regelmäßig gekommen bin.« (Karin E.: 7) Die von ihr ausgefüllten Zeitverwendungsbögen (vom 23. bis zum 27. März 2020) zeigen einen sehr strukturierten Arbeitstag: Karin E. steht um 7:00 auf, nach dem Frühstück beginnt sie gegen 8:00 mit dem Arbeiten, macht eine kurze Mittagspause um 12:00 und setzt ihre Tätigkeit dann bis 16:00 fort. Danach geht sie spazieren (am 23. und 26. März), kocht, strickt, malt, sieht fern oder einen Film/eine Serie via Netflix, liest oder skypt. Ihr Berufsalltag ist, wie die Zeitverwendungsbögen zeigen, nicht entgrenzt oder verdichtet. Entschleunigungseffekte werden benannt und positiv wahrgenommen, wenngleich Karin E. auch die negativen Seiten davon thematisiert: die massive Einschränkung außerhäuslicher sportlicher und sozialer Aktivitäten (vgl. Karin E.: 18). Karin E. steht hier für jene Gruppe von jungen Frauen im Homeoffice, die über durchaus positive Erfahrungen während des ersten Lockdowns berichten: Sie freuen sich über den Wegfall des Arbeitsweges, können sich zu Hause besser konzentrieren und fühlen sich selbstbestimmter, insbesondere dann, wenn die Unterstützung durch die Vorgesetzten und Kolleg*innen vorhanden ist. Entschleunigungseffekte sind auf den Wegfall des Arbeitsweges, teilweise auf flexible Zeitarrangements, die sowohl zur Stressreduktion als auch zu Entgrenzungserfahrungen führen können, sowie auf fokussiertes und konzentriertes Arbeiten zu Hause zurückzuführen. Das Arbeiten zu Hause hat für die befragten jungen Frauen jedoch auch zahlreiche Schattenseiten. Manchen fällt die Konzentration im Homeoffice schwer. So schildert die 28-jährige Lisa O., die mit ihrem Partner und ihren Eltern in einem Haus zusammenlebt, dass der Informationsfluss bzw. die Kommunikation mit den Arbeitskolleg*innen sehr gering sei und dass es

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ihr schwerfalle, sich zu fokussieren bzw. zu konzentrieren (vgl. Lisa O.: 5). Homeoffice bedeutet auch mitunter mehr Arbeitsstunden als üblich, weniger Pausen und die Entgrenzung der Lebensbereiche Freizeit und Erwerbsarbeit, da diese bei einigen der Befragten nun fließend ineinander übergehen und dies als »belastend« erlebt wird (vgl. Lisa O.: 7). Damit einhergehend lassen sich schwindende Motivation und eine subjektiv empfundene Überforderung beobachten, die je nach Arbeits- und Lebenssituation unterschiedliche Ursachen haben können. So erzählt beispielsweise Luisa P., eine 26-jährige Lehrerin, die mit ihren Eltern und ihrer Schwester in einem Einfamilienhaus lebt: »Es ist teilweise sehr schwierig unter den gegebenen Umständen meinen Job weiter auszuüben. Ich unterrichte eine 1. Klasse, also ist es unmöglich, die Kinder ohne die ständige Mithilfe der Eltern zu erreichen oder gar zu unterrichten. Ich fühle mich oft überfordert, da ich der Situation gerecht werden will, andererseits gar nicht gerecht werden kann, da ich meine eigentliche Arbeit nicht ausführen kann, sondern nur Material und Tipps an die Eltern weiterleiten kann. Weiters ist es sehr schwierig zu entscheiden, was die Kinder bräuchten, was die Eltern ›leisten‹ können und über welche Kanäle man diese Informationen bekommt und weitergibt.« (Luisa P.: 5) Während sich für Luisa P. der Arbeitsalltag sehr stark verändert hat, bedeutet für andere die Verlagerung der Tätigkeit ins Homeoffice keine große Veränderung: »Für mich ändert sich eigentlich nicht viel, außer, dass ich nicht mehr in das Büro […] fahre« (Sandra Z.: 5), erzählt Sandra Z. »Mein Vorgesetzter arbeitet sowieso aus dem Ausland. Meine Kolleginnen waren selten im Büro. Es fällt mir nicht so schwer, mir zu Hause dieselben Arbeitszeiten wie im Büro einzuteilen. Für Besprechungen telefonieren wir jetzt oder benutzen Skype. Der Arbeitsbeginn verschwimmt allerdings ein bisschen, weil ich zuerst noch irgendwelche Sachen fertigmache. Das Arbeitsende ist meist abrupter, wenn ich meine Stunden für den Tag fertig habe. Dann schließe ich alles auf dem Laptop und habe plötzlich Freizeit. Das ist irgendwie komisch, weil der Weg nach Hause wegfällt. Dann bin ich immer kurz überfordert, und weiß nicht, was ich machen soll. So schnell zwischen Arbeit und Freizeit zu switchen[,] ist manchmal schwierig.« (Sandra Z.: 5) Sandra Z. erlebt zwar keine zeitliche Entgrenzung in ihrer HomeofficeTätigkeit, spricht jedoch eine verstärkte räumliche Entgrenzung der Arbeit an, indem diese in den Privatraum verlegt wird.

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Während Frauen im Homeoffice, insbesondere ohne Care-Tätigkeiten, wie im Vorangehenden nachgezeichnet wurde, teilweise zu Beginn der Corona-Pandemie von einer Verlangsamung des Arbeitsalltags sprechen, lässt sich bei jenen, die nach wie vor ihrer Erwerbsarbeit außer Hause nachgehen, zum Großteil eine beschleunigte Verdichtung beobachten; und dies insbesondere im Gesundheitsbereich.

4.3

Lebensgeschichtliche Kontextualisierungen

Wenn wir die Auswirkungen der Corona-Krise auf den Lebensalltag analysieren, sollten die individuellen Ausgangslagen im Hinblick auf Gesundheit und allgemeine Lebenszufriedenheit der Befragten stets mit in den Blick genommen werden, um Fehlinterpretationen zu vermeiden bzw. um die vorliegenden Daten kontextualisieren zu können. Daher wurden unseren Studienteilnehmer*innen folgende Fragen gestellt:15 »Wie geht es Ihnen derzeit?« (Antwortmöglichkeiten: »sehr gut«, »gut«, »weniger gut« und »gar nicht gut«), »Wie würden Sie im Allgemeinen Ihre Gesundheit beschreiben?« (Antwortmöglichkeiten: »sehr gesund«, »gesund«, »weniger gesund« und »gar nicht gesund«), »Wie würden Sie derzeit Ihre Gesundheit beschreiben?« (Antwortmöglichkeiten: »sehr gesund«, »gesund«, »weniger gesund« und »gar nicht gesund«), »Können Sie uns über Ihren derzeitigen Gesundheitszustand etwas erzählen?« (offene Frage), »Wenn Sie an die letzten Jahre Ihres Lebens denken, wie fühlten Sie sich meistens? (Antwortmöglichkeiten: »sehr glücklich«, »glücklich«, »weniger glücklich«, und »unglücklich«) und »Wollen Sie uns mehr darüber erzählen, wie sie sich in den letzten Jahren fühlten?« (offene Frage). Die befragten Frauen zwischen 21 und 30 Jahren berichten selten von einer allgemeinen Lebenszufriedenheit in der Rückschau auf die letzten Jahre.16 Unzufriedenheiten betreffen dabei sowohl die Erwerbsarbeit als auch Liebesbeziehungen. In Reflexionen sprechen die Frauen von ambivalenten Erfahrungen, von »Hoch- und Tiefphasen« (vgl. Miriam K.: 9) oder einem beständigen »Auf und Ab« (vgl. Susanne P.: 8). Berufliche Rückschläge

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Alle Fragen enthielten auch die Antwortmöglichkeit »keine Angabe«. Hier zeigt sich auch ein großer Unterschied beispielsweise zu älteren Frauen zwischen 51 und 60 Jahren, die über eine generell höhere Grundzufriedenheit, oftmals vor dem Hintergrund bereits erlittener Schicksalsschläge, berichten (vgl. Haring-Mosbacher und Scaria-Braunstein 2021: 294).

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treffen nicht selten auf private Herausforderungen, wenngleich das Privatleben auch einen positiven Abfederungseffekt auf berufliche Misserfolge haben kann. Zusammengefasst kann gesagt werden, dass für Frauen in dieser Altersgruppe das Leben bereits vor Corona oftmals nicht einfach war. Schon in ihren beruflichen Anfangsjahren waren sie mit Überforderungen konfrontiert und/oder durchlebten unglückliche Beziehungen. Dieser Erlebnishorizont bildet gleichsam die Hintergrundfolie ihrer Wahrnehmungen der CoronaKrise und damit korrespondierender Gefühlslagen. Gleichzeitig sind sie in den Erzählungen aber auch bemüht, nicht allzu unzufrieden zu erscheinen. Im Vergleich mit älteren Frauen wird deutlich, dass Frauen der von uns in diesem Beitrag untersuchten Altersgruppe noch selten von chronischen Erkrankungen berichten. Ihre gesundheitlichen Beschwerden reichen von Blasenentzündungen bis zu Allergien; diese werden jedoch Großteils als harmlos beschrieben. Mitunter erzählen die Frauen zwischen 21 und 30 Jahren von einer zunehmenden Müdigkeit, die teilweise auf Schlafprobleme zurückzuführen ist. Um körperlichen und geistigen Beschwerden entgegenzuwirken, setzen einige der Frauen auf sportliche Aktivitäten. Dadurch soll ein positives Gesundheitsgefühl erzeugt werden. Auch das Achten auf eine ausgewogene und gesunde Ernährung wird von den Frauen als Maßnahme gesetzt, um den eigenen Körper in dieser Ausnahmezeit bestmöglich fit zu halten. In den Erzählungen steht nicht ein angestrebtes Schönheitsideal im Vordergrund, sondern eine präventive Selbstsorge, die einen funktionierenden Körper und eine ausgeglichene Psyche sicherstellen soll.

5.

Zusammenfassende Schlussbemerkung und Ausblick

Am Beginn der Corona-Krise Anfang 2020 unterstrich Joris Steg die Besonderheit der Corona-Pandemie: Es handelt sich bei SARS-CoV-2 um eine neuartige Krankheit, für die es zum damaligen Zeitpunkt noch keine wirksamen Gegenmittel oder eine Impfung zur Behandlung gab. Die Betroffenheit war global und auch liberaldemokratische Staaten ergriffen umfassende Maßnahmen, die die Freiheit des einzelnen Staatsbürgers bzw. der einzelnen Staatsbürgerin massiv einschränkten. Die Corona-Krise, so Steg Anfang 2020, betrifft jede*n: »Es ist unmöglich, sich der Corona-Krise und den Krisenmaßnahmen komplett zu entziehen.« (Steg 2020) Sie werde massive politische, ökonomische und soziale Folgen haben (vgl. Steg 2020).

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Der Beginn der Corona-Krise, der häufig mit den »Toten von Bergamo« und den ersten Lockdowns in vielen Staaten Europas gleichgesetzt wird, bedeutete, dass sich für Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer unterschiedlichen Alters und heterogener Bildungskontexte das Alltagsleben, dessen Routinen und Praktiken stark veränderten. »Nun werden wir räumlich plötzlich auf unsere eigenen Wände zurückgeworfen«, so Hartmut Rosa 2020. »Der zeitliche Horizont ist auch massiv eingeschränkt und keiner weiß, was in drei oder vier Wochen ist. Das ist völlig unwägbar geworden. Das ändert die Weise unseres In-der-Welt-Seins« (Rosa 2020) und markiert wohl insofern eine starke Abweichung von der Normalität. Vor dem Hintergrund zentraler, in unterschiedlichen soziologischen Gegenwartsdiagnosen und Sozialtheorien herausgearbeiteter Topoi spätmoderner Gesellschaften wie Individualisierung, Pluralisierung, Erlebnisorientierung, Optionensteigerung, Beschleunigung, Optimierung bzw. dem Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit in einer »Gesellschaft der Singularitäten« (Reckwitz 2017) wurden entlang der komplexen, sich sowohl auf das Arbeits- als auch das Privatleben beziehenden Themenfelder Entschleunigung, Entgrenzung, beschleunigte Verdichtung sowie Einschränkung der Multioptionalitäten die Lebensalltage von jungen Frauen zwischen 21 und 30 Jahren näher analysiert. Die befragten Frauen erfahren ihren neuen Covid-19-Lebensalltag durchaus unterschiedlich. Im Kontext einer stärkeren Erlebnisorientierung und eines höheren Aktivitätsniveaus bei jüngeren Altersgruppen nahmen einige Befragte den ersten Lockdown als eine entschleunigte Zeit wahr, in der es zu einer Verlangsamung des Lebenstempos und damit einhergehend zu einer persönlichen Stressreduktion kam. Diese wurde einerseits durch verminderte soziale »Verpflichtungen« und andererseits durch die teilweise positiven Effekte der Homeoffice-Arbeit bedingt. Ob die Verlagerung der Arbeit in die »eigenen vier Wände« letztlich eine Entgrenzung beruflicher und privater Lebenswelten und ein stärkeres Ineinanderfließen von Arbeits- und Freizeit bedeutete, wurde von den Befragten durchaus unterschiedlich wahrgenommen. Deren Alltagswelt im März und April 2020, die eine »Neuordnung des Privaten« (Speck 2020: 137) bedingte, war in der untersuchten Altersgruppe durchaus heterogen. Ambivalent ist auch der Befund, ob »das Leben zu Hause« nun mehr Selbstbestimmung im Sinne von weniger »Außenleitung« (Riesman et al 1950) und mehr Zeit für sich selbst oder weniger Selbstbestimmung im Sinne von eingeschränkter Wahlfreiheit nach sich zog. Die starke Reduktion von Freizeitop-

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tionen im Bereich von sportlichen oder Urlaubsaktivitäten wurde jedoch von den meisten Befragten dieser Altersgruppe als belastend empfunden; ebenso fehlten manchen Routinen, die dem Alltag Struktur geben und Orientierung vermitteln. Gerade bei den jüngsten Befragten zeigt sich die Belastung durch weggefallene Routinen und Strukturen. Die Notwendigkeit einer plötzlich völlig eigenständigen Alltagsgestaltung stellte manche junge Frau vor außergewöhnliche Herausforderungen: »Chaos, unfertige Wohnung; selbstständige Strukturierung des Alltags.«, hält die 21-jährige Studentin Claudia I. diesbezüglich fest (Claudia I.: 7). Die Erfahrungen im ersten Lockdown führten bei Frauen zwischen 21 und 30 Jahren mitunter auch zu Ermüdungserscheinungen, die u.a. auf Schlafprobleme zurückzuführen waren. Einsamkeit war, wie auch Schiestl und Pinkert (vgl. Schiestl und Pinkert 2020) herausarbeiteten, ein belastender Faktor insbesondere für Student*innen (neben Schüler*innen und Arbeitslosen); und Einsamkeit korreliert wiederum mit Schlafproblemen (vgl. Schiestl, Kalleitner und Kittel 2020). Zugleich wuchs die Sorge um die eigene Gesundheit und damit der Druck, ein positives Gesundheitsgefühl aufrechtzuerhalten und Erkrankungen – auch über eine Covid-Infektion hinaus – vorzubeugen. Diese Vorsorgeaktivitäten haben einen Grund: Einige der jungen Frauen berichteten von bereits einsetzenden Erkrankungen, oft psychisch bedingt oder mit psychosomatischen Ausprägungen. Auch wenn diese Erscheinungen von den Betroffenen meist als handhabbar beschrieben werden, sind die Beschwerden doch auffallend vielfältig. Dass die spätmoderne Kultur oftmals Unbehagen und Überforderung mit sich bringt, indem sie an das Individuum paradoxe gesellschaftliche Erwartungen stellt, lässt sich bereits in Prae-Corona-Zeiten am Beispiel eines zunehmenden Selbstoptimierungsdrucks junger Menschen als Auswirkung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse beobachten. Denn das »einzelne Subjekt muss sich im Rahmen gesellschaftlicher Ressourcen eine eigene Lebensform erarbeiten« (Keupp 2010: 245); und dies in einer innovativen und außergewöhnlichen Art und Weise. Dieser Selbstoptimierungsdruck umfasst nicht nur den Körper, sondern die gesamte Lebenswelt und verheißt soziale Anerkennung (vgl. Busch und Schreiber 2021). Stärker jedoch als davor – so kann vermutet werden –, wurden junge Frauen in der Zeit des ersten Lockdowns in eine Selbstbeobachtung und

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Selbstsorge gedrängt.17 Gleichzeitig fürchtet aber gerade diese Altersgruppe auch einen »Kontrollverlust über ihr Leben«.

Literatur Amlinger, Carolin und Oliver Nachtwey. »Die Risikogesellschaft und die Gegenwart«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Feb. 2021, Nr. 40, S. N3. Amlinger, Carolin und Oliver Nachtwey. »Sozialer Wandel, Sozialcharakter und Verschwörungsdenken in der Spätmoderne«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 71. Jg., 35-36, 2021, 30. Aug. 2021a, S. 13-19. Anton, Julia. »Frauen macht die Corona-Krise besonders unglücklich«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/m enschen/frauen-macht-die-krise-besonders-ungluecklich-17858804.html. Aktualisiert am 7. März 2022. Aufgerufen am 15. Apr. 2022. Baur, Nina und Leila Akremi. »Lebensstile und Geschlecht«, in: Lebensstilforschung. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 51, hg. von Gunnar Otte und Jörg Rössel, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011, S. 269-294. Beck, Ulrich. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986. Beck, Ulrich und Elisabeth Beck-Gernsheim. »Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie«, in: Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, hg. von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994, S. 10-39. Beham-Rabanser, Martina, Karin Scaria-Braunstein, Sabine A. HaringMosbacher, Matthias Forstner und Johann Bacher. »Arbeit und Familie im Covid-19-Alltag«, in: Zur Lebenssituation der Österreicherinnen und Österreicher in der Corona-Krise. Soziale Grundwerte und Zukunftsszenarien, hg. von Wolfgang Aschauer, Christoph Glatz und Dimitri Prandner, Wiesbaden: Springer VS, 2022, S. 31-68.

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Der Druck zur körperlichen Selbstoptimierung scheint bei Männern noch stärker zu sein, da Frauen immer noch jene sind, die sich darüber hinaus auch um die sozialen Aspekte kümmern »sollen«.

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Sozioökonomische Krisenfolgen und Geschlechtergerechtigkeit im Wissenschaftsbereich Barbara Hönig und Simone Liesnig

Abstract Welche Auswirkungen hat die Coronakrise auf Geschlechtergerechtigkeit im Wissenschaftsbereich? Der vorliegende Beitrag geht dieser Fragestellung aus interdisziplinär sozioökonomischer Perspektive nach. Vermutet wird, dass geschlechtsspezifische lebensweltbezogene Auswirkungen der Coronakrise zur Verstärkung bestehender Ungleichheit im Wissenschaftsbereich beitragen und eine durch die Krise erzeugte verstärkte mediale Präsenz von Wissenschaft in öffentlichen Medien sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen nur teilweise zugutekam. Diese Thesen werden durch eine Kombination einer Literaturanalyse zu Kriseneffekten auf den Wissenschaftsbereich mit einer Diskursanalyse zur Wissenschaftspräsenz und Zuschreibungen wissenschaftlicher Expertise in deutschsprachigen Qualitätsmedien (Der Standard, Neue Zürcher Zeitung, Spiegel Online) im Zeitraum von Herbst 2019 bis Frühjahr 2021 einer Überprüfung unterzogen.   Keywords: Covid-19-Pandemie, Corona, Krisenfolgen, Geschlechtergerechtigkeit, Wissenschaftsdisziplinen

1.

Einleitung und Fragestellung

Für viele Mitglieder der Wissenschaftsgemeinschaft waren die enormen gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise mit der Hoffnung verknüpft, dass diese die Bedeutung von Wissenschaft und Forschung ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt und zu einer finanziellen Aufwertung beizutragen vermag. Neben den medizinischen Wissenschaften würden auch die Sozial- und Geisteswissenschaften, so die Erwartung, durch die erhöhte Sichtbarkeit ihrer krisenbezogenen Forschung gewinnen.

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Bald mehrten sich zugleich Befunde, dass die Coronakrise als Lebensweltkrise zur Verstärkung bestehender Ungleichheitslagen innerhalb der Wissenschaft führte, die überwiegend auf eine Retraditionalisierung geschlechtlicher Arbeitsteilung zurückzuführen ist (für den deutschsprachigen Raum: Allmendinger 2020; Bünning et al. 2020; Hipp und Bünning 2021; Kreyenfeld und Zinn 2021; Möhring et al. 2020; Zinn und Bayer 2021; für den englischsprachigen Raum: Minello et al. 2021; Myers et al. 2020; Staniscuaski et al. 2020; Viglione 2020). Mühsam erkämpfte Erfolge in der Geschlechtergleichstellung werden, so die Befürchtung, neuerlich infrage gestellt. Welche Auswirkungen hat die Coronakrise auf Geschlechtergerechtigkeit im Wissenschaftsbereich? Und spezifischer: Worin liegt die Bedeutung der Stellung der Sozial- und Geisteswissenschaften für die Frage der Geschlechtergerechtigkeit? Der vorliegende Beitrag geht dieser Fragestellung aus interdisziplinär sozioökonomischer Perspektive nach. Der Begriff der Geschlechtergerechtigkeit wird von uns dazu verwendet, das Ziel sozialer Gerechtigkeit (social justice) bezogen auf die Geschlechterdimension im Wissenschaftsbereich zu betonen (z.B. Dahmen und Thaler 2017), wobei wir davon ausgehen, dass Gleichstellungsmaßnahmen an Hochschulen ebenso weitere »Achsen der Ungleichheit« (Klinger et al. 2007) wie insbesondere Klasse und ethnische Herkunft oder auch Ungleichheiten nach Wissenschaftsdisziplinen einzubeziehen haben. Vermutet wird, dass geschlechtsspezifische lebensweltbezogene Auswirkungen der Coronakrise zur Verstärkung bestehender Ungleichheit im Wissenschaftsbereich beitragen und eine durch die Krise erzeugte verstärkte mediale Präsenz von Wissenschaft in öffentlichen Medien sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie auch der Repräsentanz von Frauen als Wissenschaftlerinnen in den Medien nur teilweise zugutekam. Diese Thesen werden durch eine Kombination einer Literaturanalyse zu Kriseneffekten auf den Wissenschaftsbereich mit einer Diskursanalyse zur Wissenschaftspräsenz und Zuschreibungen wissenschaftlicher Expertise in deutschsprachigen Qualitätsmedien (Der Standard, Neue Zürcher Zeitung, Spiegel Online) im Zeitraum von Herbst 2019 bis Frühjahr 2021 einer Überprüfung unterzogen. Der Zusammenhang der beiden Thesen erschließt sich bei näherer Betrachtung der Bedeutung der Stellung der Sozial- und Geisteswissenschaften für die Frage der Geschlechtergerechtigkeit. Im Vergleich zu anderen Disziplinen sind in diesen Bereichen weibliche Forschende häufiger vertreten (vgl.

Sozioökonomische Krisenfolgen und Geschlechtergerechtigkeit im Wissenschaftsbereich

European Commission 2021: 176ff)1 , weswegen eine Stärkung der Sozial- und Geisteswissenschaften indirekte Effekte auf ein Erhöhen der Geschlechtergerechtigkeit in der Wissenschaft vermuten lässt. Eine Analyse geschlechtlicher Krisenfolgen im Wissenschaftsbereich bietet auch neue Chancen dafür, konkrete Maßnahmen der Gleichstellungspolitik in Wissenschaft und Forschung zu entwickeln und umzusetzen, um im weiteren Verlauf der Pandemie und in zukünftigen Krisen das Ziel der Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen.

2.

Die Sozial- und Geisteswissenschaften und ihre Öffentlichkeiten in der Krise: Eine vergleichende Analyse deutschsprachiger Qualitätsmedien

Nach Auffassung der Wissenschaftssoziologie unterliegt die Entwicklung der Wissenschaften einem diskursiv dynamischen Konkurrenzkampf der Disziplinen, die in einem permanenten Wettbewerb um materielle Ressourcen, symbolische Reputation und öffentliche Aufmerksamkeit zueinander stehen. Die diesem Feld der Wissenschaften zugrundeliegende Dynamik des »Streits der Fakultäten« (z.B. Bourdieu 1988: 82ff) und die davon erzeugte, grundsätzlich veränderliche »Hierarchie der Disziplinen« (Cole 1992: 106ff; Cole 1983) demonstrieren innerwissenschaftliche Debatten und Kontroversen, jedoch auch Diskurse außerwissenschaftlicher Akteur*innen wie etwa Institutionen der Forschungsförderung2 oder auch öffentliche Medien. Fassen wir die Coro1

2

Zugleich ist darauf hinzuweisen, dass trotz der hohen Frauenanteile unter Absolvent*innen dieser Studien Frauen als Institutsleiter*innen und Professor*innen nach wie vor unterrepräsentiert sind. Laut Europäischer Kommission lag im Jahr 2021 die Repräsentanz von Frauen unter Professor*innen im europäischen Durchschnitt bei 35 % in den Geisteswissenschaften, 30,9 % in den Sozialwissenschaften, 22 % in den Naturwissenschaften und 17,9 % in den Ingenieurswissenschaften (vgl. European Commission 2021: 97). So demonstrierte eine längere Forschungsarbeit, wie europäische Forschungsförderung dazu beiträgt, eine »Hierarchie der Wissenschaftsdisziplinen« zu erzeugen und zu verfestigen, in der die universitär institutionalisierten Sozial- und Geisteswissenschaften systematisch unterrepräsentiert sind: Speziell im deutschen Sprachraum haben Sozial- und Geisteswissenschaften eine deutlich schlechtere Chance europäische Forschungsförderung zu erhalten (Hoenig 2017; 2018). Diese Befunde bezogen sich auf die Situation der Sozialwissenschaften schon vor der Coronakrise. Für europäisch-vergleichende Untersuchungen mit Blick auf Geschlechtergerechtigkeit und die Covid-19Pandemie vgl. Jenkins et al. 2022.

71

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nakrise allgemein als verstärkendes »Brennglas« bestehender Ungleichheiten im Wissenschaftsbereich auf, ist zu vermuten, dass auch außerwissenschaftliche Medien zur Reproduktion einer bestimmten Hierarchie der Disziplinen beitragen. Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um eine vorläufige kleine Untersuchung, um diese Vorannahme zu prüfen, wobei deren Aussagekraft entsprechend begrenzt ist; doch kann sie im besten Fall als Heuristik für weitere Forschung in diesem Themenfeld wirken. Die Diskursanalyse deutschsprachiger Qualitätsmedien untersucht den krisenbedingten Wandel der Situation der Sozial- und Geisteswissenschaften, sowohl innerhalb eines interdisziplinär dynamischen Wissenschaftsfeldes als auch in Kommunikation mit außerwissenschaftlichen Öffentlichkeiten. Im Einzelnen wird folgenden Fragestellungen nachgegangen: Erstens, in welchem Umfang werden Sozial- und Geisteswissenschaften im Kontext der Coronakrise im Vergleich zu weiteren Wissenschaftsdisziplinen in öffentlichen Medien dargestellt? In welcher Weise machen sie ihre disziplinspezifischen Wissensansprüche (jurisdictions, Abbott 1988) gegenüber den Lebens-, Natur- und Technikwissenschaften geltend und behaupten ihre Definitionsmacht im Wettbewerbsdruck der Disziplinen um öffentliche Aufmerksamkeit (vgl. Weingart 2001)? Die These dazu ist, dass die Coronakrise den Wettbewerbsdruck der Disziplinen zum Nachteil der Sozial- und Geisteswissenschaften im Vergleich zu den Lebenswissenschaften verschärft. Bezogen auf Wissenschaftsdisziplinen wird angenommen, dass innerhalb der Sozialwissenschaften die Soziologie vor allem mit der Ökonomie und den Politikwissenschaften um Deutungen der sozioökonomischen als auch zivilgesellschaftlichen Folgen der Coronakrise konkurriert. Von wissenschaftlichen Themensetzungen her, die in öffentlichen Diskursen um Corona-bezogene Forschung präsent sind, wäre jedoch auch möglich, dass nach einer ersten und kurzfristigen Phase der vor allem medizinischen Fragestellungen sich die mediale Berichterstattung nunmehr den mittelfristigen, insbesondere sozialökonomischen Krisenfolgen zuwendet. Langfristige Folgen der Pandemie betreffen schließlich die zivilgesellschaftlichen, demokratie- und forschungspolitischen Rahmenbedingungen und deren durch die Pandemie bedingten Wandel. Es könnte also vermutet werden, dass sich die Themensetzungen im öffentlichen Diskurs über krisenbedingte Folgen im Zeitverlauf entsprechend verschieben. Diese Annahme, die der britische Wissenschaftsforscher James Wilsdon im ersten Halbjahr der Pandemie bezogen auf öffentliche Forschungsförderung formu-

Sozioökonomische Krisenfolgen und Geschlechtergerechtigkeit im Wissenschaftsbereich

lierte (Wilsdon 2020), soll hier ebenfalls empirisch bezogen auf die mediale Präsenz der Wissenschaften untersucht werden. Zweitens unternimmt die Medienanalyse einen Vergleich der Akteur*innen wissenschaftlicher Expertise und ihrer Meta-Diskurse: Werden veränderte Rahmenbedingungen und gruppenbezogene Ungleichheitslagen in der Forschung selbst zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung? Was bedeutet die Coronakrise für Zuschreibungen öffentlicher Expertise an Akteur*innen der Wissenschaft aus Sicht der Geschlechtergerechtigkeit? Die These dazu lautet: Die Krise verstärkt existierende Ungleichheitslagen nicht nur zwischen Disziplinen, sondern auch zwischen sozialen Gruppen im Wissenschaftssystem, vor allem unterrepräsentierter3 Gruppen wie Frauen, ethnische Minderheiten und Forscher*innen mit Migrationsbiographie. Begrifflich-theoretisch verorten wir unsere Forschung in der strukturtheoretischen Wissenschaftssoziologie Robert Mertons, der bereits mit seiner Dissertation (Merton 1938) eine Analyse sozialen Wandels in der Wissenschaft vorlegte; in aktuellen Analysen der Wissenschaftskommunikation wird meist auf sein Theorem des Matthäus-Effekts (Merton 1968; 1988) rekurriert. Die neuere Geschichte der Sozial- und Geisteswissenschaften befasst sich mit dem Erforschen transnationaler Felder, Dynamiken und Zirkulationen des Wissens (Bourdieu 1988; Heilbron et al. 2018). Aus unserer Sicht liefern diese Arbeiten Anregungen zur Erforschung medialer Wissenschaftskommunikation (Weingart 2001; Franzen 2011; Bogner 2011) und Öffentlichkeiten als Austragungsort von Konflikten um Expertise, auch zwischen Disziplinen (vgl. dazu auch Hoenig 2018; Jenkins et al. 2022).

2.1

Forschungsdesign: Methode und Sample

Die Fragestellung legt eine quantitative als auch qualitative Vorgehensweise nahe. Im ersten Schritt unternahmen wir eine quantitative Diskursanalyse (Diekmann 2005: 481ff), um überhaupt das Ausmaß der Darstellung wissenschaftlicher Expertise vergleichend einschätzen zu können. Anhand ei3

Obwohl Frauen mittlerweile die Mehrzahl (59 %) der Doktoratsabschlüsse ausmachen, lag der Anteil von Frauen an Leitungspositionen in der Wissenschaft (Professuren) im europäischen Durchschnitt im Jahr 2018 dennoch nur bei 26,2 % und der Frauenanteil an universitären Institutsleitungen im Jahr 2019 bei 23,6 %. In den hier untersuchten deutschsprachigen Ländern liegt der Frauenanteil an Professuren mit 20,47 % für Deutschland, 24,08 % für die Schweiz und 25,09 % für Österreich noch unter diesem Wert (für alle hier genannten Werte vgl. European Commission 2021: 176ff).

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ner WISO-net-Datenbank-Recherche4 des Pressespiegels verglichen wir die in drei Ländern verorteten Qualitätsmedien Spiegel Online, Neue Zürcher Zeitung und Der Standard5 vor und nach Beginn der Pandemie, und zwar in vier Beobachtungsfenstern von jeweils vierzehn Tagen im Oktober 2019 (t1), März 2020 (t2), Oktober 2020 (t3) und März 2021 (t4). Konkret untersuchten wir ein Sub-Sample von n=662 Artikeln, die die Begriffe »Forschung« und »Corona« enthielten. Das Sample enthielt zu 43,2 % Artikel von Spiegel Online, 32 % der Artikel waren im Standard erschienen, und 24,8 % der Artikel wurden der Neuen Zürcher Zeitung entnommen. Verteilt auf den Beobachtungszeitraum bezogen sich 40,6 % des Samples auf t1, 21,6 % auf t2, 18 % auf t3 und 19,8 % auf t4. Der Anteil Corona-bezogener Forschung an der gesamten Forschung beträgt je nach Medium und Untersuchungszeitraum zwischen 80 % (Spiegel Online im März 2020, t2) und 30 % (Der Standard im März 2021, t4). Für die Differenzierung von Fächergruppen und Disziplinen wandten wir die transnationale Panelstruktur des European Research Council (ERC 2022: 66ff) auf das Sample an.

4 5

https://www.wiso-net.de/dosearch. Aufgerufen am 16. Feb. 2022. Der Spiegel ist eine wöchentlich erscheinende deutsche Zeitschrift, die seit 1947 existiert und mit einer Reichweite von 675.000 Exemplaren in Hamburg herausgegeben wird. Das Onlineportal Spiegel Online wird seit 1994 von einer Tochtergesellschaft herausgegeben. Die Zeitschrift wurde durch eine öffentliche Debatte um Pressefreiheit und Freiheit von politischer Einflussnahme bekannt, die »Spiegelaffäre«. Die Schweizer Tageszeitung Neue Zürcher Zeitung besteht seit 1780 als traditionsreiche und zugleich international bekannte Zeitschrift, die in Zürich herausgegeben wird und im Jahr 2019 eine Reichweite von 253.000 Lesenden erzielte. Die Blattlinie kann als ursprünglich liberal-demokratisch, seit 2015 deutlich rechtskonservativ bezeichnet werden. Seit 2005 bietet die Tageszeitung ein digitales Archiv an, das öffentlich zugänglich ist. Die unabhängige österreichische Tageszeitung Der Standard wurde 1986 gegründet und zielt primär auf ein gebildetes, junges und urbanes Publikum mit linksliberalem Profil. Die Reichweite der Tageszeitung betrug im Jahr 2019 7 Prozent im Printformat und 39 Prozent im Onlineformat (vgl. ÖWA 2019; ÖWA 2020).

Sozioökonomische Krisenfolgen und Geschlechtergerechtigkeit im Wissenschaftsbereich

2.2

Ergebnisse: Vergleich der Disziplinen, Themen, Akteur*innen wissenschaftlicher Expertise

Tabelle 1: Disziplinenvergleich gesamt, in % (n=662 Artikel) Sozial- und Geisteswissenschaften

Lebenswissenschaften

Natur- und Technikwissenschaften

Metadiskurse um Forschung

Ökonomie

16,6

Humanmedizin

14,5

Astronomie

3,6

Forschungsinfrastruktur

6,3

Soziologie

9,2

Immunologie

5,9

Computerscience

3,6

Coronadiskurse

4,2

Politikwissenschaft

5,4

Bio(techno)logie

5,9

Geowissenschaften

3,2

Interdisziplinarität

1,1

Geschichtswissenschaften

3,2

Ökologie

2,4

Technikwissenschaften

2,6

Neurowissenschaften

0,3

Physik, Chemie

1,4

Mathematik

0,6

45,8

27,3

15,3

11,7

Tabelle 1 liefert Ergebnisse zu den relativen Anteilen der Disziplinen gesamt und im Zeitverlauf. Offenkundig sind die Sozial- und Geisteswissenschaften kontinuierlich mit rund 46 % aller Forschungsartikel vertreten, die Lebenswissenschaften mit 27 %, die Natur- und Technikwissenschaften mit 15 %, Metadiskurse um Rahmenbedingungen von Forschung mit rund 12 %. Innerhalb der Sozialwissenschaften konkurriert die Soziologie vor allem mit der Ökonomie und den Politikwissenschaften bzw. der stark repräsentierten Meinungs- und Wahlforschung. Wie Tabelle 2 zeigt, bestätigt sich unsere erste Annahme also nicht: Die Lebenswissenschaften haben im ersten Lockdown im März 2020 vom quantitativen Umfang ihrer Präsenz in der öffentlichen Berichterstattung zwar zugenommen und konnten ihre Dominanz seitdem ausbauen; nicht jedoch zum Nachteil der Sozial- und Geisteswissenschaften, sondern vielmehr der Natur- und Technikwissenschaften. Auch die Metadiskurse um Rahmenbedingungen von Forschung in Institutionen, Politiken und der Finanzierung von Forschung haben seit dem Frühjahr 2020 quantitativ an Bedeutsamkeit gewonnen.

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Tabelle 2: Disziplinenvergleich im Zeitverlauf, in % (n=662 Artikel) Wissenschaftsbereiche

Oktober 2019

März 2020

Oktober 2020

März 2021

Median, in %

Sozial- und Geisteswissenschaften

45,7

48,3

42,0

46,6

45,8

Lebenswissenschaften

22,7

37,1

25,2

28,2

27,3

Natur- und Technikwissenschaften

21,9

4,9

16,8

11,5

15,3

Metadiskurse um Forschung

9,7

9,8

16,0

13,7

11,7

Tabelle 3: Themenvergleich im Zeitverlauf, in % (n=662 Artikel) Themen

Oktober 2019

März 2020

Oktober 2020

März 2021

Median, in %

humanmedizinische

20,4

32,2

27,7

28,2

23,1

sozioökonomische

27,1

48,3

52,1

50,4

43,2

zivilgesellschaftliche

1,1

6,3

13,4

11,5

9,4

40,6

21,6

18,0

19,8

100,0

Gesamt, in %

Eine Analyse wissenschaftlicher Themensetzungen zu Krisenfolgen zeigt, dass sowohl humanmedizinische als auch sozioökonomische und zivilgesellschaftliche, demokratie- und forschungspolitische selbstreflexive Meta-Diskurse um Rahmenbedingungen von Forschung im Beobachtungszeitraum zugenommen haben. Sowohl in Bezug auf sozioökonomische als auch zivilgesellschaftliche Themen ist der Trend zur Zunahme laut unseren Daten sehr eindeutig. Nun kommen wir zu einigen Ergebnissen zur Autorschaft bzw. den Akteur*innen wissenschaftlicher Expertise in den untersuchten Qualitätsmedien. Die in den Medien zu Wort kommenden Expert*innen6 haben wir entlang 6

Bei der empirischen Messung handelt es sich um die Frauenanteile unter den konkret von den Medien direkt oder indirekt zitierten wissenschaftlichen Expertinnen, nicht um eine von den Medien verwendete sprachliche Darstellungsweise nach Geschlecht.

Sozioökonomische Krisenfolgen und Geschlechtergerechtigkeit im Wissenschaftsbereich

ihrer institutionellen Verortung unterschieden. Nationalstaatliche Akteur*innen sind mit rund zwei Drittel stärker präsent als internationale Akteur*innen, wobei deren Anteil während der Lockdowns im Frühjahr und Herbst 2020 anstieg, gewissermaßen als Effekt, der als eine Re-Nationalisierung der Wissenschaftsdebatte durch die Coronakrise interpretiert werden kann. Außeruniversitäre Forschungsinstitutionen (48,3 %) sind gegenüber Universitäten (19 %) überrepräsentiert, d.h. diese kommen mehr als doppelt so häufig in den Medien vor.7 Während im Standard etwa die zwei wichtigsten außeruniversitären Forschungsinstitute in Österreich, das Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) und das Institut für Höhere Studien (IHS) genannt werden, sind dies im Spiegel Online das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), im Schweizer Medium Neue Zürcher Zeitung wird das Wirtschaftsforschungsinstitut der Konjunkturforschungsstelle (KOF) an der ETH Zürich am häufigsten genannt. Einzelpersonen aus dem Wissenschaftsbereich ohne institutionelle Zuordnung kommen mit etwa 13 % aller Nennungen zu Wort, nur geringe Anteile unter 10 % entfallen auf nicht im engeren Sinne forschungsbezogene Institutionen wie NGOs und Institutionen aus Politik, Wirtschaft und dem Kunst- und Kulturbereich. Während der Anteil geschlechtsneutraler Darstellungen im Beobachtungszeitraum mit Werten zwischen 40 % und 48 % relativ gleich blieb, hat sich der Anteil von Frauen unter Expert*innen im Beobachtungszeitraum von 15 % auf 8 % halbiert und jener männlicher Expertise ist von 36 % auf 44 % gestiegen. Der reale Anteil von Forscherinnen an allen Forschern liegt in allen untersuchten Ländern mit jeweils einem Drittel (vgl. European Commission 2021: 97; in Deutschland 27,9 %, in Österreich 30,1 %, in der Schweiz 34,9 %; in der EU-27 32,8 %) hingegen deutlich höher als deren Repräsentation in den untersuchten Medien. Bezogen auf die institutionelle Verortung von weiblicher Expertise haben Forscherinnen von Universitäten (17 %) und NGOs (14 %) bessere Chancen auf mediale Präsenz als jene, die an Forschungsinstituten (8,44 %) arbeiten. Im Zeitschriftenvergleich kommen Frauen als Expertinnen mit rund 15 % im Standard öfter zu Wort als im Spiegel Online und der NZZ

7

Diese sind, ebenso wie Einzelpersonen, als Expert*innen am stärksten in Spiegel Online repräsentiert, Universitäten hingegen etwas mehr in der Neuen Zürcher Zeitung und im Standard. Im Standard kommen häufiger NGOs, politische und kulturelle institutionelle Akteur*innen zu Wort, in der Neuen Zürcher Zeitung hingegen häufiger wirtschaftliche institutionelle Akteur*innen.

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mit jeweils rund 10 %. Allerdings ist auch der Anteil männlicher Experten im Standard höher (47 %) als im Spiegel Online (39 %) und der NZZ (40 %), in denen geschlechtsneutrale Darstellungen von Expertise häufiger vertreten sind.

Abbildung 1: Anteile Geschlechtszugehörigkeit von Expert*innen nach Wissenschaftsdisziplin, in % (n=662 Artikel).

Die Reihung der Disziplinen erfolgte aufgrund ihres quantitativen Auftretens im Sample, das im Bereich der Ökonomie am quantitativ ausgeprägtesten und in den Ökosystemwissenschaften und Kulturwissenschaften am quantitativ schwächsten war.8 Im Bereich der Sozialwissenschaften fällt auf, dass die Ökonomie und auch die Wahlforschung insgesamt stark vertreten sind, jedoch sehr geringe Anteile weiblicher Expertise von unter 10 % aufweisen. Hingegen liegt deren Anteil in den quantitativ schwächer vertretenen Disziplinen der Medienwissenschaften, in den Kognitionswissenschaften, den Kulturwissenschaften und den Geschichtswissenschaften bei rund 8

Wissenschaftsdisziplinen mit Nennungen unter zehn Artikeln wurden aufgrund kleiner Fallzahlen nicht in die Abbildung 1 aufgenommen.

Sozioökonomische Krisenfolgen und Geschlechtergerechtigkeit im Wissenschaftsbereich

20 % oder darüber. Eine öffentliche Diskussion zur Situation ethnischer Minderheiten und zu Forschenden mit Migrationsbiographie in der Coronakrise existiert in den untersuchten Medien jedoch nicht in einer dem anglophonen Sprachraum (z.B. Tilghman et al. 2021; Woolston 2021) vergleichbaren Weise. Auf der Grundlage dieser empirischen Untersuchung, die sich der medialen Präsenz der Geistes- und Sozialwissenschaften und weiblicher Forschender während der Coronakrise widmete, untersuchen wir im Folgenden anhand einer Literaturanalyse empirische Befunde zu Auswirkungen der Coronakrise auf die Situation von Frauen in Wissenschaft und Forschung.

3.

Literaturanalyse: Geschlechtergerechtigkeit im Wissenschaftsbereich und die Coronakrise

Mitte März 2020 wird der Lehrbetrieb an allen österreichischen Hochschuleinrichtungen eingestellt, kurz darauf folgt der erste Lockdown. Die Organisation von Home-Office und Home-Schooling sowie eine deutliche Steigerung der Betreuungspflichten stellen neben der allgemeinen Unsicherheit durch die weltweite Ausbreitung des Covid-19-Virus vor allem Frauen vor eine große Herausforderung. Grundsätzlich wird in der Aufgabenverteilung im Haushalt wieder vermehrt auf eine traditionelle Vorgehensweise zurückgegriffen (vgl. von Würzen 2020: 1ff; Staniscuaski et al. 2020: 724). Unterstützungsmaßnahmen zur Überbrückung des Betreuungsengpasses sind rar und werden viel zu spät in unzureichendem Ausmaß angeboten (z.B. Andersen et al. 2020; Myers et al. 2020). Seitens der Frauen im Wissenschaftsbereich wird eine Verstärkung struktureller Benachteiligung festgestellt (z.B. Deryugina et al. 2021; Gottburgsen et al. 2021). Der Mehraufwand, verursacht durch unbezahlte Care-Arbeit, führt unweigerlich zu Arbeitszeitreduktionen. Dieses Problem wird durch die Coronakrise noch weiter verstärkt. Bei einer Befragung von über 3200 Akademiker*innen berichtet die Mehrheit, dass sie durch die Auswirkungen der Krise stärkeren Belastungen ausgesetzt sind, wobei ein höherer Frauenanteil (57 % der Frauen und 43 % der Männer) gemessen wird. Der durch die Onlinelehre vor allem zu Beginn der Pandemie erhöhte Arbeitsaufwand wird von 37 % der Befragten als fordernd beschrieben (vgl. Settles und Linderman 2020: 2f).

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Barbara Hönig und Simone Liesnig

3.1

Publikationsgeschehen

Um den Lehrbetrieb während der Pandemie aufrechtzuerhalten, verzichten einige Frauen auf die Weiterbearbeitung ihrer Forschungsthemen und widmen sich in den verbliebenen Stunden den Studierenden. Wissenschaft als Lebensform kann von Müttern als Wissenschaftlerinnen nur bedingt praktiziert werden (vgl. Myers et al. 2020: 882; Staniscuaski et al. 2020: 724). Ersichtlich wird diese Entwicklung durch die Untersuchung von Einreichungen und Publikationen für den Krisenzeitraum. Die Zahl der Publikationen und Einreichungen seit Beginn der Krise ist gestiegen. Dies liegt unter anderem daran, dass in nahezu allen Forschungsbereichen Corona-bezogene Forschung betrieben wird. Betrachtet man die Autor*innen der Neuveröffentlichungen, wird jedoch ersichtlich, dass der Großteil der Einreichungen von männlichen Autoren stammt. Viglione spricht sogar von einer doppelt so hohen Steigerung der Publikationen von Wissenschaftlern im Vergleich zur Publikationssteigerung von Wissenschaftlerinnen (vgl. Viglione 2020: 365). Amano-Patiño et al. (vgl. 2020) untersuchen das Publikationsgeschehen des National Bureau of Economic Research (NBER), des Centre of Economic Policy Research (CEPR) sowie der Corona-spezifischen Forschung des CEPR, genannt Covid Economics: Vetted and Real Time Papers. Sind im Durchschnitt der Jahre 2015 bis 2019 in den ersten vier Monaten des Jahres 606 wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht worden, so sind es im Jahr 2020 798. Der Anteil an weiblichen Autorinnen liegt in allen beobachteten Jahren bei ungefähr 20 %. Betrachtet man die pandemiebezogenen Publikationen gesondert, so fällt der Frauenanteil auf 14,6 %. Dies lässt vermuten, dass Frauen ihre bereits begonnenen Forschungsprojekte abschließen können, das neue Feld der Corona-bezogenen Forschung zu Beginn der Pandemie jedoch nicht oder nur in Einzelfällen betreten (vgl. Amano-Patiño et al. 2020: 2ff). Ein ähnliches Bild zeichnet sich auch in anderen Studien mit dem gleichen Forschungsziel ab. Squazzoni et al. (vgl. 2021) berechnen bei der Auswertung der asiatischen, europäischen und amerikanischen ElsevierPublikationen für die Monate Februar bis Mai eine ähnliche Steigerung über 30 % für das Jahr 2020, verglichen mit dem Durchschnitt derselben Monate in den Jahren 2018 und 2019. Wenig überraschend steigt der Trend zu gesundheits- und medizinbezogenen Fachpublikationen besonders (63 %). Die Aufteilung der Publikationen nach Geschlecht bleibt über den beobachteten Zeitraum weitestgehend unbeeinflusst, stellt mit einem 31-prozentigen Frauenanteil jedoch ein etwas optimistischeres Bild dar. Dennoch wird auch

Sozioökonomische Krisenfolgen und Geschlechtergerechtigkeit im Wissenschaftsbereich

in dieser Studie eine deutlich geringere weibliche Partizipation an Coronabezogenen Forschungsarbeiten festgestellt (Squazzoni et al. 2021: 3ff). Eine weitere Auffälligkeit findet sich in der häufigen Co-Autorenschaft von Wissenschaftlerinnen. Eine Analyse der NBER und CEPR Publikationen der Jahre 2015 bis 2020 zeigt, dass Frauen lediglich 12,5 % der von Einzelautor*innen eingereichten Forschungsarbeiten verfassen. Der Frauenanteil steigt mit der Anzahl der Autor*innen auf bis zu 26,5 % für Arbeiten, an denen mehr als fünf Wissenschaftler*innen beteiligt sind. Das vermehrte Antreffen von Frauen in Co-Autorschaften könnte ein Grund dafür sein, warum Frauen ihren Publikationsanteil von 20 % zu Beginn der Krise halten konnten. Keine einzige beobachtete Corona-bezogene Einzelautorenpublikation wurde von einer Frau verfasst (vgl. Amano-Patiño et al. 2020: 6f).

3.2

Erklärungsversuche zum Publikationsgeschehen

Ausschlaggebend für die geringere Beteiligung an Corona-bezogenen Publikationen als auch an den Gesamtpublikationen scheint aber nicht nur das deutlich geringere Zeitkontingent zu sein, welches für Forschungsarbeiten zur Verfügung steht, auch die häufigen Unterbrechungen durch Betreuungsarbeiten, die den Prozess der Forschung stören, könnten einen Grund darstellen (vgl. z.B. Crook 2020). Wissenschaftliche Schreibarbeiten erfordern ein hohes Maß an Konzentration und Inspiration, welche nicht in kurzen Momenten der Ruhe ad hoc abgerufen werden können (vgl. Minello et al. 2021: 87). Bereits bekannte Themenbereiche erfordern weniger Einarbeitungszeit, wodurch ein Fortschritt auch in kürzeren Arbeitseinheiten wahrscheinlicher wird. Frauen wird eine Risikoaversion unterstellt, die sie hemmt, die hohen Kosten der Investition in ein neues Forschungsfeld zu akzeptieren, vor allem, wenn sich die Investition in ein bereits bestehendes Forschungsprojekt noch nicht rentiert hat (vgl. Amano-Patiño et al. 2020: 9). Der Corona-Publication-Gap kann auch in den Arbeitsverhältnissen von Wissenschaftler*innen und den jeweiligen Partner*innen begründet werden. Während bis zu 80 % der Partner*innen von Forscherinnen in Vollzeitbeschäftigung stehen, ist dies lediglich bei der Hälfte der Forscher der Fall. Betreuungspflichten werden also in beiden Situationen eher von Frauen übernommen (vgl. Auspurg et al. 2013: 153). Besonders junge Wissenschaftlerinnen sehen sich durch fehlende Publikationen mit einer geringeren Chance auf eine Karriere in der Forschung konfrontiert. Neben den geringeren Zitationen, die Frauen aufgrund der geringen Publikationen über die Co-

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Barbara Hönig und Simone Liesnig

ronakrise und deren Auswirkungen in Kauf nehmen müssen, werden auch negative Langzeitfolgen prognostiziert (vgl. Squazzoni et al. 2021: 4ff). Ein Bestehen im wissenschaftlichen Beruf ist stark mit der Anzahl und Qualität der wissenschaftlichen Publikationen korreliert. Vielen Wissenschaftlerinnen ist bewusst, dass ihre Publikationsleistung durch die Coronakrise hinter jene ihrer Kolleg*innen ohne signifikante Betreuungspflichten zurückfällt. Sie sehen ihre wissenschaftliche Karriere daher stark gefährdet und blicken unsicher in ihre Zukunft, während sich diejenigen, die seit Beginn der Krise zahlreiche und qualitativ hochwertige wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht haben, beste Chancen ausrechnen, in der Forschungswelt nachhaltig bestehen zu können (vgl. Minello et al. 2021: 88ff).

3.3

Stärkung institutioneller Maßnahmen

Angesichts der beschriebenen Situation wurde bereits die Empfehlung formuliert, Corona-bezogene Forschungsarbeiten nicht in Bewerbungsprozessen zu berücksichtigen, um eine Benachteiligung betreuender Wissenschaftler*innen auszuschließen. Alternativ könnte den Bewerbungsunterlagen ein verpflichtendes Statement beigelegt werden, in dem erklärt wird, welche privaten Umstände in der Coronakrise vorherrschten (vgl. Squazzoni et al. 2021: 8). Von zahlreichen Interessensvertretungen wird ebenso eine Berücksichtigung der vorherrschenden Ungleichheiten gefordert. Die Österreichische Akademie der Wissenschaften verdeutlicht in ihrer Stellungnahme beispielsweise die mit der Coronakrise einhergehenden Selektionsprozesse in Forschung und Wissenschaft, welche nicht durch wissenschaftliche Exzellenz begründbar sind (vgl. Bock et al. 2020). Im Rahmen eines offenen Briefs haben Nachwuchsforscher*innen in Österreich unter anderem das Gründen eines Krisenfonds für Wissenschaft und Hochschulen mit spezifischer Förderung von Personen in prekären Arbeitsverhältnissen gefordert. Da Hochschulangestellte grundsätzlich nicht als systemrelevant gelten, wird außerdem die Anerkennung der Bedeutung von Wissenschaft in der politischen Diskussion gefordert. Von den Hochschulen wird eine Vertragsverlängerung befristeter Prae- und PostDoc-Stellen im Ausmaß der Dauer der Krisensituation gefordert, die auch Drittmittelstellen nicht ausschließen soll. Die Genehmigung von Sonderurlaub aufgrund von Betreuungspflichten über den Zeitraum, in dem Schulen und Kindergärten geschlossen sind, soll unbürokratisch, schnell und rückwirkend möglich sein. Außerdem sollen sämtliche Einreichfristen verlängert und bereits bestehende Projektförderungen finanziell aufgestockt

Sozioökonomische Krisenfolgen und Geschlechtergerechtigkeit im Wissenschaftsbereich

werden (vgl. Verein für Socialpolitik 2020). Deutsche Forscher*innen fordern in einem eigenen offenen Brief zusätzlich eine Unterstützung durch Assistenzen in der Forschungsarbeit und im Lehrgeschehen. Ähnlich wie bei der Elternzeit soll der Zeitraum der Pandemie von Beurteilungen zu Einstellungsund Tenure-Entscheidungen abgezogen werden (vgl. Verein für Socialpolitik 2020). Zwischenzeitlich wurde in Österreich für das Studienjahr 2021/22 eine Novellierung des Universitätsgesetzes 2002 angekündigt (BMBWF 2021). Dieses sieht jedoch keine Maßnahmen gegen die durch die Coronakrise voranschreitende Selektion in der Wissenschaft vor. Verhindert werden soll durch die Novellierung des UG 2002 die andauernde befristete Anstellung vieler Jungwissenschaftler*innen. Eine Umwandlung aller befristeten Anstellungen in unbefristete Anstellungsverhältnisse ist jedoch unrealistisch. Eine positive Beobachtung bleibt: Durch die nun vermehrt genutzten Möglichkeiten der Online-Konferenzen wird Forscher*innen mit Betreuungspflichten die Teilnahme an internationalen Besprechungen etwas erleichtert, während CO2 -Emissionen reduziert werden (vgl. Woods et al. 2020: 5). Abzuwarten bleibt, ob diese virtuellen Konzepte auch nach der Krise vermehrt genutzt werden.

4.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Ziel der Ausführungen dieses Beitrags war es, die Auswirkungen der Coronakrise auf die Geschlechtergerechtigkeit im Wissenschaftsbereich zu identifizieren. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bezogen auf den Disziplinenvergleich die These des Wettbewerbsdrucks zum Nachteil der Sozial- und Geisteswissenschaften als Folge der Coronakrise so nicht bestätigt werden kann. Vielmehr sehen wir sowohl beim Untersuchen der medialen Präsenz von Wissenschaftsdisziplinen als auch der genannten Themen eine Zunahme wissenschaftlicher Debatten der Corona-Krisenfolgen im Zeitverlauf. Diese umfassen neben humanmedizinischen Krisenfolgen ebenso sozialökonomische Themen und Fragestellungen wie auch zivilgesellschaftliche, demokratie- und forschungspolitische Meta-Diskurse um die Rahmenbedingungen von Wissenschaft und Forschung und die Folgen der Coronakrise auf diese. Betreffend die in den untersuchten Medien genannten Akteur*innen wissenschaftlicher Expertise dominieren außeruniversitäre nationalstaatli-

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che Forschungsorganisationen die existierenden Diskurse, insbesondere in den Lebenswissenschaften und den Wirtschaftswissenschaften. Der Zusammenhang der in diesem Beitrag untersuchten beiden Thesen erschließt sich bei näherer Betrachtung der Bedeutung der Stellung der Sozial- und Geisteswissenschaften für die Frage der Geschlechtergerechtigkeit. Im Vergleich zu anderen Disziplinen sind in diesen Bereichen weibliche Forschende häufiger vertreten, weswegen eine Stärkung der Sozial- und Geisteswissenschaften indirekte Effekte auf ein Erhöhen der Geschlechtergerechtigkeit in der Wissenschaft vermuten lässt. Während die empirischen Befunde zur medialen Präsenz der Sozial- und Geisteswissenschaften einen eindeutigen Trend in Richtung quantitativer Zunahme von Textbeiträgen in den untersuchten Medien zeigen, gilt dies nicht für die Repräsentanz von Frauen als Wissenschaftlerinnen, die im Untersuchungszeitraum deutlich abgenommen hat. Für institutionell unterrepräsentierte soziale Gruppen des Wissenschaftsbetriebs wird Sichtbarkeit in Debatten und Expertisen durch die Coronakrise offenkundig schwieriger und zugleich umso wichtiger, um kognitive Vielfalt in öffentlichen und forschungspolitischen Diskursen zu erhalten. Dass die Zunahme wissenschaftlicher Debatten zu Corona-Krisenfolgen männlich dominiert ist, kann nicht allein durch die Unterrepräsentanz von Frauen in Wissenschaft und Forschung erklärt werden. Eine traditionelle Rollenverteilung im Haushalt bedingt vor allem durch wahrzunehmende Betreuungspflichten den Corona-Publication-Gap und verstärkt die berufliche Unsicherheit zahlreicher Jungwissenschaftler*innen. Um das Ziel einer geschlechtergerechteren Wettbewerbssituation in Wissenschaft und Forschung zu erreichen, müssen die dargelegten Forderungen der Interessensvertretungen studiert und unter Berücksichtigung der Ausnahmesituation Coronakrise aber auch grundsätzlich auf ihre Zweckmäßigkeit geprüft werden. Einer Benachteiligung von Wissenschaftler*innen mit Betreuungspflichten muss entschieden entgegengewirkt werden, schließlich kann eine Vorbildfunktion für andere Berufsfelder nicht geleugnet werden.        

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Strukturelle Geschlechterunterschiede in den Arbeitsbedingungen Eine beispielhafte Analyse der sozioökonomischen Folgen der Coronakrise im systemrelevanten Care-Bereich Margareta Kreimer (†), Hanna Hof und Simone Liesnig

Abstract Welche Auswirkungen hat die Coronakrise auf die Arbeitsbedingungen in frauendominierten Care-Berufen? Die zu Beginn der Krise verstärkt öffentlich bekundete Solidarität mit Care-Arbeiter*innen scheint keine Verbesserung der prekären Arbeitsbedingungen in Care-Berufen veranlasst zu haben. Auch die krisenbedingte Anerkennung der Systemrelevanz dieser Berufe hat keine Entlastung gebracht. Die mit der Krise einhergehende Retraditionalisierung der Arbeitsteilung im Haushalt hat die Lage zusätzlich verschärft. Der vorliegende Beitrag untersucht den Begriff und die Bedeutung der Systemrelevanz im Kontext der Geschlechtergerechtigkeit. Der Frage nach den veränderten Arbeitsbedingungen in Care-Berufen wird mittels literaturbasierter feministischer Analyse zu den sozioökonomischen Auswirkungen der Krise nachgegangen.   Keywords: Corona, Covid-19-Pandemie, Systemrelevanz, Geschlechtergerechtigkeit, CareArbeit

1.

Einleitung

Mit Beginn der Coronakrise kam die Hoffnung auf, dass die Wertschätzung der weiblich geprägten Care-Arbeit innerhalb der Gesellschaft steigen würde. Die Mehrbelastung dieses Sektors wurde zwar mit Applaus vergütet, die betroffenen Beschäftigten erhofften sich jedoch auch eine bessere Entlohnung oder gar eine verstärkte öffentliche Finanzierung. Aktuelle Studien zeigen,

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dass Frauen besonders stark von den sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Coronakrise betroffen sind (z.B. Koebe et al. 2020; Hower et al. 2020). Vor allem die mit der Krise einhergehende Retraditionalisierung der Arbeitsteilung im Haushalt trägt durch eine deutliche Mehrbelastung zu dieser Entwicklung bei. Die Pandemie verstärkte demnach bereits vorher vorhandene geschlechterbezogene Ungleichheiten und Diskriminierungen. Insbesondere die bereits vor der Pandemie belastenden Bedingungen in Care-Berufen wurden durch die Coronakrise und die Maßnahmen im Zuge dieser Krise verschärft, so die Vermutung, die im Folgenden näher analysiert werden soll. Die Zuschreibung der Systemrelevanz hat außerdem, anders als in der Finanzkrise von 2007/08, keine Aufwertung, sondern viele Entbehrungen mit sich gebracht. Im Zuge der Coronakrise kam es beispielsweise zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, wie etwa Koebe et al. (2020) darlegen; auch dieser Aspekt soll im Folgenden diskutiert werden. Bereits vor der Krise geforderte notwendige Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Care-Bereich fanden während der Krise weiterhin kein Gehör. Erste Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die ohnehin hohe Fluktuation in Care-Berufen zunehmen wird. Die fortschreitende demographische Entwicklung verstärkt den Personalmangel im Care-Bereich weiter. Werden keine Gegenmaßnahmen gesetzt, muss von einer Weiterführung dieses Trends nach der Pandemie ausgegangen werden (vgl. Gferer und Gferer 2021). Im Zuge dieses Beitrags soll gezeigt werden, welche Auswirkungen die Coronakrise auf die Arbeitsbedingungen in Care-Berufen hat. Hierzu wird eine literaturbasierte Analyse der sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie in den systemrelevanten Bereichen der Care- bzw. Gesundheits- und Pflegeberufe vorgenommen. Sozioökonomische Rahmenbedingungen in diesen Berufsbereichen werden mit dem Ziel untersucht, Ansatzpunkte für eine Aufwertung dieses frauendominierten Sektors zu identifizieren und entsprechende Maßnahmen vorzuschlagen. Dem wird eine Untersuchung des Begriffs der Systemrelevanz im Kontext der Geschlechtergerechtigkeit vorangestellt. Eine umfassende feministische Analyse der sozioökonomischen Auswirkungen der Krise auf Frauen in Care-Berufen soll die Diskussion zur notwendigen Aufwertung der Arbeitsbedingungen in diesem Sektor anstoßen und damit auch einen relevanten Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Geschlechtergerechtigkeit liefern.

Strukturelle Geschlechterunterschiede in den Arbeitsbedingungen

2.

Systemrelevanz

Der Begriff Systemrelevanz hat besonders in wirtschaftlichen Krisenzeiten Hochkonjunktur. Dabei stehen Akteur*innen und Leistungen im Vordergrund, die für den Erhalt und die Funktionalität der gesellschaftlichen Grundordnung notwendig sind. Als paradigmatisches Beispiel dafür gilt die Finanzkrise 2007/08. Damals wurden Unternehmen/Banken (Akteur*innen) und deren Finanzströme (Leistungen) als too big to fail und damit systemrelevant bezeichnet (vgl. Hübscher 2020: 127). Durch den Begriff wurden Unterstützungen mit öffentlichen Geldern legitimiert, welche hauptsächlich der männerdominierten Industriebranche zugutekamen. Das Bundesministerium des Inneren in Deutschland definiert den Begriff der Systemrelevanz, indem es kritische Infrastrukturen benennt. Kritisch deshalb, da die Bedeutsamkeit jener Infrastrukturen »in Bezug auf die Konsequenzen, die eine Störung oder ein Funktionsausfall für die Versorgungssicherheit der Gesellschaft mit wichtigen Gütern und Dienstleistungen hat […]« (Nationale Strategie zum Schutz Kritischer Infrastrukturen 2009), sehr hoch ist. Der wissenschaftliche Dienst des deutschen Bundestages hat ein Konzept der Daseinsvorsorge entwickelt, bei dem auch andere Leistungen berücksichtigt wurden. Darunter fallen zum Beispiel alle »Dienste, die im allgemeinen Interesse erbracht werden« (WiDi 2006). Hübscher argumentiert, dass die Leistungen, die in beiden Konzepten genannten werden, einen sogenannten fundamentalökonomischen Bereich bilden. Dieser sei der Versuch, einen absoluten Bereich zu definieren, der alle Leistungen beinhaltet, die in Krisenzeiten das Funktionieren einer Gesellschaft gewährleisten sollen (vgl. Hübscher 2020: 130). In diesem Fall spricht er von einer Systemrelevanz im engeren Sinne, bei der gesellschaftsrelevante Leistungen eindeutig definiert werden. Im weiteren Sinn sollten systemrelevante Leistungen von der Gesellschaft abgesichert werden, können jedoch krisenspezifisch variieren (vgl. Hübscher 2020: S. 131). Dies ist vor allem dann wichtig, wenn eine Gesellschaft als Ganzes eine Krise durchlebt.1 In Bezug auf die aktuelle Coronakrise zeigen sowohl Hübscher (2020) als auch Khalil et al. (2020) auf, dass der Begriff der Systemrelevanz nicht eindeutig bestimmt werden kann. Hübscher schreibt dazu: »Damit meine ich, dass der Begriff in politischen Debatten wirksamkeitsentfaltend eingesetzt wird, 1

Hübscher spricht in diesem Zusammenhang von einer Lebensformkrise und schlägt deshalb den Begriff Lebensformrelevanz vor.

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ohne dabei genau zu beschreiben, was Systemrelevanz ausmacht.« (Hübscher 2020: 126).

3.

Systemrelevanz und die Coronakrise

Der kritische Bereich der Care-Arbeit wurde im Zuge der Finanzkrise nicht als systemrelevant berücksichtigt. Konkret wurde der weiblich dominierte Dienstleistungssektor in Deutschland im Vergleich zum männlich dominierten Industriesektor als »nicht systemrelevant« eingeordnet und profitierte folglich nicht im selben Ausmaß von der staatlichen Krisenunterstützung (vgl. Kuhl 2010: 49). So wurde beispielsweise in den Jahren 2009/10 im Zuge der Konjunkturpakete das Kurzarbeitergeld in Deutschland verlängert, wobei anzumerken ist, dass vor allem Männer in der Industriebranche von Kurzarbeit betroffen waren und sind, während Frauen deutlich häufiger in atypischen Beschäftigungsverhältnissen angestellt sind und/oder unentgeltliche Leistungen im Bereich der Care-Ökonomie übernehmen (vgl. Kuhl 2010: 26). Während der Pandemie wurde der Begriff der Systemrelevanz modifiziert und die systemrelevanten Berufe rückten zumindest im deutschsprachigen Raum in den medialen Fokus.2 Systemrelevante Berufe sind laut dem SORA Institute for Social Research and Consulting Berufe, in denen die Arbeit während der Pandemie weiterhin unter erhöhten Gesundheitsrisiken, starken körperlichen und psychischen Belastungen sowie zu teils überlangen Arbeitszeiten verrichtet werden muss (vgl. Schönherr und Zandonella 2020: 1). Ohne diese systemrelevanten Berufe würden das Gemeinwesen und die staatliche Ordnung sowie die Verkehrsinfrastruktur, das Gesundheits- und das Sozialsystem nicht funktionieren (vgl. Khalil et al. 2020: 2). Die frauendominierten Berufe, die in der Coronakrise als systemrelevant bezeichnet werden, erhalten allerdings wenig bis keine monetäre Aufwertung (vgl. Schönherr und Zandonella 2020: 3), im Gegensatz zu den systemrelevanten Berufen und Sektoren der Finanzkrise. Hier sind beispielsweise Risikomanager*innen sowie Angestellte der stark männlich

2

Im Standard findet sich beispielsweise eine Analyse mit dem Titel »Systemrelevanz – wie viel ist Arbeit wert?« (Thaler 2020). Die Presse schreibt in einem Bericht von der eindeutigen Einstufung der Pflegeberufe als systemrelevant (Nagel 2020) und die Neue Zürcher Zeitung veröffentlicht einen Kommentar mit dem Titel »Systemrelevant sind wir alle« (Eisenring 2020).

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geprägten Wirtschaftsbranche zu nennen, die besonders von den im Zuge der Finanzkrise umgesetzten Finanzierungshilfen profitierten (vgl. Kuhl 2010: 35). Die Vorteile, die sich für die derzeit als systemrelevant bezeichneten Berufe ergeben, sind sehr überschaubar. Zum einen haben Eltern in systemrelevanten Berufen in Deutschland weiterhin einen Anspruch auf die Kindernotbetreuung (vgl. Khalil et al. 2020: 2). Zum anderen erhielten einige der Betroffenen im Zeitraum zwischen dem 01.03 und 31.12.2020 eine (einmalige) finanziellen Entschädigung. Diese war in Deutschland bis 1500 Euro steuerfrei (vgl. Corona-Bonus 2022). Im Gegensatz zu Anreiz-Maßnahmen gibt es auch Fälle von Sondermaßnahmen, bei denen die arbeitsrechtlichen Ansprüche in systemrelevanten Bereichen ausgesetzt wurden, um ein ausreichendes Arbeitskräfteangebot während der Notsituation zu gewährleisten. Relevante vorübergehende Ausnahmeregelungen in diesem Bereich betreffen Bestimmungen über Höchstarbeitszeiten und Überstunden, tägliche Mindestruhezeiten, Arbeit an Sonnund Feiertagen sowie das Recht auf Urlaub. In einigen Fällen weichen diese Bestimmungen von den Anforderungen der europäischen Arbeitszeitrichtlinie ab. Die Nachteile, die sich für systemrelevante Berufsgruppen ergeben, werden unter anderem im Eurofound-Bericht (2020) dargelegt. Sowohl vonseiten der EU als auch von einzelnen Ländern gibt es Aufzählungen und Studien der systemrelevanten Berufsgruppen und Studien, in denen zur Einstufung als systemrelevant Stellung bezogen wird. Auffallend sind dabei der hohe Frauenanteil und die verhältnismäßig schlechte Bezahlung der während der Coronakrise als systemrelevant eingestuften Berufe (vgl. Schönherr und Zandonella 2020: 1; Kohlrausch und Zucco 2020: 1). Die für Deutschland vorliegenden Listen3 variieren je nach Bundesland und regeln, wer seine Kinder weiterhin in die Kindernotbetreuung geben darf (vgl. Koebe et al. 2020: 2). Dennoch hat die Einteilung eine breitere gesellschaftliche Debatte angestoßen, die über die Frage der Kindernotbetreuung hinausgeht. So findet man beispielsweise in der ZEIT (2020) eine »Diskussion um Lohnersatz und Corona-Elterngeld«.

3

Allgemein wird in Deutschland zwischen systemrelevanten Berufen erster Stunde und jenen zweiter Stunde unterschieden. Die Bezeichnung systemrelevanter Beruf der zweiten Stunde betitelt einen im Zuge der Coronakrise ausgeweiteten Bereich der unablässigen Berufe, welcher erst zu einem späteren Zeitpunkt in der Pandemie in die Liste der systemrelevanten Berufe aufgenommen wurde.

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In Österreich beauftragte die Arbeiterkammer im Frühjahr 2020 das SORA-Institut aufgrund der Coronakrise mit einer Sonderauswertung des Österreichischen Arbeitsklima-Indexes. Der Arbeitsklima-Index wird zur Untersuchung der sozialen Wertschätzung herangezogen. In der Sonderauswertung wurden die Arbeitsbedingungen und das Berufsprestige von Beschäftigten in systemrelevanten Berufen in Österreich genauer untersucht. Auf dieser Studie beruht die Liste der systemrelevanten bzw. systemkritischen Berufsgruppen, die im österreichischen Kontext verwendet wird. Zu den systemrelevanten Berufsgruppen zählen laut Schönherr und Zandonella: »(1) Berufe, die für die Daseinsvorsorge, zur Aufrechterhaltung der Grundbedürfnisse des öffentlichen Lebens oder zur Bekämpfung der Pandemie wichtig waren; und/oder (2) Berufe, die nicht oder nur schwer ins HomeOffice verlagert oder ausgesetzt werden konnten« (persönliche Auskunft per E-Mail von Schönherr an die Autorin Hof am 10. November 2020). Folgende Berufsgruppen werden konkret genannt: Kassierer*innen und Regalbetreuer*innen, Reinigungskräfte, Lehrer*innen, Berufsfahrer*innen und Lieferdienste, Pflegepersonal und medizinische Betreuung, Altenpfleger*innen und Behindertenbetreuung, Bankangestellte, Kindergartenpädagog*innen und Kinderbetreuung, Angestellte der öffentlichen Sicherheit, medizinische Assistent*innen, Ärzt*innen und Apotheker*innen (vgl. Schönherr und Zandonella 2020: 2).

4.

Ungleiche Bewertung systemrelevanter Arbeit in Zeiten der Krise

Es ist bekannt, dass Frauen besonders mit den Auswirkungen von Krisen, die den Arbeitsmarkt betreffen, zu kämpfen haben. Birgit Sauer (2010) arbeitet dabei drei konkrete geschlechtsspezifische Unterschiede in Bezug auf die Arbeitsmarktsegregation heraus. Zum einen weist Sauer darauf hin, dass weiblich dominierte Arbeitsbereiche zeitverzögert auf wirtschaftliche Krisen reagieren, wodurch Angestellte in diesen Bereichen verhältnismäßig spät ihren Arbeitsplatz verlieren und gegebenenfalls nicht mehr von unterstützenden Sofortmaßnahmen aufgefangen werden. Zweitens ist die Beschäftigungsstruktur dieser Arbeitsplätze in Krisenzeiten häufiger von Unsicherheiten geprägt als jene in männlichen Domänen. Drittens sind Frauen nach einem Jobverlust einem höheren Risiko ausgesetzt, in Armut zu

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geraten, da sie häufiger in atypischen Arbeitsverhältnissen angestellt sind und oftmals keine Abfindung erhalten. All dies führt zu einer deutlichen Mehrbelastung für Angestellte in weiblich dominierten Arbeitsbereichen in Krisenzeiten. Aus dem SORA-Bericht von Schönherr und Zandonella (2020) geht deutlich hervor, dass auch die Coronakrise besonders für Frauen mit einer erlebten Doppelbelastung einhergeht, wobei kaum finanzielle Entschädigung vonseiten des öffentlichen Sektors erbracht wurde. Betrachtet man die Beschäftigungsstruktur in den systemrelevanten Berufen, lässt sich in acht von elf Berufsgruppen ein höherer Frauenanteil feststellen. Besonders eindeutig ist dieser Unterschied laut dem SORA-Bericht in den Bereichen Kinderbetreuung, in dem Frauen 88 % der Beschäftigten ausmachen, sowie im Einzelhandel (86 %), beim Reinigungspersonal (83 %), in der Pflege (82 %) und der medizinischen Assistenz (80 %). Hier wird deutlich, dass die Segregation nach Geschlechtern am Arbeitsmarkt in Österreich wie auch Deutschland im Vergleich zu Ländern wie Bulgarien stärker ausgeprägt ist (vgl. Scambor 2015: 1). Erschwerend wirken die prekären Beschäftigungsverhältnisse, die in den meisten Berufen mit hohem Frauenanteil vorherrschen und die durch eine geringe soziale Absicherung, höheres Arbeitslosigkeitsrisiko, geringere Aufstiegsperspektiven und höheren Teilzeitanteil gekennzeichnet sind. Doch nicht nur der Teilzeitanteil ist aus finanzieller Sicht problematisch. Von den elf systemrelevanten Berufsgruppen ist das Lohnniveau in jenen fünf Sektoren am niedrigsten, in denen der Frauenanteil am höchsten ist. In diesen Bereichen verdienen die Angestellten im Schnitt weniger als den Durchschnittslohn in Österreich. Auch die Arbeitszeit ist in den systemrelevanten und besonders in den frauendominierten Berufen als erschwerendes Element zu erwähnen, weil diese Berufsbereiche häufig durch atypische Arbeitszeiten, sprich nachts, frühmorgens oder am Wochenende, geprägt sind. Neben der sektorbedingt hohen Belastung durch die Erwerbsarbeit haben rund ein Drittel der Beschäftigten in den systemrelevanten Berufen zusätzlich Kinderbetreuungspflichten. Diese Aufgabe fällt wiederum zum Großteil Frauen zu, wodurch die psychosoziale Belastung erhöht wird (vgl. Schönherr und Zandonella 2020: 3ff). Für Deutschland wurden ähnliche Ergebnisse gefunden (z.B. Kohlrausch und Zucco 2020). Koebe et al. (2020) berichten ebenfalls, dass die Berufsgruppen der systemrelevanten Berufe größtenteils unterdurchschnittlich entlohnt werden, wobei dies besonders auf die frauendominierten Bereiche zutrifft. Zudem zeigen sie auf, dass in fast allen systemrelevanten Berufen Frauen

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nochmals weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den beiden Ländern betrifft den akuten Personalmangel, der sowohl in Österreich als auch in Deutschland in den Pflegeberufen vorherrscht. Einen Unterschied stellt die Anzahl der als systemrelevant bezeichneten Berufsgruppen dar. Während das SORA-Institut für Österreich elf Berufsgruppen explizit erwähnt, sind es in Deutschland 21 Berufsgruppen, die zu den systemrelevanten Berufen der sogenannten ersten Stunde gezählt werden. So findet man beispielsweise in den deutschen Listen Koordinations-, Administrations- und Organisationsberufe, die in Österreich nicht als systemrelevant eingestuft wurden. Insgesamt liegt in Deutschland der Frauenanteil in den systemrelevanten Berufen erster Stunde bei knapp 60 % und somit ebenfalls über der Hälfte. Vergleicht man nun erneut die Maßnahmen zur Unterstützung der jeweils als systemrelevant eingestuften Berufe in der Finanz- und der Coronakrise, zeigt sich eine geschlechterspezifische Diskriminierung. Beschäftigte in frauendominierten Bereichen profitierten in dieser Krise, wie auch schon nach der Finanzkrise, vergleichsweise wenig von den von der Regierung bereitgestellten Rettungspaketen (vgl. Kuhl 2010: 26). Nun könnte man schließen, dass sich große, dramatische Krisen in vielerlei Hinsicht unterscheiden und sich daher auch unterschiedlich auf einzelne Volkswirtschaften auswirken. Daraus lässt sich ableiten, dass unterschiedliche Bereiche in der jeweiligen Krisensituation als systemrelevant identifiziert werden und gefördert, unterstützt und gerettet werden müssen. Der fundamentale Unterschied zwischen der Systemrelevanz der Industrie nach der Finanzkrise und der Systemrelevanz des Care-Bereichs in der jetzigen Gesundheitskrise besteht jedoch darin, dass Erstere massive Finanzströme erhalten hat, welche gerade durch die Systemrelevanz des Industriesektors legitimiert wurden (vgl. Kuhl 2010: 15). Dahingegen wird der Care-Bereich zwar als systemrelevant bezeichnet; die ökonomische Unverzichtbarkeit also durchaus gesehen. Es werden jedoch weder kurzfristig die in der Krise erbrachten Zusatzleistungen der Beschäftigten honoriert, noch ist eine mittel- bzw. langfristige nachhaltige Verbesserung der Arbeitsbedingungen in diesem Sektor in Aussicht. Bereits vor der Coronakrise hatten frauendominierte Berufe ein schlechtes Image und wurden geringer entlohnt, was beispielsweise durch den Gender Pay Gap klar ersichtlich wird (Destatis 2020). Doch auch im Kontext von Krisensituationen zeigt sich, dass (systemrelevante) Tätigkeiten von Frauen scheinbar weniger wert sind als (systemrelevante) Tätigkeiten von Männern, gemessen an der Entlohnung sowie der finanziellen Unterstützung durch die öffentliche Hand. Dies zeigt

Strukturelle Geschlechterunterschiede in den Arbeitsbedingungen

sich zum einen im Vergleich über verschiedene Krisen hinweg, zum anderen auch innerhalb einer Krise (Koebe et al. 2020).

5.

Pflegeberufe vor der Coronakrise

5.1

Alters- und Geschlechterverteilung unter Pflegekräften

Betrachtet man nur stationäre Pflegeeinrichtungen in Österreich, so wiesen diese im Jahr 2019 Beschäftigte im Ausmaß von 35.971 Vollzeitäquivalenten auf. Zählt man die mobilen Dienste hinzu, steigt die Zahl der Vollzeitäquivalente um 12.654 auf 48.625 (vgl. Pratscher 2021a: 20). Bauer et al. berechnen für das Langzeitpflegepersonal in Österreich ein mittleres Alter von 47 Jahren bei weiblichen Beschäftigten; bei den wenigen männlichen Beschäftigten liegt das Durchschnittsalter mit 43 Jahren etwas niedriger (vgl. Bauer et al. 2018: 21f). Für den Ausgleich von Ausfällen aufgrund von bevorstehenden Pensionierungen werden bis 2030 schätzungsweise 42.000 zusätzliche Arbeitskräfte benötigt. Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass die derzeit rund 127.000 Beschäftigten im Pflege- und Betreuungssektor bis 2030 auf rund 158.000 Beschäftigte aufgestockt werden müssen, um der demographischen Entwicklung gerecht zu werden (vgl. Rappold und Juraszovich 2019: 4). Es herrscht also ein akuter Mangel an Fachpersonal im Pflege- und Betreuungsbereich, der sich bereits deutlich an dem von Pfleger*innen als überfordernd wahrgenommenen Personalschlüssel abzeichnet. Dieser Mangel wird sich unter anderem durch die demographische Entwicklung in absehbarer Zukunft noch verschlimmern, sollte es nicht zeitnah zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen und damit zu einer nachhaltigen Steigerung der Attraktivität der Berufe in diesem Bereich kommen. Wenig überraschend war der weibliche Anteil an betreuenden oder pflegenden Personen 2019 in Österreich sehr hoch. In der Kurzzeitpflege lag er bei 78 % und in der mobilen Pflege bei 91 %. Der stationäre Bereich lag mit 84 % dazwischen (vgl. Pratscher 2021b: 101). Pflege wird angesichts dieser Zahlen als weiblich dominiertes Berufsfeld wahrgenommen, die operative Führung ebenfalls. Dennoch ist die strategische Führung auch in der Pflege und vor allem im Bereich der Heimleitungen vorwiegend männlich besetzt (vgl. Reidl et al. 2006: 17). Der Großteil der weiblichen Belegschaft, rund 70 %, arbeitet nicht in Vollzeit. Dieser Prozentsatz entspricht gleichzeitig ungefähr dem Anteil der männlichen Pflege- und Betreuungsbediensteten, welche vollzeitbe-

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schäftigt sind (rund 72 %) (vgl. Bauer et al. 2018: 91f). Männern wird allerdings oftmals eine privilegierte Stellung zugesprochen, welche den hierarchischen Aufstieg auch in frauendominierten Sektoren erleichtert; das Phänomen des gläsernen Fahrstuhls, welches von Christine Williams bereits im Jahr 1992 beschrieben wurde, ist demnach speziell im sozialwirtschaftlichen Sektor nach wie vor allgegenwärtig (vgl. Frey 2014: 3). Reitinger et al. (2020) erklären die hierarchische Geschlechterteilung weiter mit den unterschiedlichen Erwartungen an Männer und Frauen. Von Frauen wird nach wie vor erwartet, sich neben den beruflichen Verpflichtungen auch den Betreuungs- und Fürsorgepflichten innerhalb des familiären Umfelds zu widmen. Daher gehen sie beruflich oft nur einer Teilzeitbeschäftigung nach, wodurch ihre Karrieremöglichkeiten stark eingeschränkt sind.

5.2

Arbeitsbedingungen und sozioökonomischer Stand

Es ist bekannt, dass die Attraktivität der Arbeitsplätze im österreichischen Pflege- und Betreuungssektor gering ist. Ein Grund dafür ist beispielsweise der niedrige Betreuungsschlüssel. Die durchschnittliche Anzahl der zu betreuenden Personen liegt in Alten- und Pflegeheimen pro Pflegekraft tagsüber zwischen 15 und 19 Personen und nachts bei 49 Personen. Die Mehrheit der Beschäftigten in diesem Bereich empfindet diese Zahl als zu hoch und die Situation als überfordernd. Allgemein empfinden 46 % der Beschäftigten in österreichischen Pflege- und Altenheimen, dass sich ihre Arbeitsbedingungen in den letzten Jahren verschlechtert haben. Dies berichtet vor allem älteres Pflegepersonal (vgl. Bauer et al. 2018: 70ff). Solche Beurteilungen sind ernst zu nehmen, bedenkt man, dass mit Stand 2019 über 30 % des gesamten Pflegepersonals in Österreich mindestens 50 Jahre alt waren. Verbesserungen dürfen aber nicht nur für zukünftige Auszubildende gelten, denn die jüngere Generation der bereits tätigen Pflegekräfte glaubt nicht daran, ihren Beruf bis zum Pensionsalter ausüben zu können. 65 % der unter 25-jährigen Pfleger*innen berichten von einem überdurchschnittlichen Ausmaß an physischen Belastungen, 33 % von psychischen Belastungen. Viele wollen die eigene Gesundheit nicht länger für die Gesundheit anderer opfern (vgl. Bauer et al. 2018: 103). Dies gilt vor allem dann, wenn das Gefühl auftritt, dass die erhoffte Wertschätzung fehlt. Neben den bereits genannten Mehrbelastungen im Pflege- und Betreuungsdienst darf nicht vergessen werden, dass es für den Großteil der Bediensteten keine Seltenheit ist, samstags, sonntags oder nachts zu arbeiten.

Strukturelle Geschlechterunterschiede in den Arbeitsbedingungen

Nicht zuletzt wegen der Bereitschaft, zu solchen Randzeiten zu arbeiten, könnte das Berufsprestige der Care-Arbeiter*innen im Rahmen der bereits genannten Sonderauswertung des Österreichischen Arbeitsklima-Indexes aus dem Jahr 20204 verhältnismäßig hoch ausgefallen sein. Laut Schönherr und Zandonella (2020) liegen Pflegepersonal, medizinische Assistent*innen sowie Kindergartenpädagog*innen in der dritthöchsten Klasse der Prestigewertgruppierungen. Der Höchstwert innerhalb dieser Klasse wird beispielsweise von Ärzt*innen und Apotheker*innen erreicht. In der vierten und damit am besten bewerteten Klasse finden sich Lehrer*innen, aber auch Beschäftigte im Altenpflege- bzw. Behindertenbetreuungsbereich. Eine vergleichsweise hohe Wertschätzung gegenüber diesen Berufsgruppen scheint also vorhanden (gewesen) zu sein, zumindest laut Berufsprestigeauswertungen. Warum wird dies aber von den Befragten nicht so wahrgenommen? Betrachtet man die weiterführenden Auswertungen innerhalb der genannten Studie, beantwortet sich diese Frage schnell. Im Vergleich zu anderen Berufsgruppen in Klasse 3 verdienen Beschäftigte im Pflegebereich monatlich durchschnittlich 216 Euro weniger. Medizinische Assistent*innen steigen mit durchschnittlich 351 Euro weniger sogar noch schlechter aus. Gleichzeitig ist gerade in diesem Bereich mit deutlich höheren körperlichen und psychosozialen Belastungen zu rechnen als in anderen Berufsgruppen innerhalb dieser Prestigeklasse. Ein ähnliches Bild zeichnet sich für Beschäftigte in der Altenpflege sowie der Behindertenbetreuung ab: Das monatliche Einkommen liegt durchschnittlich 541 Euro unter jenem anderer Berufsgruppen innerhalb dieser Prestigeklasse, die Belastungen liegen über dem Durchschnitt (vgl. Schönherr und Zandonella, 2020: 20ff). Allgemein werden unabhängig vom Berufsprestige frauendominierte Berufe schlechter entlohnt als Berufe, in denen hauptsächlich Männer arbeiten (Hausmann et al. 2015).

5.3

Forderungen vor der Coronakrise

Die österreichische Arbeiterkammer hat bereits im ersten Quartal 2019 Forderungen zur Verbesserung der Arbeitssituation in Gesundheitsberufen veröffentlicht, auf die bislang nicht eingegangen wurde (vgl. Umfrage Gesundheitsberufe: Dringend gebraucht, enorm belastet 2019). Ähnlich ist es um die Forderungen der Initiative Motiv.allianz.pflege (vgl. Was die Pflege in Österreich braucht 2021) bestellt. Beide Stellen fordern beispielsweise eine 4

Die Daten wurden vor der Coronakrise generiert.

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Aufstockung des Personals um 20 %, um vor allem das Langzeitpflegepersonal psychisch und physisch zu entlasten (vgl. Umfrage Gesundheitsberufe: Dringend gebraucht, enorm belastet 2019; vgl. Was die Pflege in Österreich braucht 2021). Der Personalschlüssel soll dadurch gesenkt werden, die Anzahl der genutzten Krankenbetten maximiert. Denn häufig stehen Betten trotz Bedarf an Pflege leer, weil Personal fehlt. Doch ohne professionell ausgebildetes und verfügbares Personal kann die Forderung nach mehr Pflege nicht erfüllt werden. Daher wird auch eine attraktivere Ausbildung gefordert, die es vor allem Berufsumsteiger*innen ermöglichen soll, leichter in der Pflege Fuß zu fassen. Des Weiteren wird gefordert, unterschiedliche Qualifikationsniveaus auch monetär anzuerkennen, gleiche Ausbildungen jedoch österreichweit gleich zu entlohnen (vgl. Was die Pflege in Österreich braucht 2021). Tatsächlich gilt in Österreich kein einheitlicher Kollektivvertrag für Pflegeund Betreuungsbedienstete. Vergleichbare Tätigkeiten in unterschiedlichen Pflegebereichen werden ebenfalls unterschiedlich bezahlt. Grundsätzlich gilt, dass Beschäftigte in Langzeitpflegeanstalten schlechter bezahlt werden als in Krankenanstalten. Daher wird ein Angleichen an das Gehaltsniveau der Krankenanstalten gefordert, um Personalengpässe in bislang schlechter bezahlten Bereichen der Pflege zu eliminieren (vgl. Umfrage Gesundheitsberufe: Dringend gebraucht, enorm belastet 2019). Umgesetzt wurde diese Forderung bislang nicht. Allerdings konnte im privaten Pflegebereich eine Änderung des Kollektivvertrags der Sozialwirtschaft Österreich (SWÖ) erzielt werden. Davon profitieren insgesamt rund 100.000 Beschäftigte der österreichischen Sozialund Gesundheitsunternehmen. Unter anderem wurde damit geworben, zur Entlastung eine Arbeitszeitreduktion erreicht zu haben. Ab 2022 wird die 37-Stunden-Woche eingeführt. Gefordert wurden aber 35 Stunden ab sofort (2019). Rückwirkend ab dem 1. Februar 2020 wurde eine Lohnerhöhung um 2,7 % bewirkt. Ein Vergleich des neuen Mindestlohns für Hilfstätigkeiten im Pflegebereich (1.680 Euro) mit dem der niedrigsten Lohnstufe innerhalb des Metallgewerbes (2.000 Euro), in welcher ebenfalls Hilfstätigkeiten geleistet werden und in welcher ebenfalls eine, wenngleich etwas geringere, Lohnerhöhung von 1,45 % erreicht wurde, relativiert diese Verbesserung jedoch (vgl. SWÖ Kollektivvertragsverhandlungen erfolgreich abgeschlossen 2020; vgl. Information zum KV-Abschluss für Arbeiter*innen im Metallgewerbe 2021 2020). Insgesamt gibt es seitens der Interessensvertretungen ausreichend Vorschläge, um die Pflege- und Betreuungsberufe attraktiver zu gestalten.

Strukturelle Geschlechterunterschiede in den Arbeitsbedingungen

6.

Belastungen während der Coronakrise

Spätestens durch die anhaltende Coronakrise sollte erkennbar sein, dass vor allem Erwerbstätige im Care-Bereich notwendig sind, um eine Gesellschaft im wahrsten Sinne am Leben zu halten. Man könnte also annehmen, dass gerade diesem Bereich eine messbare Aufwertung widerfahren ist. Die Arbeitsbedingungen der Care-Arbeiter*innen rückten in den öffentlichen Diskurs, kollektiv wurde für die Held*innen unserer Gesellschaft geklatscht. Mittlerweile sind diese Stimmen wieder verstummt, doch was wurde durch die Solidaritätsbekundungen erreicht? Olivera Stajić hat es bereits zu Beginn der Krise vermutet: Die symbolischen Gesten galten mehr der eigenen Gewissensberuhigung und weniger dem Verlangen nach einer tatsächlichen Veränderung der Arbeitsbedingungen innerhalb der Pflege- und Betreuungsbranche (vgl. Stajić 2020). Auch das Deklarieren als systemrelevant hat keine nennenswerten Verbesserungen mit sich gebracht. Eine Befragung von 2.470 Gesundheits- und Krankenpfleger*innen, die in österreichischen Krankenhäusern beschäftigt sind, ergab, dass 86 % der Proband*innen mit Beginn der Coronakrise eine Verschlechterung ihrer Arbeitssituation wahrnahmen. Zirka ein Jahr nach Beginn der Krise empfanden 60 % eine fortwährende Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen (vgl. Gferer und Gferer 2021: 3). Eine vergleichbare Studie generierte bereits kurz nach Beginn der Krise in Deutschland ein ähnliches Ergebnis: 78 % der Befragten sahen ihren Arbeitsalltag durch die Krise sehr bzw. eher verändert (vgl. Pflege in Zeiten von Corona: Ergebnisbericht-Auszug 2020: 4). Die stark steigende Arbeitsbelastung gründet unter anderem auf den notwendigen Hygienemaßnahmen, etwa dem Tragen von Schutzausrüstung. In Deutschland gaben bei einer Befragung von 525 Leitungspersonen ambulanter und stationärer Pflege- und Hospizdienste 97 % an, dass die Einhaltung der Hygienevorschriften zusätzliche Herausforderungen mit sich bringe und in der Praxis oft nicht umsetzbar wäre (vgl. Hower et al. 2020: 5ff). Nach Gferer und Gferer (2021) fühlten sich über 57 % des befragten Pflegepersonals durch die Schutzkleidung und -masken belastet, während 59 % den zusätzlichen organisatorischen Aufwand, der durch die ständig wechselnden Pandemie-Verordnungen entstand, als Grund für die steigende Arbeitsbelastung nannten. Vor allem zu Beginn der Coronakrise schürte die unsichere und teilweise unzureichende Versorgung mit Schutzbekleidung weitere Ängste unter dem Pflegepersonal. In Deutschland empfanden über 60 % der Befragten die Besorgung und den Gebrauch von Ausrüstung zum Infektionsschutz zumindest stark belas-

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tend. In der zweiten Befragungswelle, die im Dezember 2020 und Jänner 2021 durchgeführt wurde, sank der Anteil derer, die die Schutzausrüstungsversorgung als stark besorgniserregend empfand, auf 45 %. In Deutschland konnte im Verlauf der Krise auch eine steigende Belastung durch widersprüchliche arbeitsbezogene Informationen beobachtet werden (vgl. Hower et al. 2020: 7). Gferer und Gferer (2021) identifizierten ähnliche Probleme in Österreich. Beinahe ein Viertel der Befragten gab an, dass fehlende Kommunikation und Information sowie das Gefühl, von der eigenen Organisation nicht ausreichend unterstützt zu werden, die Arbeitsbelastung vergrößert. Das deutsche Pflegeleitungspersonal bemängelte zudem die finanzielle Unterstützung während der Coronakrise. Auch wenn die Belastungsintensität in Relation zur ersten Corona-Welle in der zweiten Befragung etwas verringert wahrgenommen wurde, stieg der Anteil derer, die die monetäre Hilfestellung als unzureichend empfanden, nicht zuletzt durch die Ergebnisse der Lohnverhandlungen, die keine Besserung zu vorangegangenen Jahren erahnen ließen (vgl. Hower et al. 2020: 19ff). In Österreich gab mehr als die Hälfte der Befragten an, dass während der Ausnahmesituation der Coronakrise weder eine höhere Wertschätzung noch mehr Anerkennung für den Pflegeberuf generiert werden konnte. Die verschwindend geringen beschlossenen Lohnerhöhungen würden zudem durch die Inflation und die geplante CO2 -Steuer gänzlich aufgewogen. Hinzu kam die steigende Aggressivität, die teilweise von den zu Pflegenden ausging, vor allem aufgrund von Uneinsichtigkeit gegenüber der Einhaltung von notwendigen Schutzmaßnahmen, aber auch aus Frustration wegen der anhaltenden Vereinsamung. Mehr als die Hälfte der an der Studie beteiligten Pflegekräfte gab an, von verbaler Gewalt betroffen zu sein, 17 % auch von körperlicher Gewalt (vgl. Gferer und Gferer 2021: 4f). Physischer Kontakt gehört in der Pflege zum Arbeitsalltag. Deshalb stieg im Verlauf der Krise die Sorge, dass man selbst oder ein*e Kolleg*in mit dem Virus infiziert wird (vgl. Hower et al. 2020: 7). Diese Sorge wurde für 55 % der österreichischen Befragten durch den fortwährenden Personalmangel und für 43 % durch die Angst, Corona-Infektionen in der eigenen Familie zu riskieren, verstärkt. Nicht zuletzt durch das Empfinden einer nicht enden wollenden Belastungssituation (53 %) denken viele Pfleger*innen zunehmend über einen Berufswechsel nach (55,3 %). Durch die Coronakrise mehren sich solche Gedanken bei mehr als der Hälfte der Personen, die bereits vor der Krise einen Ausstieg aus der Pflegebranche in Erwägung zogen (vgl. Gferer und Gferer 2021: 4f). Sowohl in Österreich als auch in Deutschland scheint der Hauptgrund für solche Überlegungen die Entlohnung zu sein, die in keiner

Strukturelle Geschlechterunterschiede in den Arbeitsbedingungen

Relation zu den mit der Arbeit verbundenen Belastungen steht, dicht gefolgt von kaum wahrgenommener Wertschätzung und dem allgegenwärtigen Personalnotstand, der zahlreiche zeitbedingte Stressoren mit sich bringt (vgl. Gferer und Gferer 2021: 4f).

7.

Was ist zu tun?

7.1

Unmittelbare kurzfristige Perspektive

Dem zunehmenden Unmut des Pflegepersonals wird seitens der Krankenund Pflegeanstalten bislang nicht viel entgegengesetzt. Verfügbares Potenzial der zahlreichen Teilzeitarbeitskräfte, ihr Arbeitsverhältnis in eine Vollzeitanstellung umzuwandeln und somit zumindest kurzfristig eine Personalschlüsselentlastung zu erwirken, wurde bislang nicht genutzt. Viele Pflegekräfte sind schlichtweg nicht bereit, eine weitere Steigerung der Arbeitsbelastung unter den derzeit geltenden Konditionen in Kauf zu nehmen (vgl. Auffenberg und Heß 2021: 5). Der in Österreich bereits kurz nach Beginn der Krise versprochene Corona-Bonus dürfte die meisten in der Zwischenzeit zwar zumindest anteilsmäßig nach Ausmaß der Beschäftigung erreicht haben, jedoch kann auch der Höchstbetrag von 500 Euro kaum die psychischen und physischen Belastungen in der Pflege allgemein und besonders in Zeiten der Pandemie entschädigen. Ein nachhaltiges Interesse daran, die Empfehlungen der Interessensvertretungen, die bereits vor der Krise klare Wegweiser zu einer Aufwertung des Pflegeberufs darstellten, in die Tat umzusetzen, scheint aber auch durch die Coronakrise nicht erweckt worden zu sein.

7.2

Langfristige Aufwertung

Um die Systemrelevanz von Care-Arbeit nicht nur verbal-rhetorisch zu behaupten, sondern ihr auch in Form angemessener Entlohnung und einer Aufwertung des Arbeitsbereichs Rechnung zu tragen, müsste eine grundlegende Reform der Arbeitsbedingungen im Care-Sektor vollzogen werden. Das Arbeiten in Pflege- und Betreuungsberufen muss attraktiver werden und sich im wahrsten Sinne auszahlen. Niedrigere Personalschlüssel würden beispielsweise nicht nur das Personal entlasten, sondern auch eine Qualitätssteigerung in der Pflege selbst bewirken. Es stellt sich die Frage, ob die politisch-

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institutionellen Weichenstellungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte auf eine Ökonomisierung des Pflegesektors hinauslaufen und das Ziel einer Qualitätspflege in den Hintergrund gerückt haben. Es scheint, als würden die Verantwortlichen eher eine reine Grundversorgung der zu Pflegenden und eine damit einhergehende Gewinnmaximierung anvisieren. Wenn man davon ausgeht, dass die Pflege keine ausschließlich gewinnorientierte Industrie sein sollte und der Mensch stärker in deren Fokus gerückt werden muss, dann sollte systematisch über den Begriff des Care Mainstreaming nachgedacht werden. »Care Mainstreaming heißt, dass bei allen politischen Maßnahmen aller Ressorts die Auswirkung auf Menschen, die Care-Verantwortung tragen, die Care-Tätigkeiten leisten oder die Care benötigen, als verpflichtende Dimensionen bei Entscheidungen berücksichtigt werden.« (Thiessen et al. 2020) In diesem Kontext steht auch das Regierungsprogramm 2020-2024 Aus Verantwortung für Österreich. Mit der Taskforce Pflege keimt neue Hoffnung auf eine tatsächliche Aufwertung der Care-Arbeit in Österreich auf. Unter anderem soll die Leistung der im Pflegebereich Tätigen durch angemessene Rahmenbedingungen anerkannt und zukünftig vorausschauend geplant und gestaltet werden, auch in finanzieller Hinsicht (vgl. Rappold et al. 2021: 3f). Beinahe alle vorangegangenen Forderungen – Aufstockung des Pflegepersonals, attraktive Ausbildung, gleiche Entlohnung für gleiche Ausbildungen, Anpassen der Gehaltsniveaus von Langzeitpflegeanstalten an Krankenanstalten – werden in besagtem Strategieplan genannt. Das Berufsfeld soll attraktiver gestaltet werden, Entlastung soll auch durch die Auslagerung von pflegefremden Tätigkeiten geschaffen werden, die Verweildauer im Beruf soll durch bessere Karrierechancen verlängert werden. Ein weiterer Schritt in Richtung Entlastung ist der angestrebte österreichweit einheitliche Personalschlüssel. Außerdem soll der Personalstand durch zusätzliche Ausbildungsangebote für Quereinsteiger*innen vergrößert werden. Vorkenntnisse sollen einheitlich angerechnet und auch angemessen entlohnt werden. Allgemein wird von einer gerechten und angemessenen Entlohnung gesprochen, auch wenn keine genaue Strategie dazu vorgestellt wird (vgl. Rappold et al. 2021: 21ff). Zu hoffen bleibt, dass der Fokus dieser Taskforce nicht in ebenfalls im Strategieplan erwähnten Imagekampagnen und Schritten liegt, die dazu dienen, billigeren Arbeitskräften aus dem Ausland den Arbeitsantritt in Österreich zu erleichtern, sondern darin, eine nachhaltige Aufwertung der CareBerufe zu erzielen. Dies wäre letztlich nötig, um eine bedürfnis- und bedarfs-

Strukturelle Geschlechterunterschiede in den Arbeitsbedingungen

orientierte Versorgung der zu pflegenden Personen und gleichzeitig attraktive Arbeitsplätze im Pflege- und Betreuungssektor zu schaffen.

8.

Schlussfolgerungen

Systemrelevanz verpflichtet in der aktuellen Gesundheitskrise zu Mehrarbeit und Überlastung; der Dank dafür ist in Österreich ein Corona-500er, der nach über zwei Jahren Ausnahmesituation und widrigen Arbeitsbedingungen bestenfalls als Tropfen auf den heißen Stein gewertet werden kann, insofern er ausgezahlt wurde. Galt in der Finanzkrise als systemrelevant, wer durch öffentliche Gelder am Leben erhalten wurde, so galt und gilt in der Coronakrise als systemrelevant, wer ohne Rücksicht auf eigene Verluste das System am Leben erhält. Die Missstände im Care-Bereich bestehen schon lange vor der Coronakrise, die Zuschreibung der Systemrelevanz hat diesem Umstand allerdings keine Abhilfe verschafft. Andererseits ist die Systemrelevanz auch nicht ausschlaggebend für die Missstände im Care-Bereich, schließlich bestehen genannte prekäre Arbeitsbedingungen und Geschlechterungerechtigkeiten weitaus länger. Eine weitere und intensivere Auseinandersetzung mit dem Begriff und den Auswirkungen der Systemrelevanz sollte vor allem im Sinne einer ethischen Diskussion vorangetrieben werden. Der Bedeutungsinhalt von Systemrelevanz in anderen Krisen, etwa der im Rahmen dieses Beitrags erwähnten Finanzkrise 2007/08 sowie die damit einhergehenden politischen Implikationen, können als Vergleich zur derzeitigen Situation herangezogen werden. Während der Begriff Systemrelevanz mit fortschreitender Dauer der Coronakrise zunehmend in Vergessenheit gerät und er in der aktuellen UkraineKrise von der Waffenindustrie (vgl. Friederichs 2022) beansprucht wird, geraten auch die guten Vorsätze zur Aufwertung des Pflegeberufs und mit ihnen das Pflegepersonal in den Hintergrund. Zu hoffen bleibt, dass die Taskforce Pflege eine nachhaltige Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Care-Branche erwirken kann und dabei nicht vergisst, dass der Personalmangel kurzfristig auch durch bessere Unterstützungsmaßnahmen für Teilzeitarbeitskräfte mit Betreuungspflichten verringert werden könnte.

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Danksagung Wir, Hanna und Simone, möchten uns an dieser Stelle für die vielen Möglichkeiten bedanken, die uns Margareta Kreimer auf unserem gemeinsamen Weg gegeben hat. Gretes Expertise und Unterstützung, ihr herzliches, direktes Wesen und ihre einnehmende, vor Kraft strotzende Ausstrahlung haben maßgeblich zu unserer bisherigen Entwicklung beigetragen. Gerne hätten wir diesen Beitrag gemeinsam mit Grete eingereicht und auch weiterhin um ihren Rat als unsere Mentorin gewusst. Ihre Bemühungen um eine geschlechtergerechtere Welt werden jedoch von uns allen weitergetragen. Ein besonderer Dank gilt auch Barbara Hönig, die uns trotz aller Widrigkeiten beratend unterstützt hat.

Literatur Auffenberg, Jennie, und Moritz Heß. Pflegekräfte zurückgewinnen – Arbeitsbedingungen und Pflegequalität verbessern, Bremen: Arbeitnehmerkammer Bremen, 2021. Bauer, Gudrun, Ricardo Rodrigues und Kai Leichsenring. Arbeitsbedingungen in der Langzeitpflege aus Sicht der Beschäftigten in Österreich – Eine Untersuchung auf Basis der internationalen NORDCARE-Befragung. i.A. der Arbeiterkammer Wien, Wien: Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz, 2018. Corona-Bonus: noch bis 31. März steuerfrei. Vereinigte Lohnsteuerhilfe e.V. – VLH, 2022, http://www.presseportal.de/pm/69585/5140273. Aufgerufen am 18. Febr. 2022. Eisenring, Christoph. »Systemrelevant sind wir alle«, in: Neue Zürcher Zeitung, 16. Mai 2020, http://www.nzz.ch/meinung/systemrelevant-sind-wir-allel d.1556374?reduced=true. Aufgerufen am 16. Juni 2022. Eurofound. COVID-19: Policy responses across Europe, Luxembourg: Publications Office of the European Union, 2020, http://www.eurofou nd.europa.eu/sites/default/files/ef_publication/field_ef_document/ef200 64en.pdf. Aufgerufen am 18. Feb. 2022. Frey, Regina. Gleichstellung als Führungsaufgabe – Eine Expertise für das Programm Rückenwind, Berlin: Agentur für Gleichstellung im ESF, 2014. Friederichs, Hauke. »Plötzlich systemrelevant«, in: DIE ZEIT, 12. Apr. 2022, h ttps://www.zeit.de/politik/ausland/2022-04/ruestingsindustrie-waffenli

Strukturelle Geschlechterunterschiede in den Arbeitsbedingungen

eferung-rheinmetall-ukraine-krieg?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww .google.com%2F. Aufgerufen am 16. Aug. 2022. Gferer, Alexandra, und Natali Gferer. »Gesundheits- und Krankenpfleger*innen während der Covid-19 Pandemie in Österreich. Arbeitssituation und Gedanken an einen Ausstieg aus dem Pflegeberuf«, in: Procare, Vol. 26, Nr. 6-7, 2021, S. 50-52; dx.doi.org/10.1007%2Fs00735-021-1378-6. Aufgerufen am 18. Feb. 2022. Hausmann, Ann-Christin, Corinna Kleinert und Kathrin Leuze. »Entwertung von Frauenberufen oder Entwertung von Frauen im Beruf?«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Nr. 67, 2015, S. 217-242. https ://doi.org/10.1007/s11577-015-0304-y. Aufgerufen am 18. Feb. 2022. Hower, Kira Isabel, Timo-Kolja Pförtner und Holger Pfaff. Pflegerische Versorgung in Zeiten von Corona – Drohender Systemkollaps oder normaler Wahnsinn? Wissenschaftliche Studie zu Herausforderungen und Belastungen aus der Sichtweise von Leitungskräften. Forschungs- oder Projektbericht, Köln, 2020, kups.ub.uni-koeln.de/11201/. Aufgerufen am 18. Feb. 2022. Hübscher, Marc. »Postcorona-Politik: Was meint ›systemrelevant‹?«, in: Lehren aus Corona, hg. von Alexander Brink, Bettina Hollstein, Marc Hübscher und Christian Neuhäuser, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, 2020, S. 122-135. Information zum KV-Abschluss für Arbeiter/innen im Metallgewerbe 2021. WKO, 2020, http://www.wko.at/service/kollektivvertrag/information-kv -abschluss-metallgewerbe-angestellte-2021.html. Aufgerufen am 18. Feb. 2022. Khalil, Samir, Almuth Lietz und Sabrina Mayer. Systemrelevant und prekär beschäftigt: Wie Migrant*innen unser Gemeinwesen aufrechterhalten, DeZIM Research Notes – DRN #3/20, 2020, Berlin: Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, https://dezim-institut.de/filead min/Publikationen/Research_Notes/DRN_3_Systemrelevante__Berufe/R esearchNotes_03_200525_web.pdf. Aufgerufen am 18. Feb. 2022. Koebe, Josefine, Claire Samtleben, Annekatrin Schrenker und Aline Zucco. »Systemrelevant, aber dennoch kaum anerkannt: Entlohnung unverzichtbarer Berufe in der Corona-Krise unterdurchschnittlich«, in: DIW aktuell, Nr. 48, 2020, Berlin: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.79272 8.de/diw_aktuell_48.pdf. Aufgerufen am 18. Feb. 2022. Kohlrausch, Bettina, und Aline Zucco. Die Corona-Krise trifft Frauen doppelt. WSI Policy Brief, 2020, Düsseldorf: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches

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Margareta Kreimer (†), Hanna Hof und Simone Liesnig

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Lernen in und aus der Pandemie1 Effekte der »Corona-Krise« auf die Bildungschancen von Migrant*innen in der Erwachsenenbildung Annette Sprung

Abstract Der Beitrag geht der Frage nach den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Bildungschancen von Menschen mit Migrationsgeschichte in der österreichischen Erwachsenenbildung nach. Dabei stehen insbesondere die Herausforderungen für sozioökonomisch benachteiligte Lerner*innen im Mittelpunkt. Neben allgemeinen Daten zur Weiterbildungsbeteiligung werden ausgewählte empirische Erkenntnisse zu den Effekten der Pandemie auf die soziale Lage von Migrant*innen und zu Corona-bedingten Herausforderungen für die Erwachsenenbildung diskutiert. Die Analyse aktueller Studien sowie zusätzlich geführter Expert*inneninterviews mündet abschließend in die Skizzierung von Ansatzpunkten für den Abbau von Bildungsbenachteiligung – im Lichte der Pandemie und darüber hinaus.   Keywords: Migration, Erwachsenenbildung, Corona-Pandemie, soziale Ungleichheit, Digitalisierung

1.

Einleitung

Die Corona-Pandemie sowie ihre politischen und sozialen Auswirkungen haben seit Beginn des Jahres 2020 viele andere gesellschaftliche Herausforderungen bzw. zuvor als »Krisen« gerahmte Phänomene in den Hintergrund der öffentlichen Wahrnehmung rücken lassen. Zu den epochalen Themen, um die es seit Beginn der Pandemie zwar nicht gänzlich still, aber dennoch deutlich 1

Teile dieses Beitrages sind in einer gekürzten und überarbeiteten Version in der Zeitschrift »Die Österreichische Volkshochschule. Magazin für Erwachsenenbildung«, Jg. 73, Heft 277, 2022, erschienen.

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leiser geworden ist, zählen u.a. globale Migrations- und Fluchtbewegungen. Diese gehen selbstverständlich trotzdem weiterhin vor sich, blieben jedoch von Covid-19 nicht unbeeinflusst. So wurden beispielsweise durch massive internationale Reisebeschränkungen, vor allem im Jahr 2020, migrationsbedingte Mobilitäten stark reduziert. Es wird geschätzt, dass 2020 die Einwanderung in OECD-Länder um 30-40 Prozent zurückgegangen ist, ebenso sanken die Asylanträge in dieser Region auf ein niedriges Niveau ab (vgl. OECD 2021; UNHCR 2021; Giesing und Hofbauer Perez 2020). Das bedeutet umgekehrt nicht, dass weniger Menschen von Krieg und Verfolgung zur Flucht gezwungen wurden, jedoch waren die Reiserouten eingeschränkt, weswegen viele Geflüchtete unter anderem in Grenzgebieten strandeten. Zugleich machten limitierte Einreisemöglichkeiten auch in Österreich deutlich, welche Auswirkungen sich ergeben, wenn etwa slowakische und rumänische Pflegerinnen oder landwirtschaftliche Saisonarbeitskräfte nicht mehr einfach die Grenze passieren können. Abgesehen davon erfuhren humanitäre Dramen, die sich für Menschen auf der Flucht an den Grenzen der Europäischen Union oder auf der griechischen Insel Lesbos abspiel(t)en, seit Beginn der Pandemie relativ geringe öffentliche Aufmerksamkeit.2 Auch viele weitere Aspekte im Zusammenhang mit dem migrationsbedingten sozialen Wandel (wie z.B. die Frage der gesellschaftlichen Teilhabe) sind inzwischen nicht obsolet geworden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass gerade dort, wo Migration mit sozialer Ungleichheit verknüpft war und ist, nicht nur die gesundheitlichen Risiken durch Corona ungleich verteilt waren, sondern sich unterschiedlichste soziale Problemlagen eventuell sogar noch verschärft haben bzw. durch die Pandemie deutlicher zutage getreten sind (vgl. Kohlenberger et al. 2021; Giesing und Hofbauer Perez 2020). Der vorliegende Beitrag widmet sich nicht allen möglichen Zusammenhängen von Corona und Migration im weitesten Sinne, sondern fokussiert auf die Frage der gesellschaftlichen Partizipation von Menschen in Österreich mit Migrationsbiographien in Bezug auf deren Arbeitsmarkt- und Weiterbildungschancen. Es wird somit nicht das gesamte Bildungswesen in den Blick genommen, sondern explizit der Bereich der Erwachsenenbildung. Im Mittelpunkt stehen die Auswirkungen der Pandemie auf die Lebenslagen und

2

Während diese Zeilen Anfang März 2022 verfasst werden, setzen sich gerade Millionen von Menschen in Bewegung, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten. Insofern wird das Thema der Fluchtmigration ab sofort wieder zu einem beherrschenden Thema in Europa werden.

Lernen in und aus der Pandemie

Bildungsbeteiligung von Lerner*innen mit Migrationsbiographien, wobei sowohl Angebote der beruflichen Weiterbildung als auch der allgemeinen Erwachsenenbildung3 (u.a. Deutsch- und Integrationskurse) Berücksichtigung finden. Es kann hier bereits vorweggenommen werden, dass zu den genannten Fragestellungen zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrages nur wenige empirische Erkenntnisse für die Erwachsenenbildung in Österreich vorlagen – daher wird hier auch zum Teil auf Forschungen aus Deutschland zurückgegriffen, insofern vergleichbare Entwicklungen naheliegend sind. Darüber hinaus erschienen mittlerweile einige Studien zu den sozialen Auswirkungen der Krise (z.B. Sonderauswertung des Arbeitsklimaindex im Juni 20214 ; Kohlenberger et al. 2021; BMSGPK 2020; Bendel et al. 2021), welche sich (auch) mit der Situation von Menschen mit Migrationsbiographien5 beschäftigen. Allerdings muss insgesamt einschränkend angemerkt werden, dass die meisten Veröffentlichungen zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Beitrags (Februar 2022) auf die erste Phase der Pandemie im Jahr 2020 Bezug nehmen, während für weitere Entwicklungen des Jahres 2021 aktuell noch kaum Studien verfügbar sind. Bei der Analyse und Diskussion einer »Krise«, die gegenwärtig noch immer einer raschen Veränderungsdynamik unterliegt, sind diese Ausführungen entsprechend auch als eine Art Momentaufnahme einzuordnen. Zwei grundsätzliche Anmerkungen vorab: Menschen, die selber oder deren Eltern nach Österreich eingewandert sind, stellen keineswegs eine homogene Gruppe dar. Folglich hat die durch den Beitrag leitende Frage nach Bildungschancen von Menschen mit Migrationsgeschichte stets mehrere Parameter von Teilhabe im Blick, wovon migrationsbezogene Aspekte potenziell, aber nicht notwendigerweise von Relevanz sein müssen. Zum Teil sind sie auch gewissermaßen nur indirekt bedeutsam, weil Migrant*innen beispielsweise überproportional in bestimmten Segmenten des Arbeitsmarktes tätig 3

4 5

Die Begriffe Erwachsenenbildung und Weiterbildung werden in diesem Beitrag synonym verwendet. Weiterbildung wird gemäß einer Definition des Deutschen Bildungsrates als »Fortsetzung oder Wiederaufnahme organisierten Lernens nach Abschluss einer unterschiedlich ausgedehnten ersten Bildungsphase« definiert (Deutscher Bildungsrat 1970, zit.n. Nolda 2008: 11). https://www.sora.at/nc/news-presse/news/news-einzelansicht/news/das-virus-ungleic hheit-1064.html Der Terminus Menschen mit Migrationshintergrund wird in diesem Beitrag nur dort verwendet, wo ich auf statistische Daten Bezug nehme, welche diese Kategorie verwenden.

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sind, welche wiederum stark von der Pandemie betroffen waren. Außerdem sind selbstverständlich nicht alle eingewanderten Menschen von sozialer Benachteiligung betroffen. Oder in anderen Worten: Eine Migrationsbiographie alleine taugt in der Regel zum Verstehen von sozialer Ungleichheit nur bedingt. Eine zweite Vorbemerkung bezieht sich auf die Gefahr, dass mit der Unterscheidung zwischen Migrant*innen und Nicht-Migrant*innen grundsätzlich stets auch problematische Implikationen des »Othering« einhergehen (vgl. dazu Mecheril et al. 2010; Sprung 2011). Es gilt daher nicht nur, unzulässige Pauschalisierungen zu vermeiden, sondern ebenso eine Unterscheidung entlang von Migrationsbiographie nur dort zu analytischen Zwecken zu treffen, wo tatsächlich auch besondere Rahmenbedingungen (z.B. Integrationsgesetz, eingeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt o.Ä.) bzw. evtl. spezifische Benachteiligungen (z.B. rassistische Diskriminierung) bestehen. Im Folgenden werden somit allgemeine Parameter der Bildungsteilhabe der erwachsenen Bevölkerung mit Migrationsbiographien mit ausgewählten Studien zu den sozialen Folgen (vor allem der ersten Phase) der Pandemie in Dialog gesetzt. Der Fokus liegt hierbei insbesondere auf der eng mit Weiterbildung korrespondierenden Lage auf dem Arbeitsmarkt sowie auf bislang vorliegenden (jedoch nicht zielgruppenspezifisch ausgerichteten) Forschungen zur Erwachsenenbildung in der Pandemie. Ergänzend stelle ich Einschätzungen aus drei Interviews mit Weiterbildungsexpert*innen in Österreich vor, welche für diese Publikation durchgeführt wurden.

2.

Die Pandemie als Verstärker sozialer Ungleichheit – migrationsspezifische Perspektiven

Mit der medial bereits häufig bemühten Metapher eines »Brennglases« wird zum Ausdruck gebracht, dass die Corona-Pandemie soziale Ungleichheit in vielen Bereichen der Gesellschaft nicht nur sichtbarer gemacht, sondern sogar verstärkt hat. Vulnerable Gruppen leiden überproportional an den Folgen der Pandemie, und gesellschaftliche Bruchlinien sind häufig noch deutlicher zutage getreten. So sind etwa Menschen in prekären sozio-ökonomischen

Lernen in und aus der Pandemie

Lebenslagen im Allgemeinen6 höheren gesundheitlichen Risiken ausgesetzt – u.a. aufgrund belastender und gesundheitsgefährdender Lebensund Arbeitsbedingungen oder wegen diverser (z.B. sprachlicher) Zugangsbarrieren zur Gesundheitsversorgung (vgl. Anzenberger, Bodenwinkler und Breyer 2015; Plümecke et al. 2021). Nicht-österreichische Staatsbürger*innen sind mit 37 Prozent fast dreimal so oft wie österreichische Staatsangehörige von Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung betroffen. Noch deutlicher wird dieser Unterschied, wenn das Herkunftsland außerhalb der EU liegt (vgl. BMSGPK 2020: 65). Neben diesen Aspekten könnten noch weitere Benachteiligungsfaktoren wie beengte Wohnverhältnisse angeführt werden, welche zweifelsohne gerade während der Lockdowns für betroffene Familien besonders belastend waren (vgl. Kohlenberger et al. 2021). Es soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass im Lichte der Pandemie rassistische Diskurse speziell akzentuiert wurden – beispielsweise durch von manchen Medien kolportierte Mutmaßungen darüber, ob Migrant*innen überproportional die Krankenhausbetten belegen würden, oder dass sie im Sommer 2020 für eine »Einschleppung« neuer Infektionen nach Heimaturlauben verantwortlich seien. Weiters wurden v.a. zu Beginn der Pandemie Asiat*innen – weltweit – als Verursacher der Pandemie angefeindet (vgl. Guo und Guo 2021). Bevor im nächsten Schritt die Erwachsenenbildung in den Mittelpunkt der weiteren Betrachtungen gerückt wird, sei zunächst noch ein Blick auf die Arbeitsmarktsituation seit Beginn der Corona-Krise geworfen: Wie eine qualitative Studie von Kohlenberger et al. (2021) ergeben hat, nahmen die befragten Migrant*innen eine erhöhte Stressbelastung durch die Pandemie wahr. Dies betraf zum einen Menschen, die im Gesundheitsbereich tätig waren, aber auch in anderen Berufen, in denen das Ansteckungsrisiko hoch war. Viele Menschen mit Migrationsbiographie arbeiten in den sogenannten systemerhaltenden Bereichen. Die Arbeitssuche wurde ebenso wie etwa auch die Teilnahme an Integrationsmaßnahmen durch die Pandemie erschwert. Nicht zuletzt wirkten sich verringerte Sozialkontakte auf die Arbeitsmarktchancen negativ aus (vgl. ebd.). Hier sprechen zudem Arbeitslosenstatistiken (in denen allerdings nur nach Staatsbürgerschaft differenziert wird) eine deutliche Sprache: Die Arbeitslosigkeit in Österreich war seit Beginn der Pandemie bei Migrant*innen 6

In welcher Weise die Gesundheitssituation der Bevölkerung mit Migrationshintergrund im Konkreten durch Corona beeinflusst wurde, ist anhand derzeit vorhandener Forschungsdaten noch nicht empirisch nachvollziehbar.

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überproportional angestiegen. So erhöhte sich die Arbeitslosenquote (nationale Definition) bei Inländer*innen im Jahr 2020 von 6,4 auf 8,4 Prozent, hingegen bei ausländischen Staatsbürger*innen von 10,8 auf 15,3 Prozent. Diese Entwicklung betraf Frauen in stärkerem Ausmaß als Männer (vgl. Expertenrat für Integration 2021: 51). Die Ursachen der unterschiedlichen Betroffenheit nach Staatsangehörigkeit liegen vor allem in den jeweiligen Arbeitsmarktsegmenten bzw. -positionen begründet. Migrant*innen sind überproportional in krisenanfälligen Branchen wie Tourismus/Gastronomie und häufiger als Arbeiter*innen oder in atypischen Beschäftigungsverhältnissen tätig (vgl. Statistik Austria 2021: 57ff). Ein Blick auf statistische Arbeitsmarktdaten für das zweite Pandemiejahr 2021 macht deutlich, dass die Arbeitslosigkeit gegenüber dem Vorjahr insgesamt stark rückläufig war, wobei der Rückgang hier bei In- und Ausländer*innen fast gleich hoch ausfällt. Auffällig erscheint, dass die Zahl der inländischen Schulungsteilnehmer*innen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen für vorgemerkte Inländer*innen ohne Beschäftigung im Jahresschnitt 2021 um 17 Prozent gegenüber dem Vorjahr angestiegen ist, jene der ausländischen Teilnehmenden hingen um 31,3 Prozent (vgl. AMS 2022a). Dies deutet darauf hin, dass aktuell eine relativ hohe Zahl an arbeitssuchenden Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft keinen Job findet und sich daher in Schulungen des Arbeitsmarktservice (AMS) befindet – im Jänner 2022 waren dies rund 34.000 Personen österreichweit (vgl. AMS 2022b). Bildungsmaßnahmen des AMS als Teil der aktiven Arbeitsmarktpolitik stellen ein wichtiges Segment der beruflichen Weiterbildung in Österreich dar. Der Bereich der Erwachsenenbildung, dem der folgende Abschnitt gewidmet ist, ist insgesamt jedoch breiter und vielfältiger.

3.

Migration und Erwachsenenbildung

Erwachsenenbildung gewinnt meist in gesellschaftlichen Umbruchphasen an Bedeutung, weil sie unter anderem Menschen dabei unterstützt, sich an neue Bedingungen und Herausforderungen anzupassen (vgl. Denninger und Käpplinger 2021: 162). So wurde etwa mit der Pandemie besonders deutlich, welch wichtige Rolle Bildung zukünftig in Bezug auf die Erweiterung der digitalen Kompetenzen breiter Bevölkerungsteile zukommt, wenngleich die Digitalisierung natürlich auch schon vor der Pandemie zu einem wichtigen Thema der Erwachsenenbildung avanciert war (vgl. u.a. Bernhard-Skala et al.

Lernen in und aus der Pandemie

2021). Gleichzeitig mit einem durch die Krise bedingten und zumeist positiv bewerteten Digitalisierungs- und Innovationsschub im Bildungswesen ist die Erwachsenenbildung in ihren Tätigkeiten aber auch massiv von der Pandemie beschränkt worden. Zum besseren Verständnis des Feldes wird im ersten Abschnitt dieses Kapitels zunächst ein grober Überblick über die österreichische Erwachsenenbildung gegeben und skizziert, wie sich der Weiterbildungsmarkt aktuell, insbesondere bezüglich der für Adressat*innen mit Migrationsbiographie relevanten Handlungsfelder und Strukturen, darstellt. Anschließend gehe ich in komprimierter Weise auf Befunde zur Bildungsbe(nach)teiligung von Migrant*innen in der Erwachsenenbildung ein (siehe ausführlicher dazu Sprung 2021).

3.1

Erwachsenenbildung in Österreich – ein Überblick

Die Erwachsenenbildung wird nicht zu Unrecht oftmals als ein unübersichtliches Feld beschrieben. Dies hat zum einen mit der Heterogenität der Anbieter*innen zu tun – das Spektrum umfasst gemeinnützige Organisationen ebenso wie gewinnorientierte, privatwirtschaftliche Unternehmen oder auch als Einzelunternehmer*innen tätige Trainer*innen und Berater*innen. Ein großer Teil der beruflichen Bildung erfolgt darüber hinaus als betriebliche Weiterbildung innerhalb von Unternehmen. Manche Institutionen sind in großen Verbänden organisiert – wie die Österreichischen Volkshochschulen oder die Berufsförderungsinstitute (BFI) –, andere bieten als NPOs oder auch ehrenamtliche Gruppen Bildungsprogramme für unterschiedlichste Zielgruppen an (vgl. Gruber und Lenz 2016). Zum anderen sind die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen über mehrere politische Ressorts verteilt – so kommen Gelder aus dem Bildungsministerium, dem Arbeitsministerium (für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen), aus Budgets zur Wirtschaftsförderung oder – je nach Inhalt – auch aus anderen Ressorts (z.B. Gesundheitsbildung, kulturelle Bildung, Frauenförderung, Integration u.a.). Nicht zuletzt bezahlen die Lerner*innen selbst – je nach Angebot mehr oder weniger bis fallweise auch gar nichts – für ihre Weiterbildungen. Eine übliche, wenngleich nicht trennscharfe Systematisierung teilt in berufliche Weiterbildung, allgemeine Erwachsenenbildung (wie z.B. Fremdsprachenkurse, Gesundheitsbildung u.Ä. – als klassischer Anbieter wäre hier die Volkshochschule zu nennen), das Bibliothekswesen und die

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politische Erwachsenenbildung ein. Nicht zuletzt zählt der expandierende Bereich der Bildungsberatung ebenfalls zur Erwachsenenbildung (ebd.). Speziell für das Feld Migration/Integration lassen sich, dieser Systematisierung folgend, einige Beispiele nennen: Das größte Segment machen Deutsch- und Integrationskurse sowie Angebote zur Basisbildung7 / Alphabetisierung bzw. zum Nachholen eines Pflichtschulabschlusses aus. Die beiden letztgenannten Formate richten sich ebenso an Lerner*innen ohne Migrationsbiographien. Ein Teil der Deutsch- und Integrationskurse unterliegt den Bestimmungen der Integrationsvereinbarung laut Integrationsgesetz. Diese Maßnahmen dürfen nur von zertifizierten Trägern umgesetzt werden und unterliegen strengen Regulativen, die in Teilen der Erwachsenenbildung auch sehr kritisch gesehen werden (vgl. u.a. Autor*innenkollektiv IGDaZDaFBasisbildung 2019). Die entsprechenden Regelungen, Kontrollen und standardisierten Prüfungen zu den Kursen, welche von Drittstaatsangehörigen verpflichtend zu absolvieren sind, liegen im Verantwortungsbereich des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF). Wie in vielen Bereichen der Integrationsunterstützung ist gerade in der Bildungsarbeit mit Geflüchteten der Beitrag freiwillig Engagierter enorm hoch (vgl. Kukovetz und Sprung 2020). In der beruflichen Weiterbildung bestehen sowohl spezifische Qualifizierungsmaßnahmen für Migrant*innen, diese nehmen aber selbstverständlich auch an allen möglichen Angeboten teil, die nicht eigens für eine Zielgruppe »Migrant*innen« ausgerichtet sind (etwa im Rahmen von AMS-Schulungen). In Einrichtungen der Allgemeinen Weiterbildung, wie den Volkshochschulen, finden häufig die bereits erwähnten Deutschkurse oder Basisbildungsangebote statt, weiters Angebote der politischen Bildung u.v.m. Gerade für Menschen, die sich noch nicht länger in Österreich niedergelassen haben, ist eine fundierte Bildungsberatung oft sehr wichtig. Sie unterstützt bei der Orientierung auf dem Weiterbildungsmarkt und den damit verknüpften Fragestellungen, wie jenen zur Verwertung/Anpassung

7

Unter Basisbildung (in Deutschland als Grundbildung bezeichnet) versteht man nachholende und ergänzende Bildung für als bildungsbenachteiligt geltende Menschen. Sie umfasst die Vermittlung von Lese- und Schreibfähigkeiten sowie von mathematischen und IKT-Kompetenzen. In Österreich werden über eine Bund-Länder-Initiative (»Initiative Erwachsenenbildung«) seit 2012 Mittel und qualitätssichernde Maßnahmen für Basisbildungsprogramme und das Nachholen von Pflichtschulabschlüssen bereitgestellt (vgl. https://erwachsenenbildung.at/themen/basisbildung/).

Lernen in und aus der Pandemie

von ausländischen Bildungsabschlüssen. Diesbezüglich existieren auch fünf spezialisierte Anerkennungsberatungsstellen in Österreich.

3.2

Bildungsbe(nach)teiligung von Menschen mit Migrationsbiographien

Zunächst seien kurz einige (vor-pandemische) Befunde zur Bildungspartizipation von Menschen mit Migrationsgeschichte skizziert. Personen, die nach Österreich einwandern, bringen unterschiedlichste Bildungsabschlüsse (Statistik Austria 2021: 53) und Lernerfahrungen mit, weshalb sie auch mit sehr heterogenen Voraussetzungen sowie Bedürfnissen mit der Erwachsenenbildung in Kontakt kommen. Laut dem Adult Education Survey (AES) weisen ausländische Staatsbürger*innen eine Teilnahmequote von 49,5 Prozent an non-formaler8 Weiterbildung gegenüber 60 Prozent bei Österreicher*innen auf (vgl. Statistik Austria 2018: 25). Vertiefende Analysen machen deutlich, dass die Weiterbildungsbeteiligung von Menschen mit Migrationsbiographien häufig mit sozioökonomischen Faktoren oder früheren Bildungsabschlüssen korreliert (dasselbe gilt jedoch auch für Menschen ohne Migrationsgeschichte). Als spezifischere Bildungshindernisse können sprachliche Barrieren, rechtliche Rahmenbedingungen, Anerkennungsprobleme bei ausländischen Bildungsabschlüssen sowie Dequalifizierung angeführt werden (vgl. Sprung 2021). Ergänzende Studien aus Deutschland, wo differenziertere Weiterbildungs-Daten zur Verfügung stehen, deuten auf Informationsdefizite über Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten bzw. fehlende adäquate Beratungsmöglichkeiten als Ursachen geringerer Weiterbildungsbeteiligung hin (vgl. Reiter, Humt und Öztürk 2021). Die deutschen Forschungsarbeiten zeigen allerdings auch, dass ein sogenannter Migrationshintergrund nicht immer einen statistisch signifikanten Zusammenhang mit der Weiterbildungsbeteiligung aufweist. Dieser ist eher in der ersten Zuwanderungsgeneration relevant. Eine größere Rolle spielen Deutschkenntnisse, aber beispielsweise auch Faktoren wie die Beschäftigungssituation der Lerner*innen (vgl. ebd.; Sprung 2021). Mit Blick auf die Bildungsinstitutionen selbst ließen sich weitere Barrieren benennen. Dazu zählen etwa Rassismuserfahrungen in Bildungsset8

Non-formale Weiterbildung umfasst alle organisierten Weiterbildungsangebote in einem institutionalisierten Rahmen, jedoch abseits des regulären (= formalen) Bildungssystems von Schule/Lehre/Studium (vgl. Gruber und Lenz 2016: 36).

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tings oder Normalitätserwartungen der Bildungseinrichtungen in Bezug auf Sprache, Lernstile, Habitus etc. Effekte institutioneller Diskriminierung können die Teilnahme an Weiterbildung behindern, ohne dass diese seitens der Bildungsträger bewusst intendiert sein müssen. Sie resultieren vielmehr aus dem Normalvollzug institutioneller Routinen bzw. sind Bildungseinrichtungen oftmals schlichtweg zu wenig sensibilisiert und aufmerksam für die Diversität der Zugangsvoraussetzungen und Bedürfnisse ihrer Adressat*innen (vgl. Sprung 2021). Dieser Bias spielt möglicherweise, neben anderen potenziellen Benachteiligungsfaktoren, auch in Bezug auf die Anforderungen des Lernens unter Pandemie-Bedingungen eine gewichtige Rolle.

4.

Covid-19 und Bildungspartizipation – Forschungsstand

Das Bildungswesen steht regelmäßig im Mittelpunkt tagespolitischer Debatten rund um die Auswirkungen der Pandemie. Der Fokus liegt jedoch zumeist auf dem schulischen Bereich mit seinen vielfältigen Implikationen wie z.B. den Anforderungen des Homeschoolings für alle Beteiligten bis hin zu den psychischen Belastungen von Kindern und Jugendlichen.9 Trotz geringerer öffentlicher Aufmerksamkeit sahen sich Weiterbildungsanbieter vor teilweise ähnliche Herausforderungen gestellt wie die Schulen. Sie entwickelten vielerorts mit großem Einsatz innovative Lösungskonzepte, um ihre Bildungsprogramme in veränderter Form weiterführen zu können bzw. auch neue Formate zu kreieren (vgl. u.a. Gnahs 2021; Boeren et al. 2020; Christ et al. 2021). Denninger und Käpplinger (2021) haben für den Zeitraum 2020 bis Mitte des Jahres 2021 einen Überblick über erste Forschungsbefunde zu Covid19 und Weiterbildung zusammengestellt. Dieser Überblick bezieht sich auf Deutschland und schließt auch Erhebungen ein, die beispielsweise von Verbänden und außeruniversitären Institutionen durchgeführt wurden. Einige der vorliegenden Studien beleuchten die Herausforderungen in der Weiterbildung vorwiegend in quantitativer Hinsicht (also z.B. Auswirkungen auf Anzahl von Kursen, Teilnehmer*innenzahlen, Arbeitsplätze in Bildungseinrichtungen u.Ä.). Die Ergebnisse größerer, repräsentativer Studien, die re-

9

Aktuelle Forschungen zum Schulbereich sind z.B: Steiner et al. 2021; Schönherr et al. 2021, oder die Studie »Lernen unter COVID-19 Bedingungen« der Universität Wien: https://lernencovid19.univie.ac.at/, aus der laufend Ergebnisse im Internet publiziert werden.

Lernen in und aus der Pandemie

gelmäßig durchgeführt werden (wie der Adult Education Survey – alle fünf Jahre auch in Österreich), sind leider noch ausständig – hier werden aber dann auch Vergleiche zu früheren Erhebungszeiträumen möglich sein. Einige qualitative Studien haben ferner gezeigt, dass viele Expert*innen Verunsicherung bis hin zu existenziellen Ängsten bei den Weiterbildungsanbietern feststellten, und dass die Effekte unterschiedlicher Ausgangslagen (z.B. was die finanzielle Ausstattung der jeweiligen Institutionen betrifft) spürbar wurden. Nicht zuletzt konnte die Beschleunigung von ohnehin anstehenden Entwicklungen beobachtet werden, v.a. im Bereich der Digitalisierung. Die Erfahrungen mit Online-Medien seitens der Bildungsträger und Trainer*innen sind differenziert zu betrachten. Es gab – abhängig von zahlreichen Faktoren – hier sowohl positive als auch negative Rückmeldungen in den vorliegenden Studien. Dies gilt auch insofern, als dass Online-Formate für bestimmte Settings und Zielgruppen – etwa in der Basisbildung – auf größere Schwierigkeiten stoßen als in anderen Programmen. Auf diesen Aspekt komme ich später noch einmal zurück. Denninger und Käpplinger gelangen zu dem Fazit, dass in den bislang verfügbaren Studien vorrangig die institutionelle Dimension bzw. Fragen des professionellen Handelns und der Rahmenbedingungen in der Erwachsenenbildung untersucht wurden. Die Digitalisierung stellt zwar an sich ein großes Thema dar, noch wenig weiß man allerdings darüber, welche qualitativen Effekte durch neue Lernformen letztlich erreicht werden. Neben weiteren Forschungsdesiderata wird nicht zuletzt eine Vernachlässigung der Perspektive auf die Lernenden konstatiert (ebd.: 173) – mithin also jene Fragestellungen, die auch für diesen Beitrag von besonderem Interesse wären. Für Österreich gibt es bislang wenige veröffentlichte Studien, vermutlich aber die eine oder andere interne Befragung, wie z.B. eine Erhebung der Wiener Volkshochschulen zum Thema Online-Kurse unter Kursleiter*innen. Deren Ergebnisse sowie die Erkenntnisse aus einer weiteren internen, qualitativen Studie in den Wiener Volkshochschulen (vgl. Hrubesch 2021) werden in den unten vorgestellten Interviews mitberücksichtigt. Eine explorative Umfrage zur österreichischen Erwachsenenbildung von Gugitscher et al. (2020) beleuchtete Auswirkungen der Pandemie insbesondere auf die Professionalisierung bzw. auf Innovationen im Kontext digitaler Transformationsprozesse. Wenngleich dies nicht der Schwerpunkt der Studie war, beinhaltet sie auch einige Einschätzungen der befragten Erwachsenenbildner*innen zu den Konsequenzen für die Lerner*innen. Hier wurden beispielsweise als Hauptgründe für den teilweise beobachteten Ausschluss von

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Personen durch Online-Formate die unzureichende technische Ausstattung sowie mangelnde Medienkompetenz genannt, an vierter Stelle der angeführten Ursachen stand eine unzureichende (Schrift-)Sprachkompetenz (vgl. Gugitscher et al. 2020: 24). Fast zwei Drittel der Praktiker*innen stimmten der Aussage zu, dass die Covid-19-Krise die gleichberechtigte Teilhabe an Erwachsenenbildung gefährde (ebd.: 25). Insbesondere stammen solche Einschätzungen von Vertreter*innen der Basisbildung, der allgemeinen Erwachsenenbildung sowie aus Beratung, Coaching und Supervision (vgl. Gugitscher und Schlögl 2022). Von mehreren denkbaren Ursachen, weshalb die Pandemie die Bildungsbenachteiligung von vulnerablen Gruppen verstärkt haben dürfte, spielt wohl die Umstellung der meisten Bildungsangebote auf diverse E-LearningFormate eine zentrale Rolle. Dass die fortschreitende Digitalisierung in vielen gesellschaftlichen Sphären die Ausgrenzung ohnehin schon marginalisierter Gruppen tendenziell verstärkt, ist ein mittlerweile über viele Jahre beobachtetes und erforschtes Phänomen (vgl. Sturm 2021: 86ff). Eine Studie von Kleinert et al. (2021) zeigt, dass höher Gebildete in der Pandemie weitaus besser von digitaler beruflicher Weiterbildung profitieren konnten als geringer Gebildete. »Instead, our results seem to confirm a ›Matthew effect‹, according to which already highly educated adults are those with the highest participation rates in adult education« (ebd.). Menschen mit geringer Literalität nutzen zwar durchaus Mobiltelefone, aber sind nicht mit allen digitalen Medien und Anwendungen gleichermaßen vertraut und haben beispielsweise seltener einen Rechner mit Internetzugang zuhause (vgl. Sturm 2021: 86). Abgesehen davon fehlt ihnen oftmals, wohl auch aufgrund beengter Wohnverhältnisse, ein geeigneter Rückzugsort, um Distance-Learning in einer angemessenen Atmosphäre zu realisieren. Unterschiede im digitalen Zugang, wie durch das Fehlen von Hardware und die benötigten digitalen Kompetenzen bedingt, haben in weiterer Folge beispielsweise auch Auswirkungen auf die soziale Konnektivität oder den Erwerb kulturellen Kapitals (ebd.: 87). Mehrere Studien haben gezeigt, dass sich die sogenannte digitale Kluft (auch schon vor der Pandemie) weitgehend entlang bereits bestehender Ungleichheitsparameter wie Einkommensunterschiede, Alter, Migrationshintergrund etc. aufspannt (vgl. Robinson et al. 2015; BMBF 2020: 7; James und Thériault 2020). Abgesehen von potenziellen Barrieren, die sich durch digitale Lernformen ergeben, dürfte die Pandemie auch gerade einkommensschwache Gruppen insofern benachteiligen, als dass für sie in dieser Zeit existenzielle Sorgen

Lernen in und aus der Pandemie

im Vordergrund standen und Lernaktivitäten demgegenüber als weniger relevant empfunden wurden (vgl. James und Thériault 2020). Schließlich darf auch nicht vergessen werden, dass ein Teil der Bildungsaktivitäten – insbesondere für/mit Geflüchteten – auf freiwilligem Engagement beruht und daher abseits der etablierten Weiterbildungsinstitutionen passiert. Hier ist anzunehmen, dass die Herausforderungen durch die pandemiebedingten Einschränkungen besonders groß waren, weil das notwendige technische Backup bzw. Know-how nicht durch eine Trägerinstitution bereitgestellt wurde. Einige der in der Literatur genannten und weitere Aspekte wurden auch in den drei Expert*inneninterviews, die für diesen Beitrag geführt wurden, bestätigt und sollen im folgenden Abschnitt näher vorgestellt werden.

5.

Zwischen Innovation und Ausschluss – Stimmen aus der Bildungspraxis

5.1

Interviewpartner*innen

Um aktuelle Erfahrungen mit der Pandemie aus der Praxis von Weiterbildungsanbietern einzuholen, habe ich im Februar 2022 zwei Vertreter*innen aus dem Bereich der allgemeinen Erwachsenenbildung sowie eine Expertin aus der beruflichen Weiterbildung interviewt. Eine meiner Gesprächspartnerinnen war Elisabeth Feigl, wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin beim Verband Österreichischer Volkshochschulen (VÖV). Die Geschichte der Österreichischen Volkshochschulen geht bis an den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück, heute gibt es österreichweit 256 Volkshochschulen, die im 1950 gegründeten VÖV vernetzt sind. Volkshochschulen sprechen traditionell ein breites Publikum an. Ihre Angebotspalette reicht von Sprachkursen über Bewegungs- und Gesundheitsangebote, Kreativität und Alltagsbewältigung bis hin zu politischer Bildung (vgl. Gruber und Lenz 2016: 35f). Für Menschen, die nach Österreich einwandern, sind Volkshochschulen u.a. mit ihren Deutsch- und Integrationskursen eine wichtige Anlaufstelle. Darüber hinaus nehmen viele Migrant*innen auch an Alphabetisierungs- und Basisbildungskursen teil bzw. an Programmen zum Nachholen eines Pflichtschulabschlusses. Eine besondere Bedeutung kommt in dem Feld Migration/ Integration den Wiener Volkshochschulen zu, da ein Großteil der eingewanderten Bevölkerung Österreichs (ca. 40 Prozent) in Wien lebt (vgl. Statistik Austria 2021: 15). Die Wiener Volkshochschulen sind in einem eigenen Ver-

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band organisiert und betreiben eine Forschungsstelle, den »lernraum.wien«. Deren Leiter, Thomas Fritz, war mein zweiter Interviewpartner. Zusätzlich wurde noch eine Perspektive aus dem Feld der beruflichen Weiterbildung eingeholt. Meine Gesprächspartnerin, die ich auf ihren Wunsch hier in anonymisierter Form Frau T. nenne, ist in leitender Position in der Projektentwicklung und -akquise in einer Institution beschäftigt, die zu den großen Anbietern beruflicher Weiterbildung mit mehreren Standorten in Österreich zählt und als einer der Schulungsträger für das Arbeitsmarktservice (AMS) fungiert.

5.2

Digitalisierungsschub für die Erwachsenenbildung

Die befragten Expert*innen schildern übereinstimmend, welch große Herausforderungen mit den pandemiebedingten Einschränkungen des Präsenzbetriebes im Bildungsbereich einhergingen. Frühere Entwicklungen in Bezug auf E-Learning waren zwar schon eingeleitet, jedoch eher langsam vorangegangen und einschlägige Formate bis zur Pandemie noch nicht breiter etabliert. Insofern erlebten die Bildungseinrichtungen einen enormen Digitalisierungs- und Innovationsschub – sowohl was die technische Ausstattung und die Lernformate betrifft als auch hinsichtlich der Kompetenzerweiterung bei den Lehrenden (und in weiterer Folge bei den Lerner*innen). Hier lassen sich jedoch deutliche Unterschiede zwischen finanziell besser ausgestatteten Institutionen und jenen, die aus Ressourcengründen nicht alle erforderlichen Maßnahmen umsetzen konnten, erkennen. Manche Träger gingen in der gezielten Akquise projektbezogener Gelder diesbezüglich jedoch kreative Wege. Gerade für die Volkshochschulen gilt, dass ein Großteil der Kursleiter*innen nicht hauptamtlich tätig ist, weshalb auch die Anpassung an die neuen Erfordernisse (inklusive technischer Ausstattung) stark in deren Eigenverantwortung lag. Die Institutionen boten in den meisten Fällen rasch zahlreiche Weiterbildungen für ihre Trainer*innen und zum Teil auch technischen Support an. Einschlägige Weiterbildungsangebote hatte es zwar ebenso bereits vor der Pandemie gegeben, sie hatten aber zuvor wenig Zuspruch gefunden. E. Feigl berichtet von einer regelrechten »Explosion« der Teilnahmen an Seminaren zum digitalen Lehren/Lernen. Der starke Fokus auf die technische Umsetzung neuer Formate ließ allerdings bislang noch wenig Raum, über die pädagogisch-didaktischen Konsequenzen der neuen Formate tiefergreifend nachzudenken, wie T. Fritz anmerkt.

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In der beruflichen Weiterbildung wurde für die vom AMS beauftragten Kurse in technische Ausstattung viel investiert, sodass nicht nur Trainer*innen (die hier weit häufiger als in der allgemeinen Erwachsenenbildung in einem Anstellungsverhältnis tätig sind), sondern nach und nach auch Teilnehmer*innen mit Notebooks und fallweise mit Internet-Sticks ausgestattet werden konnten. Dies gilt insbesondere für die erste Pandemiephase. Mittlerweile wird nach Einschätzung von Frau T. seitens des AMS jedoch weniger finanzielle Unterstützung für die neuen Herausforderungen bereitgestellt. Frau T.s Institution kann derzeit lediglich für ca. 10 Prozent der Teilnehmenden Notebooks zum Verleih ausgeben. Gleichzeitig formuliert der Geldgeber AMS aber auch neue Anforderungen im Kontext der Digitalisierung – wie etwa die Etablierung einer Lernplattform bei den Bildungsträgern – ohne jedoch zusätzliche Mittel dafür auszuschütten. Somit bleiben erhebliche Kosten an den Institutionen selbst hängen.

5.3

Benachteiligungseffekte durch Distance- und Online-Lernen

Aufgrund der geltenden Rahmenbedingungen konnten manche Kurse in den Volkshochschulen relativ bald wieder (zumindest teilweise) in Präsenz stattfinden – dies betraf v.a. abschlussorientierte Programme, wie etwa jene zum Nachholen eines Pflichtschulabschlusses bzw. Kurse im Bereich der Basisbildung. Befragungen der Kursleiter*innen ergaben nach Auskunft von T. Fritz jedoch, dass in manchen Angeboten ein hoher Prozentsatz an Teilnehmenden »verlorenging«, während in anderen Kursen die Umstellung auf OnlineLehre sehr gut funktionierte. Insgesamt dürfte es aber nach Auskunft der Expert*innen zu deutlich weniger Abschlüssen, etwa im Bereich der Pflichtschulprüfungen, gekommen sein. In AMS-Kursen, wo die Teilnahme ja letztlich verpflichtend ist, traten diverse, im Folgenden näher beschriebene Probleme ebenso auf und erzeugten dementsprechend auch oft großen Druck auf die Lerner*innen. Hier lassen sich nach Aussage der Expert*innen mehrere Ursachen identifizieren: Einige Zielgruppen, wie z.B. Jugendliche – darunter auch viele mit Migrationsgeschichte – besitzen zwar ein Smartphone, verwenden dieses aber hauptsächlich für die Nutzung sozialer Medien, zum Versenden von Nachrichten und für die Aufnahme bzw. das Teilen von Fotos. Mit jenen Anwendungen, welche im Online-Unterricht benötigt wurden, kamen viele Nutzer*innen (auch altersunabhängig) hingegen oftmals kaum oder nicht zurecht. Dies betraf teilweise auch basale Fertigkeiten wie das Versenden

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von Dateien via E-Mail. In diesem Punkt zeichnet E. Feigl ein etwas anderes Bild in Bezug auf einen Aspekt: Sie hat die Erfahrung gemacht, dass viele Migrant*innen zumindest gut mit Online-Konferenztools vertraut sind, weil sie diese auch zur Kommunikation mit Angehörigen im Herkunftsland regelmäßig nutzen. Schließlich war es laut T. Fritz für die Lehrenden, die sich selbst meist erst in die neuen Technologien einarbeiten mussten, oftmals nicht klar vorstellbar, wie sich die Lernsituation auf der Seite der Teilnehmenden konkret darstellte, etwa wenn Online-Inhalte lediglich auf einem Smartphone anstatt auf einem PC gesehen und bearbeitet werden sollen. Sprachliche Barrieren, welche spezifisch Migrant*innen betreffen, wurden zusätzlich als relevanter Aspekt genannt, etwa wenn es darum ging, die neuen Lernbedingungen, technischen Anforderungen, Aufgaben und Umsetzungsschritte ausreichend verständlich zu machen. Hier ist also neben den mangelnden digitalen Kompetenzen bereits ein weiterer zentraler Aspekt angesprochen, der als Ursache für unterschiedliche Teilhabemöglichkeiten sichtbar wurde – nämlich die Tatsache, dass nicht alle Nutzer*innen überhaupt einen PC zur Verfügung haben. In den AMSSchulungen wurden ähnliche Bedingungen beobachtet, hier gab es jedoch zum Teil mehr – aber sicher nicht flächendeckende – Ressourcen, die fehlenden Geräte (Notebooks, zum Teil Internetsticks) zur Verfügung zu stellen. In der ersten Pandemiephase gingen durchaus auch Teilnehmende in eigentlich verpflichtenden AMS-Kursen verloren – es waren hier eine Zeitlang nämlich die sonst üblichen Sanktionen (Bezugssperren der finanziellen Unterstützung) ausgesetzt. In Bezug auf die technischen Ressourcen berichtet T. Fritz weiters, dass einige Teilnehmende zwar ein Smartphone besitzen, aber keinen Internetanschluss in der Wohnung haben und sich üblicherweise in öffentliche WLANSpots einwählen. Dies sind aber oft keine adäquaten Orte zur Teilnahme an einer Bildungsmaßnahme. Die Problematik eines fehlenden Internetanschlusses gilt z.B. auch für Geflüchtete in Asylwerber-Unterkünften, in denen es in der Regel kein WLAN gebe. Gerade während der Ausgangssperren im Zuge der Pandemie wurde damit einigen Lerner*innen der Zugang zu einer Online-Teilnahme faktisch verunmöglicht bzw. bedeutete diese, so sie nur im öffentlichen Raum stattfinden konnte, gleichsam eine gesetzeswidrige Handlung. In der beruflichen Weiterbildung wurden zwar oftmals auch Teilnahmemöglichkeiten für Lerner*innen ohne Geräte oder Internetanschluss in den Räumen der Bildungsinstitution selbst angeboten. Diese Möglichkeit wurde aber nicht immer angenommen. So erzählt Frau T., dass

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beispielsweise gerade manche Teilnehmer*innen mit Migrationsbiographien von der Polizeipräsenz im öffentlichen Raum eingeschüchtert waren und Angst vor dem Weg zum Kursort hatten, obwohl sie diesen für verpflichtende AMS-Schulungszwecke sehr wohl rechtskonform hätten besuchen dürfen. Nicht zuletzt ergaben sich, in der allgemeinen ebenso wie in der beruflichen Weiterbildung, für einkommensschwächere Gruppen diverse weitere Probleme aufgrund prekärer Lebensbedingungen. Menschen, die in beengten Wohnverhältnissen leben und nur einen PC im Haushalt zur Verfügung haben, der von mehreren Familienmitgliedern gleichzeitig benötigt wurde, sahen sich vor große Herausforderungen gestellt. Dass oftmals Frauen hier speziell belastet waren, soll nicht unerwähnt bleiben. Frau T. berichtet ferner, dass sich einige Teilnehmer*innen geschämt hätten, wenn sie die Kamera einschalten mussten, da ihre prekären Wohnverhältnisse dadurch sichtbar wurden. Die Expert*innen hoben ferner hervor, dass soziale Aspekte durch Distance-Learning sehr stark zu kurz gekommen seien. Dies scheint aber gerade für viele Migrant*innen ein wesentlicher Faktor zu sein, da sie die in Bildungssettings aufgebauten Netzwerke gegenseitiger Unterstützung in vielerlei Hinsicht dringend brauchen würden. In Bezug auf bestimmte Zielgruppen wurden auch Vorteile von Distanceund Online-Learning wahrgenommen. So lassen sich etwa für die Bildungsinstitutionen durchaus neue Kund*innen gewinnen – u.a. mit Menschen, die einen Fremdsprachenkurs lieber von zuhause aus besuchen möchten, oder die auch die Vorteile von asynchronen Weiterbildungsmöglichkeiten schätzen, um diese besser mit ihrer Berufstätigkeit vereinbaren zu können. Die Expert*innen sind sich jedoch einig, dass dies eher für ökonomisch besser situierte und höher gebildete Zielgruppen zutrifft (vgl. dazu auch Hrubesch 2021) – oder anders ausgedrückt: dass die wesentlichen Ursachen für Exklusion oder Inklusion in Parametern sozialer Ungleichheit zu verorten sind. T. Fritz resümiert: »Vulnerable Gruppen werden noch vulnerabler. Marginalisierte Gruppen werden noch marginalisierter.«          

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6.

Zusammenfassung und Ansatzpunkte zum Abbau von Bildungsbenachteiligung

Erste Studien sowie Erfahrungsberichte aus der Bildungspraxis lassen darauf schließen, dass die Corona-Krise auch in der Erwachsenenbildung große Herausforderungen mit sich gebracht hat. Diese bezogen sich zum einen auf didaktische Fragen der adäquaten Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen im Distance-Modus oder auf strukturelle Aspekte (wie z.B. die Beschäftigungssituation in Bildungseinrichtungen, das Wegbrechen von Aufträgen und nicht zuletzt die schnelle Bereitstellung technischer Ausstattung). Zum anderen wurden in Hinblick auf die Teilnehmer*innen neue Exklusionspotenziale sichtbar. Sie resultierten häufig aus dem unmittelbar erforderlichen Umstieg auf digitale Bildungsformate, was bestimmte Gruppen wegen mangelnder technischer Ausstattung und zu geringer digitaler Kompetenzen bzw. auch unzureichenden Wohnbedingungen für ein ungestörtes DistanceLernen benachteiligte. Außerdem gingen gerade für Menschen in prekären Lebenslagen erhöhte Belastungen mit der Pandemie einher, weshalb einer Teilnahme an Weiterbildung oftmals keine Priorität eingeräumt werden konnte. Gerade in Bereichen wie der Alphabetisierung und Basisbildung, wo es vielen Teilnehmenden an digitalen Kompetenzen mangelt, scheint (auch wenn es hier Unterschiede je nach Standort und Angeboten gab) ein beträchtlicher Anteil der Lerner*innen verlorengegangen zu sein. Es wird jedoch von meinen Interviewpartner*innen bestätigt, dass die Drop-outs dort weniger drastisch ausfielen, wo in den Kursen bereits vor der Pandemie digitale Elemente integriert und die Lerner*innen somit schon einschlägig damit vertraut gemacht worden waren. Dadurch stellte sich die Lage auch im ersten Lockdown anders dar als in den folgenden Phasen, wo mehr Vorbereitungsmöglichkeiten bestanden. Diese Erfahrung gilt es in die Zukunft mitzunehmen. Viele Trainer*innen bemühten sich unter hohem persönlichen Einsatz um eine Unterstützung der Lerner*innen, die mit der Umstellung auf digitale Formate nicht zurechtkamen. Dies geschah etwa, indem für sie eigens Unterlagen kopiert oder sie telefonisch und via WhatsApp zusätzlich individuell betreut wurden. Vielerorts bemühte man sich, gerade in Kursen wie z.B. der Basisbildung, so schnell wie möglich wieder Präsenzangebote zu machen. In diesen wurde dann auch gezielt an den digitalen Kompetenzen der Teilnehmenden gearbeitet. Die fehlenden technischen Ressourcen (Endgeräte, Inter-

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netanschlüsse) sind als weiterer Ansatzpunkt zu nennen, für den es Konzepte seitens der Bildungsinstitutionen, aber v.a. auch der Bildungspolitik bedarf. Unter anderem lässt sich aus den Erfahrungen in der Pandemie lernen, dass zwar viele Schwierigkeiten durch hohes individuelles Engagement der Kursleiter*innen bewältigt bzw. abgemildert wurden, es jedoch stets auch einer entsprechenden strukturellen Unterstützung seitens der Bildungsträger bedarf. Diese konnte je nach den Möglichkeiten der Institutionen in unterschiedlicher Intensität geleistet werden. Besonders schwierig gestaltete sich daher wohl auch das Aufrechterhalten von Angeboten, die lediglich auf ehrenamtlichem Engagement basieren – was etwa im Bereich Migration/Asyl häufig vorkommt. Es ist davon auszugehen, dass auch hier die ohnehin schon schwache gesellschaftliche Position der Lerner*innen zusätzlich verschlechtert wurde. Zu kritisieren sind hier allerdings nicht die Freiwilligen, diese haben trotz der Krise – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – weiterhin solidarische Unterstützung geleistet. Vielmehr wird an solchen Beispielen einmal mehr deutlich, dass strukturell ohnehin vernachlässigte Felder in Krisen besonders unter Druck geraten. Einige Erwachsenenbildungsinstitutionen begleiten freiwillig Engagierte im Bildungsbereich (in einem breiten Spektrum an Inhalten und Zielgruppen). Sie berichten beispielsweise, dass trotz vielfältiger Unterstützungsangebote (wie Weiterbildungen zu digitalem Lernen) bei vielen Freiwilligen die Motivation in der Pandemie verlorenging. Dies geschah u.a. auch deshalb, weil sie aufgrund ständig wechselnder Corona-Regelungen permanent ihre Planung überarbeiten mussten und insgesamt hohe Unsicherheit herrschte (vgl. Ringler und Janovsky 2020). Sprachbezogene Hürden, mit denen sich manche Migrant*innen zusätzlich zu zahlreichen anderen Herausforderungen konfrontiert sahen, konnten vielerorts durch entsprechende Maßnahmen zumindest verringert werden (z.B. mithilfe mehrsprachigen Informationsmaterials). Die Expert*innen sehen darüber hinaus gerade für eingewanderte Personen und Menschen mit einer anderen Erstsprache als Deutsch intensivere und individuelle Beratungsangebote als wünschenswerte Maßnahmen für die Zukunft an. Da seit Beginn der Pandemie mittlerweile viele Erfahrungen mit den genannten Herausforderungen gesammelt werden konnten, wurden durchaus auch positive Effekte der Digitalisierung, selbst für Menschen mit geringer Grundbildung, sichtbar. So berichten Trainer*innen aus der Basisbildung von Empowermenteffekten durch die Gestaltung autonomer Lernmöglichkeiten und von schrittweise erfolgreicher Adaptierung der Teilnehmenden an die

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neuen Herausforderungen. Geeignete didaktische Settings werden nunmehr laufend für die zukünftige Basisbildung erarbeitet und diese wohl auch nachhaltig verändern (vgl. Lasser 2021). Insgesamt lässt sich resümieren, dass sich allgemeine Parameter sozialer Ungleichheit, welche Migrant*innen in einigen Bereichen überproportional betreffen, auch in Exklusionsmechanismen in der und durch die Pandemie tendenziell verstärkt haben. In Bezug auf die Erwachsenenbildung erwies sich die sogenannte digitale Kluft als relevanter Faktor. Ihr sollte auch unabhängig von pandemischen Bedingungen weiterhin besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Gleichzeitig darf aber nicht der Fehler gemacht werden, in der Stärkung der digitalen Teilhabechancen ein Allheilmittel für den Abbau von sozialer Ungleichheit zu sehen. Soziale Benachteiligung resultiert aus vielfältigen und komplexen Ursachen. Dass sie durch Bildung beseitigt werden könne, muss im Anschluss an Aladin El-Mafaalani (2020) als »Mythos« bezeichnet werden. Sehr wohl vermag Bildung jedoch als Teil multidimensionaler Strategien auch einen Beitrag zu gesellschaftlicher Partizipation und sozialer Gerechtigkeit zu leisten. Das Bildungswesen muss dabei jedoch ebenso die eigenen institutionellen Exklusionsmechanismen kritisch reflektieren, wofür gerade Krisen wie die Corona-Pandemie den Blick schärfen können.

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Die Krise in der Krise Zum partiellen Verlust bildungsrelevanter Krisenerfahrungen in bewegungsund sportpädagogischen Kontexten Sebastian Ruin, Jana Baumgärtner und Christoph Kreinbucher-Bekerle

Abstract Bewegung, Spiel und Sport werden in der Sportpädagogik als ästhetischer Erfahrungsraum gesehen, der neben einer individuell körperlich-leiblichen Entwicklung Möglichkeiten zur bewussten Irritation des Handlungsvermögens und zudem Potenziale bzgl. sozialer Entwicklung und des Zusammenhalts bietet. Vor dem Hintergrund eingeschränkter Sport- und Bewegungsmöglichkeiten während der Corona-Krise erscheinen diese pädagogischen Werte sportlichen Handelns diskussionswürdig. In der Pandemie gerieten diese Potenziale in den Hintergrund und es rückte eine medizinisch-naturwissenschaftlich ausgerichtete Gesundheitsförderung ins Zentrum. Der Beitrag arbeitet aus einer sozialtheoretisch-pädagogischen Perspektive heraus, dass und wie die produktive krisenhafte Erfahrung gegenwärtig in der Krise ist – in besonderer Weise für Heranwachsende in benachteiligten Lebenslagen.   Keywords: Bewegung, Bildung, Corona-Krise, Soziale Disparitäten, Sport

1.

Einleitung

Ist von einer Krise die Rede, so ist die erste alltagssprachliche Assoziation zumeist eine eher negative, nämlich die einer schwierigen, problembehafteten Situation. In diesem Duktus wird im öffentlichen Leben etwa von politischen Krisen (Anfang 2022 z.B. der »Ukraine-Krise«), ökonomischen Krisen (beispielsweise der »Finanzkrise« im Jahr 2008) oder ebenso von pandemisch bedingten gesellschaftlichen Krisen, wie in den letzten zwei Jahren sehr prominent von der »Corona-Krise«, gesprochen. Dieser semantische Gehalt von

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»Krise« steckt auch in dem bewusst mehrdeutig formulierten Titel des vorliegenden Beitrags »Die Krise in der Krise« und zielt dabei insbesondere exemplarisch auf die »Corona-Krise«, die das öffentliche Leben der jüngeren Vergangenheit maßgeblich geprägt hat. Es ist dabei aber nicht Ziel dieses Beitrags – dies sei direkt vorweggenommen –, eindeutig zu bestimmen, was die Corona-Krise ist, und ihre unmittelbaren Folgen für einen bestimmten Bereich (hier beispielsweise Bewegung, Spiel und Sport) umfassend zu analysieren. Vielmehr wird die Corona-Krise, auf die das zweite »Krise« im Titel verweist, als ein rahmendes Moment begriffen, das unser gesellschaftliches Leben in vielen Aspekten merklich verändert hat. Die damit verbundenen Auswirkungen werden in den folgenden Ausführungen hinsichtlich eines spezifischen Aspekts sport- und bewegungspädagogischer Arbeit problematisiert: bezogen auf krisenhafte Erfahrungen (z.B. des Nicht-Könnens, Scheiterns oder des Unterliegens), die in sport- und bewegungspädagogischen Kontexten prinzipiell als bildungsrelevant und produktiv erachtet werden. Auf diese bildungsrelevanten, häufig bewusst inszenierten krisenhaften Erfahrungen verweist das erste »Krise« im Titel. Der Titel »Die Krise in der Krise« ist entsprechend in der Form zu lesen, dass die sport- und bewegungspädagogische Arbeit bezüglich bildungsrelevanter krisenhafter Erfahrungen in der CoronaKrise ihrerseits herausgefordert wird, da sport- und bewegungspädagogische Settings (wie z.B. der Sport in der Schule und im Verein) durch erhebliche Einschränkungen zu leiden hatten bzw. haben und damit die bildungsrelevante Krise metaphorisch gesprochen in eine Krise geraten ist. Im Zentrum des Beitrags steht damit nicht die Corona-Krise (als Beispiel einer gesellschaftlichen Krise) in einer soziologischen Betrachtung, sondern es rücken die Folgen dieser gesellschaftlichen Krise und des Umgangs damit für sport- und bewegungspädagogische Zusammenhänge in den Fokus. So werden nicht zuletzt normative Fragen nach Bildungs- und Erziehungszielen adressiert, deren Reflexion und Begründung einen wesentlichen Teil pädagogischer und damit auch sport- und bewegungspädagogischer Überlegungen ausmachen (u.a. Beckers 2001; Meinberg 1984). Dem Beitrag liegt ein grundlegender bildungstheoretischer Anspruch zugrunde. Dieser ist in dem übergeordneten Ziel zu sehen, in pädagogischen Handlungszusammenhängen eine Balance zwischen individuellen und gesellschaftlichen Belangen herzustellen, um Selbstbestimmung im Gefüge gesellschaftlicher Ansprüche und Gegebenheiten zu ermöglichen und zu mündigem Handeln in verantwortungsvollem Umgang mit diesen Ansprüchen und Gegebenheiten zu befähigen. So fragt eine zeitgemäße Bildungstheorie »nach einem Begriff der Aufgaben der Er-

Die Krise in der Krise

ziehung und des Zwecks des Menschen, der weder die Individuen der Gesellschaft opfert noch die menschliche Gesamtpraxis auf ein Spielfeld individueller Willkür und Selbstverwirklichung verkürzt« (Benner 2010: 150). In diesem grundlegenden Verständnis dient die Bildungstheorie auch auf Bewegung und Sport bezogen (Stibbe 2016) als normative Folie, um Bildungs- und Erziehungswirklichkeit einzuordnen und das Gelingen oder Nicht-Gelingen von Bildungs- und Erziehungsprozessen zu beurteilen. So rückt in den folgenden Ausführungen entsprechend das lernende Subjekt in den Blick, dem es im Zuge von Bildungsprozessen ja zukommt, individuelle und gesellschaftliche Belange miteinander in Einklang zu bringen und sich dazu in Beziehung zu setzen. Folglich ist für das Anliegen dieses Beitrags die Ebene subjektiver Erfahrungen bedeutsam, womit es im Folgenden entsprechend auch um die Krise in subjektiver Perspektive geht. Zunächst kann eine subjektive Krise als ein Ereignis verstanden werden, »das eine Situation einleitet, die erst mit einer noch zu findenden Lösung überwunden und aufgehoben werden« (Rose 2016: 239) muss. Hierbei lassen sich jedoch verschiedene Arten von Krisen anhand des die subjektive Krise einleitenden Ereignisses differenzieren. Mit Oevermann (2004: 165) können in dieser Hinsicht drei unterschiedliche Krisen benannt werden: Eine traumatische Krise überkommt eine Person unerwartet und unvorbereitet, während sich hingegen eine Entscheidungskrise weniger plötzlich und unmittelbar anbahnt und zudem ein gewisses Zeitfenster vorhanden ist, um eine Entscheidung zu treffen. Die Krise der Muße wird dagegen bewusst herbeigeführt und stellt eine eigentlich vermeidbare, daher selbstbestimmte Einleitung einer krisenhaften Situation dar (ebd.). Bei dieser eigenständig initiierten Krise wird alleinig um der müßigen Wahrnehmung respektive der ästhetischen Erfahrung willen aus einer ansonsten routinisierten Praxis ausgebrochen. Dabei steigt mit zunehmender Dauer der Beschäftigung, die ohne äußeren Druck und um ihrer selbst willen erfolgt, die Wahrscheinlichkeit, außerhalb der vertrauten und bewährten Routinen auf Neues aufmerksam zu werden. Dieser Beitrag fokussiert bzgl. der subjektiven Krisen auf die sogenannte »Krise der Muße«, da dieser in sport- und bewegungspädagogischen Zusammenhängen eine besondere Bedeutung bzw. ein besonderer Bildungsgehalt beigemessen wird. Worin diese besondere Bedeutung zu sehen ist, wird im folgenden Abschnitt erörtert (2). Im Anschluss daran werden Erkenntnisse zu Bewegung, Spiel und Sport in der Corona-Pandemie umrissen (3) und diese mit den sport- und bewegungspädagogischen Überlegungen zum Bildungsgehalt krisenhafter Situationen im Sport in Anschlag gebracht, um zu dis-

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kutieren, inwiefern die Krise gegenwärtig in der Krise ist (4). Abschließend werden die Erkenntnisse in einem Fazit eingeordnet (5).

2.

Bildungsgehalt der Krise

In sport- und bewegungspädagogischen Kontexten wird der Erfahrung krisenhafter Situationen vielfach eine konstitutive und zudem produktive Bedeutung beigemessen (u.a. Bietz und Scherer 2017; Grupe 1984). Dies ist im Kern durch zweierlei wesentliche Aspekte begründet, auf die im Folgenden eingegangen werden soll: 1) Die bildungstheoretische Annahme einer durch krisenhafte Situationen provozierten Produktivität sowie 2) der sport- und bewegungskulturellem Handeln immanente krisenhafte Charakter.

2.1

Die Krise als Bildungsanlass

Die der Krise in sportpädagogischen Zusammenhängen zugeschriebene Bedeutung fußt zum einen wesentlich auf der grundlegenden bildungstheoretischen Idee, dass sich Bildung gerade dann ereigne, wenn die eigenen Selbstund Weltverhältnisse ins Wanken geraten, wenn sich die gewohnten Umgangsweisen mit sich und der Welt als dysfunktional erweisen – sprich, in krisenhaften Situationen: »Bildung bedeutet zuallererst Reflexivität: sich krisenhafter Ungewissheiten bewusst zu werden und sich dazu zu verhalten« (Bonnet und Hericks 2013: 37). Als Krise können ein Ereignis oder der Prozess der Bearbeitung dieses Ereignisses verstanden werden, bei dem eine temporäre Ausnahmesituation eingeleitet wird, die mit einer erst noch zu findenden Lösung überwunden oder aufgelöst werden kann (Rose 2016: 239). Bisherige Wahrnehmungs- und Handlungsroutinen einer Person erweisen sich als ungenügend, sodass unter Bedingungen der Zukunftsoffenheit und Ungewissheit nach Krisenlösungen gesucht werden muss. Dabei stellt eine Krise nicht zwangsläufig ein absolut existenzbedrohendes Ereignis dar. Vielmehr kann in einer abgeschwächten und differenzierten Betrachtung auch von »krisenhaften Erfahrungen«, »Irritation«, »Störung« und »negativer Erfahrung« gesprochen werden (Benner 2005). Gerade für pädagogisch gesteuerte Irritationen der Selbst- und Weltverhältnisse einer Person muss eine Krise als eigenes und auf sich selbst bezogenes Problem der Person wahrgenommen werden, damit eine aktive selbstbeteiligte Auseinandersetzung aus intrinsischen Motiven (Rose 2016: 242) einsetzt.

Die Krise in der Krise

Diese Grundfigur der Krise als Bildungsanlass – vielfach auch metaphorisch mit einem Stolpern umschrieben – zieht sich durch verschiedene bildungstheoretische Zugänge und hat maßgeblichen Einfluss auf die Begründung des Bildungsgehalts von Bewegung und Sport (zusammenfassend Ruin und Stibbe 2021). Dies soll exemplarisch an Prohls (2010) sportpädagogisch prominenter Begründung einer Bewegungsbildung als qualitativ strukturiertem Erfahrungsprozess verdeutlicht werden. In diesem Prozess werden mit Prohl vor allem Erfahrungen hinsichtlich körperlich-leiblicher Phänomene thematisiert, die auf unmittelbaren Empfindungen im Zuge des Sich-Bewegens in den jeweils subjektiv ausgedeuteten Ich-LeibWelt-Verhältnissen beruhen. Ein bildungstheoretisch ganz entscheidendes Moment ist hierbei nun, dass sich Erfahrung auf Diskontinuität gründet, was bedeutet, dass das Gewohnte irritiert werden muss, um Erfahrung überhaupt erst zu ermöglichen. Nur so kann der individuelle Erfahrungshorizont erweitert oder vertieft werden und sich entsprechend Bildung vollziehen. Erst wenn ich z.B. eine Kletterwand mit meinen gewohnten Mitteln nicht bezwinge, beginne ich in Distanz zu meinem eigenen leiblichen Tun zu treten und z.B. meine Klettertechnik zu hinterfragen und gegebenenfalls an ihr zu arbeiten, um den Anforderungen der Bewegungsaufgabe angemessen zu begegnen. Sogenannte »negative Erfahrungen«, also z.B. Erfahrungen des NichtKönnens, des Scheiterns, des Versagens, der Irritation oder Enttäuschung gelten vor diesem Hintergrund in sport- und bewegungspädagogischen Zusammenhängen als konstitutiv für Bildungsprozesse (Giese 2008) und werden mitunter bewusst in der unterrichtlichen Inszenierung provoziert (z.B. durch Ausprobieren von Unbekanntem). Dabei ist allerdings zu beachten, dass das Maß an Irritation entscheidend dafür ist, ob sich eine Situation als Über-, Unter- oder Herausforderung darstellt. So hebt Prohl (2010) ausdrücklich hervor, dass eine wesentliche Aufgabe bei der Gestaltung von bewegungsbezogenen Bildungsprozessen sei, Über- und Unterforderungen zu vermeiden und so bildungsrelevante Erfahrungen zu ermöglichen. Insofern handelt es sich bei dem Bildungspotenzial einer krisenhaften Erfahrung um ein Zusammenspiel vom Ausmaß der Irritation, der subjektiven Offenheit und Betroffenheit einer Person sowie dem Entwicklungsstand, dem Vorwissen, den Werten und den Emotionen bezogen zur Sache, zum Selbst und dem Gegenüber, um die Verarbeitungstiefe der Krisenbewältigung zu umschreiben (Rose 2016: 242). An dieser Stelle wird nicht zuletzt deutlich, wie komplex sport- und bewegungspädagogische Bildungszusammenhänge sind, und dass es dabei viel-

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fach einer behutsamen pädagogischen Rahmung durch professionelles Personal bedarf, um eine bestmögliche Entwicklung für alle anzubahnen, die individuell immer unterschiedlich ausfallen kann. Zudem ist zu bedenken, dass Erfahrung unmittelbar in den je spezifischen Ich-Leib-Welt-Bezügen gemacht wird und weder delegierbar an andere noch für die Zukunft verfügbar ist (Prohl 2010). Erfahrungen müssen also leibhaftig, unmittelbar und selbst gemacht werden.

2.2

Die Krise als konstitutives Moment sportlichen Handelns

Sport- und bewegungspädagogische Überlegungen stehen des Weiteren in engem Zusammenhang zu sport- und bewegungskulturellem Handeln (im Folgenden schlicht als sportliches Handeln bezeichnet). Wenngleich dabei die Beziehung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Belangen – also zwischen subjektiven Perspektiven auf das eigene Handeln einerseits und der Sport- und Bewegungskultur als faktisch gegebener gesellschaftlicher Größe andererseits – durchaus unterschiedlich ausgelegt wird, überwiegen derzeit Konzeptionen, in denen beide Aspekte miteinander in Beziehung gesetzt werden (Ruin et al. 2021). Damit geht es bei der Thematisierung sportlichen Handelns immer auch im Sinne eines kategorialen Bildungsverständnisses um ein Verstehen der Struktur sportlichen Handelns in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln im Sport. Was aber zeichnet sportliches Handeln aus? Da diese Frage im Rahmen dieses Textes zweifellos unmöglich erschöpfend zu beantworten ist, soll dies zunächst exemplarisch am sportlichen Wettkampf als zentralem Aspekt vieler Formen sportlichen Handelns1 verdeutlicht werden. Ein sportlicher Wettkampf kann als eine kulturell etablierte, bewusste Inszenierung von Herausforderung(en) verstanden werden (Prohl 2010), bei der sich ein ästhetischer Erfahrungsraum eröffnet. Aus einer ästhetiktheoretischen Perspektive bezeichnet Seel dies als die »Zelebration des Unvermögens« (Seel 1996: 188ff) der Sportler*innen, da diese sich mit dem Eintritt in den 1

Es sei angemerkt, dass sich im komplexen Feld des Sports durchaus auch Formen sportlichen Handelns etabliert haben, in denen das traditionelle Wettkampfmoment merklich in den Hintergrund tritt. Exemplarisch wären hier z.B. Teile des jugendkulturellen Trendsports (Schwier und Erhorn 2015), Bereiche des Fitnesssports (Bindel und Theis 2020) oder auch der Gesundheitssport (Balz und Kuhlmann 2015) zu benennen. Ohnehin wird auch in sportpädagogischen Betrachtungen das Wettkampfmoment als eines neben anderen wie z.B. Gesundheit und soziales Miteinander diskutiert (Balz 2009).

Die Krise in der Krise

Wettkampf bewusst in krisenhafte, nicht kontrollierbare Situationen mit ungewissem Ausgang begeben, die durch die Regeln des Wettkampfs gerahmt werden. Während nämlich im Wettkampf alle danach streben, den Sieg zu erringen, ist zugleich von vorneherein klar, dass niemand diesen mit Sicherheit erringen kann und den meisten Teilnehmer*innen die Niederlage zufällt. Gerade dies macht den Reiz eines sportlichen Wettkampfs und den Eigenwert des auf den Sieg bezogenen Handelns aus. Das eigene Handeln wird also dadurch aufgewertet, dass der Handlungserfolg permanent verunsichert wird. Fiele einem der Sieg von vorneherein zu, wäre er relativ wertlos. Dabei wird im Sport – unabhängig davon, ob im Wettkampf oder nicht – ein produktiver Umgang mit der paradoxen Tatsache kultiviert, dass der subjektive Ertrag einer Tätigkeit mit zunehmendem Handlungserfolg abnimmt: Je sicherer wir eine Tätigkeit ausführen, desto weniger reizvoll ist es für uns, diese auszuführen (Prohl 2004). Man denke z.B. daran, wie wenig aufregend es für die meisten von uns üblicherweise ist, uns die Schuhe zu binden; haben wir aber einen verstauchten Finger und können nicht auf die gewohnten Handgriffe zurückgreifen, kann auch das Schuhebinden plötzlich zu einer Herausforderung werden. Und so lebt auch z.B. ein gutes Handballspiel nicht maßgeblich davon, wie effektiv die Spieler*innen spielen, sondern gerade von jenen besonderen Momenten, in denen sich etwa durch Gegner*innendruck unerwartete Handlungsprobleme ergeben und neue Lösungen für diese Probleme gefunden werden müssen. Um solch krisenhafte Momente geht es letztlich im sportlichen Handeln. Handlungen werden hierbei bewusst derart zugespitzt (z.B. durch Regeln, die den Handlungsspielraum einengen, durch Gegner*innen, die danach trachten, den eigenen Erfolg zu verhindern, oder durch Schwierigkeitsgrade, die ein Gelingen unwahrscheinlich werden lassen), dass sich krisenhafte Momente ergeben. Damit bietet der Sport eine gesellschaftlich etablierte »Möglichkeit, uns die freiwillige Selbsterschwernis zuzumuten, aus der Kultur entsteht« (Grupe 1982: 107). Diese Selbsterschwernis kann verstanden werden als eine bewusst aufgesuchte und eingeleitete krisenhafte Situation. Aus solchen Überlegungen heraus stellen in sport- und bewegungspädagogischen Zugängen traditionell jene Bildungspotenziale, die mit ästhetischen Erfahrungen im sportlichen Handeln verknüpft sind, den Kern bewegungs- und sportbezogener Bildungsprozesse dar (u.a. Bietz und Scherer 2017; Grupe 1984). Die Besonderheit sportlichen Handelns wird gerade darin gesehen, dass es selbstzweckhaft sei, springe man im Sport ja z.B. nicht über ein Hindernis, um einen Zweck zu erfüllen (z.B. zügig zur Arbeit

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zu kommen), sondern man stelle sich bewusst ein Hindernis in den Weg, um darüber springen zu können (Prohl 2010). Im Zentrum sportpädagogischer Theorie und Praxis steht damit eine bewusste Inszenierung krisenhafter ästhetischer Erfahrungsräume, in denen das eigene leibliche Zur-Welt-Sein in Auseinandersetzung mit der Sport- und Bewegungskultur zum Bildungsthema wird. Bildungstheoretisch gewendet geht es also um eine durch Zumutung provozierte »Entfremdung« mit anschließender »Heimkehr zu sich« (Gadamer 1990: 20). Bewegung, Spiel und Sport stellen hierfür ein geeignetes Feld dar. Viele andere Lerninhalte werden z.B. in der Schule häufig nur als stellvertretende und sekundäre Erfahrung vermittelt. Im Fach Bewegung und Sport können hingegen über selbsterfahrene und in relativer Autonomie bewältigte bewegungsbezogene Krisen im Gegenwartsbezug neue Betrachtungen nach intensiver aktiver Auseinandersetzung auf das eigene leibliche Zur-Welt-Sein erfolgen. Welt meint damit nicht nur die materiale, sondern auch die soziale Welt. Schließlich werden die in sportpädagogischen Handlungszusammenhängen zu bewältigenden krisenhaften Situationen stets im sozialen Kontext ausgetragen, sodass sich weitere (soziale) Bildungs- und Erfahrungspotenziale eröffnen. Bei Mannschaftssportarten hängt der Bewegungserfolg beispielsweise maßgeblich an der gemeinsamen Erarbeitung und Ausführung einer Lösungsidee, sodass auch individuelle Bewegungshandlungen in den Kontext der Gruppenaktion eingefügt werden müssen. Auch in auf Einzelaktivitäten bezogenen Lehr-Lern-Prozessen, die zunächst hauptsächlich wie ein Nebeneinander individueller Lernprozesse erscheinen, lässt sich der soziale Kontext nur begrenzt ausklammern, da Lernen hier vielfach mit gegenseitigem Beraten und Beobachten verbunden ist. Im Bewegen und SportMachen rücken Bewegungsbeziehungen zwischen Person und Bewegungsaufgaben sowie auch Bewegungsbeziehungen von mitunter sehr verschiedenen Menschen in den Fokus (u.a. Weichert 2008). So ist neben einer produktiven Autonomie, als kreative Schöpfung von neuartigen Handlungsmöglichkeiten, in der eigenen Bewegungsausführung auch kontinuierlich die Kooperation und Koordination im sozialen Gefüge der sich Bewegenden untereinander ein sportpädagogisches Thema. Ein Tennismatch kann beispielsweise nur dann gelingen, wenn die Gegner*innen im Match eine entsprechende Bewegungsbeziehung eingehen. Selbst in einer Wettkampfsituation bleibt das Tennismatch daher ein Gegeneinander im Miteinander. In diesem Zusammenhang geht es nicht nur um sportimmanente Aspekte des Sozialen, sondern durchaus in einem allgemeinbildenden Auftrag

Die Krise in der Krise

um das Einüben eines demokratischen Habitus (u.a. Bähr 2009). Beispielsweise erfolgen während des Sportunterrichts in der Schule zahlreiche demokratische Aushandlungsprozesse unter den Lernenden und Lehrenden. So werden etwa teaminterne Rollenverteilungen ausgehandelt, Aufgaben verteilt oder Stundeninhalte abgestimmt. In unterschiedlichen sportpädagogischen Handlungszusammenhängen muss das Einstehen für und auch Zurückstellen von eigenen Interessen im Sinne einer Balance zwischen individuellen und gruppenbezogenen Belangen kontinuierlich neu hergestellt werden. Auch im Bewegungslernen als Auseinandersetzung mit persönlichen Krisen können innerhalb einer Lerngruppe durchaus konflikthafte Situationen mit anderen hervortreten. So wird ein selbstbestimmter und verantwortungsvoller Umgang mit den Ansprüchen und Gegebenheiten kollektiv zu treffender Entscheidungsfindungen eingeübt. Zusammenfassend betrachtet können sportpädagogische Handlungssituationen neben individuellen körperlich-leiblichen Entwicklungspotenzialen auch als förderlich für die soziale Entwicklung verstanden und das praktische Erfahrungslernen bzgl. des sozialen Zusammenhaltes und der Inkorporierung eines demokratischen Habitus herausgestellt werden (Bähr 2009). Sozialer Zusammenhalt wird dabei, unter Rückgriff auf Simmels (1992) Überlegungen zum »Streit«, also weder als ein permanent harmonisches Miteinander noch als völlige Dissoziation verstanden, sondern liegt in der Mitte des sich zwischen diesen beiden Polen aufspannenden Kontinuums. Der soziale Zusammenhalt zeichnet sich demnach insbesondere dadurch aus, dass Menschen in der Lage sind, Konflikte angemessen auszutragen. Demokratie kann somit auch als »öffentliche Inszenierung von Dissens« verstanden werden (Dubiel 1997: 426). Die pädagogische Idee des demokratischen Habitus (Prohl 2017) zielt unter Rückgriff auf die Arbeiten von Dewey (1999) auf eine solche Form sozialen Zusammenhalts, die auch im vorliegenden Beitrag ins Zentrum des Interesses gerückt werden soll.

3.

Bewegung, Spiel und Sport in Pandemiezeiten

Neben den sportimmanenten krisenhaften Situationen, die in Kapitel 2 beschrieben wurden – Sport als originäres Handlungs- und Erprobungsfeld im Umgang mit Irritationen und Krisen –, gibt es auch externe, von außen einwirkende Krisen (siehe Kapitel 1), die losgelöst von sportlichen Situationen zu betrachten sind, aber dennoch auf das Sport- und Bewegungsverhalten einen

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Einfluss haben können bzw. mit diesem in Zusammenhang stehen. Krisen und unvorhersehbare Momente haben auch in dieser Hinsicht das Potenzial, Veränderungen herbeizuführen. Güldenpfennig sieht Krisenerscheinungen generell als »dauerhafte Grundvoraussetzung der Entwicklung des Sports […] und damit [verbundene] permanente Herausforderung für kritisches Beobachten und reformorientiertes Handeln« (ebd. 1995: 30). Veränderungen im Feld des Sports (dieses beinhaltet, weit begriffen, nicht nur organisierten bzw. wettkampforientierten Sport, sondern auch z.B. vielfältiges Bewegungsverhalten in der Freizeit) gehen daher vielfach mit Folgen für das Feld sowie für die Menschen einher, die sich darin bewegen. Dies kann auf individueller Ebene zu vermehrter körperlicher Aktivität und einer positiven Haltung gegenüber Bewegung, Spiel und Sport und damit verbundenen Erfahrungen führen, aber auch gegenteilige Effekte und eine Verringerung von Bewegung und entsprechenden Erfahrungen bedingen. Eine Krise, die uns seit 2020 begleitet und in unvorhersehbarem Ausmaß unser Leben – auch im Hinblick auf das Verhalten im Feld des Sports – auf den Kopf gestellt hat, ist die CoronaPandemie. Indem Bewegung, Spiel und Sport hier vielfach Beschränkungen unterlagen, wurden auch die Räume für krisenhafte Erfahrungen, wie sie im vorigen Kapitel umrissen sind, deutlich eingeengt. Empirische Befunde im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zeigen, dass es in der ersten Phase der Corona-Restriktionen sogar zu einer kurzzeitigen Zunahme des Bewegungsverhaltens bei Erwachsenen gekommen ist (Brand et al. 2020), die jedoch bei anhaltender Dauer der Pandemie nicht aufrechterhalten wurde (Wunsch et al. 2022). Durch drastische Einschnitte wie Lockdowns und die Tatsache, dass Personen vermehrt zu Hause bleiben mussten, zeigen sich deutliche Auswirkungen auf die körperliche Inaktivität verbunden mit vermehrten sitzenden Tätigkeiten (Sevene et al. 2020). Es wird argumentiert, bei einer ohnehin bereits vorhandenen Tendenz zu Bewegungsmangel (Klein et al. 2016) und einer durch die coronabedingten Einschränkungen verursachten potenziellen Verstärkung, sei es essenziell, auf entsprechende und intrinsisch motivierte Bewegungsaktivitäten zu setzen, um nicht weitere Problembereiche im Zusammenhang mit dem Bewegungsmangel hervorzurufen (Klein et al. 2005). Jedoch gerade die individuelle Erfahrung in der Auseinandersetzung mit krisenhaften Situationen im eigenen Sich-Bewegen kann und soll u.E. neben allen anderen Qualitäten auch als förderlich für solch eine »intrinsische Motivation« gesehen werden. Auch bei Kindern und Jugendlichen zeigen sich deutliche Veränderungen im Bewegungsverhalten rund um die Restriktionen in Verbindung mit der

Die Krise in der Krise

Corona-Pandemie. Forschungsergebnisse aus dem deutschsprachigen Raum (u.a. Opper et al. 2021a) weisen darauf hin, dass ihre Bewegungsausübung so wie bei Erwachsenen kurzfristig etwas höher geworden, nach einem ersten Schwung aber weit unter das Vor-Krisenniveau zurückgegangen ist. Opper et al. (2021a) identifizieren Mehrfamilienhäuser mit sechs und mehr Wohneinheiten in Großstädten über 100.000 Einwohner*innen ohne Garten als »Hotspots für Bewegungsmangel« (ebd.: 394). Es zeigt sich, dass im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie oder ähnlichen Krisen soziale Ungleichheiten in der Gesellschaft und auch im Sport immer bedeutsamer werden (KauerBerk et al. 2020). Im Hinblick auf soziale Ungleichheiten im Sport kann man zwischen »vertikalen und horizontalen Disparitäten« unterscheiden (Rohrer und Haller 2015). Vertikale Dimensionen wären etwa Bildung, berufliche Position und Einkommen, horizontale Dimensionen Geschlecht, Alter, Nationalität und Religion. Wenngleich sich in wohlhabenden Ländern horizontale Ungleichheiten deutlich abgeschwächt haben, bleibt die formale Bildung jener Faktor mit dem größten Einfluss auf das Sport- und Bewegungsverhalten. Umso relevanter ist es, entsprechende Sport- und Bewegungsaktivitäten im Bildungssystem zu implementieren, um Kindern und Jugendlichen von Beginn an gleiche Chancen und Möglichkeiten zu bieten. Der Sportunterricht kann hier durch seinen erzieherischen Doppelauftrag mit einem Fokus auf der Vorbereitung für das Handlungsfeld Bewegung, Spiel und Sport (»Erziehung zum Sport«) einerseits und Persönlichkeitsentwicklung im Zuge der Auseinandersetzung mit dem eigenen Sich-Bewegen (»Erziehung durch Sport«) andererseits einen entscheidenden Beitrag leisten (Kurz 2000). So ist in diesem Zusammenhang nicht nur die rein körperliche Aktivität bedeutsam, sondern vor allem auch die damit verbundenen bewegungsbezogenen und allgemeinen Bildungspotenziale sind relevant. Wird in unserer Argumentation die Qualität der Bewegungserfahrung ins Zentrum gerückt, ist diese allerdings ohne ein gewisses Ausmaß an Bewegung schwerlich zu haben. Jedoch fanden in der aktuellen Pandemiesituation Sport- und Bewegungsangebote in Schulen anfangs gar nicht oder im digitalen Raum und mitunter sehr eingeschränkt statt. Insbesondere gab es starke Qualitätsunterschiede der digitalen Angebote, die zudem stark fitnessorientiert ausgerichtet waren und wenig bewegungsbezogene Interaktion erlaubten (Opper et al. 2021b). Betrachtet man entsprechende Verordnungen und Maßnahmen im deutschsprachigen Raum (und wohl auch darüber hinaus), so zeigt sich, dass bewegungsbezogene Interaktionen im Unterricht in Zeiten

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der Pandemie eine geringe Bedeutung haben, obwohl es zahlreiche Ideen zur kreativen Bewegungsförderung in diesem Zusammenhang gibt (Schneider 2021). Darüber hinaus braucht es jedoch die entsprechenden Rahmenbedingungen und Aktivitätsangebote, die zusammen mit vorgeplanten und konsistenten Tagesabläufen Kinder und Jugendliche auch in Pandemiezeiten unterstützen, einen aktiven Lebensstil aufrechtzuerhalten (Kovacs et al. 2021). Mit besonderer Deutlichkeit wird dies in Sportvereinen sichtbar, wo die prekäre Situation in Zeiten von Corona »wie in einem Brennglas« veranschaulicht wird (Sturzenhecker 2021: 54). Besonders in Krisenzeiten werden jene Problembereiche sichtbar, die bereits in Vorkrisenzeiten vorhanden waren, und der organisierte Sport bildet dabei keine Ausnahme. Neben der Tatsache, dass die externe Krise und die dadurch geänderten Rahmenbedingungen bearbeitet werden müssen, haben diese und ähnliche soziale Krisen auch Potenzial für fachliche Reflexionen (Lüsebrink 2020). Dies meint im konkreten Fall nicht zuletzt ein Überdenken der pädagogischen Begründungszusammenhänge im Kontext von Bewegung, Spiel und Sport. Dabei bietet die Krise den Anlass, die Relevanz von Sport- und Bewegungsangeboten im schulischen und außerschulischen Sport hervorzuheben, die im Zusammenhang mit gesellschaftlichem Wandel differenziert zu betrachten sind (Güldenpfennig 1995). Zusammenfassend lässt sich aus der aktuellen Studienlage schlussfolgern, dass eine krisenhafte Situation von außen wie etwa die CoronaPandemie einen starken Einfluss auf das Bewegungsverhalten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen haben kann. Ferner dürften soziale Ungleichheiten, die sich auch im Sport- und Bewegungsverhalten widerspiegeln (Rohrer und Haller 2015), dadurch noch verstärkt und pointiert werden. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, diese Befunde mit dem Wissen um die sportpädagogische Bedeutung krisenhafter Momente (Kap. 2) zusammenzuführen und zu untersuchen, inwiefern sportliches Handeln in der Krise betrachtet werden kann.

4.

Sportliches Handeln in der Krise?

In Anerkennung des Anliegens dieses Buchs, den sozialen Zusammenhalt in der Krise zu beleuchten – womit u.E. vor allem gesellschaftliche Krisen allgemein und die gegenwärtige Corona-Krise als ein prominentes Beispiel krisenbedingter Einschnitte in zuvor selbstverständliche Gewohnheiten angespro-

Die Krise in der Krise

chen sind –, wird im Folgenden der Frage nachgegangen, was dies für sportliches Handeln bedeutet. Dabei geht es zum einen darum, zu diskutieren, inwiefern sportliches Handeln im Zuge der nunmehr zweijährigen CoronaKrise selbst in eine Krise geraten ist, da z.B. vielerorts sportliche Freizeitaktivitäten unterbunden wurden, oder der Sport in der Schule vielfach limitiert und mitunter gar ausgesetzt wurde. Zudem stellt sich die Frage, wie ein sportliches Handeln in solch einer Krise eventuell dennoch möglich sein könnte, ob sich hier potenziell bietende Möglichkeiten allen gleichermaßen offenstehen und was dies für sozialen Zusammenhalt bedeuten könnte. Wie in Kapitel 2 herausgearbeitet, liegen im Bereich des Sports erhebliche Bildungspotenziale, die sich beispielsweise in krisenhaften Momenten ergeben, die bewusst mit Blick auf sportliches Handeln angebahnt werden. In sportpädagogischen Handlungszusammenhängen gilt es daher als ein zentrales Anliegen, entsprechende krisenhafte Situationen in angemessener Form zu provozieren (Prohl 2010) und den Umgang damit derart zu rahmen und zu begleiten, dass sich möglichst für alle Beteiligten die damit verbundenen Bildungspotenziale entfalten können (Ruin und Stibbe 2022). Ohne Frage ist dies kein banales Unterfangen, sondern eine komplexe pädagogische Aufgabe, weswegen sich sportpädagogische Theorie und Praxis auch niemals auf ein schlichtes In-Bewegung-Versetzen von Kindern und Jugendlichen o.Ä. beschränken können, sondern immer die jeweils verfolgten Bildungsund Erziehungsziele kritisch mit im Blick haben müssen (zusammenfassend Ruin und Stibbe 2021). Bezüglich der Corona-Krise kann in dieser Hinsicht als erster zentraler Problempunkt recht allgemein festgehalten werden, dass zur Entfaltung der angesprochenen Bildungspotenziale im Sport zunächst einmal überhaupt sportliches Handeln stattfinden muss. Wenn »negative Erfahrungen« (z.B. des Scheiterns oder des Nicht-Könnens etc.) im Sport als konstitutiver Ausgangspunkt von Bildungsprozessen gesehen werden (u.a. Giese 2008) und eine Erfahrung zudem immer unmittelbar in den je spezifischen Ich-Leib-Welt-Bezügen gemacht wird (u.a. Grupe 1984) und dabei eben nicht delegierbar an andere ist (Prohl 2010), dann muss sportlich gehandelt werden, damit entsprechende leibhaftige, unmittelbare Erfahrungen überhaupt erst möglich werden. Verbote im Feld des organisierten Freizeitsports, Schulschließungen und Distance-Learning sind in dieser Hinsicht wohl kaum förderlich. Unter diesen Umständen erscheinen Hinweise auf ein »Muss« an zu erreichenden Bewegungsminuten im Zusammenhang mit den Bewegungsempfehlungen (bei Kindern mindestens 60 Minuten pro Tag, siehe Bull et al. 2020) jedoch auch

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wenig hilfreich. Diese können zwar einen Rahmen für gesundheitswirksame Bewegung vorgeben und als Referenz- und Vergleichswert durchaus Berechtigung haben, sie wirken zugleich aber bei Anwendung mit erhobenem Zeigefinger eher als Gesundheitsimperativ und lassen wenig Raum für subjektive Auseinandersetzungen mit krisenhaften Situationen im eigenen SichBewegen. Hinzu kommt als zweiter Problempunkt, dass es insbesondere im schulischen Pflichtunterricht einer angemessenen, behutsamen Inszenierung unterrichtlicher Prozesse bedarf, um allen Kindern und Jugendlichen entsprechende negative Erfahrungen zu ermöglichen, die das Potenzial haben, bildungsrelevant zu werden. Hierzu braucht es beispielsweise Diagnostik und unterrichtliche Differenzierung hinsichtlich des jeweiligen Bewegungskönnens (Haas und Adl-Amini 2020), des umsichtigen Umgangs mit subjektiven Belangen und Empfindungen, des Verständnisses spezifischer Dynamiken einer Lerngruppe usw. Was sich nämlich z.B. für die eine Schülerin als herausfordernd krisenhafte Situation darstellt, ist für einen anderen Schüler gegebenenfalls eine beängstigende Überforderung, für eine wiederum andere Schülerin ist es möglicherweise ein extrem schambesetzter Moment, demgegenüber für einen anderen Schüler jedoch eine Banalität. Diese Anforderungen an eine unterrichtliche Inszenierung, die vielseitige Erfahrungsräume ermöglicht, sind selbstverständlich auch im Distance-Learning relevant. Vor diesem Hintergrund kann es nicht darum gehen, Kinder und Jugendliche z.B. schlicht über Hausaufgaben mit möglichst vielen Herausforderungen zu konfrontieren, oder über Mitmachvideos zu bestimmten Bewegungen aufzufordern, sondern es ist gerade in schulischen Zusammenhängen eine professionelle pädagogische Begleitung vonnöten, um beispielsweise Über- und Unterforderungen, Benachteiligungen oder auch Ausgrenzungen zu vermeiden und allen eine bestmögliche Entwicklung zu ermöglichen. Diese war unter CoronaBedingungen mit Distance-Learning nicht immer überall gewährleistet. Des Weiteren kann nicht davon ausgegangen werden, dass entsprechende Angebote für jede*n sinnstiftend sind und mit Begeisterung aufgenommen werden, insbesondere wenn übliche und vertraute Bewegungsaktivitäten nicht mehr in gewohntem Ausmaß möglich sind. So findet etwa nicht jede*r die Workouts in den eigenen vier Wänden unterhaltsam, sondern bevorzugt es, sich mit Gleichaltrigen im Freien auszutoben. Ist dies wie in den letzten beiden Jahren nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich, kann es zu einer Verringerung des Bewegungsverhaltens führen. Eine länger andauernde Krise birgt auch die Gefahr, dass sich Verhaltensweisen von Personen in Rich-

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tung Inaktivität verstärken und damit verbundene Folgen – mögliche Reduktion des körperlichen, psychischen und/oder sozialen Wohlbefindens – einhergehen. Obgleich die regelmäßige Ausführung von Sport und Bewegung zahlreiche positive Auswirkungen auf das physische, psychische und soziale Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen haben kann (Poitras et al. 2016), werden die gesundheitsbezogenen Konsequenzen eines eingeschränkten Bewegungsverhaltens im Zusammenhang mit Krisensituationen als dritter Problempunkt deutlich. Neben geringeren Leistungen in sportmotorischen Kennwerten zeigen sich auch starke Zuwächse im Zusammenhang mit Übergewicht und Adipositas (Jarnig et al. 2021). Eine Reduktion des Bewegungsverhaltens kann sich zudem negativ auf das psychische Wohlbefinden auswirken. Personen mit regelmäßiger Bewegung zeigen die höchsten Werte im psychosozialen Wohlbefinden, unabhängig davon, wie häufig und wie intensiv sie sich vor der Pandemie bewegt haben (Brand et al. 2020). Davon gänzlich unbeachtet sind der Wegfall von freudvoller gemeinsamer Bewegung und der soziale Kontakt mit Gleichaltrigen, die für ein entwicklungsgerechtes Aufwachsen unabdingbar sind. Als vierter Problempunkt soll daher das Wegfallen vieler sozialer Lernsituationen im Distance-Learning und durch Beschränkungen im außerschulischen Sport gefasst werden. Werden diese sportlichen Handlungssituationen eigentlich gezielt durch pädagogische Rahmungen und das darin stattfindende gemeinsame Bewegungshandeln angebahnt, fielen sie durch die gegebenen Beschränkungen vielfach weg. Das Lernen an und Sammeln von (ästhetischen) Erfahrungen in Gruppen, die nur ihrer selbst willen und ohne Konsequenzen für den restlichen Lebensalltag herbeigeführt werden, kann aber dazu beitragen, dass Heranwachsende Souveränität und Selbstsicherheit in Situationen des Entscheidungszwangs bei gleichzeitiger Unbegründbarkeit der gegebenen Handlungsmöglichkeiten gewinnen (Krisensituationen). Das Treffen eigener Entscheidungen wird hier in je unterschiedlichem Maße in Übereinstimmung oder im Konflikt zu Handlungsinteressen anderer eingefordert. Insofern wird in bewegungsbezogenen krisenhaften Handlungssituationen ein spielerischer, aber dennoch ernstgenommener, Umgang mit ungewissen und herausfordernden Situationen eingeübt. Das Wahren der Balance zwischen Kooperation, Eigensinn und fairem Wettkampf ist dabei eine sensible Angelegenheit und zugleich ein elementarer Anspruch – hier sei an den eingangs formulierten, übergeordneten bildungstheoretischen Anspruch erinnert, ein Gleichgewicht zwischen individuellen und gesellschaftlichen Belangen anzubahnen. Kompetent pädagogisch begleitet kann ein sozialer Handlungsraum eröffnet werden, in dem

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solch eine Balance hergestellt werden kann. Dabei besteht eine Lernaufgabe darin, die Wahl nach eigenen und gemeinsamen, gruppenspezifischen Interessen im Kontext gesellschaftlicher Ansprüche, Werte und Normen abmessen zu lernen und Grenzen des eigenen Handlungsrahmens kreativ auszutesten. Lernende können Selbstwirksamkeit aber auch als ein, für den Alltag relativ folgenloses, Begehen von Fehlern in Gruppensituationen erleben und so misslungene Handlungen als einen möglichen, aber nicht als schlimmen, Ausgang interpretieren lernen. Das routinisierte Aufsuchen kleinerer Krisen kann dazu beitragen, einen strukturellen Optimismus anzutrainieren, der dadurch beschrieben werden kann, dass trotz der realistischen Möglichkeit des Scheiterns eines Vorhabens Souveränität im Umgang mit Ungewissheit auf persönlicher Ebene, aber auch in sozialen Situationen eingeübt wird. Darüber hinaus fordern sportpädagogische Handlungssituationen wie kaum andere Lernsituationen ein, dass Lernende sich in ihrer je spezifischen Situiertheit kennenlernen und einen Umgang miteinander finden (Ruin 2022: 44). Wohl wissend, dass gleichermaßen positive wie auch negative Aspekte aus einer solchen Exponiertheit resultieren können, sei hier auch benannt, dass nicht selten sozial fragwürdige Verhaltensweisen, wie z.B. ein Auslachen durch Mitschüler*innen bei einer misslungenen Handlung, ebenso Resultate dieser Öffentlichkeit darstellen. Das gegenseitige Wahrnehmen und Achten unterschiedlicher Situiertheiten in sportpädagogischen Situationen bildet die Voraussetzung dafür, dass hier erfahrbar werden kann, wie sozial verantwortliches und demokratisches Miteinander gelebt werden kann. Unbestreitbar kann nicht jedes sportpädagogische Setting diesen Ansprüchen gerecht werden, jedoch ist zweifellos das Ausbleiben auch nur einiger dieser sozialen Lernanlässe in authentischen Primärerfahrungen während sportpädagogischer Handlungssituationen in pädagogischer Hinsicht ein Verlust. Distance-Learning und Restriktionen, wie sie vielfach vorzufinden waren, sind daher u.E. zu problematisieren. Konstruktiv gewendet lässt sich aber sicherlich auch feststellen, dass ja auch die Corona-Krise ihrerseits möglicherweise dazu beizutragen vermag, Bildungsprozesse anzustoßen. Wenn ein Ereignis bzw. die Bearbeitung dieses Ereignisses als Krise gefasst werden, die eine temporäre Ausnahmesituation einleitet, die mit einer zu findenden Lösung überwunden oder aufgelöst werden kann (Rose 2016: 239), dann könnte dies ja auch für die Corona-Krise bzw. das sportliche Handeln im Rahmen der Corona-Krise gelten. Und so ist es zweifellos möglich – etliche Beispiele aus dem privaten Umfeld der Autor*innen dieses Beitrags illustrieren dies – umzudenken, sportliches Handeln z.B.

Die Krise in der Krise

im familiären Kontext bei einem Spiel mit Luftballons im Wohnzimmer oder mit einem Spikeballset im Park zu ermöglichen und so auch in der Krise produktive krisenhafte Situationen zu provozieren. Zudem können ja beispielsweise ganz alleine Tätigkeiten spielerisch zugespitzt und der Handlungserfolg somit unwahrscheinlich gemacht werden, um sich so selbst bewusst in den Genuss negativer Erfahrungen zu bringen – Kinder sind vielfach geradezu meisterhaft darin. Es ist und war also auch jenseits einer rein auf physiologische Prozesse ausgerichteten, bewegungsbezogenen Gesundheitsförderung einiges an sportlichem Handeln denkbar und möglich in der Corona-Krise. Allerdings ist hierbei bedeutsam, dass die Wahrscheinlichkeit, dass entsprechende Aktivitäten angegangen bzw. krisenhafte Situationen aufgesucht werden, erheblich damit zusammenhängt, ob die Kinder und Jugendlichen einen entsprechenden Zugang zum Sich-Bewegen haben, ob sie bereits auf sport- und bewegungsbezogene Gewohnheiten und Erfahrungsbestände zurückgreifen können und vor allem auch, ob das unmittelbare Umfeld (z.B. Familie oder Freunde) entsprechende Zugänge hat. Ist dies nicht der Fall, ist der Weg zum sportlichen Handeln und entsprechenden krisenhaften Momenten für Kinder und Jugendliche erheblich weiter, liegt weniger nahe und wird möglicherweise entsprechend auch weniger oft aufgesucht. Dies kann als fünfter Problempunkt bezüglich der Corona-Krise festgehalten werden, denn Kinder und Jugendliche in bestimmten Situationen sind damit zweifellos benachteiligt hinsichtlich der wichtigen oben umrissenen Bildungspotenziale. Bringt man diesen Aspekt mit dem Wissen darum in Anschlag, dass Kinder und Jugendliche mit bestimmten sozialstrukturellen Merkmalen (z.B. Kinder aus Haushalten mit niedrigerem Haushaltseinkommen, aus bildungsferneren Milieus, Mädchen mit Migrationshintergrund, Kinder und Jugendliche in sozialen Brennpunkten) merklich weniger am Sport partizipieren und sich auch in ihrem Alltag weniger bewegen (Mutz 2020), kann vermutet werden, dass die Corona-Krise auch bezüglich bewegungs- und sportbezogener Aspekte bestehende Bildungsdisparitäten spürbar verschärfen dürfte. Genau an diesen Ungleichheiten setzt schließlich auch der schulische Unterricht im Fach Bewegung und Sport an, wenn das Anliegen verfolgt wird, allen Kindern einen Zugang zu Bewegung, Spiel und Sport zu eröffnen, die persönlichkeitsrelevante Bedeutung bewegungsbezogener Bildungsprozesse zu erfahren und sich auch in dieser wichtigen Facette menschlichen ZurWelt-Seins bestmöglich zu entwickeln. Die Entfaltung entsprechender Bildungspotenziale sollte auch in Krisenzeiten nicht schlicht dem Zufall überlassen werden, wie im Distance-Learning vermutlich häufig der Fall, birgt

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das doch die Gefahr, dass hierdurch eher soziale Ungleichheit nochmals verschärft und nicht der soziale Zusammenhalt gefördert würde, was eigentlich als ein wesentliches Ziel schulischer Bildung gilt (Fend 2006). Im Kern ist es also auch bzw. insbesondere in der Krise notwendig, zu verhindern, dass für einige Kinder und Jugendliche das Herangeführt-Werden an bewegungsbezogene Themen verlorengeht.

5.

Fazit

In den bisherigen Ausführungen wurden Überlegungen zum Bildungsgehalt krisenhafter Situationen im Sport mit aktuellen Erkenntnissen zum Sportund Bewegungsverhalten in der Corona-Pandemie konfrontiert. Ziel war es, zu diskutieren, inwiefern bildungsrelevante krisenhafte Erfahrungen im Kontext von Bewegung und Sport gegenwärtig in der Krise sind. Dabei offenbaren die Überlegungen einerseits unmittelbar durch die Pandemie bzw. die damit verbundenen Maßnahmen ausgelöste Probleme und andererseits auch grundsätzliche Probleme, die durch die Zuspitzung in der Corona-Krise nun gewissermaßen wie durch ein Brennglas noch sichtbarer werden. Auffällig ist im erstgennannten Sinne sicherlich die Problematik, dass es für die angesprochenen bildungsrelevanten krisenhaften Erfahrungen am eigenen Leibe auch des unmittelbaren leiblichen Handelns im Kontext von Bewegung, Spiel und Sport bedarf. Damit stellten die coronabedingten Restriktionen einen spürbaren Einschnitt dar, wurden hier doch viele Erfahrungsfelder merklich eingeengt und manche gar zeitweise genommen. Neben einem partiellen Wegfall der mit Sport und Bewegung assoziierten positiven Effekte auf die Gesundheit – und damit einhergehend auf das physische, psychische und soziale Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen – war die u.E. problematischste Konsequenz der Corona-Krise in dieser Hinsicht, dass Kindern und Jugendlichen die im Beitrag umrissenen persönlichkeitsrelevanten Erfahrungen vielfach nicht in der gewohnten Form und mitunter auch gar nicht mehr zugänglich waren. Bezogen auf grundsätzliche Probleme wird deutlich, dass im Zuge von Distance-Learning im schulischen Unterricht im Fach Bewegung und Sport weniger Wert auf die Inszenierung und pädagogische Begleitung entsprechender Bildungsprozesse, die durch krisenhafte Erfahrungen ausgelöst werden, gelegt wurde. In der Wahrnehmung der Autor*innen dieses Beitrags stand vielfach offenbar eher im Fokus, die Kinder und Jugendlichen »wenigs-

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tens in Bewegung zu versetzen«. Neben der grundlegenden Frage, ob ein solches Vorgehen nicht den Bildungsauftrag des Fachs in extremer Weise verkürzt – wohl kaum jemand käme im Fach Deutsch auf den Gedanken, dass es genügend sei, wenn die Schüler*innen ein wenig mit anderen sprechen, um dem Bildungsauftrag des Fachs gerecht zu werden –, hat ein solches Vorgehen auch soziale Folgen. Während Heranwachsende aus eher gut situierten Familien in bildungsnahen Milieus aufgrund ihres familiären und infrastrukturellen Umfelds vergleichsweise gute Chancen hatten, auch während der Corona-Krise entsprechende Erfahrungsräume aufzusuchen und hierbei u.U. auch beispielsweise von Eltern dazu angehalten und dabei begleitet zu werden, gerieten insbesondere jene Kinder und Jugendlichen, die ohnehin von sozialer Benachteiligung bedroht sind, in dieser Beziehung in der Krise erneut ins Hintertreffen. Sie hatten bzw. haben statistisch gesehen den schlechteren Zugang zu öffentlichen Sportanlagen, weniger sport- und bewegungsaffine Familien und zudem häufig selbst eine geringere Affinität zu Bewegung, Spiel und Sport. Hinzu kommt des Weiteren in sozialer Hinsicht, dass mit den Restriktionen auch die vielen sozialen Lernsituationen, die sich im Kontext von Bewegung, Spiel und Sport üblicherweise ergeben, stark beschränkt wurden. Verdichtet auf diese umrissenen elementaren Aspekte wird mit Blick auf eine Zeit nach der Krise u.E. für die Sportpädagogik vor allem zweierlei deutlich: Zum einen erscheint es notwendig, die bildungsrelevante Bedeutung krisenhafter Erfahrungen in Bewegung und Sport auch über den sportpädagogischen Fachdiskurs hinaus stärker und prominenter nach außen in gesellschaftliche Diskurse hineinzutragen. So bestünde zumindest Hoffnung, dass der Auftrag des Fachs in der Breite der Gesellschaft nicht auf eine gesundheitsrelevante Bedeutung physischer Aktivität reduziert wird, die zwar durchaus auch ihre Berechtigung hat, aus sportpädagogischer Sicht aber bei Weitem nicht den Kern des fachlichen Auftrags ausmachen sollte. Zum anderen gälte es u.E. zeitgemäße Formate zu finden, wie eine pädagogische Inszenierung und Begleitung krisenhafter Erfahrungen im sportlichen Handeln auch in einer hoch digitalisierten Welt und nicht zuletzt in möglichen kommenden Perioden des Distance-Learnings oder anderer digitaler LehrLern-Formate ausgestaltet werden können. Hierfür sind zweifellos Kreativität und pädagogisch-didaktische Weiterentwicklungen – auch in konzeptioneller Hinsicht – gefragt. Dieses Unterfangen erscheint den Autor*innen dieses Beitrags aber umso relevanter, als dass unsere Lebenswelten im Kontext gesellschaftlichen Wandels zunehmend kontingent werden (Peukert 2015) und

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in diesem Zusammenhang das eigene leibliche Zur-Welt-Sein als eine Konstante begriffen werden kann, der eine subjektiv wichtige Orientierungsleistung zuzukommen vermag (u.a. Thiele 1996).

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Lebenswelt Nachbarschaft als Möglichkeitsraum  sozialer Kohäsion Regina Mikula

Abstract Unsere Gesellschaft ist offensichtlich und spürbar für jeden Menschen seit Ausbruch der Corona-Pandemie anders geworden. Aufgrund der Auswirkungen gegenwärtiger gesellschaftlicher Problemlagen stellt sich die Frage nach der Stärkung des sozialen Zusammenhalts bzw. nach einem gelingenden Zusammenleben im lokalen Nahraum Nachbarschaft. In diesem Artikel geht es um Nachbarschaft als unmittelbare und unhintergehbare Lebenswelt jedes Einzelnen. Gefragt wird danach, welche Formen privater Nachbarschaftshilfe während des ersten Jahres in der Corona-Pandemie zu beobachten waren. Ausgangspunkt der Überlegungen ist das Individuum, das in der Nachbarschaft einen vorstrukturierten Orientierungsrahmen für soziales Handeln vorfindet, und gefragt wird danach, wie Nachbar*innen als vermeintlich vorerst Fremde fürsorgliche Unterstützungsleistungen tätigen und damit einen Beitrag zur Stärkung sozialer Kohäsion leisten.   Keywords: soziale Kohäsion, Nahraum Nachbarschaft, Solidarität, freiwilliges privates Engagement

1.

Einleitung

Unsere Gesellschaft ist definitiv und spürbar für jeden Menschen seit Ausbruch der Corona-Pandemie anders geworden. Kaum etwas wird in politischen Statements der vergangenen Jahre so häufig und vehement beschworen wie der gesellschaftliche Zusammenhalt, wie die Verantwortung jedes Einzelnen in und für unsere Gesellschaft, um die gegenwärtige globale Krise zu bewältigen. Hingewiesen wird auch auf den Verfall des Sozialen bzw. das Fehlen gesellschaftlicher Solidarität. In dieser von Verunsicherung, Unvorhersehbarkeit und Unplanbarkeit geprägten Welt gibt es umso mehr eine spürbare Sehnsucht nach sozialer Nähe und Verbundenheit sowie nach

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Regina Mikula

Verbindlichkeit, Verlässlichkeit, Eindeutigkeit und Planbarkeit. All dies lässt somit die Frage nach der Stärkung des sozialen Zusammenhalts bzw. nach einem gelingenden Zusammenleben gerade im lokalen Nahraum Nachbarschaft entstehen. Ein Blick in die konkrete Nachbarschaftskultur lohnt sich daher, da gerade Nachbarschaften in Krisensituationen potenziell flexibler reagieren und agieren können als etwa formalisierte bzw. institutionell organisierte Hilfeformen. Durch informelle Kontaktnetzwerke können unter bestimmten Rahmenbedingungen personale und soziale Ressourcen bei alltagspraktischen Aufgaben unbürokratisch und rasch aktiviert werden. Nachbarschaft birgt somit – als unmittelbare und unhintergehbare Lebenswelt jedes Einzelnen – ein gewisses Potenzial für die Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts; das zeigt sich gerade in diesem Mikrokosmos, der von räumlicher Nähe ebenso geprägt ist wie von gleichzeitiger Distanziertheit. Der Fokus der hier vorliegenden Überlegungen zu Nachbarschaft liegt auf der Mikroebene; es ist das Individuum, das in der unmittelbaren Lebenswelt Nachbarschaft einen gewissen Orientierungsrahmen für soziales Handeln vorfindet. »Plötzlich wird mir klar, dass ich, um überleben zu können, des hilfreichen anderen bedarf, wie andere meiner bedürfen« (Meueler 2002: 60). Bezogen auf die Perspektive sozial engagierter Menschen wird in diesem Artikel unter Zuhilfenahme literarischer Quellen am Beispiel der privaten Nachbarschaftshilfe daher gezeigt, welche Formen nachbarschaftlicher Beziehungen und Hilfeleistungen sich beobachten lassen. Abschließende Betrachtungen zum Nahraum Nachbarschaft verweisen auf die Nachbarschaftshilfe als Möglichkeitsraum für individuelle und kollektive Veränderungsprozesse, die in der Lage sind, die soziale Kohäsion einer Gesellschaft zu stärken.

2.

In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?

Die eingangs gestellte Leitfrage wird von verschiedenen Expert*innen und Wissenschafter*innen aus unterschiedlicher Perspektive je nach zugrundeliegenden Gesellschaftskonzepten zur Skizzierung von Zeitdiagnosen und Markierungen der Gesellschaft verwendet. Als Antwort auf diese Frage liest man seit einigen Jahrzehnten von Begriffen, deren Spektrum von der Risikogesellschaft (vgl. Beck 1986), der Erlebnisgesellschaft (vgl. Schulze 1992), der Zivilgesellschaft (vgl. Klein 2001) über die Informations- und Wissensgesellschaft (vgl. Weingart 2003), die Beschleunigungsgesellschaft (vgl. Rosa 2005), die fluide Gesellschaft (vgl. Keupp 2008), die Migrationsgesellschaft (vgl. Meche-

Lebenswelt Nachbarschaft als Möglichkeitsraum sozialer Kohäsion

ril 2010) bis hin zur Abstiegsgesellschaft (vgl. Nachtwey 2016), digitale Gesellschaft (vgl. Hepp 2021) und jetzt Corona-Gesellschaft (vgl. Volkmer und Werner 2021) reichen. Diese zu verschiedenen Zeiten immer wieder refigurierten Zeitdiagnosen eignen sich, um Anknüpfungspunkte für die gewählte Themenstellung zu finden. Gegenwärtig gewinnt vor allem die etwas ältere Bezeichnung fluide Gesellschaft (vgl. Keupp 2008) an Bedeutung, denn es scheint sich doch alles Stabile und Gleichbleibende in zunehmender Unsicherheit, permanenter Veränderung und Instabilität bzw. Unübersichtlichkeit zu befinden. Auch die Demokratie gelangt zunehmend an ihre Grenzen, denn das Vertrauen in die Politik schwindet, Politikverdrossenheit und Interessenskonflikte nehmen zu; das ergibt insgesamt eine gesellschaftlich kritische und besonders herausfordernde Gesamtsituation. Mitten in der vierten Welle der Corona-Pandemie wird die Debatte daher einerseits bestimmt von der Frage nach Stabilisierung und Sicherheit in Zeiten steigender Verunsicherung. Und andererseits besteht die Gefahr, dass Polarisierungen und soziale Ungleichheiten aufgrund gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Verwerfungen zunehmen. Soziolog*innen konstatieren in diesem Zusammenhang schon seit längerer Zeit eine anwachsende Erosion der Gesellschaft (vgl. Müller 2017). Dies befördert ein Gefühl der Bedrohung, dass gerade angesichts dieser Umbrüche und Dynamiken der soziale Zusammenhalt schwindet. Je stärker derartige gesellschaftliche Veränderungsdynamiken sind, umso mehr wird in sozialwissenschaftlichen Diskursen über das sogenannte gesellschaftliche Unterfutter bzw. den sozialen Kitt nachgedacht. Im Mittelpunkt der Bestimmung dessen stehen »[…] bestimmte Grundzüge der sozialen Organisation, beispielsweise […] Netzwerke, Normen und soziales Vertrauen, die Koordination und Kooperation zum gegenseitigen Nutzen fördern […]« (Putnam 2001: 257). Der soziale Kitt zeigt sich in diesem Zusammenhang vor allem in der Zivilgesellschaft als bürgerschaftliches Engagement. Schließlich ist es die Bürgergesellschaft, »die der Leitidee der Zivilgesellschaft verpflichtet ist, [sie] stützt sich auf bürgerschaftliches Engagement und eröffnet Bürgerinnen und Bürgern Möglichkeiten für selbst organisierte Mitgestaltung und Beteiligung« (Enquete-Kommission 2002: 38). Die brisante Frage in dieser Gemeinwohldebatte ist, ob der soziale Zusammenhalt mehr und mehr verlorengeht und wie eine von Diversität geprägte Gesellschaft mit den gegenwärtigen Herausforderungen und Anforderungen umgeht. Oder anders gefragt: Unter welchen Bedingungen entstehen für Einzelne bzw. Kollektive Möglichkeiten und Chancen zu einem gelingenden Zusammenleben im Sinne einer gemeinwohlorientierten Kooperation? Wo steht mehr die Sozialität und weniger der

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Eigennutzen im Vordergrund? Eine Zivilgesellschaft, das ist evident, lebt vom bürgerschaftlichen Engagement ihrer Mitglieder, sie ist auch auf den freiwilligen, ehrenamtlichen und damit unentgeltlichen Einsatz, den Bürger*innen tagtäglich in Bürgerinitiativen, Vereinen, sozialen Bewegungen, Selbsthilfegruppen und auch in klassischen sowie privaten Formen u.a. der Nachbarschaftshilfe leisten, angewiesen. Die Annahme, dass es durch nachbarschaftliches Engagement möglich ist, »den bröckelnden Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, wieder anzurühren« (Reutlinger 2018 zit.n. Fromm und Rosenkranz 2019: 166), soll nun näher erläutert werden.

3.

Gesellschaftliche Krisen als Bedingungsfeld für Solidarität und soziale Kohäsion

Sind Krisen in einer Gesellschaft tatsächlich eine hinreichende Bedingung, den bröckelnden Kitt durch solidarisches, unterstützendes Handeln zusammenzuhalten? Im wissenschaftlichen Diskurs bilden Solidarität sowie soziale Kohäsion wesentliche Grundlagen für eine funktionierende Demokratie, doch vielfältige gesellschaftliche Krisen bedrohen sie heute vielerorts. Der Begriff der Solidarität (vgl. Bude 2019) ist, betrachtet man gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen, in seiner historischen Verfasstheit unterschiedlich relevant und gleichzeitig im gegenwärtigen Gebrauch umstritten. Einerseits wird Solidarität als unabdingbar und förderlich für das Zusammenleben in einer Gesellschaft verstanden, andererseits wird der zunehmende Verlust von Solidarität beklagt. Implizit erkennen wir gegenwärtig eine neue Sehnsucht nach einer gelingenden kommunalen Praxis, einem Wir-Gefühl, einer Verbundenheit im Sozialen, in der Empathie ebenso gelebt wird wie die Haltung, sich mit sozial Benachteiligten und Schwächeren in der Gesellschaft zu solidarisieren. Dabei geht es nicht nur etwa um den Zusammenhalt innerhalb einer bestimmten Gruppe von Menschen, sondern auch um den Zusammenhalt über verschiedene Gruppen und Schichten bzw. Milieus hinweg. Beides zusammen bildet schließlich diese Art soziologischen Klebstoffs, der sich einerseits durch informelle nachbarschaftliche Beziehungen – bonding social capital – und andererseits im Gegensatz dazu in der brückenbildenden Form – bridging social capital – als institutionalisiertes soziales Engagement zeigt (vgl. Putnam 2001: 22f). Gerade der Blick auf Nachbarschaft als solidarische Gemeinschaft in Zeiten der Corona-Pandemie lässt meiner Ansicht nach interessante Antworten auf die Frage »Was hält eine Gesellschaft zusammen?« finden.

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Nicht nur das Gefühl, es gibt einen gemeinsamen Gegner, so mikroskopisch klein dieser auch sein mag, sondern die reale Bedrohung durch dieses Virus führte zumindest am Beginn der Pandemie im Jahr 2020 zu einem Mehr an sozialer Verbundenheit und zu einer besonderen Form der Solidarität als Inbegriff gefühlhaltiger Bindekräfte. Soziales Engagement in der Nachbarschaft ist nicht verschwunden, wie oft konstatiert wird. Vielmehr nehmen kooperativ soziale Nachbarschaftsbeziehungen veränderte Formen an und wandeln sich unter bestimmten Umständen zu einer Art »emotiver Nachbarschaft« (Schmitz 2009: 423). Vor zwei Jahren wurde beispielsweise solidarisches Handeln vielerorts sichtbar und hörbar: In der Nacht der singenden Balkone begannen unzählige Menschen gleichzeitig auf ihren Balkonen, Terrassen oder vor den Häusern zu musizieren und zu klatschen. Die Anerkennung galt jenen Mitbürger*innen, die im Gesundheits- und Sozialbereich, aber auch im Dienstleistungssektor unermüdlich für die Allgemeinheit gearbeitet haben. In dieser Form der Solidaritätsbekundung zeigte sich ein neuer Typus einer freien »Verbundenheit trotz Differenz« (Bude 2019: 17). Solidarität bedeutet in diesem Sinne, sich offensichtlich so zu verhalten, dass es der Gemeinschaft dienlich und förderlich ist. Das ist auch »unabhängig davon, ob man als Einzelperson durch eine Gegenleistung belohnt wird […]. Solidarität ist kein Tauschgeschäft, auf das man sich gelegentlich einlässt, weil es Vorteile bringt. […] Wer aber alles im Vergrößerungsspiegel des Eigennutzes sieht und Solidarität an eine Gegenleistung bindet, hat den Sinn von Solidarität nicht verstanden« (Rinofner-Kreidl 2021: o.S.). Was nämlich zu Beginn der Pandemie an Unterstützung und privaten Hilfeleistungen in Form eines gemeinsamen Sich-Kümmerns um andere – im Sinne Wir-sind-für euch-da – wahrnehmbar war, scheint sich in der vierten Welle der Pandemie unter Rückgriff der Grund- und Freiheitsrechte etwas aufzulösen. Wie schwach oder stark bzw. bindend eine soziale Kohäsion ist, hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem von sozialer Ungleichheit, der Kluft zwischen Reich und Arm, der Anzahl der Abgehängten oder sich in einer prekären Lebenslage befindenden Personen in einer Gesellschaft, also der sozialen Schieflage insgesamt. Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Herkunft, finanzieller Situation, sozialen Status oder kulturellen Hintergrunds können demgemäß eine hohe oder aber auch eine niedrige soziale Kohäsion aufweisen (vgl. Hamm 2000: 27). Was bedeutet das nun

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für den Zusammenhalt in der Nachbarschaft als eine spezifische Form eines Beziehungs- und Interaktionssystems? Zur Kultur des Zusammenlebens gehören lokale Gemeinschaften, die ohne Nachbarschaft nicht denkbar sind. Nachbarschaften sind zum Ersten an räumliche Nähe (Wohn- und Siedlungsverhältnisse) gebunden, zum Zweiten sind sie ein spezifisches Sozialsystem und zum Dritten stellt Nachbarschaft ein spezielles Geflecht sozialer Nahe- bzw. Kontaktverhältnisse in der räumlichen Lebenswelt dar. Nachbarschaft kann definiert werden als »soziale Gruppe, deren Mitglieder primär wegen der Gemeinsamkeit des Wohnortes miteinander interagieren. Nachbar ist dann der Begriff für alle Positionen, die manifest oder latent Träger nachbarschaftlicher Beziehungen sind« (Hamm 1973: 18, zit.n. Alle und Kallfaß-de Frênes 2016: 12). Aber wer sind eigentlich die Nachbar*innen, die angesichts der Homogenität oder Heterogenität ihrer Denk- und Lebensweisen sowie ihrer Lebensstile, Gebräuche und Rituale räumlich in der Nähe und gleichzeitig in einer gewissen Distanz zueinander tagtäglich ihr Leben versuchen? »Ist der Nachbar vielleicht nicht mehr nur der andere von nebenan oder gegenüber, sondern tendenziell längst ein Fremder geworden?« (Schilling 2016: 1). Der Dialog von Karl Valentin mit einem Professor über Die Fremden (1940/2019: 80) gibt aus literarischer Perspektive eine Antwort darauf und bringt das prinzipielle Fremd-Sein in der Welt treffend zum Ausdruck. Professor: […] und wie heißt die Mehrzahl von fremd? Valentin: Die Fremden. Professor: Jawohl, die Fremden. […] Und was ist ein Fremder? Valentin: Fleisch – Gemüse – Mehlspeisen – Obst usw. Professor: Nein! – Nein – Nicht was er isst, sondern was er tut. Valentin: Er reist ab. Professor: […]. Er kommt aber auch an – und ist dann ein Fremder. Bleibt er dann für immer ein Fremder? Valentin: Nein. Ein Fremder bleibt nicht immer ein Fremder. Professor: Wieso? Valentin: […]. Weil jeder Fremde, der sich fremd fühlt, ein Fremder ist, und zwar solange, bis er sich nicht mehr fremd fühlt – dann ist er kein Fremder mehr. Professor: […]. Es gibt aber auch Fremde unter Fremden. […]. Und was sind Einheimische?

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Valentin: Einheimische sind das Gegenteil von Fremde. Aber dem Einheimischen sind die fremdesten Fremden nicht fremd. Er kennt zwar den Fremden persönlich nicht, merkt aber sofort, dass es sich um einen Fremden handelt, bzw. um Fremde handelt […]. Professor: Das Gegenteil von fremd ist bekannt. Ist ihnen das klar? Valentin: Eigentlich ja! Denn, wenn z.B. ein Fremder einen Bekannten hat, so muss ihm dieser Bekannte zuerst fremd gewesen sein, – aber durch das gegenseitige Bekanntwerden sind sich die beiden nicht mehr fremd. Dieser Dialog verweist auf eine spezielle Verfasstheit und auf explizite Merkmale von Fremdheit, die auch in der alltäglichen Praxis Nachbarschaft zu beobachten sind. Es geht nämlich in Nachbarschaftsbeziehungen auch um bestehende Auffassungen von Fremdheit und Bekanntheit, von Selbstund Fremdbildern und von ICH und die ANDEREN. Nachbar*innen reagieren auf ihr Gegenüber aufgrund ihrer Weltsichten und den darin implizit eingelagerten Erwartungen unterschiedlich, etwa mit Zustimmung oder Zurückweisung oder aber auch mit der Annahme von Gemeinsamkeiten, der Unterstellung etwa von Unterschieden. Der Einwand, der Nachbar von nebenan ist kein Fremder im gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs, wie er etwa in der Migrationsforschung (vgl. Reuter und Mecheril 2015) verwendet wird, ist berechtigt, und dennoch kann diese Metapher zum Verstehen gesellschaftlicher Kohäsion beitragen und für das Zusammenleben im Kontext Nachbarschaft etwas Wesentliches verdeutlichen. »Das Verstehen nämlich ist – im Unterschied zur fehlerfreien Information und dem wissenschaftlichen Wissen – ein komplizierter Vorgang, der niemals zu eindeutigen Ergebnissen führt. Es ist eine nicht endende Tätigkeit, durch die wir Wirklichkeit in ständigem Abwandeln und Verändern begreifen und uns mit ihr versöhnen, das heißt durch die wir versuchen, in der Welt zu Hause zu sein« (Arendt 2000: 110). Interessant ist im übertragenen Sinne, ob und wie Menschen sich in der Nachbarschaft zu Hause fühlen, wie sie ihr Leben unter Nachbar*innen gestalten, das hängt letztlich auch mit der Überwindung der Differenz zwischen Eigenem und Fremdem zusammen. Und dort, wo Menschen sich zu Hause fühlen, geht es um »ein sich-Einfinden und Zurechtfinden in einem gesellschaftlichen Raum aus Bedingungen und Möglichkeiten […]« (Mikula und Lechner 2014: 13). Dieser space, der in der Nachbarschaft durch spezielle strukturelle Bedingungen (z.B. Nähe-Distanz, Privatsphäre-Öffentlichkeit, Familie-Bekannte) gekennzeichnet ist, wird durch die lebensweltlichen Alltagspraktiken zu einem place mit mehr oder

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weniger sozialer Kohäsion. In der miteinander geteilten räumlichen Lebenswelt entsteht so das essenzielle Moment einer Zugehörigkeit im Sozialraum. Mit sozialer Kohäsion ist auch das Vorhandensein von Verantwortung gegenüber dem Einzelnen und der Gemeinschaft verbunden. Das geht über einen Smalltalk und die Unterstützung einer kleinen Gefälligkeit hinaus und meint vielmehr eine stärkere soziale Bindung im Sinne eines Wir-Gefühls, mithin einer Gruppenkohäsion. Das bedeutet, dass einzelne Personen sich für Belange, die über die eigenen hinausgehen, mitverantwortlich fühlen und sich aktiv zum Wohle der Mitmenschen engagieren. Möglich wird dies auf Basis von wechselseitigem Respekt, Toleranz und sozialem Vertrauen. Damit ist eine spezielle Art von Vertrauen gemeint, die außerhalb familiärer, verwandtschaftlicher oder freundschaftlicher Beziehungen existiert. Indem Menschen beispielsweise ihrer Nachbarin sagen, was sie vom Einkaufen oder der Apotheke benötigen, sagen sie auch, wer sie sind, was sie essen bzw. was sie zur Genesung benötigen. Menschen brauchen für ein gelingendes Leben das Gefühl von Angenommensein, egal was sie essen, egal wie sie wohnen, egal mit wem sie leben, egal welche Sprache sie sprechen, egal woher sie kommen. Wenn das alles egal ist, dann können Nachbarschaften offensichtlich kohäsiv sein und es stellt sich eine Form von Zugehörigkeit und Aufgehoben-Sein ein. Klingt sozialromantisch, aber so einfach ist es nicht. Denn eine weitverbreitete Norm gutnachbarschaftlichen Verhaltens ist die Distanznorm. Ob Distanz oder Nähe, gewiss ist, der Nachbarschaft kann man sich nicht entziehen (vgl. Siebel 2015: 12). Man könnte sagen: »NachbarIn ist man also, ob man will oder nicht, und unabhängig davon, ob man seine NachbarInnen mag« (Hamm 2000: 174). Und gerade deshalb ist interessant, wie räumliche Nähe trotz dieser Distanznorm unter bestimmten Konstellationen und Umständen zu sozialer Nähe werden kann. Der Sozialraum Nachbarschaft kann zwar als hinreichende Bedingung für innere Kohäsion und soziales Engagement verstanden werden, aber nicht unbedingt als eine notwendige. Gerade weil Kontakte zu Nachbar*innen zum Lebensalltag vieler Menschen gehören, stellt sich die Frage, unter welchen situativen Bedingungen enge nachbarschaftliche Beziehungen entstehen und unter welchen Voraussetzungen die vermeintliche Fremdheit sich in Vertrautheit verwandeln kann.

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4.

Veränderte Formen der Unterstützung in der Nachbarschaft

Das Alltagsphänomen Nachbar ist universell und heterogen zugleich, denken wir nur an den Nachbarn auf der Schulbank und das Nachbarhaus, den Nachbarort, das Nachbarvolk und den Nachbarstaat. Aufmerksamkeit geschenkt wird hier den Einzelakteur*innen, die durch ihre Zugehörigkeit eines strukturell abgrenzbaren Nahraumes als Nachbarn*innen von nebenan oder gegenüber erkennbar sind. Nachbarschaft ist somit Ausdruck einer Beziehungsform im Raum. Alle Menschen wohnen irgendwo und das bedingt eine wie auch immer geartete Nachbarschaft. Ausgangspunkt nachbarschaftlicher Beziehungen kann die Wohnungstüre oder das Gartentor als Grenze zwischen privatem und öffentlichem Raum sein. Wie Menschen ihre Rolle als Nachbar oder Nachbarin performen, ist von unterschiedlichen Faktoren und Bedingungen abhängig. Grundsätzlich hängt die »Ausprägung nachbarschaftlicher Beziehungen von der Schicht- oder Milieuzugehörigkeit, der Stellung im Lebenszyklus oder der individuellen Aufgeschlossenheit ab« (Fromm und Rosenkranz 2019: 21). Bedeutsam ist aber auch das Bild, das man sich von den nebenan wohnenden Menschen macht. Man grüßt, borgt sich vielleicht eine Zwiebel oder in der Not ein Ei, nimmt eventuell Pakete von Paketzusteller*innen an, wechselt ein paar Worte zwischen den Mülltonnen, bespricht die Wetterlage oder die zunehmende Höhe der Thujenhecke. Ambivalent ist das Leben in der Nachbarschaft und die öffentliche sowie wissenschaftliche Diskussion darüber: Einerseits existiert die Tendenz zur Idealisierung und Romantisierung im Sozialen, zu einer Sehnsucht nach Nachbarschaft als innige Solidargemeinschaft. Und andererseits wissen wir von der Anonymität, der Vereinzelung und Vereinsamung gerade hinsichtlich älterer oder alleinstehender Menschen, die relativ zurückgezogen in ihren Häusern oder Wohnungen leben, über den Gartenzaun blicken, sich nach einem kurzen Gespräch im Treppenhaus oder am Gang sehnen; sie alle versuchen ihren Lebensalltag so gut wie möglich zu bewältigen. Soziale Kontrolle, gewisse Anpassungszwänge, flüchtiges Nebeneinander wird diesbezüglich ebenso beklagt wie wechselseitiges Desinteresse oder das Fehlen jeglicher Interaktion. Ein Gespräch am Gang mit dem Nachbarn namens Harras hätte auch dem Ich-Erzähler in Franz Kafkas Roman Der Nachbar (1961: 294) gutgetan; er mag Harras nicht, er kann ihn eigentlich nicht ausstehen. Seit Neujahr hat ein junger Mann die kleine, leerstehende Nebenwohnung, die ich ungeschickterweise so lange zu mieten gezögert habe, frischweg ge-

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mietet. Auch ein Zimmer mit Vorzimmer, außerdem aber noch eine Küche. Zimmer und Vorzimmer hätte ich wohl brauchen können – meine zwei Fräulein fühlten sich schon manchmal überlastet –, aber wozu hätte mir die Küche gedient? Dieses kleinliche Bedenken war daran schuld, daß ich mir die Wohnung habe nehmen lassen. Nun sitzt dort dieser junge Mann. Harras heißt er. Was er dort eigentlich macht, weiß ich nicht. Auf der Tür steht: ›Harras, Bureau‹. Ich habe Erkundigungen eingezogen, man hat mir mitgeteilt, es sei ein Geschäft ähnlich dem meinigen. Die Angst vor dem fremden Nachbarn bleibt, auch wenn das Wissen um seine Person im Laufe der Erzählung etwas mehr wird. Der Ich-Erzähler schafft den Schritt zum Gegenüber nicht, obwohl es viele Gelegenheiten dazu gäbe. Manchmal trifft der Ich-Erzähler Harras auf der Treppe, »[…] er muß es immer außerordentlich eilig haben, er huscht förmlich an mir vorüber. Genau gesehen habe ich ihn noch gar nicht, den Büroschlüssel hat er schon vorbereitet in der Hand. Im Augenblick hat er die Tür geöffnet. Wie der Schwanz einer Ratte ist er hineingeglitten und ich stehe wieder vor der Tafel ›Harras Bureau‹« (Kafka 1961: 294). Da sind also zwei junge Kaufleute, die nur durch eine Wand getrennt, aber doch in unmittelbarer Nähe leben und gleichzeitig auf wahrnehmbarer Distanz (z.B. Telefongespräche werden gegenseitig mitgelauscht) zueinander sind. Die Erzählung endet typisch Kafka: Man könnte sagen, es ist besser, er bleibt ein Fremder, als er wird womöglich noch ein Bekannter. Die Frage kann gestellt werden, ob der Geschäftsmann in PandemieZeiten eine Kontaktaufnahme mit einer kleinen Geste versucht oder einfach nur Guten Morgen gesagt hätte. Ist der Nachbar nicht nur in der Erzählung, sondern auch im realen Leben zunehmend zu einem Fremden in unmittelbarer Nähe geworden? Haben wir Angst, die Privatheit zu verlieren und halten deshalb lieber Abstand voneinander, oder entstehen möglicherweise aus einer einmaligen Kontaktaufnahme weitere Verpflichtungen und scheuen wir uns vielleicht prinzipiell davor, einander näherzukommen?

4.1

Nachbar*innen erzählen

In persönlichen Gesprächen haben mir Menschen von ihren beeindruckenden Erfahrungen und bedeutsamen Erlebnissen erzählt, dass in der CoronaZeit vermeintlich fremde Nachbar*innen von nebenan oder gegenüber ungefragt zu rettenden Helfer*innen in der Not geworden sind, zu eingeweihten Bekannten, die trösten, oder zu Freund*innen, die Rückhalt geben, und es

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haben sich daraus teilweise nachhaltige und dauerhafte herzliche Beziehungen jenseits von Verwandtschaft oder Familie entwickelt. Berichtet wird von kleinen, netten Episoden, plötzlich auftretenden glücksbringenden Begebenheiten, die allesamt unverkennbar zum Ausdruck bringen, wie Menschen in Notsituationen oft plötzlich Halt finden und unerwartet viel miteinander zu tun bekommen: Wenn beispielsweise der Rettungswagen vor der Türe steht und die Nachbarskinder weinen. Ohne Vorbereitung und Vorwarnung helfen Nachbar*innen diskret und rücksichtsvoll, zeigen Einfühlungsvermögen, Anteilnahme, Mitgefühl, Sorge und wohlwollende Zugewandtheit. Die Nachbarschaft, als vorab flüchtiger Begegnungsraum, kann also unter situativ veränderten Bedingungen, relativ rasch zu einem lokalen Ort mit erstaunlicher sozialer Wirksamkeit werden, der geprägt ist von emotionaler Freude, Zuversicht und glücklichen Momenten. Menschen, die vorher eher einander fremd waren und sich nur schüchtern gegrüßt haben, fühlen sich nach der Hilfestellung irgendwie familiär oder zumindest doch bekannter miteinander verbunden. Durch die gemeinsame Bewältigung einer schwierigen Lebenslage haben sie sich einander angenähert, grundlegendes Vertrauen zueinander aufgebaut und ein Gefühl von Respekt, Anerkennung und auch Fürsorge erfahren. Dieses Gefühl, wenn Kinder am Fensterbrett stehen und ein strahlendes Lächeln die traurigen Augen verblassen lässt, wenn eine liebevolle, vorsichtig distanzierte Umarmung mehr sagt als tausend Worte, dann ist emotionale Verbundenheit im Spiel. Diese verantwortungsvolle Bezugnahme aufeinander in stressigen und außergewöhnlichen Situationen ist nicht zu vergleichen mit jener höflich distanzierten wiewohl freundlichen Haltung vor der Pandemie, in der die Wahrung der Privatsphäre im Sinne der oben angesprochenen Distanznorm selbstverständlich war.

4.2

Räumliche Nähe – persönliche Distanz

Sowohl die territoriale Nähe als auch gemeinsame Grenzen sind zwar konstitutiv für den Möglichkeitsraum der nachbarschaftlichen Unterstützung und Hilfeleistung, aber allein die räumliche Nähe in der Nachbarschaft führt noch nicht zu Kooperationshandlungen oder zur Aktivierung von Ressourcen. Nur die Nähe beinhaltet für einzelne in der Nachbarschaft lebende Menschen noch keine moralische Verpflichtung, sich um Nachbar*innen zu kümmern. Solidarität ist also eine »Möglichkeit jedes Einzelnen [sich zu engagieren]. Man kann sie verwerfen, sie nutzen oder politisch oder wirtschaftlich ausschlachten. Man kann sich ihr aber auch verpflichten, weil man dadurch sein eige-

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nes Leben reicher und lebendiger macht« (Bude 2019: 12). Zugewandtheit zu Nachbar*innen findet nicht einfach statt, sondern es bedarf offensichtlich eines spezifischen Anlasses, einer wahrgenommenen Ausnahmesituation, um zu erkennen, da wird Hilfe benötigt, auch wenn diese weder eingefordert noch erwartet wird. Denn Nachbarschaft bedeutet nicht automatisch soziale Interaktion (vgl. Duerr 2000: 40). Wenn also einzelne Personen in der Nachbarschaft sich plötzlich in einer gemeinsam geteilten herausfordernden Lebenslage befinden, dann kann dies auch ein weiterer motivationaler Beweggrund für andere sein, im Sinne einer Vorbildwirkung, sich zu engagieren. So bietet beispielsweise auch der räumlich weiter weg wohnende Nachbar ungefragt seine Unterstützung an und sucht das persönliche Gespräch über den Gartenzaun. Ein Klima der reziproken Hilfestellung kann entstehen, indem persönliche Bedürfnisse und Befindlichkeiten plötzlich öffentlicher Gesprächsstoff in einer Wohnanlage oder in einem Dorf werden. Die rhetorische Frage Wie geht es Ihnen? entwischt in solchen Lebenslagen der oberflächlichen Antwort und kann zum Kristallisationspunkt für eine Offenheit in der interaktionellen Kontaktaufnahme werden. Dann werden Betroffenheit und Verantwortlichkeit spürbar sowie eine Ernsthaftigkeit im Hilfeangebot wahrgenommen, und es entsteht das, was als partizipatives Handeln und Stärkung sozialer Kohäsion bezeichnet werden kann.

4.3

Verschiedene Generationen – verschiedene Hilfeleistungen

Freiwilliges privates Engagement in der Nachbarschaft hängt prinzipiell auch mit der persönlichen Einstellung und Haltung anderen Menschen gegenüber zusammen, es braucht Empathie, eine gewisse Aufgeschlossenheit, Zuneigung, Interessiertheit, Zuvorkommenheit, Wachsamkeit und nicht zuletzt Herzensbildung. Damit ist eine Hinwendung auf die anderen Menschen gemeint, denen wir im Leben begegnen. Darin liegt auch die potenzielle Kraft, die ein Leben in Bezogenheit zu anderen gelingen lässt. Menschen, die in einer kleinen Wohnanlage am Stadtrand leben, erzählten diesbezüglich von generationenübergreifenden Hilfestellungen, wobei der Vorteil für die jüngere Generation auch gleichzeitig ein Gewinn für ältere Menschen war. Wenn der Parkplatz vor dem Haus zum Kinderspielplatz wird, dann zeigen etwa Pensionist*innen – aufgrund der vorhandenen Ressource Zeit – große Aufmerksamkeit und letztlich übernehmen sie auch Verantwortung dafür, dass der Fußball nicht über die öffentliche Straße rollt, sondern im eigenen Garten verbleibt. Und wenn der Internetanschluss im Homeoffice wieder

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einmal nicht funktioniert, dann kann bei engeren sozialen Kontakten die Ressource der digitalen Kompetenz der Jüngeren gefragt und als sogenannte sachorientierte Hilfe in der Not wertvoll sein. Der Nachbar kann offenbar, mit Max Weber gesprochen (1980: 216), zu einem »typischen Nothelfer« in gewissen Lebenslagen werden. Menschen tun etwas für andere Menschen und dabei tun sie auch etwas für sich selbst und etwas ganz Bestimmtes und Wertvolles füreinander. Wer Hilfe annimmt, will nicht selten eine Kleinigkeit als Dank (z.B. ein kleines Geschenk) zurückgeben, und gleichzeitig wollen hilfebedürftige Menschen auch anderen nicht zur Last fallen (vgl. Fromm und Rosenkranz 2019: 111). Allerdings unterscheidet sich die spezielle Form des InBeziehung-Tretens im Privaten von institutionalisierter Nachbarschaftshilfe. Und zwar dergestalt, als beispielsweise die Erfahrung von Verbundenheit andere Erlebnisqualitäten ermöglicht. Diese innigen, persönlichen Erfahrungen als gefühlsstarkes Erlebnis mit denselben Nachbar*innen, die jeden Tag vor Ort leben, hinterlassen andere Spuren der Verbundenheit (vgl. Mikula 2010: 100) als Personen, die ehrenamtlich einmal da und dann wieder dort – im Sinne der institutionalisierten Nachbarschaftshilfe – ihre Arbeit leisten. Eine weitere Verbindungsspur hat mit der Zunahme an Vertrauen bzw. mit dem Zutrauen zu tun, zukünftige Herausforderungen auch gemeinsam bewältigen zu können, weil man die Erfahrung von fürsorgeorientierter Hilfe oder sachorientierter Unterstützung in unmittelbarer Nähe und vor allem zeitnah gemacht hat. Wenn jüngere für ältere Nachbar*innen einkaufen gehen, den Müll entsorgen, Essen vor die Türe stellen, einen Blumenstrauß zur Aufmunterung ans Fensterbrett bringen, eine Geburtstagstorte für die Kinder backen (deren Eltern erkrankt in Quarantäne sind), dann entsteht eine emotionale Beziehung, die nachhaltig prägt und unter Umständen anhaltende positive Auswirkungen für die Zukunft hat. Denken wir etwa an die Vergabe eines Reserve- oder Postkastenschlüssels für die Wohnung oder das Haus, sozusagen für alle Fälle. Auch wenn diese Fälle dann nicht eintreten, der Schlüssel verbleibt in seinem neuen Depot und sorgt weiterhin für Sicherheit. Aufmerksamkeit und Wachsamkeit können auch dann bestehenbleiben, wenn die Ausnahmesituationen bereits bewältigt sind und der Alltag wieder eingekehrt ist. Wenn beispielsweise der Postkasten vor lauter Werbung übergeht oder der Papiermüll doch nicht in der Papiertonne, sondern daneben landet, dann bleibt dies unter Umständen auch in Zukunft nicht unbemerkt. Denn der aufmerksame Nachbar, der jetzt zwar nicht mehr das Rettungsauto auf dem Parkplatz beobachtet, hat doch den gemeinsamen Platz vor dem Haus im Blick.

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4.4

Stadt und Land – Bekannte und Verwandte

Unterschiede in nachbarschaftlichen Beziehungsverhältnissen ergeben sich selbstverständlich auch durch die geographische Bedingtheit der Raumverhältnisse, die für Nähe und Distanz verantwortlich sind. Im städtischen Zusammenwohnen – denken wir etwa an kleinere Wohnanlagen im Vergleich zu großen städtischen Mehrparteienhäusern – spielt etwa die damit verbundene Anonymität und vielleicht sogar eine Art von Beziehungslosigkeit eine zentrale Rolle. Ebenso sind unter Umständen die Verhaltensnormen in einer Stadt im Vergleich zu einem Dorf andere, wie auch die moralischen Verpflichtungen zu gegenseitiger Hilfe. Doch an beiden Orten ist trotz oder gerade wegen der Differenz kein harmonisches und konfliktfreies Leben garantiert (vgl. Schmitz 2009: 70). Beide Orte sind jedenfalls ein »Experimentierfeld für Gemeinschaftlichkeit und Individualismus, Nähe und Distanz, für Öffentlichkeit und Privatheit, Anonymität und Intimität, für Ortsbindung und Entankerung zugleich« (Schnur 2012: 451). Weder im städtischen noch im ländlichen Bereich darf allerdings der voreilige Schluss gezogen werden, dass räumliche Nähe auch zu sozialer Interaktion führt. Räumliche Nähe bedingt noch keine soziale Nähe. In Hinblick auf nachbarschaftliche Austauschformen ist demgemäß, wenn man an die Differenz zwischen Stadt und Land denkt, Vorsicht in der Interpretation der Qualität nachbarschaftlicher Beziehungen geboten. Die ländliche Idylle mit einer funktionierenden Nachbarschaft kann genauso ein Trugbild sein wie die einsam in der Stadt lebenden Menschen. Was aber für beide Örtlichkeiten gilt, wenn ein Notfall eintritt: gefragt werden jene Personen, die am schnellsten erreichbar sind und tatsächlich helfen können. Eine auffallende Differenzierung ist zudem erwähnenswert, dass nämlich Unterstützungsleistungen am Land häufig durch die erweiterte Familie bzw. Verwandte erfolgen. Die Schwester, der Großvater wohnt vielleicht drei Häuser weiter oder im nächsten Dorf, während es in der Stadt oft keinen Opa oder keine Tante nebenan gibt und auch die Geschwister weiter voneinander entfernt wohnen. Räumliche Nähe, wenn sie zu einem sozialen Naheverhältnis wird, verleiht oft Sicherheit, gibt Halt und vermittelt ein beruhigendes Gefühl. Das bedeutet, dass Nachbar*innen als entfernte Bekannte, wenn es zu engen Kontakten kommt und wenn das Gefühl gemeinsamer Verbindung und Verbindlichkeit da ist, offenbar als Ersatz für Familie bzw. Verwandte gesehen werden. Offensichtlich macht es einen Unterschied zwischen Familie bzw. Verwandten und Bekannten bzw. Freund*innen. Auch wenn die Erbringung von Hilfen unter Nachbar*innen weit verbreitet ist, das zeigt auch die

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Studie von Fromm und Rosenkranz (2019), ist sie nachrangig, wenn Personen aus dem internen familiären Netzwerk oder dem engeren Freundeskreis helfen können. Vorrangig wird also die Familie oder Verwandtschaft um Hilfe gebeten, und erst wenn diese nicht verfügbar sind, übernehmen Nachbar*innen kompensatorisch diese Aufgabe. Zeichnet Familie doch die fraglose und nicht hintergehbare Zusammengehörigkeit aus, ob sie sonst funktioniert oder nicht, während Freundschaften sozusagen Menschen meiner Wahl sind. Wenn Nachbar*innen zu Bekannten werden und vielleicht sogar Freundschaften entstehen, dann realisiert sich im Zwischenmenschlichen etwas von dem, was Hannah Arendt (1960: 17ff) in ihren Schriften immer wieder eindrücklich formuliert hat: Auf der Grundlage dessen, dass das Private politisch ist, geht es um die Unersetzbarkeit und Einzigartigkeit der Individuen, um die Kontinuität des Gespräches, um den Versuch, andere Menschen zu verstehen, um die Verantwortung und das Interesse an einer gemeinsamen Welt und nicht zuletzt um die Bereitschaft, ein Stück eigene Lebenswelt mit anderen zu teilen.

5.

Schlussbetrachtungen zum Nahraum Nachbarschaft

Die gegenwärtige gesellschaftliche Krise aufgrund der Corona-Pandemie, die alle Menschen unterschiedlich trifft und betrifft, hat verschiedene Auswirkungen auf den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. In dieser Zeit lassen sich vielfältige Formen der Vergemeinschaftung auch im Kontext der privaten Nachbarschaftshilfe erkennen. Zu wissen, in kritischen Ausnahmezuständen ist jemand in der Nachbarschaft da, hat Zeit und kann um Rat und/oder Hilfe gebeten werden, das stärkt das Zugehörigkeitsgefühl, schafft Vertrauen und fördert einen Verbindungssinn (vgl. Lehmann und Petzold 2017: 108). Diese spezielle Verbundenheit zeigt sich offenbar gerade in unvorhersehbaren, schwierigen Lebenssituationen und ermöglicht Nachbar*innen verschiedene Arten des In-Beziehung-Tretens zueinander zu versuchen. So kann, wenn nachbarschaftliche Kontaktaufnahme gelingt, ein Gegenentwurf zu vormals vorhandener Wahrung der Anonymität und Distanziertheit entstehen. Der Nachbar, der vorerst Fremde von nebenan, wird dann zu einem vertrauten Bekannten, vielleicht zu einem Freund oder einer Freundin. Aus einem distanzierten Nebeneinander-Wohnen kann so ein intensives, vertrauliches Nahe-bei-Wohnen werden.

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Am Begriffsfeld Fremd konnte verdeutlicht werden, dass individuelles und kollektives Engagement in der Nachbarschaft einen Möglichkeitsraum darstellt, indem Fremdwahrnehmungen und Fremdheitserfahrungen einfach auch nur durch eine nette Geste oder einen aufmunternden Blick überwunden werden können. Als soziale Wesen sind wir alle immer wieder in unserer biographischen Lebensbewegung gefordert, unsere Position und Rolle auch in der Gemeinschaft zu finden. Das ist nicht so leicht: Obwohl es viele Gründe gibt, sich für etwas oder jemanden oder für ein Miteinander oder für die Nachbarin bzw. den Nachbarn zu engagieren. Mit dem Wissen und dem Bewusstsein, dass nichts an sich selbst fremd ist, gelingt es unter Umständen leichter, sich aktiv für andere Menschen einzusetzen. Nachbarschaftliche Begegnungen, die das Gefühl von Zugehörigkeit und emotionaler Berührtheit erzeugen, entstehen oft spontan, lassen sich auch nicht regulieren oder steuern und sind auch nicht vorab längerfristig planbar. Der in diesem Gedankengang erwähnte Nutzen hat nichts mit Berechenbarkeit, sondern vielmehr mit erlebter Sinnhaftigkeit zu tun. So gesehen kann Nachbarschaft zu einem sinnstiftenden Ort werden, an dem Menschen als vertraute Fremde auf bestimmte Zeit die sozialen Potenziale eines WIR erleben, indem Freude sichtbar und Dankbarkeit spürbar wird. Wenn aus dem Bewusstsein der Verantwortung für ein gelingendes Zusammenleben die Sorge um das Wohl des Nachbarn bzw. der Nachbarin von nebenan oder gegenüber wird, dann ist der soziale Klebstoff vorhanden, der schließlich die soziale Kohäsion stärkt und durch das Gefühl von gemeinschaftlicher Verbundenheit auch die integrierende Kraft in sich trägt, derartige krisenhafte Zeiten gemeinsam zu bewältigen.

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Prekäre Arbeit in und nach der Krise Szenische Wege der Solidarisierung Michael Wrentschur

Abstract Im Zentrum des Beitrages stehen Diskurse und Befunde zu prekärer Arbeit und den damit verbundenen krisenhaften Folgen, die sich nachteilig auf gesellschaftliche Teilhabe und sozialen Zusammenhalt auswirken. Dies wird anhand eines szenisch-partizipativen Forschungsprojekts veranschaulicht, in dem Betroffene ihre Erfahrungen mit prekären Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen in einem kollektiven Forschungs- und Gestaltungsprozess in theatrale Bilder und Szenen transformierten. Die ästhetisch verdichteten Ergebnisse wurden als »szenische Reportagen aus der Arbeitswelt« der Öffentlichkeit präsentiert und über die Methode des Online-Forumtheaters einer interaktiven Bearbeitung zugänglich gemacht. Der methodische Ansatz des szenisch-partizipativen Forschens mittels Forumtheater trägt zur Erkenntnis- und Bewusstseinsbildung bei und regt zur gemeinsamen, solidarischen Bearbeitung und Suche nach Veränderung und Lösungen an.   Keywords: Prekäre Arbeit, Forumtheater, szenisch-partizipatives Forschen, sozialer Zusammenhalt, Solidarisierung

1.

Prolog Emma (empört): WAS? Das ist aber total unfair! Warum bekommen nur die Fixangestellten eine Gewinnbeteiligung? Wir arbeiten hier ja ALLE wie die Blöden! Das ist eine Frechheit! Martin: Das ist auch ein Grund, warum ich endlich weg will von dem Leiharbeiterstatus. Und wenn wer rausgeworfen wird, dann gehe ich als Erster. Und dann fängst du wieder bei null an …

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Robert: Und was soll ich sagen? Als Transitarbeiter – wenn die AMS1 -Förderung aus ist – bin ich wahrscheinlich auch bald draußen. Dieser Szenenausschnitt stammt aus dem Forumtheaterstück »COSMED AUSTRIA – DIE WERTSCHÖPFER«, einer »szenischen Reportage aus der Arbeitswelt«, die 2020 von InterACT gemeinsam mit Betroffenen entwickelt und produziert wurde und die im November 2020 und im November 2021 interaktive Online-Aufführungen erlebte. Dieses Forumtheaterprojekt ist Teil des mehrjährigen Projektschwerpunktes »Working Poor – Prekäre Arbeit«, dem sich die Theater- und Kulturinitiative InterACT in ihrer politisch-partizipativen Theaterarbeit widmet. Ausgehend von umfassenden Recherchen und einem einwöchigen Community-Workshop im Oktober 2020 wurden Forumtheaterszenen entwickelt, die sich als szenische Reportagen prekären Arbeitsrealitäten und ihren Auswirkungen widmeten. Im Rahmen der Online-Forumtheateraufführungen wurden gemeinsam mit dem Publikum Veränderungsideen für die gezeigten Szenen und die damit verbundenen Krisen und Konflikte gesucht sowie politische Vorschläge artikuliert und mit Expert*innen diskutiert. Ausgehend von inhaltlichen Rahmungen zur Thematik »Prekäre Arbeit – Working Poor« sowie zu methodischen Grundlagen des Projekts gehe ich in der Folge auf die einzelnen Phasen des Projekts und seine Ergebnisse ein. Zentral ist dabei zum einen die Frage, welche Auswirkungen die zunehmende Prekarisierung der Arbeitswelt für die davon Betroffenen hat und wie dadurch sozialer Zusammenhalt und Solidarität auf betrieblicher (und gesellschaftlicher) Ebene gefährdet wird. Zum anderen soll deutlich werden, wie der in diesem Beitrag vorgestellte methodische Ansatz des szenischpartizipativen Forschens mit dem Forumtheater nicht nur dazu beitragen kann, Erkenntnisse und Bewusstsein zur Thematik der prekären Arbeit und Working Poor zu generieren, sondern auch zur gemeinsamen, solidarischen Bearbeitung und Suche nach Veränderung und Lösungen anzuregen.

1

AMS ist die Abkürzung für das »Arbeitsmarktservice« in Österreich, das als Dienstleistungsunternehmen des öffentlichen Rechts u.a. Beschäftigungsprojekte für langzeitarbeitslose Menschen fördert.

Prekäre Arbeit in und nach der Krise

2.

Die Wiederkehr der sozialen Frage: Diskurse und Befunde zu Prekarisierung im Überblick

Die Corona-Krise hat dazu beigetragen, dass prekäre, atypische und schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse verstärkt in den Fokus geraten sind, zumal diese ja nicht neu sind: Schon Mitte der 1980er-Jahre spricht Beck in seinem Werk Risikogesellschaft von der kontinuierlichen Zunahme von Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit und von sozialer Ungleichheit. Er analysiert den Wandel vom System standardisierter Vollbeschäftigung zu einem risikoreichen System flexibel-pluraler Unterbeschäftigung. Damit geht eine Zweiteilung bzw. Spaltung des Arbeitsmarktes in einen industriegesellschaftlich einheitlichen Normalarbeitsmarkt und einen risikogesellschaftlichen flexibel-pluralen Markt für Unterbeschäftigungen einher, »wobei sich dieser zweite Arbeitsmarkt quantitativ ausweitet und den ersten mehr und mehr dominiert« (Beck 1986: 228). In ähnlicher Weise konstatiert Crouch (2019: 48f) aktuell angesichts der »Gig Economy« parallele Entwicklungen, in denen manche Arbeitnehmerrechte eingeschränkt, andere neu geschaffen und ausgeweitet werden, was zur Spaltung führt »in jene, die weiterhin die Sicherheit von Normalarbeitsverhältnissen genießen, und eine wachsende Zahl vor allem junger und weiblicher Arbeitnehmer, die sich in prekären Positionen wiederfinden«. Und Castel (2008) unternimmt eine Neuformulierung der sozialen Frage: Eine seit den 1970er-Jahren andauernde Phase der intensiven Desorganisierung der Arbeit geht mit dem Abbau sozialstaatlicher Sicherungen und einer sich ausdehnenden Zone neuartiger Verwundbarkeit einher, die sich qualitativ von den historisch vorhergehenden Zuständen massenhafter Verwundbarkeit unterscheidet, da sie vor dem Hintergrund bereits bestehender sozialstaatlich garantierter Sicherungsmechanismen zu sehen ist. Die neuen Arbeitsformen sind nicht mehr innerhalb der Regulationen der fordistischen Lohnarbeit einzuordnen. Sie eröffnen vielmehr einen Raum, der durch diffuse, rechtlich uneindeutige Situationen und Arbeitsverhältnisse gekennzeichnet ist. Und dies weist Castel zufolge Ähnlichkeiten zu jenen unsicheren und heterogenen Verhältnissen auf, aus denen sich die Lohnarbeit vom späten 19. Jahrhundert an als (mehr oder weniger) einheitliche Lage herauszukristallisieren begann. Als Antwort auf die Autonomisierung der Ökonomie, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt im 19. Jahrhundert massiv bedrohte, bedeutete die Institutionalisierung gesellschaftsübergreifender sozialstaatlicher Sicherungssysteme eine mühsam erkämpfte soziale Konstruktion und einen grundlegenden Wandel der gesellschaftlichen Ordnung, in der die soziale Identität, Siche-

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rung und Solidarität auf Lohnarbeit aufbaut und nicht mehr in erste Linie bzw. ausschließlich auf Eigentum. Allerdings galt die historisch begrenzte Ausnahmephase der relativen Sicherheit für Lohnarbeitende keineswegs für alle, insbesondere nicht für Frauen und Migrant*innen (vgl. Redak et al. 2008: 6). Die Blütezeit des Wohlfahrtsstaates beruhte zu einem guten Teil auf der Zurücksetzung und dem Ausschluss jener Personengruppen, die über keinen Zugang zu vertraglich geregelter Lohnarbeit und zur Mitgliedschaft im nationalstaatlich vermittelten Solidarverband verfügten, wozu Reinprecht (2008: 17) migrantische Arbeitskräfte und Frauen zählt, die oftmals in Niedriglohnsektoren arbeiten. Auch gegenwärtig treffen weltweite Flexibilisierung und Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse besonders jene, die von multiplen dynamischen Exklusionsregimen betroffen sind – zuallererst Migrantinnen, die auf dem Arbeitsmarkt überproportional auf den untersten Ebenen der Beschäftigungsskala rangieren (vgl. Castro Varela 2008: 28f). Dörre (2016) spricht in diesem Zusammenhang von der »neuen Unterklasse« im entwickelten Kapitalismus, bei der sich prekäre Beschäftigungsverhältnisse und soziale Desintegration verbinden. Denn prekäre Arbeit zeigt sich nicht nur im Niedriglohnbereich, sondern bezieht sich insgesamt auf unregelmäßige, vorläufige, zeitlich begrenzte Arbeiten, wie saisonale Tätigkeiten, Heimarbeit und Leiharbeit, die allesamt als atypisch bezeichnet werden, weil sie nicht mehr ins fordistische Arbeitsstatut einzuordnen sind. Dabei können atypische Beschäftigungsformen in sehr unterschiedlichen Berufsfeldern und Branchen auftreten (siehe dazu die Befunde von Mayer-Ahuja und Nachtwey 2021; Bohrn Mena 2020; Mauch et al. 2018). Als prekär gilt Beschäftigung dann, »wenn nur geringe Sicherheit über dessen Dauer und Stabilität, über die Entlohnung der Arbeit sowie wenig Einfluss auf die Ausgestaltung der Arbeitssituation besteht und der arbeitsrechtliche Schutz lediglich partiell gegeben ist« (Bohrn Mena 2020: 203). Prekär Beschäftigte sind von Deckungsgarantien der nationalen Wohlfahrtsstaaten partiell entkoppelt, (soziale) Versicherungsleistungen sind für diese Personen oftmals nur eingeschränkt abrufbar, und so gerät Prekarität in Konflikt mit der gesellschaftlichen Anerkennungs- und Prestigeordnung (vgl. Reinprecht 2008: 15). Dies alles erzeugt komplexe Unsicherheiten, die Beschäftigten sinken »aufgrund ihrer Tätigkeit deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und soziales Integrationsniveau […], das in der Gegenwartsgesellschaft als Standard definiert und mehrheitlich anerkannt wird. Und prekär ist Erwerbs-

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arbeit auch, sofern sie mit Sinnverlusten, Anerkennungsdefiziten und Planungsunsicherheit in einem Ausmaß verbunden ist, das gesellschaftliche Standards deutlich zuungunsten der Beschäftigten korrigiert« (Brinkmann et al. 2006: 17, zit.n. Castel & Dörre 2009: 17, vgl. auch Zandonella 2018: 40). Auch in Österreich wurden Niedriglohnsektoren und atypische Beschäftigungsverhältnisse ausgeweitet: Stoppacher und Saurug (2018: 33ff) zeigen in ihrer umfangreichen Studie zur Armut in der Steiermark, dass sich die Zahl der Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse von 1999 bis 2017 kaum veränderte und konstant bei rund 365.000 Beschäftigten lag, atypische Beschäftigungsverhältnisse dagegen mit wenigen Jahresausnahmen kontinuierlich zunahmen. So wuchs die Teilzeitarbeit in diesem Zeitraum um 136 %, die Leiharbeit um 221 %, Beschäftigung auf Basis von Werkverträgen um 144 % und geringfügige Beschäftigung um 70 %. Besonders konfrontiert sind Beschäftigtengruppen, die ohnehin vielfältigen Arbeitsmarktrisiken wie Beschäftigungsunsicherheit oder schlechten Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind, wozu besonders Geringqualifizierte, Personen mit wenig Berufserfahrung, Arbeitskräfte in Kleinbetrieben, Frauen und Migrant*innen zählen. Gerade für diese Gruppen verliert Erwerbsarbeit zunehmend ihren existenzsichernden Charakter, trotz Erwerbstätigkeit sind Personen von Armut bedroht. Nach dem Arbeitsklimaindex von 2017 weiß knapp die Hälfte der Beschäftigten nicht, wie sie mit ihrem Lohn oder Gehalt über die Runden kommen soll. Stoppacher und Saurug (ebd.: 39f.) verweisen auch auf die EUSILC-Erhebung von 2017, die den Zusammenhang zwischen zunehmender Prekarisierung am Arbeitsmarkt und steigender Armutsgefährdung aufzeigt. Die in diesem Abschnitt beleuchteten Zusammenhänge haben sich im Zuge der Covid-19-Pandemie, der sogenannten Corona-Krise, verstärkt, was in verschiedenen Berichten und Studien betont wird: Sperber et al. (2021) weisen darauf hin, dass die Corona-Krise Menschen in atypischen Erwerbsformen wie Solo-Selbstständigkeit, Teilzeitbeschäftigung und »Minijobs« besonders hart trifft. Zudem zeigen sich in Branchen mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil an Personen in Kurzarbeit und atypisch abhängiger Beschäftigung starke Auswirkungen auf die Sicherheit des Arbeitsplatzes. In der Krise hat sich durch die Überrepräsentanz von Frauen in geringfügiger Beschäftigung und im Niedriglohnsektor die Situation prekär beschäftigter Frauen verschlechtert – aufgrund von Jobverlust und hoher Arbeitsbelastung in systemrelevanten Berufen, in denen prekäre Beschäftigung besonders häufig ist (vgl. Foissner et al. 2021: 59). Eine Studie der Armutskonferenz weist darauf

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hin, dass sich gerade für Menschen, die schon vor der Krise prekär oder irregulär gearbeitet hatten, die Situation verschärft hat (David 2021: 3); was vor der Covid-19-Pandemie prekär war, ist jetzt noch prekärer. Und in einem Dossier der Vereinten Nationen (2020) wird festgestellt, dass Beschäftigte in der informellen Wirtschaft besonders gefährdet waren, zumal deren Einkommen in der Krise um bis zu 80 % gesunken ist (vgl. ebd.: 11). Weltweit leiden vor allem Geflüchtete und Arbeitsmigrant*innen unter den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, weil sie in Bereichen konzentriert sind, in denen Zeitarbeit, informelle Arbeit oder ungeschützte Arbeit mit niedrigen Löhnen und fehlender sozialer Sicherung weit verbreitet sind (vgl. ebd.: 13). Die in diesem Abschnitt beschriebenen Entwicklungen haben Auswirkungen für die betroffenen Menschen und ihre Lebenslagen, sie gefährden den sozialen Zusammenhalt und gehen mit Prozessen der Entsolidarisierung auf gesellschaftlicher und auf betrieblicher Ebene einher. Dazu weiter unten mehr (4.3) – zuvor gehe ich auf Forumtheater als Methode szenischpartizipativen Forschens ein, die dem Projekt »Prekäre Arbeit – Working Poor« zugrunde liegt.

3.

Zum methodischen Hintergrund: Szenisches Forschen mit dem Forumtheater

Forumtheater ist eine interaktive Aufführungsform des sogenannten »Theaters der Unterdrückten«, bei dem die Zuschauer*innen dazu eingeladen werden, sich am Spielgeschehen zu beteiligen, um vielfältige Handlungs- und Veränderungsideen für einen in szenischen Verläufen dargestellten sozialen Konflikt oder ein Problem zu erproben (vgl. Staffler 2009; Boal 2013; Wrentschur 2019). Die Folgen des Handelns werden in diesem dramatischen Labor unmittelbar sichtbar und erlebbar. Das Erproben von Handlungsmöglichkeiten ist mit der Frage verbunden, welche Veränderungen auf Handlungswie auch Strukturebenen notwendig sind, um Ausgrenzung, Diskriminierung oder soziale Ungleichheit zu überwinden. Forumtheater umfasst außerdem einen szenisch-partizipativen Gestaltungs- und Forschungsprozess in Gruppen, der den Aufführungen vorweggeht. Dabei setzen sich die Mitwirkenden unter Anwendung szenisch-theatralischer Methoden mit krisenund konflikthaften Situationen und Strukturen in ihrem Alltagsleben und in ihren Lebenswelten auseinander, die als belastend, herausfordernd, diskriminierend, ausgrenzend oder unterdrückend erlebt werden. Individuelle wie

Prekäre Arbeit in und nach der Krise

auch kollektive Erfahrungen werden in diesem Prozess zu theatralen Szenen und Bildern transformiert und kreativ bearbeitet. Die damit einhergehenden Erkenntnis- und Bewusstwerdungsprozesse werden mit der Suche nach Veränderungsmöglichkeiten von persönlichen, sozialen und politischen Realitäten verbunden (vgl. Wrentschur 2019). So erweist sich Forumtheater beim »Legislativen Theater« als Werkzeug politischer Beteiligung (Boal 1998). Forumtheater lässt sich im Kontext vielfältiger szenischer, performativer und theaterpädagogischer Verfahren verorten, die das Medium »Theaterspiel« explizit als Grundlage oder Vertiefung für sozialwissenschaftliche Forschungsprozesse nutzbar machen (vgl. Erel et al. 2017; Wrentschur 2019: 381ff; Wrentschur 2020; Wrentschur 2021a). Dies bedeutet, dass alle Elemente des Theaters dabei eine Rolle spielen (können), wie Raum, Bewegung, Rhythmus, Gestik, Mimik, Körperhaltungen, Emotionen, Sprache, Stimme, Rollen, Figuren, Handlungsabläufe und Interaktionen. Für szenische Forschungsprozesse erweist sich besonders die telemikroskopische Dimension des ästhetischen Raumes als bedeutsam, zumal Vorgänge und Prozesse szenisch vor- und zurückgespult oder auf andere Weise verfremdet werden können, um gerade im Alltäglichen, Selbstverständlichen Neues, Unerwartetes zu entdecken (vgl. Boal 1999: 27-39; Koch 1997: 81-85). Zentral sind die in szenischen Settings mitwirkenden Akteur*innen, deren Handlungen, Haltungen und Verhaltensweisen sowie deren Zusammenspiel und Zusammenwirken im theatralischen Raum. Inhalte und Themen szenischer Verfahren beim Forumtheater stehen in Bezug zu Alltags- und Lebenswelterfahrungen, die in szenisch-theatralische Bilder und Handlungsabläufe transformiert zu einer eigenen ästhetischen wie sozialen Wirklichkeit werden. Szenisches Forschen mit dem Forumtheater gestaltet sich als partizipatorischer Prozess, womit Verbindungen mit Formen der Participatory Action Research und anderen partizipativen Forschungsverfahren angesprochen sind (siehe ausführlich Wrentschur 2019: 421ff). Ganz im Sinne partizipativer Forschung wird Forumtheater mit unmittelbar betroffenen Menschen realisiert, um deren Wissen und Können »in einem Prozess der Selbstverständigung und des Empowerments« (Bergold und Thomas 2012: [19]) zu rekonstruieren. Dies betrifft vor allem Gruppen, deren Stimme und Perspektiven nur selten einbezogen werden »und die selbst kaum Möglichkeiten haben, ihre Interessen begründet einzubringen und durchzusetzen« (ebd.). Zudem zeigen sich Bezüge zur performativ-ethnografischen Forschung, bei der vielfältige szenischperformative Verfahren angewendet werden, um verschiedene Stimmen und Perspektiven der jeweils Betroffenen zu präsentieren. Diese Berücksichti-

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gung verschiedener Perspektiven bildet die Voraussetzung für einen Text, »der die differenzierten Verschränkungen persönlicher, interpersonaler und politischer Ebenen erfassen kann« (Winter 2009: [18]). Im Zuge der Aufführungen szenischer Forschungen können Zuschauer*innen Verbindungen zu ihren eigenen Erfahrungen herstellen. Die Forschungsergebnisse können so für mehr Menschen zugänglich werden als allein für jene, die akademische Textproduktion gewohnt sind. Theaterstücke und Performances sind Ort und Mittel, um sozialen, politischen und kulturellen Dialog zu verhandeln. Die szenisch-performative Darstellung von Phänomenen und Problemen kann alternative Sicht- und Denkweisen eröffnen als eine Voraussetzung dafür, Veränderungen im Alltagsleben von Menschen zu inspirieren (vgl. Liamputtong 2007: 172ff).

4.

Das Projekt »Working Poor – Prekäre Arbeit«

Nach dieser inhaltlichen und methodischen Rahmung stehen nun Verlauf und Ergebnisse des Projekts »Working Poor – Prekäre Arbeit« im Zentrum, das nach einem einwöchigen Community-Workshop und einem intensiven Forschungs- und Erarbeitungsprozess in ein Forumtheaterstück mündete, das in der Folge interaktiv aufgeführt wurde. In allen Projektphasen spielte die Einbeziehung der Expertise und Erfahrungen von unmittelbar Betroffenen eine große Rolle. Dem szenischen Forschungsprozess lagen u.a. folgende Fragen zugrunde: Wie erleben Menschen prekäre Arbeitsverhältnisse und deren Auswirkungen, welche Krisen, Herausforderungen und Konflikte sind damit verbunden? Wie können diese individuell und kollektiv bewältigt werden, welche Veränderungen auf struktureller Ebene sind notwendig?

4.1

Der Forumtheater-Community-Workshop:  Einstiege in szenische Forschungs- und Gestaltungsprozesse

Mit 16 Teilnehmer*innen wurde Anfang Oktober 2020 ein einwöchiger Forumtheater-Workshop gestaltet.2 Diese wurden dazu eingeladen, ihre vielfältigen und zum Teil langjährigen Erfahrungen mit prekären Arbeits-

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Die empirische Grundlage für diesen Abschnitt bilden Mitschriften und Bild-TextDokumentationen des Workshops sowie Ergebnisse der Evaluierung.

Prekäre Arbeit in und nach der Krise

und Beschäftigungsverhältnissen in theatralen Bildern und Szenen zum Ausdruck zu bringen. Bei diesem mehrtägigen Workshop geht es zunächst darum, eine möglichst vertrauens- und respektvolle, kooperative Atmosphäre in der jeweiligen Projektgruppe herzustellen. Dabei kommen angeleitete Gruppenbildungs-, Vertrauens-, Körper-, Bewegungs-, Ausdrucks- und Improvisationsübungen zur Anwendung, über die auch Spiellust und Kreativität angeregt werden. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Teilnehmer*innen in der Folge Mut fassen, sich den für sie oft belastenden Themen und Problemfeldern zu stellen und diese zu artikulieren. Ähnlich den Prämissen einer kritischen Adressat*innenforschung (Hanses 2005; Graßhoff 2013) und der partizipativen Forschung (Unger 2014; Bergold und Thomas 2012) ist bedeutsam, dass sich die Mitwirkenden als Subjekte mit ihren Erfahrungen ernst nehmen und sich individuell und kollektiv Stimme und Ausdruck verschaffen. Dabei wird auch der Körper als wesentliche Quelle von Wissen und Erkenntnis betrachtet, d.h., körperliche Wahrnehmungen, Bedeutungen, Haltungen und Wertungen eines Themas werden in den Forschungsprozess miteinbezogen. So regten theaterpädagogische und szenische Methoden die Mitwirkenden im konkreten Fall des Workshops dazu an, die Thematik »Working Poor – Prekäre Arbeit« in ihren unterschiedlichen Aspekten zu erforschen. Ausgehend von der unmittelbaren Erfahrung von Übungen wurden im Anschluss vielfältige Assoziationen zu Erfahrungen mit dem Thema gefunden, wie z.B. »Auf Abruf sein«, »Nicht wissen, was kommt!«, »Man wird immer wieder gebremst«, »Es kann sich schnell was ändern«, »Auf Knopfdruck funktionieren«, »Druck von oben nach unten«, »Abhängigkeitsketten«. Die subjektiven Erfahrungen und Perspektiven der Mitwirkenden werden zudem über vielfältige Bildertheater-Techniken artikuliert, bei denen krisenund konflikthafte Situationen, Erfahrungen, Geschichten und Probleme der Teilnehmer*innen mithilfe von (eingefrorenen) Körperhaltungen, Gestik und Mimik dargestellt werden (vgl. Wrentschur 2019: 411ff). Diese methodische Vorgangsweise unterstützt die Teilnehmer*innen dabei, Momente und Erfahrungen aus ihrem Alltag, ihrer Lebenswelt zum Ausdruck zu bringen – wie bei der Bildertheatertechnik »Groups of Four«: Im Rahmen des beschriebenen Workshops gestalteten alle Teilnehmer*innen ihr theatrales, ästhetisch verdichtetes Bild zur Frage »Womit ringen wir, wenn es um prekäre Arbeit geht?«. Dieses Bild kann in der Folge betrachtet, befragt, analysiert, reflektiert, verändert und transformiert werden. Oft erkennen Projektmitwirkende Aspekte ihrer eigenen lebensweltlichen Erfahrungen in theatralischen Bil-

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dern, Szenen und Geschichten anderer Teilnehmer*innen wieder. Dies regt zu intensivem, offenem Austausch und zu Diskussionen unter den Mitwirkenden über die gezeigten und erlebten Situationen und Problemlagen an. Davon ausgehend wird in der Folge nach den verbindenden, gemeinsamen Problem- und Konfliktlagen gesucht und auf die damit verbundenen (gemeinsamen) Anliegen nach Veränderung fokussiert. Ohne hier auf alle artikulierten und zum Ausdruck gebrachten Themen und Inhalte genau einzugehen, zeigten sich über die Workshopwoche hinweg in den verschiedenen Bildern und szenischen Entwürfen wiederkehrende, verbindende Krisen, Problemlagen und Herausforderungen. Dazu zählen z.B. •



• • • •

alles geben für das (mündliche) Versprechen einer fixen Anstellung, was dann aber nicht eingehalten wird – Wut, Enttäuschung, Resignation, Ohnmacht als Folgen; zunehmender Arbeits- und Flexibilisierungsdruck bei zunehmender Unsicherheit, unbezahlter Mehrarbeit bzw. Nichtabgeltung von Überstunden, verbunden mit Existenzsorgen; fehlende Wertschätzung von Arbeitgeber*innen und Kolleg*innen – dagegen Mobbing, Konkurrenzkampf, Entsolidarisierung; gesundheitliche Folgen von prekärer Arbeit: physische und psychosoziale Belastungen und Erkrankungen als Folge; fehlende Gewerkschaft/fehlender Betriebsrat großer Druck, bei Langzeitarbeitslosigkeit schlecht bezahlte, prekäre Jobs annehmen zu müssen.

Auffällig ist, dass sich viele Themen und Erfahrungen der Teilnehmer*innen mit denjenigen der fachlichen Diskurse decken. Aus der Sicht der Mitwirkenden sind zudem die mit schlechtem Arbeitsklima und Gesundheitsrisiken verbundenen Aspekte von prekärer Arbeit bedeutsam. Zu all diesen Themen werden schließlich drei kurze Forumtheaterszenen entwickelt, geprobt, innerhalb der Workshop-Gruppe gezeigt und analysiert, bevor gemeinsam Handlungsalternativen und -strategien erprobt und reflektiert werden. Dabei geht es immer wieder um die Frage, wie es möglich ist, sich in diesen herausfordernden, krisen- und konflikthaften Situationen zu vertreten und gemeinsam einzugreifen, um daran etwas zu verändern. In diesem Zusammenhang erscheint interessant, dass für die Teilnehmer*innen ein wesentlicher Nutzen ihre Mitwirkung am Workshop darin

Prekäre Arbeit in und nach der Krise

bestand, dass ihr Wissen und ihr Bewusstsein über rechtliche Rahmenbedingungen zugenommen hatte – auch als Grundlage dafür, »nicht alles zu schlucken« oder sich »Zeit für Entscheidungen und Unterschriften unter Arbeitsverträge zu nehmen«. Zudem trugen vielfältige Theaterspiel-Erfahrungen dazu bei, selbstbewusster aufzutreten, sich und die eigene Meinung besser zu vertreten und vor allem die Macht von Solidarität und Vernetzung zu erfahren. Besonders hervorgehoben wurden die offene, wertschätzende und konstruktive Atmosphäre als Voraussetzung des offenen Teilens herausfordernder, krisenhafter Erfahrungen – ganz im Gegensatz zu Atmosphären in der (prekären) Arbeitswelt. Auch bei diesem Workshop zeigten sich die Potenziale von szenischen Forschungsprozessen mit dem Forumtheater für die Entwicklung von Kooperation und gegenseitiger Unterstützung, für Zusammenhalt und Solidarität, wie sie an anderer Stelle beschrieben wurden (Wrentschur 2021b; Hill und Schmitt 2021).

4.2

Die Stückentwicklung

Nach dem einwöchigen Workshop teilte sich die Gruppe und arbeitete an zwei Forumtheaterproduktionen. Eine Gruppe vertiefte sich in prekäre CareArbeit3 , die zweite in die Auswirkungen vielfältiger atypischer, prekärer Arbeitsverträge im Kontext eines Industriebetriebs, worum es im Folgenden gehen wird. Bei der Stückentwicklung werden in einem vielschichtigen Recherche-, Gestaltungs- und Probenprozess aus dem gemeinsam entwickelten, szenischen Rohmaterial des Workshops ästhetisch-theatralische Szenen gestaltet. Dabei soll deutlich werden, welches Problem im Fokus steht und welche Fragen in den jeweiligen Szenen bzw. mit dem Stück aufgeworfen werden. Parallel dazu spielen ästhetische und szenische (Verdichtungs-)Prozesse eine große Rolle. Methodisch kommen dabei zumeist Formen der Improvisation mit anschließenden Reflexionen sowie spezielle Probetechniken zur Fokussierung und Gestaltung der szenischen Abläufe zur Anwendung. Folgende Fragen stehen im Zentrum: Was braucht es an Handlungen, an Gefühlen und räumlichen Arrangements, an Gesten und Haltungen, damit die Szene stimmiger und realer wird, damit die in den Situationen wirkenden Macht- und Statusbeziehungen deutlich und

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Aufnahmen von diesem Forumtheaterstück mit dem Titel »Zerrissen« finden sich hier: https://www.interact-online.org/aktuell/working-poor.

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den von der Gruppe intendierten Problemen und Anliegen gerecht werden? Sind die sozialen Rollen und deren Habitus bzw. Haltungen entsprechend dargestellt?? In welcher Weise berühren die Szenen die gemeinsamen Erfahrungen und/oder Anliegen der Mitwirkenden? Neben dem ästhetischen Entwicklungs- und Gestaltungsprozess ist in dieser Phase vor allem die Rollenarbeit bedeutsam, um die Darsteller*innen gut auf die interaktive Forumphase vorzubereiten, bei der sie aus dem Wissen und Habitus einer Rolle heraus auf Veränderungsideen der Zuschauer*innen reagieren. Unterstützt wird dies mit umfassenden Recherchen zu Fakten, Gesetzen, Abläufen und Handlungsspielräumen der beteiligten Rollen. Ein weiteres methodisches Element bildet eine Form der dialogischen Rückkoppelung und Validierung, indem Menschen, die aufgrund ihrer Betroffenheit eine persönliche oder eine professionelle Expertise zu den erarbeiteten Themen aufweisen, zu offenen Proben eingeladen werden. Dabei werden szenische Entwürfe präsentiert, um gemeinsam zu reflektieren und zu diskutieren, inwieweit sie den Erfahrungen und Realitäten der Eingeladenen entsprechen. Dies kann zu weiteren Recherchen zu fachlichen, gesetzlichen oder politischen Hintergründen anregen, die für die jeweiligen Szenen relevant sind, um diese möglichst realitätsnah und aktuell zu gestalten. Zudem sind auch in dieser Projektphase die vielfältigen Erfahrungen der Projektmitwirkenden zentral für die Erkenntnisgenerierung und szenische Gestaltung. Dieser szenische Forschungsprozess führte im Projekt »Working Poor – Prekäre Arbeit« schließlich zu einem von Text und Ablauf her fixierten Forumtheaterstück mit dem Titel »COSMED AUSTRIA – DIE WERTSCHÖPFER«, das ästhetisch verdichtet Erkenntnisse und Phänomene des bisherigen Gestaltungs- und Reflexionsprozesses enthält.

4.3

Das Forumtheaterstück »COSMED AUSTRIA – DIE WERTSCHÖPFER«

Im Folgenden beschreibe ich den Stückverlauf, gebe ausgewählte Szenenausschnitte wieder und stelle einige Bezüge zu den fachlichen Diskursen und Befunden zu prekärer Arbeit her.4

4

Dies kann den sinnlich-emotionalen Eindruck der szenischen Verläufe nicht ersetzen. Die drei Aufführungen von COSMED AUSTRIA können im Internet nachgesehen werden und finden sich unter: https://www.interact-online.org/aktuell/working-poor.

Prekäre Arbeit in und nach der Krise

4.3.1

Der Druck nimmt zu – die Anerkennung fehlt

COSMED AUSTRIA ist Teil eines internationalen Konzerns, der für Logistik und Vertrieb von medizinischen, pharmazeutischen und Kosmetikprodukten zuständig ist. Zu Beginn des Stückes stellen sich die Mitarbeiter*innen und der Geschäftsführer nacheinander vor. Es wird deutlich, dass nicht einmal ein Drittel der Belegschaft unbefristete Vollzeit-Dienstverträge hat, die meisten sind hier atypisch über Leiharbeit, Teilzeitstellen, Transitstellen oder befristete Verträge beschäftigt. In einem Telefonat des Geschäftsführers mit der Konzernleitung zeigt sich, dass die Betriebsergebnisse hinter den hohen Gewinnerwartungen zurückbleiben. Dies führt in der Folge zu einer sichtbaren Erhöhung der Geschwindigkeit der über Bewegungen der Darsteller*innen angedeuteten Arbeitsabläufe. Als Teilzeitkraft Emma ihr Kind vom Kindergarten abholt, wird deutlich, dass es zu wenig Personal gibt, um die anfallenden Arbeiten entsprechend auszuführen. Über die Team- und Bereichsleiterin gelangt der Wunsch nach mehr Personal zur Geschäftsführung. Einige Zeit später wird eine weitere befristete Teilzeitkraft und eine über das AMS vermittelte befristete Transitarbeitskraftstelle vermittelt, »das ist ja auch aus Kostengründen sehr günstig für uns«, so der Geschäftsführer, Mag. Balli. Bald darauf richtet sich dieser an die Belegschaft und weist darauf hin, dass es noch unausgeschöpfte Potenziale gibt und daher beschlossen wurde, die Arbeitsbereiche der Mitarbeiter*innen zu erweitern und ihnen mehr Eigenverantwortung zu übertragen. Diese Aufforderung zu (noch) mehr Leistung und Verantwortung wird von der Belegschaft unterschiedlich aufgenommen: Herta: Das heißt, schon wieder mehr Überstunden, und ich kann noch immer keinen Zeitausgleich nehmen. Martin: Das könnte meine Chance sein, um mich richtig zu beweisen. Emma: Fit für die Zukunft? Das heißt dann mehr Arbeit, aber bekommen wir dann auch mehr bezahlt? Das war aber jetzt nicht ganz klar. Dina: Vielleicht kriege ich dann eine Fixanstellung. Robert: Mir tut jetzt schon alles weh … Nun haben alle Mitarbeiter*innen deutlich mehr zu tun, neue Tätigkeiten sind hinzugekommen, alles wirkt hektischer und belasteter als zuvor. Der größere Arbeitsdruck wirkt sich auf die Stimmung aus, auch, weil Anerkennung oder Prämien ausbleiben – außer in einem Moment, als den Fixangestellten mit Kollektivvertrag feierlich in symbolischer Form ihre Gewinnbeteiligung überreicht wird. Dies führt zu Unmut unter den Kolleg*innen:

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Martin (resigniert): … und da schau ich als Leiharbeiter wieder mal durch die Finger! Emma (empört): WAS? Das ist aber total unfair! Warum bekommen nur die Fixangestellten eine Gewinnbeteiligung? Wir arbeiten hier ja ALLE wie die Blöden! Das ist eine Frechheit! Martin: Das ist auch ein Grund, warum ich endlich weg will von dem Leiharbeiterstatus. Wenn wer rausgeworfen wird, dann gehe ich als Erster. Das ist ja problemlos möglich und das habe ich schon oft genug gehabt. Und dann fängst du wieder bei null an, wieder mit neuen Versprechungen … Dina: Versprechungen? Ja, mir haben sie auch versprochen, dass sie mich dann fix übernehmen … Gerade bei den atypisch Beschäftigten zeigt sich in zwei Szenen, dass ihnen kollektivvertragliche Fixanstellungen versprochen, sie aber bei Nachfrage wiederholt vertröstet werden und gleichzeitig werden hoher Einsatz und Leistungsbereitschaft gefordert. 4.3.1.1 Bezüge zu Diskursen und Befunden In diesen szenischen Sequenzen zeigt sich der in der Privatwirtschaft üblich gewordene Trend, prekäre Randbelegschaften aufzubauen und/oder Teile des Produktions- oder Dienstleistungsprozesses an Subunternehmen auszulagern (vgl. Mayer-Ahuja und Nachtwey 2021: 18f). Zugleich machten in dem Maße, wie die Prekarisierung von Arbeit voranschritt, immer mehr »Menschen die Erfahrung, dass ihnen im Job immer mehr Leistung abverlangt wurde, die sich in Sachen Einkommen, Beschäftigungssicherheit oder Lebensplanung weniger lohnte« (ebd.: 19). Zudem beobachten die Fixangestellten »die instabilen Arbeitsbedingungen ihrer prekären Kolleg*innen und befürchten eine Verschlechterung der eigenen Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzverlust und sozialen Abstieg. Die prekär Beschäftigten müssen sich wiederum ständig aufs Neue beweisen und untereinander um die seltenen Möglichkeiten einer fixen Übernahme konkurrieren. In der Folge […] stimmen Festangestellte häufig schlechteren Arbeitsbedingungen zu, die Produktivität steigt auf Kosten der physischen und psychischen Gesundheit aller Beschäftigten und der Zusammenhalt unter den Kolleg*innen sinkt« (Zandonella 2018: 40). Ähnlich argumentiert Dörre (2009: 52f), der von der »diskriminierenden Prekarität« spricht, die im Sinne eines Disziplinierungseffekts auf die Gesicherten und Festangestellten gerade in der verarbeitenden Industrie zurückwirkt. Denn wenn sich Menschen mühsam über monatelange Praktika oder Leiharbeit in

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ein befristetes Beschäftigungsverhältnis und dann vielleicht in eine Festanstellung kämpfen, hat dies den Nebeneffekt, »dass die Konkurrenz um halbwegs sichere Beschäftigung als Leistungstreiber genutzt werden kann. […] Wo die mit Stammbelegschaft besetzte Schicht den Akkord zu 120 % erfüllt, sieht sie sich schon bald mit besseren Ergebnissen der ›Leiharbeiter-Schicht‹ konfrontiert; haben die Festangestellten aufgeholt, beginnt das Spiel von neuem« (ebd.).

4.3.2

Noch mehr … Erschöpfung

Die Arbeit läuft weiter auf Hochtouren, allen ist anzusehen, dass sie an ihre Grenzen gelangen. In der Folge nehmen Spannungen zu, der Transitarbeiter Robert wird verwarnt: Unger: Sie müssen sich schon mehr beeilen, ein bisschen mehr und flotter tun, sonst werden sie hier in der Firma nicht alt. Robert: Ich habe nicht gewusst, dass die Arbeit hier so schwer ist! Und mit meinem Alter bin ich auch nicht so belastbar. Unger: Ich verstehe schon! Sie waren ja lange Zeit aus dem Arbeitsleben draußen. Aber wenn Sie sich nicht anstrengen, werden Sie hier auch nicht bleiben können. Robert: Ja, ich werde mich bemühen. Infolge der permanenten Erhöhung des Arbeitsdruckes kommt es vermehrt zu Fehlern, in einem Fall wird eine komplette Charge zurückgeschickt. Am Freitag zu Dienstschluss erfahren die Mitarbeiter*innen, dass sie am Samstag arbeiten müssen, um die Lieferung neu zusammenzustellen, weil es sich um einen besonders wichtigen Kunden handelt. Und obwohl die Mitarbeiter*innen schon lange unter dem ständig zunehmenden Arbeitsdruck und der Belastung leiden, sehen sie keine andere Möglichkeit und stimmen der Samstagsarbeit zu. Die darauffolgende Szene deutet an, wie sich dies in deren Privatleben auswirkt: Herta (wütend): Das hat mir noch gefehlt! Schon wieder Überstunden und immer nur Überstunden!! Was haben meine Kinder gemacht?! Nichts!! Da ist noch die schmutzige Wäsche … Das Geschirr steht überall herum… Den Boden sehe ich vor lauter Brösel nicht! Jetzt kann ich auch noch die ganze Hausarbeit machen! Den ganzen Tag nur arbeiten, arbeiten, arbeiten und dann bezahlen. Immer nur bezahlen und arbeiten. Ich kann nicht mehr, ich mag nicht mehr!

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Martin (mit schmerzhaftem Nacken, Kreuz und schmerzenden Schultern): So, Feierabend, aber Erholung und Entspannung gibt es keine. Als ob es nicht reichen würde, dass es immer mehr Druck gibt und mehr Output, höhere Stückzahlen, Produktivität verlangt werden, können wir am Samstag auch noch Hackeln gehen! Es hilft eh nichts! Ich brauche den Job. Meine Schulden zahlen sich schließlich auch nicht von allein! Emma: Hm! Am Samstag arbeiten! Ich kann meine Tochter ja nicht mitnehmen in den Betrieb. Also so kurzfristig, ich weiß nicht, wie die sich das vorstellen. Außerdem: eigentlich sollte ich für die Prüfung nächste Woche lernen. Das ist mir echt wichtig! Ich weiß nicht, wo mir momentan der Kopf steht. 4.3.2.1 Bezüge zu Diskursen und Befunden In diesen Szenen wird u.a. sichtbar, dass der Widerstand gegen schlechte Arbeitsbedingungen sehr schwierig ist, wenn ohnehin viel Energie in die Aufrechterhaltung der Arbeitskraft und in die Anforderungen an Selbstmanagement, Selbststeuerung und Selbstkontrolle fließt. Dabei lebt Lutz (2014) zufolge gerade die untere Mittelschicht in einer unübersehbaren Gefährdung, ihre soziale Lage kann sich durch Risiken und Krisen jederzeit verschärfen, in ihr finden sich »Abstiegsbedrohungen und Deklassierungssorgen, aber auch Aufstiegshoffnungen und Etablierungsbemühungen« (ebd.: 14). Dies führt nicht nur zu den weiter oben beschriebenen Armutsgefährdungen und Armutslagen trotz Arbeit, sondern zeigt sich auch in zunehmenden psychosozialen Belastungen. Lutz spricht von der sozialen Erschöpfung, die sich vor allem in Familien manifestiert: »Soziale Erschöpfung ist eine soziale Situation, in der die Menschen noch initiativ sind, aber nicht im Sinne von Teilhabe, Reflexion und Gestaltung, sondern lediglich hinsichtlich eines alltäglichen Kampfes, die Zumutungen des Alltags einigermaßen zu bewältigen. Der Blick auf die Zukunft fehlt, da die Gegenwart übermächtig wird, Handlungsmöglichkeiten werden geringer« (ebd.: 88).

4.3.3

Spaltung und fehlende Solidarität

Neben der belastenden Arbeitssituation thematisiert das Stück die (fehlende) Solidarität unter den Mitarbeiter*innen und deren Herausforderungen beim Einstehen für vorenthaltene Arbeitsrechte, bessere Arbeitsbedingungen und Anerkennung. Denn während der Arbeitsdruck im Sinne von Effizienzsteigerung und Optimierung zunimmt, macht das Gerücht einer »Strukturbe-

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reinigung« die Runde. Damit einher gehen Ängste, Unsicherheit und Sorgen vor einem drohenden Arbeitsplatzverlust, schließlich werden Unzufriedenheit und Wut zum Ausdruck gebracht: Emma: Das können wir uns nicht bieten lassen! Frau Unger (stößt in diesem Moment dazu): Was lasst ihr euch nicht bieten? Emma: Die unzumutbaren Arbeitsbedingungen da bei uns, unter denen wir alle leiden! Herta: Der ganze Arbeitsdruck und die vielen Überstunden, die nicht abgegolten werden! Wir müssen immer mehr leisten und machen daher auch immer mehr Fehler, immer mehr Überstunden! Wir kommen nicht mehr zurecht damit! Martin: Immer die leeren Versprechungen, die wir bekommen, die Vertröstungen und immer mehr Stückzahl, Output! Wir gehen am Zahnfleisch! Es geht nimmer mehr und es wird immer unsicherer für uns! Kein Wunder, dass wir Fehler machen, die wir dann wieder selbst ausbessern müssen – am Wochenende –, und DAS wollen wir uns nicht mehr bieten lassen! In dieser krisenhaften Situation beschließen einige Mitarbeiter*innen, ihren Unmut und ihre Anliegen bei einer betrieblichen Informationsveranstaltung zu artikulieren, die in der nächsten Woche stattfindet. Bis dahin ist nicht viel Zeit, weder für Vorbereitungen noch dafür, andere Kolleg*innen und den (ohnehin überlasteten) Betriebsrat einzubeziehen. Dennoch sind unter einigen Mitarbeiter*innen Solidarität und Zusammenhalt spürbar, einige zeigen sich zurückhaltend und wollen sich nicht exponieren. Schließlich erklärt sich Emma nach einigem Zögern bereit, die Anliegen vorzubringen. Die Kolleg*innen versichern, hinter ihr zu stehen und ihr den Rücken zu stärken. Das Stück blendet in der Folge in die betriebliche Informationsveranstaltung, bei der es auch Raum für die Anliegen der Mitarbeiter*innen geben soll. Doch zunächst klärt der Geschäftsführer über die »Strukturbereinigung« auf, deren Ziel es ist, den Betrieb noch »fitter« zu machen. Und weil es sehr profitable und weniger profitable Abteilungen gebe, würden einige der Letztgenannten »outgesourct«. Dies bedeute, dass manchen Mitarbeiter*innen die Möglichkeiten zum Verbleib bzw. zu Umschulungen angeboten würden, andere würden jedoch ihren Arbeitsplatz verlieren. Die Aussagen verbreiten Unsicherheit in der Belegschaft, manche sind bestürzt. Dennoch fasst sich Emma ein Herz und bringt stellvertretend die Anliegen vor:

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Emma: Herr Mag. Balli! Im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen hätte ich Folgendes anzubringen: Wir sind seit Wochen komplett überlastet! Ständig neue Auftragszahlen, wir arbeiten bis zur Erschöpfung, Sie zahlen keine Überstunden aus, von Zeitausgleich reden wir gar nicht. Es gibt leere Versprechungen auf Anstellungen, die Sie geben und nicht halten. Es ist unzumutbar geworden bei uns, und jetzt wollen Sie auch noch Leute entlassen! Aber Herrn Balli gelingt durch seine geschickte Gesprächsführung, Emma in die Defensive zu bringen und die Mitarbeiter*innen weiter zu verunsichern und zu spalten. Als Herr Balli in die Runde fragt, ob andere Kolleg*innen Emmas Ansichten teilen, meldet sich niemand zu Wort. Das erzürnt Emma, wie die darauffolgende Szene zeigt: Emma (wütend und fassungslos): Was soll das? Ihr sagt, ihr steht hinter mir, und dann lasst ihr mich voll auflaufen! Was ist mit euch los? Herta (ängstlich): Ich habe kein Wort herausgebracht! Dina: Ich weiß nicht, ob es mich betrifft. Martin: Ich habe Angst gehabt … Unger: Ja, ich finde mit meinen 55 Jahren auch keinen Job mehr, wenn er mich rausschmeißt, und er hat mich schon so komisch angeschaut! Emma: So wird sich auf jeden Fall nie etwas ändern! Alle schauen resigniert zu Boden, Freeze und Black. So endet das Stück. 4.3.3.1 Bezüge zu Diskursen und Befunden Schon in anderen Szenen zeigen sich zunehmende Konkurrenzkämpfe auf horizontaler Ebene, denn »durch differenzierte Entlohnungen, Arbeitsvoraussetzungen, Leistungserwartungen und Arbeitszeiten sind aus einer zwischenzeitlich kollektiven ArbeiterInnenschaft wieder lauter Einzelkämpfer geworden« (Bohrn Mena 2020: 25). So finden sich in vielen Betrieben Arbeiter*innen und Angestellte mit alten und neuen Gehaltschemen und Verträgen sowie PraktikantInnen – gemeinsam ist ihnen, dass sie unter starkem Druck stehen. Die Angst vor Arbeitslosigkeit lässt den Druck auf Beschäftigte steigen, auch unter schlechten Konditionen zu arbeiten: »Unbefristete Vollzeitbeschäftigte haben verstärkt Angst, durch jüngere und ›billigere‹ Kolleginnen und Kollegen mit Teilzeitverträgen ersetzt zu werden« (Bohrn Mena 2020: 25f). Umso wichtiger ist es, diese Ängste wahrzunehmen – als eine wesentliche Grundlage für betriebliche Solidarisierungsprozesse, worauf

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Stern et al. (2021) hinweisen. Denn Prekarisierungsprozesse verstärken nicht nur bestehende Ungleichheiten, sondern untergraben die Solidarität und »wirken […] sich außerdem negativ auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt aus« (Zandonella 2018: 41). Damit einher geht ein genereller Zweifel an betrieblichen (und politischen) Mitsprachemöglichkeiten. Dies verweist auf ein Dilemma der Gewerkschaften, wenn diese »nur im Namen jener Arbeitnehmer tätig werden, die über von ihnen zu schützende Rechte verfügen, nicht mehr in der Lage sind, Mitglieder von außerhalb des Kreises zu rekrutieren[,] und mithin nichts für prekär Beschäftigte tun können. Sie können das Problem auch nicht lösen, indem sie sich von den Festangestellten abwenden, denn dann könnten sie gar nichts mehr tun« (Crouch 2019: 87).

4.4

Die interaktiven Forumtheateraufführungen: Das Erproben von individuellen und kollektiven Handlungsstrategien

Im Folgenden beschreibe ich den Ablauf der Forumtheateraufführungen von »COSMED AUSTRIA – DIE WERTSCHÖPFER« und gehe auf einige wesentliche Ergebnisse ein.5

4.4.1

Hintergrund und Konzept der Aufführungen

Mit den interaktiven Aufführungen von Forumtheaterstücken wird die dialogische Rückkoppelung mit betroffenen Communitys, einschlägigen Organisationen und Initiativen sowie gesellschaftlichen Öffentlichkeiten gesucht. In einer Aufführungsserie kann sich zeigen, inwieweit die dargestellten Szenen als Ergebnisse der szenischen Forschungsprozesse über die Erfahrungen und Erkenntnisse der Projektmitwirkenden hinaus Resonanz erzeugen. Szenisches Forschen mit dem Forumtheater ist in der interaktiven Forumphase von einem spielerisch-experimentellen Charakter geprägt. Gemeinsam mit dem Publikum werden Ideen zur Veränderung bzw. Lösungsansätze für die gezeigten Krisen, Probleme und Konflikte gesucht, erprobt und reflektiert. Die Forumphase gleicht einem soziologischen Experimentieren mit Haltungen, Verhaltensweisen und Handlungen (vgl. Koch 1988: 45), indem versucht wird, dem Geschehen auf der Bühne über Einstiege eine Wendung zu geben, während die Darsteller*innen aus der habituellen Perspektive der jeweiligen Rolle

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Dabei orientiere ich mich vor allem an Protokollen und Videomitschnitten der Aufführungen.

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darauf reagieren. Dadurch werden mögliche Folgen des Handelns unmittelbar sichtbar und erlebbar gemacht, genauso wie jene habituellen, soziokulturellen und strukturellen Barrieren bzw. Grenzen, auf die individuelles und kollektives Handeln stoßen können (vgl. Wrentschur 2019: 416f). Der Erprobung von Handlungsalternativen bei den Einstiegen folgt eine gemeinsame Reflexion, indem Einsteiger*innen, Zuschauer*innen und manchmal auch Darsteller*innen ihre Wahrnehmungen und Ansichten artikulieren. Entlang der zentralen Frage, ob eher individuelle, handlungsbezogene und/oder eben eher strukturbezogene, politische Herangehensweisen notwendig sind, um Veränderungen zu initiieren und zu realisieren, verstehen sich Forumtheateraufführungen als handlungs- und dialogorientierte Forschungsprozesse. Covid-19-Pandemie-bedingt musste der gemeinsame, üblicherweise durch die physische (Co-)Präsenz von Darsteller*innen und Publikum geprägte, dreidimensionale Theaterraum in ein hybrides OnlineForumtheaterformat übertragen werden. Im Theaterraum live vor Ort waren die Darsteller*innen, die Moderator*innen, die technischen Mitarbeiter*innen sowie weitere Projektmitwirkende. Im virtuellen Raum gab es die Möglichkeit, über Livestream oder über das Videokonferenztool Zoom die Aufführung mitzuerleben und an dieser aktiv mitzuwirken. So konnten telefonisch oder per Zoom Ideen an die Darsteller:innen übermittelt werden, die dann live umgesetzt wurden. Zudem wurden Breakoutsessions und Chats für Austausch und Diskussion angeboten. Expert*innen von Gewerkschaft, sozialen Initiativen und Einrichtungen wurden live zugeschaltet (siehe dazu ausführlich Wrentschur und Vieregg 2021).

4.4.2

Die Präsentation des Theaterstückes und die Wahrnehmungen des Publikums

Nach einer kurzen Einführung zu Idee und Ablauf wurde das Publikum gebeten, die bei allen Aufführungen reichlich vorhandenen eigenen Erfahrungen mit prekärer, atypischer Arbeit in den Chat zu stellen. Genannt wurden u.a. unzählige, lange und unbezahlte Praktika, Scheinselbstständigkeit (z.B. als Fahrradkurier), geringfügige Anstellungen, (befristete) Leiharbeitsverträge, befristete Anstellungen, Teilzeitanstellungen, befristete Anstellung als Transitarbeitskraft, neue Selbstständigkeit mit wenig Einkommen (z.B. im Kunstbereich, Journalismus), Arbeiten ohne Rechnung bzw. ohne Arbeitsvertrag, Vereinsanstellung ohne Kollektivvertrag, Arbeiten um 5,– € in der Stunde. Damit ist eine wichtige Grundlage für Resonanz und Beteiligung in

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den Forumtheateraufführungen geschaffen – das Publikum bringt Expertise und Erfahrungen zu den gezeigten Themen und Problemen mit und ein. Daraufhin wird die erarbeitete Szenenfolge – hier »COSMED AUSTRIA – DIE WERTSCHÖPFER« – gezeigt. Das Publikum ist dazu eingeladen, darauf zu achten, mit welchen Problemen und Herausforderungen die Mitwirkenden – hier die Mitarbeiter*innen – zu ringen haben. Zu dieser Beobachtungsaufgabe wurden im Anschluss an die Präsentation Wahrnehmungen und Beobachtungen im Chat und verbal über Zoom ausgetauscht. In der Auswertung der Chatprotokolle und der Livestreams zeigte sich, dass dem Stück eine hohe Nähe zur Realität bescheinigt wird. Viele Zuschauer*innen nahmen den großen Arbeitsdruck, die hohe und zunehmende Arbeitsbelastung bei gleichzeitiger Unsicherheit über den Job und Sorgen über die jeweilige existenzielle Lage als eine der größten Herausforderungen wahr, zumal es weder Anerkennung noch höhere Löhne, sondern nur leere Versprechungen und Vertröstungen bezüglich besserer Anstellungsverhältnisse gibt. Nach Ansicht des Publikums wird die prekäre Arbeitssituation vom Unternehmen als Beitrag zu mehr Individualität und Eigenverantwortung »verkauft«, was zur Folge hat, dass die Mitarbeiter*innen mehr für sich und ihre Selbstbehauptung kämpfen und nicht gemeinsam für ihre Rechte eintreten. Die schwächste Position habe dabei die Transitarbeitskraft. Dies führe insgesamt zur Spaltung der Belegschaft, zu wenig Zusammenhalt und fehlender Solidarität. Ein Diskutant fasst das szenische Geschehen folgendermaßen zusammen: »Das Stück spiegelt die momentane wirtschaftliche Lage wider, den ganz normalen Wahnsinn neoliberaler Arbeitsprozesse. Die Eigentümer sind nicht am Wertschöpfungsprozess beteiligt. Sie suchen sich eine Geschäftsführung, die eloquent ist, um die Betriebsziele durchzusetzen. Der Druck geht über einzelne Stationen bis ganz nach unten. […]. Viele sind arbeitslos, jene[,] die arbeiten, unter Dauerstress. Es fehlt ein aktiver Betriebsrat, die Leute werden gegeneinander ausgespielt. Der Vorstand ist unsichtbar, die Solidarität verschwindet hinter der Flexibilität.«

4.4.3

Die Beteiligung des Publikums: Von Handlungsideen zu politischen Forderungen

In der Forumphase werden Ideen für Einstiege und Veränderung vom Publikum vorgeschlagen und von den Darsteller*innen umgesetzt. Einige Male wurde in den Aufführungen versucht, in Konfliktmomenten stärker die La-

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ge der Mitarbeiter*innen gegenüber der Geschäftsführung zu vertreten und konkrete Vorschläge zu machen, damit Fehler vermieden werden können. Dabei kamen besonders die Forderungen nach mehr Personal und mehr Rücksichtnahme auf die extreme Arbeitsbelastung und die Überstunden zur Sprache. Das bezog sich v.a. auf jene Szene, in der die Belegschaft kurzfristig für Samstagarbeit verpflichtet wird, um eine fehlerhafte Charge erneut zu bestücken. Aber der Geschäftsführer agiert in seinen kommunikativen Strategien zumeist sehr geschickt, indem er den »Ball«, d.h. die Verantwortung für ihre Lage, immer wieder an die Mitarbeiter*innen und die Führungskräfte zurückspielt und dadurch verdeutlicht, dass er in der klar mächtigeren Position ist: »Dann sorgen Sie dafür, dass die Leute motiviert sind, Sie werden dafür ja auch bezahlt!«, »Es braucht einfach mehr Effizienz und Selbstverantwortung, da müssen Sie besser aufpassen!«, »Wenn Ihre Mitarbeiter nicht bereit sind, diesen Fehler auszubessern, muss ich neue Leiharbeiter einstellen!«, »Ich habe jetzt keine Zeit zum Diskutieren!«, »Sie müssen lernen, mit Druck umzugehen. Andere Teams schaffen das auch!«. Diese Reaktionen provozierten erneute Versuche: Aus der Erfahrung der Ohnmacht wurde in der Forumphase ein Ringen um individuelle und kollektive Ermächtigung, jedoch gelang es dem Geschäftsführer in den Einstiegen immer wieder, die Belegschaft zu spalten und deren unterschiedliche rechtliche Lage ins Spiel zu bringen. Auch aus diesem Grund wurde im Zuge der Forumphase deutlich, wie wichtig es ist, sich rechtlichen Rat und Beistand z.B. bei Betriebsrat, Arbeiterkammer oder Gewerkschaft zu holen, bevor Handlungen und Interventionen gesetzt werden. Aufgrund der unterschiedlichen Arbeits- oder Leiharbeitsverträge ist es jedoch gar nicht so einfach, gemeinsame Positionen zu entwickeln und zu artikulieren. Zudem zeigte sich in Einstiegen wiederholt, wie schwierig es für die Belegschaft ist, sich zu organisieren und in der Folge gezielt und strategisch klug vorzugehen. Umso wichtiger waren in der Forumphase jene Versuche, in denen sich die Mitarbeiter*innen beim Vorbringen der Anliegen besser vorbereiteten und gegenseitig unterstützten. Beim Forumtheater führen gerade (vermeintlich) gescheiterte Versuche oft zu wesentlichen Lernprozessen und Erkenntnissen. Parallel zu den zahlreichen Ideen für Einstiege gab es rege Beteiligung im Chat und in der Diskussion. Wie auch bei Forumtheater-Liveaufführungen zeigte sich ein solidarisches Mitfiebern, Mitfühlen bei den Versuchen, ja manchmal sogar ein Aufmuntern und Anfeuern: 20:04:19     Frau Unger hat sich gut eingesetzt sehr gut argumentiert; Frau Unger kämpft tapfer!!!

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20:11:11     Gut gebrüllt Löwin! Wenn sich alle zu Wort melden, bekommt der Balli Druck 20:41:54     Gut gekämpft, die gesamte Belegschaft! Im Zuge der Chatkommunikation wurden immer wieder konkrete Tipps gegeben und es wurde Wissen geteilt, z.B. über das »Bureau für Selbstorganisierung«6 (vgl. Stern et al. 2019), das sich mit der Frage beschäftigt, wie man sich in einer betrieblichen Konflikt- und Krisensituation wirksam organisieren und zusammenschließen kann. Nach der Forumphase wurden die Zuschauer*innen nochmals in Breakoutsessions gebeten, um aus der Erfahrung der Aufführung heraus politische Forderungen und Anliegen zu formulieren, diese danach verbal oder in den Chats zu artikulieren und mit den anwesenden Expert*innen zu diskutieren. Es gab rege Beteiligung und vielfältige Vorschläge und Forderungen: zu verbesserten Arbeitsrechten und Arbeitsschutz (faire und gerechte Arbeitsverträge, kollektivvertragliche Überstundendeckelung, Verbot von Leiharbeitsverträgen bzw. Verbesserung der Rechte von Leiharbeiter*innen und deren Kontrolle). Als bedeutsam wurde die Stärkung von Betriebsrat und Gewerkschaften erachtet, aber auch ein Verständnis von Erwerbsarbeit, demzufolge alle Lohnabhängigen die gleichen Rechte, Pflichten und Arbeitsbedingungen haben. Zudem wurden gesellschaftspolitische Vorschläge formuliert, wie die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, die Erhöhung des Arbeitslosengeldes, die bessere Förderung bei der Wiedereingliederung von Arbeitslosen sowie eine stärkere Orientierung an Gemeinwohlökonomie und solidarischem Denken.

5.

Epilog

Mit den Forumtheateraufführungen wird ein »anderer Raum […], als soziale Heterotopie« geschaffen (Wihstutz 2012: 17), basierend auf der Ermöglichung »der Begegnung zwischen Publikum als Öffentlichkeit und den ›Unsichtbaren‹ der Gesellschaft« (ebd.: 136). Damit wird auf das politische Versprechen des Theaters verwiesen, dass es Öffentlichkeiten schafft, die den Einschluss der Ausgeschlossenen ermöglichen – in diesem Fall Menschen in prekären Arbeits- und Lebenslagen. Die Geschehnisse im dargestellten Betrieb spiegeln

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https://www.selbstorganisierung.at/

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Krise(n) der prekären Arbeit als gesellschaftliches, kapitalistisches und als betriebliches Phänomen wider und sie machen deutlich, wie schwerwiegend und belastend die Auswirkungen für die Betroffenen sein können. Mit prekärer Arbeit verbundene finanzielle Notlagen und Lebensbedingungen vergrößern Abhängigkeiten und schränken Handlungsmöglichkeiten ein, besonders wenn Krisen in erster Linie individuell bearbeitet werden (müssen) – Stichwort Subjektivierung der Arbeit (Moldaschl und Voß 2003; Mönch 2018). Forumtheater veranschaulicht und verdichtet diese Probleme, Prozesse und Dynamiken in szenischen Sequenzen bzw. Abläufen und schafft – selbst im virtuellen Raum – verbindende Erfahrungen über das Erleben der dargestellten Krisen und Konflikte. Diese Erfahrungen regen zur Beteiligung, zur Diskussion und zur gemeinsamen, solidarischen Lösungssuche an. Dabei geht es um das Ausloten individueller wie kollektiver Handlungsmöglichkeiten bis hin zu politischen Vorschlägen und Forderungen. Empathie mit den Mitwirkenden und Verständnis für soziale Problemlagen werden zur Voraussetzung für Solidarität und politisches Handeln. Das Theater wird zum Ort der Solidarisierung des Publikums mit den Darsteller*innen mit Ausgrenzungs-, Armuts- und Diskriminierungserfahrungen. Für die Projektmitwirkenden7 waren die Aufführungen ein besonderes Erlebnis, weil es zum einen gelungen ist, die Thematik über das Theaterstück deutlich zu machen und damit beim Publikum Resonanz, Beteiligung und Solidarität zu erzeugen. Zum anderen konnten die Mitwirkenden ihr Bewusstsein über ihre Rechte und über die Thematik vertiefen, sie bekamen Impulse für Handlungsmöglichkeiten im (beruflichen) Alltag und auch, um sich besser gegen Ungerechtigkeiten und Diskriminierung zu behaupten: »Auf alle Fälle habe ich mir vorgenommen, in Zukunft Dinge, die mir nicht in Ordnung erscheinen, anzusprechen. Arbeit darf, soll, muss nicht immer Spaß machen, aber darf nie wehtun.«   »Nie aufgeben, sich gegen ausufernde Arbeitsanforderungen zur Wehr zu setzen.«

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Hier werden Ergebnisse der Evaluierung zusammengefasst.

Prekäre Arbeit in und nach der Krise

Literatur und Quellen Beck, Ulrich. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 1986. Bergold, Jarg, und Stefan Thomas. »Partizipative Forschungsmethoden: Ein methodischer Ansatz in Bewegung« [110 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, Bd. 13, H. 1, 2012, Art. 30, htt p://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1201302. Aufgerufen am 18. Feb. 2022. Boal, Augusto. Legislative Theatre. Using Performance to make Politics, London – New York: Routledge, 1998. Boal, Augusto. Der Regenbogen der Wünsche: Methoden aus Theater und Therapie, Seelze (Velber): Kallmeyer, 1999. Boal, Augusto. Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler. Aktualisierte und erweiterte Ausgabe. Herausgegeben und aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt von Till Baumann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2013. Bohrn Mena, Veronika. Die neue ArbeiterInnenklasse. Menschen in prekären Verhältnissen, Wien: ÖGB Verlag, 2020. Castel, Robert. Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, 2008. Castel, Robert, und Klaus Dörre (Hg.). Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt – New York: Campus Verlag, 2009. Castel, Robert, und Klaus Dörre (Hg.). Einleitung. Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, hg. von Robert Castel und Klaus Dörre, Frankfurt – New York: Campus Verlag, 2009, S. 11-18. Castro Varela, María do Mar. »Prekarisierte Akademikerin = Undokumentierte Migrantin?«, in: Kurswechsel. Zeitschrift für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen, Heft 1, 2008, S. 24-33. Crouch, Colin. Gig Economy. Prekäre Arbeit im Zeitalter von Uber, Minijobs & Co, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2019. David, Evelyn (Österreichische Armutskonferenz). Armutsbetroffene und die Corona-Krise. Eine Erhebung zur sozialen Lage aus der Sicht von Betroffenen, hg. vom Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, Wien, 2021. Dörre, Klaus. »Prekarität im Finanzkapitalismus«, in: Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, hg. von Robert

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Menschen mit Behinderung in kollektiven Ausnahmeszenarien Eine existenzanalytische Betrachtungsweise Manfred Sonnleitner

Abstract Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen der alltäglichen Lebensgewohnheiten erleben zahlreiche Menschen als Erschütterung eines von Kontinuität und Planbarkeit geprägten Lebens. In diesem Zusammenhang werden jene existenziellen Grundmotivationen skizziert, die für Menschen ein Instrumentarium für ein existenziell erfülltes Leben darstellen. Es wird der Fokus auf jene phänomenologisch begründeten Voraussetzungen gelegt, die für die psychische Funktion wie auch für die personale Aktivität für eine erfüllte Existenz von Bedeutung sind. Aufbauend darauf wird spezifiziert, aus welchen Gründen die existenziellen Grundmotivationen insbesondere für Menschen mit Behinderungen unter den Lebensbedingungen der Corona-Pandemie relevant sind.   Keywords: Menschen mit Behinderung, Existenzielle Grundmotivationen, Phänomenologie, kollektive Ausnahmeszenarien, Covid-19

1.

Einleitung

Verletzungen, Leiderfahrungen und Erschütterungen sind Bestandteile menschlicher Realität. Davon bleibt wohl kein Mensch verschont. Wenn es sich dann auch noch um solch kollektive Ausnahmeszenarien wie die Corona-Pandemie handelt, hat die Warum-Frage Hochkonjunktur. Warum gerade ich? Warum trifft es mich so schlimm? Es wird beklagt, Rechenschaft verlangt, Wiederherstellung erwartet. In einer solcherart erfahrenen Existenz sind die Grundannahmen des Lebens erschüttert und die Kraft, mit dem Verletzenden umzugehen, ist partiell versiegt.

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Die Existenzanalyse liefert durch ihre phänomenologisch begründeten, vier existenziellen Grundmotivationen (u.a. Längle 1999; Längle und HolzheyKunz 2008; Längle 2016) Erkenntnisse, die sich für die Lebensführung und Gestaltung in herausfordernden Phasen des Lebens als hilfreich und orientierend erweisen. Ihren Ursprung hat sie in der Logotherapie Viktor E. Frankls (u.a. Frankl 1975), die heute als Teilgebiet der von Alfried Längle aus deren Weiterentwicklung heraus begründeten Existenzanalyse verstanden wird. Als Begründer der Existenzanalyse im heutigen Verständnis, wie sie diesem Text zugrunde liegt, wird Alfried Längle als Hauptreferenz der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der existenzanalytischen Theorie herangezogen. Heute ist sie eine in Österreich anerkannte humanistisch orientierte Psychotherapierichtung, die hauptsächlich über verbal vermittelte Prozesse verläuft (vgl. BMSGPK 2020: 20). Im Zentrum der Existenzanalyse steht dabei das phänomenologisch-personale Herangehen an nicht bewältigte Erfahrungen und richtet sich auf das geistig und emotional freie Erleben, um der Person authentische Stellungnahmen sowie einen eigenverantwortlichen Umgang mit dem Leben und der Welt zu ermöglichen (vgl. Längle 1999: 37). Ihr Ziel ist es, die Person zu einem Leben mit innerer Zustimmung zum eigenen Handeln zu befähigen, wodurch ein subjektiv erfüllendes Leben gestaltet werden kann. Diese erwähnten Weiterentwicklungen Längles stellen das ursprüngliche logotherapeutische Konzept auf eine breitere Basis, die in den Bereichen der Psychotherapie, des Coachings, der Psychohygiene oder der Pädagogik Anwendung finden (vgl. Eberwein und Thielen 2014; Kolbe 2014; Längle 2016). Die Grundlage dafür wird durch das Strukturmodell der vier existenziellen Grundmotivationen und das Prozessmodell der Personalen Existenzanalyse geschaffen. Diesen existenziellen Basistheorien zufolge steht der Mensch in einer dialogischen Beziehung zur Welt und zu sich selbst (vgl. Längle 2014: 39). Demnach erfolgt der Weg zur Realisierung eines existenziell erfüllten Lebens durch eine »innere« und »äußere« dialogische Auseinandersetzung mit dem Erlebten sowie einer persönlichen prozesshaften Stellungnahme zu dem Widerfahrenen, die dann die Basis für eine personal getroffene Entscheidungsfindung darstellt. Vor diesem Hintergrund erfolgt die Darstellung der vier existenziellen Grundmotivationen, auf die der Mensch notwendigerweise zurückgreifen muss, wenn er sein Leben existenziell (als das seinige) gestalten will. Die erste Grundmotivation »Dasein-Können« stellt den Weltbezug dar und gibt der Existenz ontologischen Halt. Hat der Mensch Kenntnisse über Bedingungen, Gesetze und Möglichkeiten zur Bewältigung seines Daseins in dieser Welt

Menschen mit Behinderung in kollektiven Ausnahmeszenarien

und kann er überhaupt in Übereinstimmung mit diesen sein, betrifft dies die erste existenzielle Grundmotivation (vgl. Längle 2014: 71). Durch die Frage nach der Qualität dieses Daseins »Ich lebe – mag ich leben?« (Längle 2014: 75) wird die zweite existenzielle Grundmotivation als Wertebasis für die Beziehung zum Leben charakterisiert (vgl. ebd.). In der dritten Grundmotivation wird der Bezug zu sich selbst als Basis für die Authentizität hergestellt. Hier geht es um die Frage, ob der Mensch so sein darf, wie er ist, und ob er dies in seinen Entscheidungen zu berücksichtigen vermag (vgl. ebd.: 77). »Wofür ist mein Leben gut?«, fragt die vierte Grundmotivation. Sie beinhaltet damit die existenzielle Frage nach dem Sinn des Daseins und stellt den Sinn als Perspektive des menschlichen Handelns in den Mittelpunkt (vgl. Längle 2014: 79). Das, was die Person in der existenzanalytischen Psychotherapie umzusetzen hat, um Zugang zu den genannten Ebenen zu erlangen, wird als personale Aktivität bezeichnet (vgl. Längle 2002: 4). Diese vier fundamentalen Dimensionen begründen die Existenz, sie beziehen sich auf unterschiedliche Bereiche des Lebens und erweisen sich im alltäglichen Leben vielfach als Selbstverständlichkeit: da zu sein, zu leben, man selbst zu sein, auf eine Zukunft ausgerichtet zu sein. Darauf aufbauend werden jene existenziellen Voraussetzungen diskutiert, die sowohl für die psychische Funktion als auch für die personale Aktivität in kollektiven Ausnahmeszenarien für eine erfüllte Existenz von Bedeutung sind. Da die ständige und unausweichliche Konfrontation mit den vier existenziellen Grundmotivationen jedes menschliche Sein betrifft (vgl. Längle 2014: 60), kann die Existenzanalyse, die stets mit dem persönlichen Erleben arbeitet und dabei an Unklarheiten, Verunsicherungen sowie am Verstehen der eigenen Gefühlswelt ansetzt, einen geeigneten Beitrag zur Orientierung und Hilfestellung für Menschen mit und ohne Behinderung in derartigen Ausnahmesituationen leisten. Für Menschen mit Behinderungen kann es aber aufgrund der Rahmenbedingungen, die während der Corona-Pandemie besonderen Einschränkungen unterliegen (vgl. OTS 2020) ungleich schwieriger sein, den Grad der Erfülltheit der existenziellen Grundmotivationen zu realisieren. Daher erfolgt eine existenzanalytische Auseinandersetzung mit den aus der Corona-Pandemie resultierenden herausfordernden Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen. Es wird schließlich zu jeder thematisierten existenziellen Grundmotivation die Situation von Menschen mit Behinderung in der Corona-Pandemie beleuchtet. Im Zentrum stehen dabei die Voraussetzungen der jeweiligen existenziellen Grundmotivationen: die Erfahrungen von Schutz, Raum und Halt, die Erfahrungen von Beziehung,

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Zeit und Nähe, das Erleben von Beachtung, Gerechtigkeit und Wertschätzung sowie die Bedeutung des Tätigkeitsfelds, des Strukturzusammenhangs und des Werts in der Zukunft.

2.

Die vier existenziellen Grundmotivationen

Im Rahmen phänomenologischer Forschungen (u.a. Längle 1999; Längle und Holzhey-Kunz 2008; Längle 2016) wurden nun vier existenzielle Motivationskräfte gefunden, die als konstitutive Bereiche des Lebens bezeichnet werden und die Struktur der Existenz darstellen. Nach der Existenzanalyse benötigt der Mensch diese Strukturelemente in jedem Handeln. Daher strebt er ständig danach, sich auf sie zu beziehen. Nach dieser Auffassung nehmen die Motivationsbestrebungen des Menschen Bezug zu einer oder mehreren der folgenden vier Grundmotivationen: a) b) c) d)

Dasein-Können als Grundbedingung der Existenz Leben-Mögen als Beziehungsfrage der Existenz Selbst-Sein-Dürfen als Frage nach der Person in der Existenz Handeln-Sollen als Vollzug der Existenz (vgl. Längle und Holzhey-Kunz 2008: 33f).

Einfluss nehmen diese existenziellen Grundbezüge auf die Fähigkeit, die Realität neu wahrzunehmen, den Schmerz in seiner Tragweite zu spüren und zu bearbeiten, sich vom Schmerz zu distanzieren und abzugrenzen sowie sich auf das jetzt Mögliche hin zum Guten zu orientieren. Diese vier existenziellen Grundmotivationen greifen Elemente der Existenzanalyse auf, die Viktor E. Frankl bereits im Ansatz niedergeschrieben hat. Frankl sprach von der Spannung zwischen Sein und Sollen, also von einer Grundspannung zwischen dem Sein und dem, was noch nicht ist, aber werden kann. Das Neue daran ist die primäre Zurückstellung der Sinnthematik in der Psychotherapie und die Erweiterung dieses Spannungsverhältnisses auf alle vier Grundbedingungen der Existenz zwischen Sein und Können, Sein und Mögen, Sein und Dürfen sowie Sein und Sollen. Das Ziel ist allerdings das Gleiche, welches auch Frankl in der Existenzanalyse angestrebt hatte, nämlich die Klient*innen zu einer eigenverantwortlichen und selbstgestalteten Existenz zu befähigen (vgl. Längle 1998: 281; Längle und Holzhey-Kunz 2008: 35ff; Längle 2016: 92f).

Menschen mit Behinderung in kollektiven Ausnahmeszenarien

Wie der Mensch zu einer solchen Existenz in krisenhaften Phasen, wie sie die Pandemie darstellt, finden kann, soll im folgenden Abschnitt dargestellt werden. An dieser Stelle sei gesagt, dass der Mensch auf die vier strukturell begründenden Tatsachen im Leben zurückgreifen muss, um das eigene Leben existenziell gestalten zu können und zu wollen. Die phänomenologische geistige Haltung der Offenheit ist dabei jenes Prinzip, das erforderlich ist, um sich den vier Grundstrukturen der Existenz anzunähern.

2.1

Dasein-Können als Grundbedingung der Existenz

Ängste und Verunsicherungen standen insbesondere zu Beginn der Pandemie im Vordergrund. Viele Menschen erlebten bzw. erleben diesen Ausnahmezustand nach wie vor als Erfahrung des Nichts-tun-Könnens, des AusgeliefertSeins, des Überwältigt-Seins. Diese Erfahrung führt den Menschen an jene Stelle, wo die haltgebende Struktur der Realität zur Bedrohung wird. In dieser emotional aufwühlenden Phase werden Menschen mit den Grenzen ihres Könnens und der Zerbrechlichkeit ihrer Unversehrtheit konfrontiert, die auch Momente eines Getragen-Seins beinhalten können. Alfried Längle brachte es auf den trefflichen Satz: »Auch im größten Leid hält mein Sein durch und die Welt hält ihr stand« (Längle 1999: 22). Es handelt sich dabei um ein nicht willentlich evoziertes Erleben eines Geborgen-Seins inmitten der eigenen existenziell erlebten Fragmentarität und Relativität. In dieser Ambivalenz zwischen Halt und Haltlosigkeit drängen sich dem Menschen existenzielle Fragen des Dasein-Könnens auf: Wie ist das für mich, da zu sein? Wie ist das für mich, mit einer bedrohlichen Situation, wie sie die Corona-Pandemie darstellt, konfrontiert zu sein? Wie wirkt diese Welt unter diesen Gegebenheiten auf mich? Diese Grundfragen des Seins können sich durch Gefühle des Gehalten-Werdens oder des Beschützt-Seins, aber auch durch Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Resignation äußern. Für das Aushalten und Annehmen des Gegebenen in seiner beängstigenden, schmerzhaften und bedrohlichen Form sind der Existenzanalyse zufolge schutz-, raum- und haltgebende Erfahrungen notwendig, um die Verankerung in die vorfindbare Welt und die Verbundenheit mit der eigenen Leiblichkeit zu festigen (vgl. Längle 2014: 19). Schutz erfährt der Mensch dann, wenn Erfahrungen des AngenommenSeins und insbesondere des eigenen sich Annehmen-Könnens gemacht werden. Je intensiver sich Menschen mit ihren Ängsten und Unsicherheiten von Personen angenommen fühlen oder je selbstverständlicher das

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Angenommen-Sein in der Biographie von ihnen erlebt wurde, desto aufgehobener und geschützter werden sie sich fühlen. Das Schutzerleben in der Pandemie wird aber auch durch die getroffenen politischen Maßnahmen gefestigt. Wie zum Beispiel das Tragen von Masken, das Einhalten von Abständen oder die Hygienemaßnahmen. Die Erfahrungen des Sich-Entfaltens und Wirkens nehmen Einfluss auf das Raumerleben. So benötigen Menschen physische und psychische Räume, in denen sie sich entfalten und wirken können. Vor diesem Hintergrund spielt die Körpererfahrung und die damit verbundene Atmung eine große Rolle. Die Lunge als größter Hohlraum des Körpers repräsentiert dabei den psychischen Raum und durch das Atmen wird das »Raum-Haben« unmittelbar erlebt. Jedoch benötigt der Mensch die Erfahrungen des Raum-Habens nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Insofern sind vor allem in Ausnahmesituationen Orte bedeutsam, wo der Mensch sich aufhalten kann und Platz für sein Wirken hat. Und schließlich wird die Halterfahrung durch Regelmäßigkeiten, Traditionen oder durch Rituale stabilisiert. Aber auch verlässliche und treue Beziehungen bieten Halt. Hier erleben sich Personen von anderen akzeptiert, angenommen und zugehörig. Ebenso sind es Erfahrungen des Zu-sich-Stehens, des Für-sich-Eintretens, die Halt und Sicherheit geben. Diese Erfahrung des Gehalten-Werdens vollzieht sich auf Basis eines grundsätzlichen Gefühls des Vertrauens der Welt gegenüber (vgl. Längle und Holzhey-Kunz 2008: 36ff; Längle 2021). Für die genannten Voraussetzungen des Dasein-Könnens spielen weniger die reflexiven Fähigkeiten des Menschen eine Rolle, sondern vielmehr der gefühlsmäßige Einwilligungsakt zur aktuell leidvollen Situation. Es handelt sich dabei um ein nicht willentlich evoziertes Erleben eines Geborgen-Seins inmitten der eigenen existenziell erlebten Fragmentarität und Relativität. In dieser in Krisen häufig erlebten Ambivalenz zwischen Halt und Haltlosigkeit stellt sich für viele Menschen immer wieder die existenzielle Frage: Wie kann diese zutiefst schmerzhafte Erfahrung, die das Freiheitsgefühl und Grundvertrauen ins Leben beschneiden, ausgehalten werden? An der Faktizität von krisenhaften Ereignissen kann vorerst nichts geändert werden. Daher kann das Schmerzhafte, das Erdrückende und Beängstigende vorerst nur einmal in seinem Ausmaß ausgehalten werden. Das heißt, es gilt, dem »Problematischen« einen Widerstand im Sinne eines Ertragens von (noch) unabänderlichen Situationen entgegenzustellen (vgl. Längle und Holzhey-Kunz 2008: 35).

Menschen mit Behinderung in kollektiven Ausnahmeszenarien

Im Annehmen von belastenden Bedingungen dagegen wird die Zustimmung zu dem, was ist, expliziter. In diesem Zusammenhang ist der zweifache Blick, der für die Stabilisierung der ersten Grundmotivation genannt wird, zentrales Thema. Mit dem Blick nach außen nimmt der Mensch die Möglichkeiten wahr, die ihm in dieser Situation verbleiben. Mit dem Blick nach innen richtet der Mensch seinen Fokus auf sein Können, seine Ressourcen und Kompetenzen, um mit dem Widerfahrenen zurechtzukommen. Zentral bei diesem zweifachen Blick ist die phänomenologische Haltung. Es ist ein »sich hineinversetzendes, gleichsam liebevolles, interessiertes« (Längle 2009: 72) Schauen auf das Wahrgenommene. In dieser Zeit des geistigen Schauens soll das Vorwissen, sollen die Vorurteile vorläufig beiseitegestellt werden. Vergleichbar mit der »Selbst-Distanzierung, ein Absehen von sich selbst, um sich freizumachen für die Selbst-Transzendenz« (ebd.). Anders ausgedrückt: Das Erlebte soll vorurteilsfrei wahrgenommen werden und der daraus generierte empfundene Eindruck soll schließlich mit aller Information, allem Wissen, die man über diese Situation und ihre Zusammenhänge hat, verbunden werden, um den notwendigen schützenden, haltgebenden Raum zu erfahren (vgl. ebd.: 71ff).

Schutz-, Raum- und Halterfahrungen von Menschen mit Behinderung Das durch Kontakt- und Ausgangssperren eingeschränkte elementare Bedürfnis nach Begegnung und Austausch stellt für Menschen mit Behinderung wohl den einschneidendsten Nachteil dar, der durch den Wegfall gewohnter Tagesstrukturen, Betreuungs- sowie Pflegeangebote noch verstärkt wird. Insbesondere bei Menschen mit psychosozialer Behinderung oder eingeschränkter Mobilität hat diese mit den Lockdowns einhergehende Isolation und die daraus folgende Einsamkeit zu einer allgemeinen Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes geführt (vgl. OTS 2020). Wenn nun der Präsident der deutschen Bundes-Psychotherapeuten-Kammer Dr. Dietrich Munz betont, dass bei psychisch Gesunden »Angst und Niedergeschlagenheit die häufigsten Reaktionen auf eine Pandemiesituation« sind (BPtK 2020), müsste dies für Menschen mit Behinderungen umso mehr gelten, da sie existenziell auf sozialen Kontakt und fremde Hilfe angewiesen sind. Daher fordert der Präsident der deutschen Bundes-Psychotherapeuten-Kammer spezielle Schutzkonzepte für Angehörige von Risikogruppen, die ihnen ein Aufgehoben-Sein durch den Austausch mit und die Beziehung zu anderen Menschen ermöglichen, um dadurch den von Isolation und Einsamkeit aus-

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gehenden Risiken für die psychische Gesundheit entgegenzuwirken. Es sei wichtig, eine Verbindung zwischen körperlicher Distanz und sozialer sowie emotionaler Nähe und Unterstützung zu schaffen (vgl. ebd.). So können Angst oder das Nicht-gestillt-Werden von elementaren Bedürfnissen wie die soziale sowie emotionale Nähe zu anderen Menschen, die ihm innewohnende Neigung zur Regression verstärken. Kennzeichnend dafür ist ein affektives Erleben, die Abnahme von rational-kognitiven Fähigkeiten oder die Suche nach einer haltgebenden Gruppenzugehörigkeit. In Quarantänesituationen ist daher besonders auf eine ausgewogene persönliche Zeit- bzw. Tagesstruktur, auf ausreichend Bewegung oder auf die Aufrechterhaltung wichtiger Sozialbeziehungen zu achten (vgl. Vogel 2020: 7f). Auch für die Existenzanalyse haben, wie bereits ausgeführt, Beziehungen, Tagesstrukturen oder sportliche bzw. körperliche Aktivitäten eine elementare Bedeutung. Sie fördern das Vertrauen in die eigenen innewohnenden Ressourcen zur Förderung der ersten existenziellen Grundmotivation. Jedoch genügt es aus existenzanalytischer Perspektive nicht, getroffene Maßnahmen für das Schutz-, Raum- und Halterleben von außen »nur« entgegenzunehmen. Stattdessen wird ein interaktionistischer Zugang gewählt, in dem die folgende Frage im Zentrum steht: Wie geht der Mensch mit den Fakten um, was macht er daraus und wie kann er sich selbst restrukturieren? Charakteristisch für diesen Zugang ist, entsprechend der ersten existenziellen Grundvariable, die absichtsvolle Aufmerksamkeitslenkung auf die eigenen erlebten Wahrnehmungsphänomene mit dem Bemühen, diese mit genügend Distanz zu beobachten, ohne sich in ihnen zu verlieren, sie zu verdrängen oder sie zu unterdrücken (vgl. Längle 2016: 90ff). Vor diesem Hintergrund konstatiert die Achtsamkeitsforschung (vgl. Anderssen-Reuster und Altner 2009), dass die Person durch das Praktizieren der Achtsamkeit immer vollständiger ihre inneren und äußeren Lebensbedingungen sowie die Verwobenheit und Bezogenheit menschlicher Interaktionen erkennt. Worauf es ankommt, ist die volle Präsenz oder das Offen-Sein für die eigenen psychisch-emotionalen Bedingungen und die jeweiligen Umfeldfaktoren. Diese Form der dialogischen Offenheit der Person zu sich selbst und zur Umwelt hin wird in der Existenzanalyse auch als charakteristisches Merkmal für eine erfüllte Existenz bezeichnet. Demnach beruht Menschsein nicht nur auf dem sich veräußernden (d.h. sich nach außen richtenden) Umgang mit der Welt, sondern auch auf dem Umgang mit sich selbst. Martin Buber (1983: 18) drückt das folgendermaßen aus: »Die Verschmelzung kann nie durch mich, kann nie ohne mich geschehen.

Menschen mit Behinderung in kollektiven Ausnahmeszenarien

Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung«. Der Mensch kann sich offenbar nur mithilfe anderer Menschen weiterentwickeln. Denn nur durch den dialogischen Austausch mit der Welt erhält die Person Anregungen für die Entwicklung ihrer Innerlichkeit.

2.2

Leben-Mögen als Beziehungsfrage der Existenz

Die zweite Bedingung – das Leben-Mögen – bezieht sich auf die Distanz oder Nähe zur subjektiven Erfahrung auf den Grad des inneren Beteiligt-Seins, die emotionale Besetzung und die Bewertung dessen, was geschieht. Damit wird insbesondere die Fähigkeit des Menschen, sich selbst etwas oder jemandem zuzuwenden, angesprochen. Es geht hier vor allem um die Beziehung zu erlebbaren Werten und um ihr emotionales Erfassen. Denn die Amplitude der Emotionen schlägt gleich weit in beide Richtungen aus – nach dem Motto: »So sehr, wie wir uns freuen können, so tief können wir auch leiden« (Längle und Holzhey-Kunz 2008: 40). Diese Bandbreite des emotionalen Erlebens bildet das Fundament für das Leben-Mögen. Fragen dazu können lauten: Mag ich leben? Ist es für mich gut, da zu sein? Mag ich das Leben als Mensch mit Behinderung? Insbesondere sind es Erfahrungen von Leid, Belastungen oder auch eines unachtsam geführten Lebensstils, die das Spektrum des emotionalen Erlebens und damit die Lebensfreude beeinträchtigen können. Nach Alfried Längle haben depressive Verstimmungen durch die Quarantäneszenarien und die damit verbundenen Konsequenzen der Isolierung und Vereinsamung deutlich zugenommen (vgl. Längle 2021). So belegen Studien, dass durch die Dauer der Isolierung die Prävalenzrate von Ängsten und Depressionen steigt (vgl. Vogel 2020: 11ff). Depression wird existenzanalytisch als Gefühl einer gestörten Beziehung zum Leben gesehen, mit der Konsequenz, dass der Wert des eigenen Lebens nicht mehr empfunden werden kann und sich in weiterer Folge psychodynamische Schutzreaktionen wie Rückzugsverhalten oder Entwertungstendenzen ausbilden können, die dann schließlich in eine depressive Störung münden (vgl. Längle 2016: 172ff). Dies stellt den Menschen vor die Frage, wie das Leben mit dem Verlust von Lebenswerten weitergehen kann. Wendet man sich diesem Wertverlust zu, so wird damit das Gefühl der Trauer mobilisiert. Und erst durch den Trauerprozess, durch die gefühlsmäßige Zuwendung zum Erlebten, wird das Leben selbst fühlbar »in Form von auftretenden Gefühlen und Tränen« (Längle 2016: 106). Das führt zur Mobilisierung von Ressourcen und Kräften, die es einem ermöglichen, das Leben auch unter diesen schwie-

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rigen Verhältnissen auf sich zu nehmen. Für die Existenzanalyse hat die »Dechiffrierung der Gefühle« daher eine elementare Bedeutung. Sie erfassen essenzielle Bereiche im Leben, die mit dem im Leben empfundenen Wert, dem »Leben-Mögen« in Beziehung stehen (vgl. ebd.: 105ff). Nach der Existenzanalyse kann an drei Voraussetzungen angeknüpft werden, um das Leben-Mögen zu erfassen: Beziehung, Zeit und Nähe. Mit Beziehung ist die innere gefühlsmäßige Zuwendung zu sich selbst und zu anderen gemeint. Das heißt, es geht sowohl um die emotionale Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die eigenen Anliegen und Bedürfnisse als auch um die gefühlsmäßige Beziehungsaufnahme zu den aktuellen Anforderungen im Leben. Mit der Zeit wird die eigene investierte Lebenszeit, die emotionale Resonanz zu sich, zu anderen Personen oder Dingen angesprochen. Mit Nähe ist das emotionale Berührt-Werden gemeint. Wenn sich Menschen ihren Verlusten, aber auch ihren schönen und angenehmen Dingen zuwenden, so sind damit Gefühle verbunden, die kraftvoll, angenehm oder beängstigend sein können. Und es gilt, sich der ganzen Palette an Gefühlen zu widmen (vgl. Längle und Holzhey-Kunz 2008: 42ff). Das Arbeiten an diesen drei Bedingungen schafft die Grundlage, um die Beziehung zu anderen Menschen, zu den eigenen psychodynamischen Mustern und zur vitalen Kraft des Leben-Mögens lebendig zu halten. Jedoch muss die existenzielle Basis, die Annahme des Faktischen, stabil genug sein, um sich den Gefühlsstürmen auszusetzen. Dann kann zu den veränderten Bedingungen eine positive und lebensbejahende Einstellung heranreifen.

Erfahrungen von Beziehung, Zeit und Nähe von Menschen mit Behinderung Die Corona-Krise hat den Menschen verdeutlicht, welch hohen Stellenwert der persönliche Austausch und das selbstbestimmte Leben in Gemeinschaft haben. Strukturen, die diese Form von Begegnungen und Beziehungen ermöglichen, sind unerlässlich für die psychische Gesundheit von Menschen mit und ohne Behinderung (vgl. OTS 2020). In einer 2020 von der Austria-Presse-Agentur veröffentlichten Aussendung der Caritas wurde von Dr. Daniel Pateisky von der Universität Wien als Mitglied der Monitoringstelle für die Rechte von Menschen mit Behinderungen die Verschlechterung der Gesundheit bei Menschen mit Mobilitätseinschränkungen oder psychosozialen Behinderungen, die mit Isolation und Einsamkeit in Zusammenhang

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stehen, aufgezeigt. Diesbezüglich wird der besondere Stellenwert des persönlichen Austauschs, der Selbstbestimmtheit im gemeinschaftlichen Leben und damit von Strukturen, die diesen persönlichen Austausch für Menschen mit Behinderungen möglich machen, betont. Insgesamt wird in dieser Aussendung deutlich, wie wichtig die persönliche Assistenz und damit die soziale Interaktion für Menschen mit Behinderungen in der Corona-Krise ist (vgl. ebd.). Zahlreiche Expert*innen (u.a. Gahleitner 2017; Hüther et al. 2008) betonen daher in unterschiedlichen Nuancierungen die Notwendigkeit eines Raumes stabiler Beziehungen. In solchen Beziehungen wird eine soziale Realität konstruiert, die durch Erfahrungen, Bedeutungen, Erwartungen und Einschätzungen der Interaktionsbeteiligten geprägt wird. Das heißt, Beziehung entsteht bereits durch das Gewahrwerden des anderen und durch das Bezogen-Sein auf sich selbst. Die Existenzanalyse spricht in diesem Zusammenhang von einem basalen, durchgängigen »Bezogen-Sein« zwischen den Interaktionspartnern. Beziehung ist demnach ein zwischenmenschlicher Prozess, der sich aus dem eigenen Verhalten anderen Personen gegenüber sowie aus den damit in Verbindung stehenden wechselseitigen Erfahrungen ergibt (vgl. Bauer 2010: 6). Zugleich haben gelingende Beziehungen eine motivierende und gesundheitsstabilisierende Funktion. Zahlreiche Studien belegen diesen Zusammenhang (vgl. Gahleitner 2017: 105ff). So sind Menschen »ohne ein Netzwerk an anderen Menschen, die sich über Sprache, körperliche und soziale Zuwendung begegnen, kaum überlebensfähig« (Straus 2008 zit.n. Gahleitner 2017: 265). Von sozialer Isolation und Einsamkeit gehen daher innere Belastungs- bzw. Risikofaktoren aus, psychische Erkrankungen infolge der COVID-19-Pandemie zu erleiden. Ein erhöhtes psychisches Erkrankungsrisiko besteht überdies, wenn während der Corona-Krise traumatische bzw. kritische Ereignisse durchlebt werden. Dazu kann für Menschen mit Behinderungen der Wegfall an Assistenzoder/und Betreuungsangeboten zählen (vgl. United Nations 2020; Brookes et al. 2020 zit.n. Stocker et al. 2020: 5). Umso bedeutender ist es, in solchen Phasen der psychischen Labilität wichtige Sozialbeziehungen aufrechtzuerhalten. Die Qualität solcher Beziehung wird durch die Distanz oder Nähe zur subjektiven Erfahrung, durch den Grad des inneren Beteiligt-Seins, die emotionale Besetzung und die Bewertung dessen, was geschieht, bestimmt. Das heißt, in Begegnungen ist auf eine offene und interessierte Haltung für die Anliegen, Gefühle und Empfindungen des anderen zu achten, mit ihm*ihr in Resonanz zu kommen und im dialogischen Austausch sich über die Empfindungen und Wahrnehmungen

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auszutauschen. Auch wenn der Mensch für sich richtige und eindeutige Lösungen in dieser offenen dialogischen Haltung auf existenzielle Themen zu finden versucht, ist das Ziel, »Zweideutigkeiten« bzw. die ambivalenten emotionalen Erlebnisweisen auszuhalten und das Lebendig-Sein als das Empfinden von Freude und Leid etc. zu erkennen (vgl. Vogel 2020: 34f; Längle 2016: 104). Wilhelm Schmid beschreibt es als ein »Atmen zwischen den Polen des Positiven und Negativen« (Schmid 2007: 30). Und erst diese Bandbreite an Erfahrungen vermittelt dem Menschen den Eindruck, lebendig zu sein, sich in seiner Ganzheit zu spüren und die Paradoxien und Diskrepanzen im Leben als das zu sehen, was sie sind: Phänomene, die sich in den Gegensätzlichkeiten und Widersprüchlichkeiten im Leben immer wieder aufs Neue zeigen.

2.3

Selbst-Sein-Dürfen als Frage nach der Person in der Existenz

Die dritte Grundfrage der Existenz fragt nach der Person, nach der ganz persönlichen, individuellen Note im eigenen Leben: »Habe ich das Recht, so zu sein, wie ich bin, und mich so zu verhalten, wie ich mich verhalte?« (Längle und Holzhey-Kunz 2008: 46). Die Anerkennung der ganz spezifischen Art und Weise des Erlebens, Denkens, Fühlens und Handelns ist Ausdruck dieser dritten Motivationsebene. In erster Linie geht es darum, die eigene individuelle Note im Leben zu finden, sich mit dem eigenen Tun zu identifizieren und es zum Ausdruck zu bringen. Das heißt, die Person muss zum wahrgenommenen Erlebnis ihre Einschätzung und ihr Urteil suchen, so bleibt die Person »in Kontakt zu ihrem eigenen inneren Grund und kann damit dem Einfluss des anderen standhalten, ihm das Eigene entgegenhalten« (Längle 2016: 112). Die Folgen der Quarantäne haben aber diesen Selbstwerdungsprozess erschwert. Im Februar bzw. März 2021 ist die vermehrte Zunahme von aggressiven Verhaltensweisen – die Existenzanalyse spricht von hysterischen Reaktionen – registriert worden (vgl. Vogel 2020: 26f). Diese Form von Reaktionen ist mit einer labilen Affektivität, einer erhöhten Kränkbarkeit und einem ausgeprägten Verlangen nach Anerkennung verbunden. Die Konsequenz ist das Verlangen nach »Ungebundensein«, die Uneinsichtigkeit, Grenzen zu akzeptieren, und das Einsetzen von manipulativen Verhaltensstrategien, verbunden mit dem Streben nach Anerkennungssuche. Es ist das »Leiden am nicht gefundenen Personsein«, an dem zusammengefasst die Themen der Freiheit, des Selbstwerts und die Abgrenzung gegenüber anderen beteiligt sind (vgl. Längle 2016: 180f).

Menschen mit Behinderung in kollektiven Ausnahmeszenarien

Wiederum gibt es drei Voraussetzungen, um das Person-Sein, das SelbstSein-Dürfen zu entwickeln: Beachtung, Gerechtigkeit und Wertschätzung. Mit Beachtung wird die Notwendigkeit angesprochen, dass für die Ausbildung des Selbst-Sein-Dürfens die Person Aufmerksamkeit durch andere sowie durch sich selbst erhält. So versuchen Personen in belastenden Phasen des Lebens eine stimmige Passung mit der nun fragmentierten und widersprüchlich erlebten Welt und den eigenen Motiven, Interessen und Überzeugungen herzustellen. Die Beachtung durch andere, an die sich die Beachtung durch sich selbst anschließt, nimmt auf diesen Prozess Einfluss. Denn Informationen, die man durch andere erhält, sind bedeutend für das generierte Bild von sich. Gefördert wird damit die Individualität, die Einmaligkeit und Einzigartigkeit der Person. Gleichzeitig wird durch dieses »Gesehen-Werden« die Ich-Grenze geschützt, weil dadurch die Unverwechselbarkeit der Person und die Verschiedenheit von anderen zum Ausdruck kommen. Gerechtigkeit verweist auf das gegenseitig gerechte Behandelt-Werden. Ungerecht behandelt zu werden, schmerzt jeden Menschen. Zu sehen, dass man ein Recht zum eigenen »So-Sein« hat, dass man anderen etwas bedeutet, ermöglicht ein authentisches, gerechtes Handeln. Werden Personen demgemäß gerecht behandelt, wird die Basis für die Authentizität, die Ethik und das Gewissen gelegt: Authentizität ist die Bezugnahme zum gespürten Echten in sich. Ethik meint das Gefühl für das Richtige für einen jeden, für das, was einem entspricht und einem zusteht. Und Gewissen bezeichnet die Resonanzfähigkeit mit dem eigenen Wesen, ein Gefühl für sich selbst (Selbstentfaltung) (vgl. Längle und Holzhey-Kunz 2008: 49). Und schließlich bezieht sich die Wertschätzung auf die persönliche Stellungnahme zur eigenen Person, in der es um eine Anerkennung der Person in ihrem Wert geht. Gleichzeitig erhält die Person aber auch durch andere eine Einschätzung darüber, was sie von ihr halten oder wie sie von ihnen beurteilt wird. Ein hohes Selbstwertgefühl unterstützt dabei die konstruktive und bewältigende Verarbeitung von Belastungen. Eine Verletzung des Selbstkonzepts und Selbstwertgefühls hingegen erschwert die konstruktive Bearbeitung von dramatischen Erfahrungen (vgl. Laireiter 1993: 184f).

Das Erleben von Beachtung, Gerechtigkeit und Wertschätzung von Menschen mit Behinderung Auf gesundheitsförderliche Schutzfaktoren und Hilfesysteme, die auch mit sozialen Kontakten in Zusammenhang stehen, sind Menschen mit Behinde-

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rung in besonders hohem Maße und auf differenzierte Weise angewiesen. Wenn das Passungsverhältnis zwischen der sie bestimmenden Situation und der sie umgebenden Welt allerdings gestört ist, die tägliche Routine dadurch beeinträchtigt wird und wichtige soziale Kontakte eingeschränkt oder unmöglich gemacht werden, führt dies vielfach zu psychischen Belastungen. Hinzu kommt noch, dass die Gestaltung des Alltags von Menschen mit Behinderung ohnehin oft von Beeinträchtigungen bzw. von vermehrten Anstrengungen zur Bewältigung alltäglicher Aufgaben gekennzeichnet ist (vgl. Monitoringausschuss 2021: 28). Diese Faktoren und der durch die Pandemie nach wie vor zu registrierende »Ausnahmezustand« führen zu einer existenziellen Krise, die die psychische Gesundheit und Selbstwirksamkeitserwartung von vielen Menschen in einem hohen Maße strapaziert (vgl. Vogel 2020: 20f). Daher werden existenzielle Krisen auch als »Krisen der Gesamtidentität« bezeichnet. Ein Selbstfindungsprozess, der sich zwischen dem Unvorhersehbaren, Unkontrollierbaren und damit auch dem Erschreckenden, Beängstigenden und dem Prognostizierbaren, Sicheren, Vertrauten und damit auch dem Kontinuierlichen, Gewohnheitsmäßigen abspielt. Demnach können die Krisenbewältigung und der damit in Verbindung stehende Prozess der Identitätsfindung durch ein Wechselspiel von »propulsiven und regressiven Kräften« charakterisiert werden (vgl. Vogel 2020: 21). Es ist eine lebenslange, schwer zu realisierende Aufgabe, aus diesem Antagonismus die Identität immer wieder aufs Neue zu bilden. Denn die Akzeptanz eigener Schwächen, Fehler und Begrenzungen und die Erwartungshaltung anderer sowie die in der Corona-Pandemie einflussnehmenden existenziellen Grundparameter wie Tod, Sinn, Einsamkeit und Freiheit sind belastende Erfahrungen, die den Identitätsfindungsprozess erschweren. Dennoch fordern Krisenereignisse den Menschen heraus, die beiden »scheinbar« widersprüchlich erlebten Gegensätze von Hoffnung und Verzweiflung zu überwinden. Um in der Konfrontation mit dem Unvertrauten die jeweilige Einzigartigkeit, Unverwechselbarkeit und zugleich Verschiedenheit von anderen zu finden, ist an der Selbsterkenntnis und an der Selbstgestaltung, die an der Bildung der Identität, dem »Selbst-sein-Dürfen« beteiligt ist, anzusetzen. Denn in Zeiten existenzieller Krisen ist der ganz eigene Lebensstil – und das trifft auf Menschen mit Behinderung besonders zu – zumeist nicht mehr aufrechtzuerhalten und es bedarf des Ausfindig-Machens von neuen Lebensweisen (vgl. Längle 2016: 113; Vogel 2020: 27). Den Schlüssel für diesen Prozess der Selbstfindung sieht die Existenzanalyse »in der Aktivierung

Menschen mit Behinderung in kollektiven Ausnahmeszenarien

der Person«. Es handelt sich dabei um ein Vorgehen, das die im Menschen vorhandenen Ressourcen durch eine sogenannte »teilnehmende Präsenz« anzusprechen und zu mobilisieren versucht. Diese Form der Begegnung baut auf den bereits angeführten Grundvariablen der dritten existenziellen Grundmotivation auf: Dass sich Personen von anderen beachtet, gerecht behandelt und wertgeschätzt fühlen, gilt es, eine achtsame, empathische und Stellung beziehende Position einzunehmen. Achtsam zu sein meint das Ernst-genommen-Werden, die Offenheit für das Du des anderen, »zu sehen, was diese Person ausmacht«. Empathie ist die Fähigkeit, das innere Bewegt-Sein des anderen zu erfassen. Und die Stellungnahme bezieht sich auf den stimmigen und wertschätzenden Ausdruck, auf das Gehörte in der personalen Begegnung. Durch diese drei Faktoren wird das »Selbst-SeinDürfen« der Person immer wieder aufs Neue aktualisiert. Insofern brauchen wir andere Menschen, die uns ernst nehmen, die mitfühlen oder uns in unserem So-Sein gerecht und wertschätzend begegnen (vgl. Längle 2014: 17ff). Ziel ist die Entwicklung eines authentischen Selbst-Seins, welches in einem dynamischen Person-Umwelt-Wechselspiel neu erprobt und erweitert wird. Und für Identitätskrisen, Sinnkrisen und Teilhabeprobleme, die insbesondere nach krisenhaften Erfahrungen virulent werden, gilt dies in einem besonderen Maße.

2.4

Handeln-Sollen als Vollzug der Existenz

Sind die ersten drei Grundmotivationen, das Dasein-Können, das WertseinWollen und das So-Sein-Dürfen entsprechend ausgebildet, ist der Mensch schließlich bereit, sich den Anforderungen der vierten Grundmotivation, dem Handeln-Sollen, zu widmen. Sie stellt den Menschen vor eine existenzielle Frage: Was soll in meinem Leben entstehen, mit meinem Leben, aus meinem Leben und durch mich in meinem Leben? Die Aufgabe ist es, sich mit den vorhandenen Mitteln und Fähigkeiten an der Welt mit ihren Bedingungen aktiv zu beteiligen (vgl. Längle und Holzhey-Kunz 2008: 53). Dabei gilt es, einen Sinn dafür zu entwickeln, was jetzt an Entwicklung ansteht, was jetzt durch die Person werden könnte und vielleicht für die Gesamtheit gut wäre. Aus existenzanalytischer Sicht ist dieser Prozess auf die Generierung von Antworten auf die Frage nach dem Wozu bzw. auf Aktion angelegt. »Denn erst im Vollzug, durch Tat und Handlung, wird Existenz real« (ebd.: 54). Diese Antworten drücken sich in einer Abstimmung mit der aktuellen Situation und dem, was in ihr werden soll, aus. Entscheidend dafür ist, ob der

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Wert des Ereignisses erfasst und die eingeschlagene Richtung als stimmig erlebt wird. Gemäß der Aussage von Friedrich Nietzsche: »Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie« (zit.n. Frankl 1977: 124). Ausgedrückt wird damit, dass das eigene Lebensziel, das »Warum«, einem Bewusstmachungsprozess unterzogen werden sollte, um dem »Wie« des gegenwärtigen Daseins begegnen zu können. Nach dieser Fragerichtung sind die Fakten selbst weniger wichtig als das Verhältnis bzw. die Einstellung zu ihnen. Durch eigene Deutungen und Reflexionen kann das Ereignis dann in einen Sinnzusammenhang gestellt werden. Denn das »Sinnhafte eines Geschehens liegt bekanntlich nicht in dessen Eigenschaften selbst, sondern erschließt sich erst dem deutenden Blick« (Filipp und Aymanns 2010: 180). Ein »sinnvolles Handeln« wird aus existenzanalytischer Perspektive dann wieder möglich, wenn der Mensch an den folgenden drei Voraussetzungen arbeitet: Tätigkeitsfeld, Strukturzusammenhang und Wert in der Zukunft. Das Tätigkeitsfeld bezieht sich auf die Aufgabenbereiche des Menschen, die ihn interessieren oder für die er zuständig ist. Dies können familiäre, berufliche oder andere Interessensgebiete sein, in welche die Aktivität eingebracht wird. Denn wenn sich Menschen mit Behinderung in ihrem Handeln gefragt, gefordert und benötigt fühlen, gibt dies dem Leben eine Orientierung. Außerdem hat dies eine eminent psychotherapeutische und psychohygienische Bedeutung. In der Pandemie ist es daher wesentlich, Rahmenbedingungen und Schutzmaßnahmen aufzubauen und anzubieten, um die Bereitschaft von Menschen zu fördern, »sinnvolle« Taten und Handlungen zu setzen. Mit dem Strukturzusammenhang wird die Bedeutung der Tätigkeit in ihrem Kontext angesprochen. So kann beispielsweise die Beschäftigung mit einem Thema (Musik, Sprache, Computer) in strukturellem Zusammenhang mit einem beruflichen, ehrenamtlichen oder freundschaftlichen Engagement stehen und deren Ausübung für die Betroffenen eine subjektiv hohe Bedeutung besitzen. Dabei ist in sozialen Begegnungen das Handeln der Menschen hervorzuheben. Denn jegliches Tun ist in größere Zusammenhänge eingebettet und spiegelt den Grad der Dazugehörigkeit zum Leben. Der Wert in der Zukunft verweist auf den Sinn- und Bedeutungsgehalt einer Aktivität. Denn sinnvoll wird eine Handlung erst dann, wenn der Kontext, in den man sein Engagement stellt, als befruchtend und wertvoll empfunden wird. Die Bemühungen sollen sozusagen auf eine Wertsteigerung, zumindest aber auf eine Werterhaltung hinauslaufen (vgl. Längle und Holzhey-Kunz 2008: 53ff). Ansonsten hat es »wenig Sinn, den Stein des Sisyphus den Berg

Menschen mit Behinderung in kollektiven Ausnahmeszenarien

hinaufzuschaffen, wenn er immer gleich wieder zu Tale rollt und alle Mühe auf nichts hinausläuft« (ebd.: 55). Das heißt, in der Auseinandersetzung mit den Sinninhalten sollen Menschen mit Behinderung befähigt werden, ihr Verhalten in konkreten Situationen und an Orten der eigenen Lebenswelt zu überdenken und auszubauen. Sie sollen bestärkt werden (wieder) handlungsfähig oder noch handlungsfähiger als bisher zu werden und zu einem eigenverantwortlichen und selbstgestalteten Tun zu gelangen. Allerdings fordern die einzelnen Voraussetzungen das Tätigkeitsfeld, der Strukturzusammenhang und der Wert in der Zukunft von der Person die Bereitschaft, sich dem eigenen Leben hinzugeben, sich mit aller Entschiedenheit und innerlicher Entschlossenheit zu involvieren.

Die Bedeutung des Tätigkeitsfelds, des Strukturzusammenhangs und des Werts in der Zukunft von Menschen mit Behinderung Eine große Frage des Menschen ist die Frage nach dem Wozu. Vor allem wird die Suche nach der Intention des aktuell Vorhandenen dann virulent, wenn es um den Sinn von Leid, Verlust oder Tod geht. Das fordert vom Menschen eine Stellungnahme, ob er trotz existenzieller Krisen am Leben aktiv partizipieren möchte, gemäß der Frage: Was verlangt der Tag, die Situation, das konkret Erlittene von mir? Für wen oder was will ich mein Engagement einsetzen, die Zeit, die Kraft aufbringen? (vgl. Längle 2016: 118) Dabei ist der Mensch angefragt, ein Passungsverhältnis zwischen sich selbst und seiner sozialen Welt bzw. der äußeren Welt zu finden, sich also in Übereinstimmung mit der Situation zu bringen. Werden die Erlebnisse oder Eindrücke (aus der Innen- und Außenwelt) nicht entsprechend verarbeitet bzw. findet keine stimmige Passung zwischen innen und außen statt, können psychodynamische Schutzreaktionen ausgelöst werden und damit die psychische Gesundheit beeinflussen (vgl. ebd.: 21ff). Die Intensität und Häufigkeit der Belastungen (Stressoren) sowie die Verfügbarkeit von Ressourcen (Schutzfaktoren) sind dabei ausschlaggebend, wie mit Belastungssituationen und deren negativen Wirkung umgegangen wird (vgl. Blaser und Amstad 2016: 16). Jedoch haben die Eingriffe des Staates in die Grundrechte der Bevölkerung mit dem Ziel der Eindämmung der COVID-19-Pandemie, die Selbstbestimmung und Selbstständigkeit von Menschen mit Behinderung durch das Fehlen spezieller Schutzkonzepte und durch den nicht in vollem Ausmaß in Anspruch zu nehmenden Assistenzbedarf und damit wichtigen sozialen Kontakten massiv eingeschränkt. Es kommt zu gesundheitlichen Einbußen dieser Risikogruppe

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und damit zur Entstehung zusätzlicher Belastungssituationen (vgl. Monitoringausschuss 2021: 34). Die soziale und emotionale Nähe der Menschen zu ihren Mitmenschen stellt dabei einen zentralen Aspekt gesellschaftlichen Zusammenhalts dar und ist für die Erhaltung oder Erlangung von psychischer Gesundheit in Krisenszenarien bedeutsam (vgl. Kühne et al. 2020: 12). Ob Menschen optimistisch der Zukunft entgegenblicken, hängt der Existenzanalyse zufolge von dem gemeinsamen Ausfindig-Machen der in den Gegebenheiten enthaltenen Spielräume ab, gemäß der Grundvariablen der vierten existenziellen Grundmotivation. Im Fokus steht die Frage, ob Menschen aus der vorherrschenden Situation einen existenziell bedeutsamen Sinn generieren können bzw. ob der Mensch in der Lage ist, aus der kollektiven Konstellation des Krisenszenarios ein relevantes übergeordnetes Ziel zu finden. Entscheidend für das Gelingen dieses Schrittes sind soziale Begegnungen und der in den Begegnungen zu realisierende Sinn, indem der Einklang von Wissen, Gefühl und Handeln im Zentrum des Prozesses steht (vgl. Längle 2014: 22f). Für dieses Herangehen ist die phänomenologische Haltung der Offenheit bedeutsam. Sie verlangt vom Menschen, »sich selbst als einen Befragten, seine eigene Existenz als ein Gefragt-Werden« (Frankl 1975: 41) zu interpretieren. Das Widerfahrene muss sozusagen in Beziehung mit sich gebracht werden, um sich von der Situation anfragen zu lassen und eine für sich stimmige Antwort zu finden. Daher ist der existenzielle Sinn nicht mit Wünschen oder Reagieren zu verwechseln und kann nur in einer aktiven Auseinandersetzung mit dem Leben und Dasein erfüllt werden (vgl. Längle 2016: 122f).

3.

Resümee

Im Zentrum des vorliegenden Beitrages stehen Erkenntnisse der Existenzanalyse, die sich für die Lebensführung und Gestaltung in herausfordernden Phasen des Lebens von Menschen mit Behinderung als hilfreich und orientierend erweisen. Die daraus resultierende Vorgehensweise legt dabei den Blick auf den Menschen mit seinen Potenzialen und seinen Möglichkeiten und betont dabei das je Einmalige, Persönliche und Einzigartige jedes Menschen. Den zentralen Begründungsrahmen für diesen personalen Ansatz stellen phänomenologische Forschungserkenntnisse dar, und zwar das von Alfried Längle entwickelte Modell der existenziellen Grundmotivationen. Es verweist auf vier anthropologisch begründete Themen, mit denen sich der Mensch bzw.

Menschen mit Behinderung in kollektiven Ausnahmeszenarien

der Mensch mit Behinderung auseinanderzusetzen hat, um Antwortmöglichkeiten auf die existenziellen Fragen des Lebens zu finden. Wie zu Beginn bereits ausgeführt, betrifft die ständige und unausweichliche Konfrontation mit den vier existenziellen Grundmotivationen jedes menschliche Sein (vgl. Längle 2014: 60). Die Auseinandersetzung mit ihnen betrifft also Menschen ohne Behinderungen gleichermaßen wie Menschen mit Behinderungen. Dennoch sind Menschen mit Behinderungen, wie die Ergebnisse zeigen, in ihrem Leben auf jene Rahmenbedingungen, die während der Corona-Pandemie besonderen Einschränkungen unterliegen, wie das Vorhandensein von Unterstützungsmöglichkeiten und sozialen Kontakten, in besonderem Maße angewiesen. Dabei belegen die Forschungen, dass gelingende psychosoziale Hilfeprozesse vertrauensvolle, belastbare, emotional tragfähige und langfristige Beziehungen benötigen (vgl. Gahleitner 2017: 286), um Einfluss auf die vier existenziellen Grundmotivationen zu nehmen und die Deutungs- und Bedeutungsmuster sowie die Reflexions- und Konstruktionsvorgänge von Menschen mit und ohne Behinderung in kollektiven Krisenszenarien für die Erschließung alternativer Handlungsperspektiven zu stimulieren. Die erste Bedingung, das Dasein-Können als Grundbedingung der Existenz, bezieht sich auf die feste Einbindung des jeweiligen subjektiven Erlebens in die Gegenwart; ein grundlegender Aspekt jedes phänomenologischen und achtsamkeitsbasierten Ansatzes. Es hat sich gezeigt, dass eine phänomenologische Haltung dazu beitragen kann, dem Spannungsfeld der ambivalenten Erfahrungen von Halt und Haltlosigkeit einen Widerstand im Sinne eines Ertragens von schmerzhaften Situationen entgegenzustellen. Dahingehend wird betont, dass auf Grundlage der ersten existenziellen Grundmotivation Schutzkonzepte für Menschen mit Behinderung ausgebaut werden sollen, um die Verbindung zwischen körperlicher Distanz und sozialer sowie emotionaler Nähe und Unterstützung zu schaffen. Die zweite Bedingung, Leben-Mögen als Beziehungsfrage der Existenz, bezieht sich auf die Distanz oder Nähe zur subjektiven Erfahrung, auf den Grad des inneren Beteiligt-Seins, das Interesse, die emotionale Besetzung und die Bewertung dessen, was geschieht. Damit stellt die Beziehungsfähigkeit zur eigenen Gefühlswelt und anderen Personen eine wichtige Ressource zur Bewältigung von Belastungen dar. Daher haben in kollektiven Ausnahmeszenarien soziale Beziehungen eine tragende Rolle. Durch den Wegfall von diversen Unterstützungsmaßnahmen haben Menschen mit Behinderung noch stärker auf intakte Sozialbeziehungen zu achten. Hier ermöglicht die Hal-

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tung der zugewandten Offenheit, die Intimität des anderen nicht zu stören, aber das »Auf-sich-allein-angewiesen-Sein« zu relativieren. Es handelt sich um einen dialogischen Austausch, der auf die bewusste Wahrnehmung der eigenen erlebten Wahrnehmungsphänomene abzielt, mit dem Bemühen, diese mit genügend Distanz zu beobachten, ohne sich in ihnen zu verlieren, sie zu verdrängen oder sie zu unterdrücken. Die dritte Bedingung, Selbst-Sein-Dürfen als Frage nach der Person in der Existenz, rekurriert auf zentrale identitätsbildende Faktoren, nämlich die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit der Person und die Verschiedenheit von anderen. Sie hängen mit der einzigartigen Persönlichkeitsstruktur des Menschen und dem Bild, das andere von dieser Person haben, zusammen. Das Individuum möchte von anderen Menschen beachtet und wertgeschätzt werden, um sich selbst Gestalt und Zusammenhalt geben zu können. Ein empathischer, gerechter und wertschätzend begegnender Stil fördert dabei die psychische Gesundheit und Selbstwirksamkeitserwartung von Menschen mit Behinderung, die in Quarantäneszenarien von vermehrten Anstrengungen zur Bewältigung ihres Alltags belastet sind. Und schließlich zeigt die vierte Dimension Handeln-Sollen als Vollzug der Existenz, welche Bedingungen berücksichtigt werden müssen, um trotz belastender Erfahrungen Sinn generieren zu können. Ein Sich-in-BeziehungSetzen mit den in den Situationen verfügbaren Möglichkeiten und faktischen Gegebenheiten, ein Ausfindig-Machen von Zusammenhängen und das Einfügen in diese sind jene Aktivitäten, die das Finden von Sinn ermöglichen. Dennoch sei an dieser Stelle nochmals angemerkt, dass die persönliche Anstrengung der Beteiligten nicht alleine für ein erfülltes Leben verantwortlich ist. Viele oft völlig unbekannte Variablen, wie etwa ein aktueller Pandemieverlauf, spielen hier hinein. Um in solchen Zeiten der Unsicherheit und kollektiven Irritation das Vertrauen in die eigenen, innewohnenden Ressourcen zur Gestaltung alltäglicher Lebensabläufe zu fördern, richtet die Existenzanalyse ihren Blick auf eine phänomenologische Haltung, die dem Menschen als Person in seiner Eigenständigkeit und Würde den größtmöglichen Raum zu geben versucht. Dabei wird das Finden innerer Zustimmung zum eigenen Verhalten als oberstes Ziel existenzieller Lebensgestaltung angesehen und stellt gleichzeitig einen zentralen psychohygienischen Aspekt für die Orientierung von Menschen mit und ohne Behinderung dar. Gelingt diese Form der Zustimmung, so kann es »zu einem persönlich erfüllten Leben kommen, weil die eigene Existenz so vollzogen wird, wie sie in ihrem Wesen strukturell angelegt ist« (Längle 2016: 19).

Menschen mit Behinderung in kollektiven Ausnahmeszenarien

Damit lässt sich abschließend konstatieren, dass die vier existenziellen Grundmotivationen ein Instrumentarium darstellen, das die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit der Person als auch die Bereitschaft zur Interaktion mit anderen berücksichtigt und den Menschen ermutigt, sich suchend, experimentierend und veränderungsmutig auf herausfordernde Szenarien im Leben einzulassen. Denn letzten Endes ist der Mensch »nicht einer, der zu fragen hat, sondern das Leben stellt ihm Fragen – er hat zu antworten, und zwar, indem er die Lebensfragen beantwortet – indem er sein Leben ver-antwortet« (Frankl 1975: 41).

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Menschen mit Behinderung in kollektiven Ausnahmeszenarien

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Kritischer Realismus und Ideologiekritik Zur Aktualität von Alois Riehls (1844-1924) wissenschaftlicher Philosophie als transund interdisziplinärer Vermittlungsversuch Josef Hlade und Rudolf Meer

Abstract Ausgehend von einer Analyse von Alois Riehls Metaphysik- und Ideologiekritik sowie der Netzwerke ideologiekritischer Philosophie um 1900 entwickeln wir Kriterien, um Wissenschaften und wissenschaftliche Philosophie von (Verschwörungs-)Ideologien zu differenzieren. Diese werden dann anhand aktueller Problemstellungen im Rahmen der CoronaPandemie konkretisiert und geprüft. Ziel ist eine Annäherung daran, was wissenschaftliche Philosophie ist und wie sie heute – in Zeiten der Krise – im universitären Rahmen vermittelnd agieren und damit sozialen Zusammenhalt stiften kann.   Keywords: Ideologiekritik, Metaphysikkritik, Verschwörungserzählungen, wissenschaftliche Philosophie, Corona-Krise

1.

Einleitung

Die empirischen Grundlagen sind die Basis aller wissenschaftlichen Forschung. An ihnen lassen sich Hypothesen verifizieren oder falsifizieren und damit wissenschaftliche Sätze von bloßen Scheinsätzen unterscheiden. Wissenschaft und wissenschaftliche Philosophie sind dadurch von Ideologie und Verschwörungserzählungen1 unterschieden. Erstere verbindet ein

1

Zur Differenzierung von Verschwörungsideologien, -erzählungen und -mythen siehe Teil 4.

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Josef Hlade und Rudolf Meer

kritischer Realismus2 , durch den die unterschiedlichen Wissenschaften es mit derselben Wirklichkeit zu tun haben. Aus diesem Grund können sie sich trotz divergierender Forschungsparadigmen über ihre Forschungsergebnisse verständigen. Dies ist die Basis, die bei Ideologien verschiedenster Spielarten und Verschwörungstheorien weitgehend fehlt – weil sie eben keinen Bezug zur Wirklichkeit aufweisen. Verschwörungsideologien sind keine Erfindung der letzten Jahre bzw. Jahrzehnte. Sie bilden vielmehr eine spezifische Ausprägung des Versuchs, Krisen zu erklären und Ursachen dafür zu finden. Die Corona-Krise und die damit verbundenen Schutzmaßnahmen haben in den letzten beiden Jahren dazu beigetragen, das Zeitalter des Postfaktischen (post-truth und postfactual) zu verfestigen.3 Der emotionale Affekt und die Nähe der Erklärungsmodelle zur Gefühlswelt der Zielgruppe stehen dabei über dem Anspruch auf Wahrheit von Aussagen (vgl. Zoglauer 2021). Falschmeldungen und Verschwörungserzählungen gehen dabei Hand in Hand und sind zu ständigen Begleitern geworden. Sie finden sich aber nicht nur in den oft zitierten Bubbles, sondern stellen von diesen ausgehend die Wissenschaften selbst infrage. In diesem Sinne werden sie teilweise bewusst ins Spiel gebracht, um am Erkenntniswert und der Wertfreiheit der Wissenschaften Zweifel zu schüren und Dissens unter den Wissenschaftler*innen zu stiften.4 Kritik an Verschwörungsmythen und -erzählungen ist daher wieder zu einer essenziellen Aufgabe wissenschaftlicher Philosophie geworden. An konkreten Beispielen wird in immer zahlreicher werdenden Publikationen aufgezeigt, wo einzelne Verschwörungserzählungen unglaubwürdig werden.5 We-

2

3 4 5

Realismus wird hier in seiner basalsten Weise als ontologischer bzw. metaphysischer Realismus gefasst, nach dem es eine bewusstseinsunabhängige Wirklichkeit gibt, die prinzipiell der Erkenntnis zugänglich ist. Für Definitionen des wissenschaftlichen Realismus in diesem Sinne vgl.: Smart 1963; Boyd 1983: 45-90; Devitt 1991; Kukla 1998; Niiniluoto 1999; Psillos 1999; Chakravartty 2007. Darüber hinaus lässt sich der Realismus unterschiedlich erweitern (als semantischer oder epistemischer) und auf verschiedene Gegenstandsbereiche wie Zahlen, moralische Werte, alltägliche Gegenstände etc. anwenden. Zur Bestimmung von Riehls kritischem Realismus siehe Meer 2021. Siehe dazu McIntyre 2018; Distelhorst 2019; Cosentino 2020, bei denen postfaktische Politik als Symptom von Krisen dargestellt wird. Die wichtigsten Beispiele Corona betreffend finden sich hinsichtlich der Übertragung der Krankheit und alternativen medizinischen Heilmethoden. Vgl. u.a. https://ec.europa.eu/info/live-work-travel-eu/coronavirus-response/fighting-di sinformation/identifying-conspiracy-theories_de. Aufgerufen am 21. März 2022.

Kritischer Realismus und Ideologiekritik

niger Beachtung finden dabei prinzipielle bzw. philosophische Überlegungen, die wichtig sind hinsichtlich der Fragen, wie sich Ideologien und Verschwörungserzählungen von Wissenschaften und wissenschaftlicher Philosophie unterscheiden und welche Schnittmengen sie aufweisen. Dies ist eine Aufgabe, die vor allem der Ideologiekritik als zentralem Bestandteil der Philosophie zukommt. Zentrale Argumente und grundlegende Einsichten lassen sich dabei aus der Metaphysik- und Ideologiekritik um 1900 gewinnen. Aus diesem Grund lohnt es sich, die aus philosophischer Perspektive formulierte Kritik zu rekonstruieren und für die Auseinandersetzung mit aktuellen Verschwörungsideologien fruchtbar zu machen. Bemerkenswerterweise war die Universität Graz lange Zeit ein Zentrum ideologiekritischer Philosophie.6 In dieser Hinsicht wurde vor allem die Wissenschaftstheorie von Ernst Mach, der zwischen 1864 und 1866/1867 in Graz lehrte, bereits umfangreich gewürdigt und ist noch immer Gegenstand einer lebhaften Diskussion.7 Zumeist übersehen wird dabei, dass bereits Alois Riehl – der von 1872 an außerordentlicher und ab 1878 ordentlicher Professor in Graz war – systematische Überlegungen dazu entwickelt hat, wie ideologiekritisch geschlossene Erklärungssysteme erkannt und wie dagegen vorgegangen werden kann. Riehl verwendet den Begriff wissenschaftliche Philosophie bzw. Wissenschaftstheorie überhaupt als einer der ersten und liefert eine zu seiner Zeit einflussreiche Auseinandersetzung mit Strukturen und Entwicklungen wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden (Hlade 2022). Im folgenden Beitrag werden ausgehend von einer Analyse von Riehls Metaphysik- und Ideologiekritik Kriterien entwickelt, die es erlauben, die Wissenschaften und wissenschaftliche Philosophie von bloßer Ideologie zu differenzieren. Darauf aufbauend wird im abschließenden Teil dieser Ansatz anhand aktueller Problemstellungen im Rahmen der Corona-Pandemie konkretisiert. Dies ermöglicht eine Klärung dessen, was wissenschaftliche Philosophie ist und wie sie heute – in Zeiten der Krise – im universitären Rahmen vermittelnd agieren und damit sozialen Zusammenhalt stiften kann.

6

7

Exemplarisch sei auf jüngere Forschungsarbeiten von Kurt Salamun (1988; 2000); Peter Strasser (2020; 2021) und Udo Thiel (2011) verwiesen, die diese Tradition bis heute fortgeführt haben. Vgl. zuletzt u.a. Uebel 2021: 84-102; Patton 2021: 142-163; Guzzardi 2021: 164-183; Stadler 2019: 664-670; De Paz 2018: 219-246; Gori 2018: 151-172; Wulz 2015: 59-76.

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Josef Hlade und Rudolf Meer

2.

Netzwerke ideologiekritischer Philosophie

Alois Riehl war ein Denker, der zeit seines Lebens realistische Positionen vertreten hat, von denen er im Zuge seiner philosophischen Entwicklung nur wenige aufgab, obwohl er beständig an den Grundfesten seines Realismus arbeitete. Für Riehl ist Der Philosophische Kritizismus »das Buch seiner Jugend« (Spranger und Heyse 1925: III). Die ersten beiden Bände verfasste und veröffentlichte Riehl mit Anfang/Mitte dreißig. Teilband 2.2 war für 1884 angekündigt, erschien aber erst 1887. Das philosophische Hauptwerk Riehls fällt damit in seine Grazer Phase. Die Ausarbeitung dieses Programms hat Riehl allerdings in allen philosophischen Entwicklungsphasen begleitet.8 Neben zahlreichen kleineren Publikationen – wie Der Raum als Gesichtsvorstellung (1877a), Die englische Logik der Gegenwart (1877b), Über den Begriff der Wissenschaft bei Galilei (1893) sowie Robert Mayers Entdeckung und Beweis des Energieprincipes (1900) –, in denen er Teilaspekte seines Standpunktes präzisiert, hat er über Jahrzehnte hinweg am Philosophischen Kritizismus Textänderungen angebracht, zahlreiche Erweiterungen sowie einige Aktualisierungen und Korrekturen vorgenommen.9 Gemeinsamer Nenner all dieser philosophischen Anstrengungen ist der Versuch, den im Philosophischen Kritizismus grundgelegten empfindungsbasierten Realismus auszuarbeiten. Nach Riehl geht unsere Erkenntnis von der »Wahrnehmung, also der Empfindung aus« (Riehl 1925: 30) und muss wieder zu dieser zurückführen: »Denn die Probe für die objektive Realität einer Erkenntnis ist ihre Bestätigung durch Empfindung.« (Riehl 1925: 30) Die Empfindung liegt folglich der Differenz von Selbst- und Objektbewusstsein noch voraus und bildet ihr Fundament, auf das alle Teile des Erkenntnisprozesses ausgerichtet sind. Die Wirkungsgeschichte des Philosophischen Kritizismus und der Philosophie Riehls im Allgemeinen ist insbesondere durch die spezifische Situation im Spannungsfeld zwischen Neukantianismus und Neopositivismus gekennzeichnet. Mit den sehr heterogenen Strömungen des Neukantianismus (Köhnke 1993: 213; Beiser 2014: 3) teilt Riehl einen gegen den Materialismus, Empirismus und Positivismus gerichteten Anti-Psychologismus sowie eine gegen den deutschen Idealismus gerichtete Kritik. Die besondere Betonung

8 9

Vgl. zu den Phasen der Entwicklung von Riehls Philosophie Hlade und Meer 2021: 3-54. Aus diesem Grund weichen die drei zu Lebzeiten erschienenen Auflagen des Philosophischen Kritizismus stark voneinander ab.

Kritischer Realismus und Ideologiekritik

der Empfindung als Fundament der Erkenntnistheorie rückt Riehls Philosophischen Kritizismus außerdem in ein Naheverhältnis zum Empirismus. Dabei ist seine Philosophie von großer Bedeutung für den entstehenden logischen Positivismus des Wiener Kreises (Heidelberger 2006: 227). Die gemeinsamen Schnittstellen liegen in der dezidierten Metaphysikkritik sowie den Auffassungen, dass gesichertes Wissen in den positiven Wissenschaften zu suchen ist und dass Kritik die Grundlage der positiven Philosophie bildet. Ein direkter Einfluss lässt sich zudem auf Moritz Schlicks realistische Positionierung in der Allgemeinen Erkenntnislehre (1918/25) nachweisen. Von Anfang an steht in Riehls Philosophie die Frage nach dem Zusammenhang von Philosophie und Wissenschaft im Vordergrund (Riehl 1870: 1-3; 1872b: 119-132; 1925: 257-259). Mit der Freiburger Antrittsrede (1883) erweitert er diese Problemstellung explizit um den Unterschied von wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Philosophie. In den Mittelpunkt rückt damit die Frage nach den Werten und deren Status – ein Problem, das bereits in Moral und Dogma (1872) aufgegriffen, allerdings aufgrund der negativen Resonanz nicht weiterentwickelt wurde (vgl. Hammer und Hlade 2020: 77-111). Damit gibt Riehl 1883 bereits einen Ausblick auf den abschließenden Band des Philosophischen Kritizismus. Als einer der ersten Philosophen verwendet er für diesen den Begriff der »Wissenschaftstheorie« (Riehl 1876: 337; vgl. Ferrari 2021: 180; Heidelberger 2006: 229) – der dritte Band trägt den Titel Zur Wissenschaftstheorie und Metaphysik. Zwar bleibt eine systematische Ausarbeitung von Riehls Wertephilosophie zeitlebens aus, nichtsdestotrotz finden sich über den Philosophischen Kritizismus hinaus noch in der 1902 veröffentlichten und bis 1925 zahlreich neu aufgelegten Vorlesungsreihe Einführung in die Philosophie der Gegenwart weitere Grundzüge von Riehls Position. Zudem präzisiert er diese Überlegungen auch in Von der Freiheit des Geisteslebens (1910) sowie in dem 1913 in Princeton gehaltenen Vortrag Der Beruf der Philosophie in der Gegenwart. Diese philosophischen Arbeiten zur Ideologiekritik und Wissenschaftsphilosophie entstanden als Teil eines Netzwerkes freundschaftlich miteinander verbundener Philosophen wie Bartholomäus von Carneri, Friedrich Jodl, Hugo Spitzer, Georg von Gizycki, Friedrich W. Foerster, Karl von Amira, Karl Grün, Wilhelm Jerusalem, Wilhelm Börner oder Wilhelm Bolin. Diese Gruppe von Denkern bildete ein »Zentrum einer österreichisch-bayrischen Kulturund Religionskritik« (Gimpl 1990: 118), dem bisher relativ wenig Aufmerk-

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Josef Hlade und Rudolf Meer

samkeit gewidmet wurde.10 Riehls Ideologiekritik stellt zudem eine wichtige Quelle für Vertreter*innen des Logischen Empirismus sowohl der Berliner Gruppe (u.a. Lewin 1926; 1931; Herzberg 1926a; 1926b) als auch des Wiener Kreises (u.a. Schlick 1918/1925; 1931; vgl. Heidelberger 2016: 229) dar. Darüber hinaus werden seine kritischen Konzepte nicht nur umfangreicher – etwa durch Viktor Kraft (1984; 1960: 178; vgl. Neuber 2018: 164) und seinen Schüler Ernst Topitsch (1972; 1982; 1988; vgl. Acham 2005: 50-51) – ausgearbeitet, sondern haben auch einen essenziellen Einfluss auf Max Webers Konzept der wertfreien Wissenschaft.11 In diesem Sinne formuliert Weber paradigmatisch: »Wenn Kant wiederkäme, dann würde er wohl Riehls Art zu philosophieren als die einzig adäquate anerkennen.« Paul Honigsheim, der diese Äußerung Webers überliefert hat, meint, dass sich Weber damit vor allem auf Riehls »sehr unzweideutige Eingrenzung der Belange des Philosophen« bezogen hat, die »Webers konzessionslosem Verlangen nach intellektueller Rechtschaffenheit« (König und Winckelmann 1963: 178) entsprochen hat.        

10

11

Erste Ansätze einer näheren Untersuchung zu einigen dieser Denker und deren institutionelle Verankerung finden sich bei Uebel 2000: 292-293; Siegetsleitner 2015: 67-88; Rinofner-Kreidl 2006: 373-418; Stadler 2015: 33-43; 1982; Kato-Mailath-Pokorny 2014: 61-80; Savel 2014: 113-125. Enge Bezüge bestehen vor allem zu Webers wirkungsmächtigem Vortrag Wissenschaft als Beruf (1917), in dem das Konzept der wertfreien Wissenschaft im Mittelpunkt steht und der an Riehls Freiburger Antrittsrede (1883) anknüpft (vgl. Goller 1991: 546). Riehl betont darin, dass Wissenschaft und Weltanschauung zwei völlig voneinander zu trennende Bereiche des menschlichen Lebens darstellen. Er betont aber auch, dass die Wissenschaft aus dem Blickwinkel lebenspraktischer Fragestellungen, für die eine wertende Betrachtung natürlich ist, nur »eine[n] der Zwecke des Menschen« darstellt, der neben »übrigen menschheitlichen Interessen« besteht: »Wohl aber ordnet sich die Wissenschaft als Ganzes dem Gesichtspunkt des Wertes unter.« (Riehl 1908: 185) Riehl weist hier also bereits auf den unvermeidlichen Zusammenhang von Wissenschaft und Werten hin, den Weber mit dem Begriff der »Wertbeziehung« (Weber 1917: 511) zusammenfasst.

Kritischer Realismus und Ideologiekritik

3.

Zur Abgrenzung von Ideologie und wissenschaftlicher Philosophie

Riehl hat im Rahmen seines Philosophischen Kritizismus und den daran angeschlossenen kleineren Texten Charakteristika metaphysischer Systeme und ihrer Ideologien entwickelt.12 Diese lassen sich anhand von drei Punkten zusammenfassen.13 Gemeinsam ist ihnen a) der Anspruch, ein geschlossenes System des Wissens über die Welt zu geben, b) eine Geringschätzung der Erfahrung und Entwertung der Sinnlichkeit, c) die Vermengung praktischer Bedürfnisse mit der theoretischen Weltbetrachtung.

Der besondere Wert dieser kritischen Analyse von Ideologien liegt darin, dass es Riehl um eine Abgrenzung von Ideologien zur Wissenschaft und wissenschaftlichen Philosophie geht. Er weist daher neben den Unterschieden immer auch auf die Gemeinsamkeiten hin, ohne in eine vereinfachende Polarisierung zu geraten. Bis heute ist diese Analyse relevant, da sich alle drei Bestimmungen auch auf moderne Formen von Verschwörungsideologien anwenden lassen.14 Im Folgenden werden diese drei Punkte detailliert dargestellt, um daran anschließend den Begriff der wissenschaftlichen Philosophie an einem konkreten Beispiel der Corona-Pandemie zu exemplifizieren.

3.1

Geschlossene Systeme des Wissens über die Welt

Für geschlossene Systeme des Wissens über die Welt, wie sie sich in allen metaphysischen Systemen finden, ist der Ausdruck des subjektiven Einheitsstrebens des Denkens charakteristisch. »Nicht das Gebiet der Vielheit und des Unterschiedes, das der Einheit und Harmonie ist die wahre Heimat der philosophischen Kunst, das Reich ihrer 12 13 14

Vgl. hierzu auch Hlade 2022. Ähnliche Charakteristika entwickelt auch Siegel 1932: 117. Vgl. dazu die Kriterien der Europäischen Kommission zum Erkennen von Verschwörungstheorien: https://ec.europa.eu/info/live-work-travel-eu/coronavirus-response/fight ing-disinformation/identifying-conspiracy-theories_de#verschwrungstheorien-die-ver bindung-zu-covid-19. Aufgerufen am 21. März 2022.

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Josef Hlade und Rudolf Meer

Seligkeit. Das Gemüth, das sich Eins fühlt mit dem Grunde alles Seins, ist der Dichter des Monismus. Es ist mit seinen Wünschen dem forschenden Gedanken stets voran und weiss sich immer am Ziele.« (Riehl 1887: 94) Die menschliche Informationsverarbeitung ist darauf ausgerichtet, ein hinreichend zufriedenstellendes Ergebnis mit einem möglichst geringen Aufwand zu bewerkstelligen.15 Riehl betont aber, dass das damit beschriebene Ökonomieprinzip nicht nur metaphysischen Systemen zugrunde liegt, sondern den Wissenschaften ganz allgemein. Die Folge ist eine hypothesengeleitete Wahrnehmung, die im Urteilsprozess nur noch schwer hinterfragbar ist. Fehlerhafte Urteile werden so durch eine wiederkehrende Bestätigung verstärkt. Die Wahrnehmung wird resistent gegenüber den objektiven Gegebenheiten und die Illusion der Urteilssicherheit entsteht. »Die Classification der Systeme ist zugleich ein Mittel der Kritik der Systeme. Es wäre nicht möglich, inhaltlich genommen so ungleichartige Lehren auf den Gegensatz von Sein und Entwickelung, Einheit und Vielheit zurückzuführen, wäre nicht wirklich die Wurzel aller Systemsbildung zunächst und unmittelbar subjectiv. Der metaphysische Denker will die Principien der Dinge jenseits der Erscheinung erkennen – kein Wunder, wenn er nach Abstraction von der Erscheinung statt der Principien der Dinge, nur die Principien seines Denkens in der Hand behält.« (Riehl 1887: 99) Das heißt, auch wissenschaftliches Denken versucht, dem subjektiven Einheitsstreben des Denkens gerecht zu werden. In diesem Sinne sollen wissenschaftliche Erkenntnisse möglichst vollständig und mit dem geringsten Gedankenaufwand dargestellt werden (Uebel 2021: 95-97; Stadler 2019: 665-666; Wulz 2015: 59-60). Oberstes Ziel der Wissenschaft sei folglich die Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und die Anpassung der Gedanken aneinander. Mit einem impliziten Verweis auf Mach formuliert Riehl daher: »Man hat den Wert der Wissenschaft darin gefunden, daß sie es uns ermögliche, Erfahrungen zu ersparen. […] In der Erkenntnis befriedigt sich zugleich der Einheitstrieb des Denkens.« (Riehl 1908: 185) Nach Riehl besteht der Unterschied zu metaphysischen Systemen allerdings darin, dass Wissenschaften auf Tatsachen gerichtet sind, d.h. es mit der Wirklichkeit zu tun haben, die als Korrektiv fungiert.

15

Ernst Mach (1910: 225-240) hat dies später in einer berühmtgewordenen Formulierung als Ökonomieprinzip beschrieben.

Kritischer Realismus und Ideologiekritik

»Nicht im Ziele, nur im Wege zum Ziele unterscheidet sie sich von der Metaphysik. Sie verwechselt nicht Wunsch und Erfüllung und begnügt sich nicht mit dem sich mit sich selbst beschäftigenden, selbstgenugsamen Denken. Sie sucht für die Befriedigung des systematischen Bedürfnisses des Subjectes das Maass in den Objecten. […] Die Wissenschaft sucht nicht minder eifrig nach Einheit und, Verbindung unter den Erkenntnissen, wie die Metaphysik. Aber sie behauptet nicht mehr Einheit und Uebereinstimmung unter den Dingen, als sie thatsächlich vorfindet und experimentell nachzuweisen vermag.« (Riehl 1887: 99) Wissenschaften und wissenschaftliche Philosophie unterscheiden sich folglich von geschlossenen metaphysischen Systemen aufgrund ihrer methodischen Herangehensweise an diese Zielsetzungen. Dabei ist sich das Denken nicht selbst genug und ermöglicht über die Annahme einer bewusstseinsunabhängigen Wirklichkeit ein methodisches Nachprüfen dessen, was sie an Erklärung gibt. Nicht nur einzelne Hypothesen sind der Kritik ausgesetzt, sondern mit ihnen auch die Kernannahmen einer Theorie.

3.2

Geringschätzung der Erfahrung und Entwertung der Sinnlichkeit

Riehl folgend haben metaphysische Aussagen keinen Erkenntniswert in Bezug auf die Wirklichkeit, wissenschaftliche Hypothesen hingegen weisen prinzipiell die Möglichkeit auf, anhand von Erscheinungen verifiziert oder falsifiziert zu werden. Sie richten sich auf konkrete Sachverhalte (»Wahrmacher«), nach denen die Hypothesen richtig bzw. falsch sind. Metaphysische Hypothesen entziehen sich genau dieser Möglichkeit. »Wissenschaftliche Hypothesen werden zur Erklärung der Erscheinungen eingeführt und durch die Erscheinungen selbst bewiesen. Durch die Erklärung sollen die Erscheinungen begreiflich gemacht, durch den verificirenden Beweis die erklärenden Gründe als thatsächlich festgestellt werden. Wie aber sollten metaphysische Hypothesen zu verificiren sein? Etwa dadurch, dass sich die Erscheinungswelt im Ganzen und Allgemeinen als mit ihrer Annahme übereinstimmend erweisen lässt?« (Riehl 1887: 86) Riehl formuliert damit ein sogenanntes Sinnkriterium, um rational sinnvolle Aussagen von sinnlosen Aussagen zu unterscheiden, und nimmt so ein zentrales Theorieelement des späteren logischen Positivismus, vor allem des Wiener Kreises, vorweg: »Es kommt bei metaphysischen Erklärungen das

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meiste, wenn nicht alles, auf die Kunst der Auslegung oder besser Zurechtlegung an, – und man könnte wirklich über die Wahl einer metaphysischen Hypothese statt Neigung oder Geschmack auch das Loos entscheiden lassen.« (Riehl 1887: 86) Riehls Theorie geht dabei von der Trennung zwischen Strukturwissenschaften (wie der Mathematik) und Realwissenschaften (wie Physik, Chemie, Biologie) aus. Letztere erhalten aufgrund eines Bezuges zu Erscheinungen ihre Gültigkeit. Dementsprechend unterscheidet er zwischen Real- und Beziehungsurteilen. »Erkennen« sei ein »Entdecken einer an sich vorhandenen Ordnung der Dinge« (Riehl 1887: 128) und beruht folglich auf der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Die Wahrheit eines Realurteils kommt durch eine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zustande, Beziehungsurteile hingegen sind ohne Wirklichkeitsanspruch, sie haben es mit begrifflichen Gegenständen und deren logischen Beziehung zu tun. »Auch die Wissenschaft kennt keine andern innern Mittel des Erkennens, aber sie kennt und handhabt noch ein äusseres Mittel der Forschung: das Experiment, oder allgemeiner: die Verification. Nur dieser Eine Schritt, den die Wissenschaft durch die Verification über die blose Speculation hinaus thut, trennt dieselbe von der metaphysischen Philosophie. Die reine Speculation ist nur in Logik und Mathematik am Platze, ausserhalb dieser Wissenschaften angewandt, wird sie zur Metaphysik, welche nichts anderes ist, als ein unverificirtes und seiner Natur nach unverificirbares Wissen. Wo es an der Möglichkeit fehlt, irgend welche Annahmen der Theorie durch die Erscheinungen zu bestätigen, da hört das Gebiet der Forschung auf und beginnt das Gebiet der Betrachtung und subjectiven Gedankenschöpfung.« (Riehl 1887: 99-100) Basierend auf dem Experiment wird hier von Riehl zwischen Wissenschaften und metaphysischen Systemen unterschieden. Realurteil bzw. -aussagen über die Wirklichkeit sind auf Erscheinungen angewiesen, auch wenn Beziehungsurteile deren Voraussetzung bilden. Werden Beziehungsurteile auf das Feld möglicher Erfahrung ausgeweitet, sind sie – so logisch sie auch scheinen mögen – nicht mehr gehaltvoll und daher sinnlos. Aufgrund des Zusammenhangs von Real- und Beziehungsurteilen ist der Erkenntnisvorgang kein rein rezeptives Geschehen, sondern bedarf zugleich einer schöpferischen Tätigkeit des Geistes. Diese subjektive Bedingung ist allerdings keine unabhängige Variable, denn auch unsere subjektive Verfassung ist das Resultat der äußeren, objektiven Verhältnisse, über deren Struktur wir über die Empfindungen Mitteilung erhalten.

Kritischer Realismus und Ideologiekritik

3.3

Vermengung praktischer Bedürfnisse und theoretischer Weltbetrachtung

Riehls Argumentation folgend, kommt es in der Metaphysik zu einem unzulässigen Überschreiten des Felds möglicher Erfahrung, durch das der Metaphysiker/die Metaphysikerin nicht mehr Wissenschaftler*in, sondern – im besten Fall – Dichter*in wird: »Zweifelt man noch, dass die Person des Metaphysikers nicht vom System des Metaphysikers zu trennen ist, so wenig wie der Dichter von seinem Werke?« (Riehl 1887: 98) In solchen Ideologien verfahren die Protagonist*innen – Riehl folgend – »mehr im Geiste einer künstlerischen Schöpfung als im Sinne der wissenschaftlichen Forschung […]. In der Speculation der Metaphysiker werden die Grenzen zwischen Wissenschaft und Poesie beständig überschritten, halb dichterische Werke äusserlich in die Form einer wissenschaftlichen Abhandlung gekleidet.« (Riehl 1887: 11) Dies führt dazu, dass die »philosophischen Systeme schon in ihrer Wurzel subjektiv fehlgreifend« (Riehl 1883: 230) sind: »Sie haben die Einheit von Kunstwerken, eine künstliche Einheit und gleichen daher mehr Werken der Einbildung als Wissenschaft.« (Riehl 1883: 230) Riehl nimmt damit Carnaps berühmt gewordene Formulierung – »Metaphysik ist Lyrik in der Verkleidung einer Theorie« (Carnap 1934: 259) – vorweg. Darüber hinaus stellt er die These auf, »dass nicht, wie man gewöhnlich glaubt, die Systeme Weltanschauungen, sondern umgekehrt die Weltanschauungen Systeme hervorbringen« (Riehl 1887: 13). Philosophische Systeme sind folglich Ausdruck subjektiver Stimmungen und Gemütsverfassungen – sie erweisen sich als Ausdruck persönlicher Erfahrungen und privater Einstellungen. Um die Struktur philosophischer Systeme offenzulegen, sind sie daher einer psychologischen Kritik zu unterziehen, deren Fokus auf einer biographischen Analyse liegt und die epistemologische ergänzt. Indem solche Fantasien aus der Biographie des Denkers/der Denkerin erklärt werden, wird der subjektive Charakter des Systems offensichtlich. »Die Art, wie das Gemüt mit Welt und Leben seinen Ausgleich trifft, wie es seine subjektive Einheit und Harmonie den Ereignissen gegenüber behauptet oder herstellt, ist mehr von persönlichen Erfahrungen und besonders von der angeborenen Stimmung als von Belehrung abhängig; sie ist die eigentliche Privatsache eines jeden. […] Die Produktion und Projektion des Gemütes lassen sich durch wissenschaftlichen Beweis nicht hervorbringen, durch Widerlegung nicht beseitigen. […] Allerdings hat auch das Gemüt seine Gesetze:

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auch für seine Regung gelten Regelmäßigkeit und Ordnung. Diese Gesetzmäßigkeit der Gemütsäußerung zu ermitteln, fällt der Psychologie als Aufgabe zu. Die Gemütserfassung von Welt und Leben wird sonach zum Objekte einer psychologischen Kritik.« (Riehl 1883: 232-233) Ein typisches Beispiel bildet für Riehl dafür die Philosophie Nietzsches.16 Bei Nietzsche gewinne »das Biographische […] den Vorrang vor dem Systematischen« (Riehl 1897: 18-19). Er ist jener Philosoph, der die Metaphysik der härtesten Kritik unterzogen hat, da er neben den explizit formulierten Einwänden (gegen Platon, Kant etc.) die Möglichkeit des Philosophierens nur noch in diesem Bereich sieht. »Nietzsche ist der persönlichste Denker. Aus eigenster Erfahrung hat er das Wort geschöpft, dass jede Philosophie bisher ›das Selbstbekenntnis ihres Urhebers war und eine Art ungewollter ›memoires‹, dass es ›an dem Philosophen ganz und gar nichts Unpersönliches‹ giebt« (Riehl 1897: 15). Nietzsche stürzte die Philosophie mit diesem Duktus – das heißt der Durchdringung von Leben und Werk – von dem Thron, auf den sie sich selbst gesetzt hatte. Ideologien, metaphysische Systeme und Fantasien jeglicher Art sind nach Riehl nicht wertlos, sie sind aber für das Projekt Wissenschaft unbrauchbar. »Metaphysische Hypothesen sind Opiate für den Verstand; sie betäuben denselben, statt ihn zu beleben und aufzuklären. Sie erzeugen den Schein eines allumfassenden Wissens, das, wenn man Wunsch und Erfüllung für einerlei halten will, nicht einmal schwer zu erlangen ist.« (Riehl 1887: 87)

4.

Wissenschaftliche Philosophie

In der aktuellen Forschung wird zwischen Verschwörungserzählungen und -mythen unterschieden. Verschwörungserzählungen können so komplex werden, dass sie zu Ideologien (à la QAnon oder Reichsbürger) werden. Verschwörungshypothesen bilden dabei den überprüfbaren Teil der Ideologien, die aber immunisiert bleiben. Der Begriff Verschwörungstheorie ist hingegen in der Forschung wenig gebräuchlich (vgl. u.a. Nocun und Lamberty 2020; Butter und Knight 2020; Anton und Schink 2021).

16

Riehl (1897) hat als einer der ersten akademischen Philosophen Nietzsches Philosophie in einer eigenständigen Monografie gewürdigt.

Kritischer Realismus und Ideologiekritik

Das Schwierige im Umgang mit Ideologien und Verschwörungserzählungen ist, dass sie sich nicht kategorisch von der wissenschaftlichen Arbeit unterscheiden lassen. Vielmehr weisen beide Schnittpunkte auf und damit Gemeinsamkeiten, die in einer naiven Kritik leicht übersehen werden. Die Polarisierung beider ist in diesem Sinne selbst Ideologie. Wird der Hebel der Kritik falsch angesetzt, führt dies leicht dazu, dass sich Ideologien unbemerkt verbreiten bzw. gestärkt werden, indem sie die Einwände abzuwehren vermögen. Aus diesem Grund ist wissenschaftliche Philosophie und Ideologiekritik, wie Riehl sie am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hat, nicht ausschließlich ein historisches Problem, mit dem sich Philosophiehistoriker*innen zu beschäftigen haben. Sie stellen vielmehr eine bis heute geltende Herausforderung dar. Ihre Opposition hat sich geändert und auch ihre Inhalte sind transformiert, aber der Hang der Vernunft, Scheinargumenten aufzusitzen – d.h. Realurteile nicht von Beziehungsurteilen zu unterscheiden –, besteht weiterhin. Aus diesem Grund bleibt es eine essenzielle Aufgabe der wissenschaftlichen Philosophie, die hermetische Abgeschlossenheit von Ideologien, die Fehlgeleitetheit ihrer Hypothesen und ihr dichterisches Gewand in ständiger Kritik abzustreifen und die Aussagen einer empirisch-rationalen Überprüfung zugänglich zu machen. »Die Kritik der metaphysischen Systeme muss von den Ideen derselben den Glanz streifen, sie muss den ästhetischen Eindruck vernichten, den diese Kunstwerke des Gedankens vermöge ihrer Einheit und Geschlossenheit hervorrufen, sie muss endlich von allen anderweitigen Beweggründen zur Construction der Systeme als den rein wissenschaftlichen absehen, obschon ihr sehr wohl bekannt ist, dass die Systeme ihren Einfluss weit mehr jenen nichtwissenschaftlichen Beweggründen verdanken, als der Kraft und Folgerichtigkeit ihrer Beweise. Welches metaphysische System hätte auch die Beweise eines andern überzeugend gefunden?« (Riehl 1887: 87) Sind die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen jeweils auf einen bestimmten Gegenstand bzw. Gegenstandsaspekt gerichtet, ist der Gegenstand der wissenschaftlichen Philosophie die Wissenschaft selbst: »Die Erkenntnis, die Wissenschaft selber, bildet das Objekt der Philosophie.« (Riehl 1883: 245) Die Realwissenschaften versuchen, Gegenstände zu erkennen, die Philosophie aber im Sinne Kants die Bedingungen der Möglichkeit von Gegenständen auszuloten: »Die Philosophie in ihrer neuen, kritischen Bedeutung ist die Lehre von der Wissenschaft, der Erkenntnis selbst. Sie ist die Erkenntniswissenschaft. Sie forscht nach den Quellen des Erkennens, ermittelt seine

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Bedingungen und bestimmt seine Grenze.« (Riehl 1883: 246)17 In diesem Sinne geht die Philosophie in Riehls Konzeption in Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie auf, sie wird zu einer Hilfsdisziplin der einzelnen Wissenschaften. »Es hat eine Philosophie gegeben, welche der Wissenschaft vorangegangen und durch dieselbe ersetzt worden ist. Es hat auch nicht an einer Philosophie gefehlt, die sich selbst an die Stelle der Wissenschaft setzen wollte, aber mit ihrem Anspruch auf eine höhere als die wissenschaftliche Erkenntniss gescheitert ist. Die wahre Philosophie folgt auf die Wissenschaft nach; sie vermittelt im stetigen Zusammenhang mit der Wissenschaft immer genauer und vollständiger das Verständniss derselben.« (Riehl 1887: 16) Als solche leistet die Philosophie – vor allem in Zeiten der Krise und den in ihr grassierenden Ideologien – eine wichtige inter- und transdisziplinäre Aufgabe. Sie thematisiert die Bedingungen, unter denen Wissenschaft möglich wird, und in welchen Fällen der Bereich wissenschaftlicher Erkenntnis überschritten wird. Sie klärt folglich die Basis des wissenschaftlichen Zusammenhalts aller Disziplinen. Die Bedeutung dieser Funktion hat sich besonders im Zuge der Corona-Pandemie gezeigt. Diese war trotz der enormen Entwicklung der Wissenschaften – bzw. auch wegen dieser – eine Herausforderung für deren Selbstverständnis. Die Situation war durch Unsicherheiten und fehlendes Wissen gekennzeichnet. Dies betraf das Virus selbst, die dadurch ausgelöste Krankheit sowie die Wirksamkeit der Gegenmaßnahmen. Die aufgeworfenen Problemstellungen richteten sich an verschiedene Disziplinen wie die Biologie und die Medizin, aus denen sich die Virologie, die Infektionsepidemiologie und andere Subdisziplinen ableiten und die mit Blick auf die Bekämpfung des Virus stärker als zuvor zusammenarbeiten mussten. Darüber hinaus standen bzw. stehen diese Forschungsergebnisse in engem Zusammenhang mit verschiedenen Akteur*innen aus Politik und Wirtschaft, die wiederum Maßnahmen setzten, deren Auswirkungen von Vertreter*innen wissenschaftlicher Disziplinen wie der Ökonomie, der Sozial- und Erziehungswissenschaft und Psychologie bewertet wurden. Wie sich gezeigt hat, weisen solche transdisziplinären Forschungsprozesse bestimmte Merkmale auf, die u.a. vom Institut für sozio-ökonomische Forschung in Hamburg wie folgt zusammengefasst werden: »erstens eine 17

Zum spezifisch realistischen Kantianismus Riehls siehe Meer 2021 sowie Hlade und Meer 2021.

Kritischer Realismus und Ideologiekritik

geteilte Beschreibung des Problems, zweitens die Integration von Wissen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und von Akteuren aus anderen Gesellschaftsbereichen und drittens eine fortlaufende kritische Bewertung von Zwischenergebnissen und Maßnahmen«18 . Um diese Komplexität handhabbar zu machen, entstanden Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Politik, diverse etablierte Beratungsgremien, Kommissionen und ganze Forschungseinrichtungen. Gleichzeitig braucht es aber auch einen Dialog zwischen den Wissenschaften, den die wissenschaftliche Philosophie gewährleisten kann: Eine geteilte Beschreibung des Problems von Covid-19 ist nur möglich mit einem kritischen Blick auf das von Riehl in seiner Ideologiekritik hervorgehobene Einheitsstreben der einzelnen Disziplinen (Teil 3.1). Die wissenschaftliche Philosophie kann darauf aufbauend im Rahmen des universitären Betriebs die Rolle einer trans- und interdisziplinären Wissenschaft übernehmen, indem sie ein Feld möglicher Integration wissenschaftlicher Erkenntnis darstellt (Teil 3.2) und die Voraussetzungen einer fortlaufenden Kritik (Teil 3.3) ermöglicht. Um diese Funktion darzustellen, sei ein Fallbeispiel angeführt. Der österreichische Autor Clemens G. Arvay hat es mit seinem Buch Wir können es besser: Wie Umweltzerstörung die Corona-Pandemie auslöste und warum ökologische Medizin unsere Rettung ist am Beginn der Pandemie bis auf die Bestsellerliste des Spiegel geschafft. Er spricht darin von »Covid-19 als einem Umwelt-, Medien- und Wissenschaftsfiasko« und einem »Killervirus-Narrativ« (Arvay 2020: 55). Arvay behandelt in seinem Buch die Frage, ob die Ursache der Krise das sogenannte »Killervirus« oder doch die »Killerumwelt« ist, und präzisiert die Frage später mit dem Hinweis, ob es sich um »Corona-Tote oder Feinstaub-Tote« (Arvay 2020: 90) handle. Die dabei vertretene These lautet, dass das Auftreten schwerer Corona-Verläufe mit bestimmten gesundheitsschädlichen Umweltfaktoren wie einer erhöhten Feinstaubbelastung, Chemikalien in Umwelt und Nahrung, Lärm, Lichtverschmutzung oder Versiegelung der Landschaft korreliere, die Krankheit aber an sich viel weniger schrecklich sei, als uns Politik und Medien vermitteln würden. Das Buch versucht in diesem Sinne zu zeigen, »wie COVID-19 zur Pandemie werden konnte und weshalb die Infektion in manchen Regionen besonders hohe Opferzahlen gefordert hat« (Arvay 2020: 53). Laut Arvay waren die »Covid-19-Hotspots« wie

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https://isoe.blog/transdisziplinaere-zusammenarbeit-als-reaktion-auf-sozial-oekologis che-krisen-das-beispiel-der-corona-pandemie/. Aufgerufen am 21. März 2022.

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die Lombardei, Madrid oder New York allesamt Gegenden, die umweltmedizinisch belastet waren und somit ein höheres Potenzial hatten, zu Gefahrenregionen zu werden (Arvay 2020: 235). Es handle sich bei der Corona-Krise um einen »Umweltskandal«, dabei habe die Politik die Warnungen der Expert*innen in den Wind geschlagen, die einen Zusammenhang zwischen Krankheiten wie Corona und gesundheitsschädlichen Umweltfaktoren schon lange erwiesen hätten. Darüber hinaus handelt es sich aufgrund der Rolle der Medien, in denen kritische Expert*innen zu wenig zu Wort kommen, auch um einen »Medienskandal« (Arvay 2020: 53). Basierend auf seiner vorangehenden Studie Der Biophilia-Effekt: Heilung aus dem Wald (2018), worin er den gesundheitsförderlichen Effekt von Waldspaziergängen untersucht, empfiehlt er »frische Luft statt Lagerkoller« (Arvay 2020: 198), um die Pandemie zu bekämpfen. Verantwortlich dafür gemacht wird der angebliche und nicht weiter spezifizierte »Einfluss von Lobbyisten-Kreisen«, der »Einfluss von Geldgebern aus der pharmazeutischen Industrie« und »Seilschaften« von Superreichen wie jene von Bill und Melinda Gates (Arvay 2020: 237). Mit Bezug darauf heißt es: »Der ›schlafende Riese‹ der Demokratie soll erwachen. Wenn nicht jetzt, wann dann?« (Arvay 2020: 238). Arvays Buch ist eine Verschwörungserzählung, in der verschiedene Problemkomplexe zusammenwirkend untersucht werden und ein geschlossenes System des Wissens über die Welt bereitgestellt wird. Methodisch nachprüfbar sind seine Aussagen dabei nur scheinbar, indem der Autor bewusst Studien heranzieht, die seine (isolierten) Hypothesen stützen bzw. Studien offensichtlich missinterpretiert, wenn er Zusammenhänge herstellt, die darin gar nicht begründet sind. In diesem Sinne basieren seine Ausführungen auf einer hypothesengeleiteten Wahrnehmung, die der Leserin und dem Leser nahegebracht wird. Arvay bedient sich dabei insbesondere dessen, was Riehl eine »metaphysische Verallgemeinerung« genannt hat und im Gegensatz zu einer »wissenschaftlichen Verallgemeinerung« steht. Eine »metaphysische Verallgemeinerung« stütze sich auf »Anspielungen« und »mehr oder minder schielende Gleichnisse« (Riehl 1887: 112), anstatt sich des wissenschaftlichen Beweises zu bedienen, welchen Galileo Galilei in der Wissenschaftsgeschichte als Überprüfung einer Annahme durch den Versuch eingeführt habe. Martin Balluch hat Arvays Argumentation einem Faktencheck unterzogen. Dabei hat sich erwiesen, dass eine von Arvay an prominenter Stelle zitierte Studie aus Harvard tatsächlich einen negativen Einfluss von Luftverschmutzung auf Atemwegserkrankungen nachgewiesen hat. Diese Studie hat daraus aber keineswegs abgeleitet, dass die Corona-Todesfälle in der Lombardei auf die-

Kritischer Realismus und Ideologiekritik

se Luftverschmutzung zurückzuführen seien. Balluch weist darin auch nach, dass Arvay absichtlich wissenschaftliche Arbeiten missinterpretiert, »um eine Ideologie zu bestätigen, die sich in Wahrheit so nicht bestätigen lässt«19 . Ausgehend von Riehls Ideologiekritik wird deutlich, dass Arvay in seinen Analysen verschiedene Themenbereiche vermengt, ohne sie einer kritischen Reflexion zugänglich zu machen. In diesem Sinne spricht er teilweise richtige Problemkomplexe an, immunisiert aber die einzelnen Teile seiner Analyse und gerät daher in ein ideologisches Argumentationsmuster. Um solche Zusammenhänge aufzuweisen, ist – über den Faktencheck hinaus – eine inter- und transdisziplinäre Wissenschaft nötig, die gegenüber den Einzelwissenschaften genügend Dignität aufweist, aber gleichzeitig nicht mit dem Anspruch auf Allwissenheit auftritt. Riehl hat mit seiner Ideologiekritik und dem Konzept einer wissenschaftlichen Philosophie Kriterien dafür formuliert. Diese stellen einen noch immer lohnenswerten Ausgangspunkt für anstehende sozio-ökonomische Krisen dar und ermöglichen darüber hinaus auch Erkenntnisse über deren Wirkungszusammenhang, ohne in Ideologieverdacht und Verschwörungsmythen zu geraten.

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Lockdown-Corona-Fictions als Seismograph für sozialen Zusammenhalt Yvonne Völkl und Julia Obermayr

Abstract Fiktionale Erzählungen dienen als Spiegel der Welt. Egal ob in Liebes-, Helden- oder Katastrophengeschichten, zumeist erzählen sie vom zwischenmenschlichen Miteinander. An solchen Geschichten lassen sich das Ausmaß sozialer Beziehungen, emotionaler Verbundenheit sowie von Gemeinwohlorientierung innerhalb von Gruppen ablesen, die als Determinanten für sozialen Zusammenhalt angesehen werden können. So geben auch die fiktionalen Werke, die im Zuge der Corona-Krise entstehen, sogenannte Corona Fictions, Indikationen dafür, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt vor allem in der Anfangsphase der Krise er- und gelebt wurde. Ebenfalls zeigen sie, dass die globale Ausnahmesituation zu kreativen Formen des Miteinanders unter den Literatur- und Kulturschaffenden geführt hat.   Keywords: Corona Fictions, Erzählen, sozialer Zusammenhalt, Anthologien, Musikvideos

1.

Einleitung

Seit einigen Jahrzehnten scheint der Begriff der Krise Konjunktur zu haben. In der Medizin ursprünglich als entscheidender Moment zwischen Leben und Tod einer kranken Person definiert, drängt sich »die Krise« nun im 21. Jahrhundert erneut in genau jener anfänglichen Bedeutung in zahlreichen Lebensbereichen auf (vgl. Tebben 2005: 458; Koselleck 2006: 203). Ob Finanz-, Migrations-, Klima- oder Corona-Krise, die »Krise« wird als Situation der Bedrängnis oder existenziellen Bedrohung wahrgenommen (vgl. Kast 1990: 212). Für soziale Gruppen fungieren Seuchen wie die um den Jahreswechsel 2019/20 ausgebrochene COVID-19-Pandemie als Katalysatoren sozialer Spannungen und kollektiver Ängste und nicht – entgegen gängiger An-

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nahmen – als gesellschaftliche »Gleichmacher«. Ganz im Gegenteil, sie ermöglichen es, »Aufmerksamkeit für ganz andere zeitgenössische Fragen [zu] gewinnen […]« (Thießen 2014: 21). Die COVID-19-Pandemie betrifft nicht nur den medizinischen Sektor, sondern wirkt von der Politik über die Wirtschaft bis hin zum zwischenmenschlichen Zusammenleben in all seiner Heterogenität in beinahe alle zentralen Bereiche der Gesellschaft hinein, sodass sich »[i]m Umgang mit Seuchen […] [vielschichtige] soziale Spannungsverhältnisse wider[spiegeln], nicht zuletzt jenes zwischen Staat und Staatsbürger[*innen]« (ebd.: 11). So können Seuchen und somit auch die COVID-19-Pandemie als »Seismograph des Sozialen« (ebd.: 13) bzw. des sozialen Zusammenhalts verstanden werden, da sie die »Tektonik gesellschaftlicher Ordnungsmuster und ihre Erschütterungen nachvollziehbar mach[en]« (ebd.). Die Corona-Krise und ihre Auswirkungen zeigen sich nicht nur im alltäglichen Leben, sondern finden ihren Eingang auch in fiktionale Werke unterschiedlichster Art. Im Folgenden gehen wir der Frage nach, in welchen Bereichen sozialer Zusammenhalt besonders erschüttert wird und wie dieser mit und in schriftlichen sowie audiovisuellen Erzählungen über die Corona-Krise erlebt, verarbeitet und ausgedrückt wird. Der erste Teil des Beitrags geht hierzu auf den sozialwissenschaftlichen Begriff und das Verständnis des Konzepts des »sozialen Zusammenhalts« ein und widmet sich anschließend der Bedeutung für seine Herstellung in der Zusammenführung mit dem literatur- und kulturwissenschaftlichen Begriff des Erzählens. Der zweite Teil betrachtet die Funktion des Erzählens im Zuge der Corona-Krise, in der seit Beginn der ersten Eindämmungsmaßnahmen eine Vielzahl an sogenannten »Corona Fictions« entstanden sind. Unter Corona Fictions verstehen wir jene schriftlichen und (audio-)visuellen fiktionalen Kulturproduktionen (Gedichte, Musikvideos, (Kurz-)Geschichten, (Web-)Serien, Comics etc.), die seit Beginn der COVID-19-Pandemie weltweit erscheinen und einen Bezug zu dieser aufweisen (vgl. Research Group Pandemic Fictions1 ; Hobisch et al. 2022). Um einen Eindruck vom transnationalen und transmedialen Charakter der Corona Fictions zu ermöglichen, wird

1

Erste »Dokumentationen und Analysen [d]er Krise in progress [kursiv im Orig.]« (Hertrampf 2020b: 9) sind im PhiN-Beiheft 24 (Hertrampf 2020a) nachzulesen, in dem auch der Beitrag der Research Group Pandemic Fictions, zu der u.a. die Verfasserinnen dieses Artikels zählen, erschienen ist.

Lockdown-Corona-Fictions als Seismograph für sozialen Zusammenhalt

im Analyseteil ein franko- und hispanophones Korpus aus dem Globalen Norden (Spanien, Frankreich, Kanada) sowie dem Globalen Süden (Chile, Argentinien) herangezogen. Dieses Korpus besteht aus Musikvideos, Serien und Sammelbänden, die im Zuge des ersten Lockdowns entstanden sind bzw. konzipiert wurden. Dabei wird der Fokus zum einen auf das Entstehen von sozialem Zusammenhalt durch die Produktion von Corona Fictions und zum anderen auf seine Darstellung innerhalb dieser gelegt.

2.

Sozialer Zusammenhalt und Erzählen

2.1

Zur Entstehung von sozialem Zusammenhalt

Das Konzept des sozialen Zusammenhalts ist der westlichen Welt mindestens seit der Französischen Revolution bekannt. Im Revolutionsslogan »liberté, égalité, fraternité« entspricht die drittgereihte »Brüderlichkeit« in gewisser Weise dem, was heute mit »sozialem Zusammenhalt« oder »sozialer Kohäsion« bezeichnet wird (vgl. Dragolov et al. 2016: xxv). Die Frage danach, was Individuen dazu antreibt, als Gruppe zu agieren, steht im Zentrum sozialwissenschaftlicher Forschung zum Thema des sozialen Zusammenhalts (vgl. ebd.). Dabei werden unterschiedliche Begriffsbestimmungen verwendet (vgl. Unzicker und Vopel, in: Schiefer et al. 2012: 8) und prinzipiell muss auch eingeräumt werden, dass die Definition des Konzeptes »always be partly a normative decision which can be changed, depending on the Zeitgeist« (Dragolov et al. 2016: xxviii). Als empirischer Untersuchungsgegenstand wird der gesellschaftliche Zusammenhalt seit den 1990er-Jahren vermehrt beforscht (vgl. Dragolov et al. 2016: 4) und findet seither auch in vereinzelten Regierungsprogrammen oder Abkommen der Europäischen Union Eingang (vgl. ebd.: xxvii). Ebenso wird diese Kategorie in internationale Wohlstandsindikatoren miteinbezogen, wie z.B. dem OECD Better Life Index oder dem Legatum Prosperity Index (vgl. ebd.: xxix). Dabei werden dem Begriff unterschiedliche Definitionen zugrunde gelegt, die jedoch durchwegs zwei gemeinsame Nenner aufweisen: Zum einen wird sozialer Zusammenhalt übereinstimmend als »ein Merkmal einer Gruppe bzw. einer Gesellschaft« (Schiefer et al. 2012: 16) angesehen und nicht als ein »Charakteristikum von Individuen« (ebd.). Zum anderen wird dieser »als multidimensionales Konstrukt aufgefasst, das über Indikatoren auf der Mi-

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kro-, Meso- und Makroebene abgebildet werden kann« (ebd.; vgl. Dragolov et al. 2016: 4-5). Um die Determinanten für sozialen Zusammenhalt transparent benennen und messbar machen zu können, entwickelten David Schiefer und Kolleg*innen (2012) einen Kohäsionsradar. Für diesen konzentrierten sich die Forscher*innen bei ihrer Definition bezüglich der Entstehung von gesellschaftlichem Zusammenhalt (vgl. Abb. 1) auf die drei folgenden, für sie essenziellen, abstrakten und sich überlappenden Aspekte: »enge soziale Beziehungen, intensive emotionale Verbundenheit und eine ausgeprägte Gemeinwohlorientierung« (ebd.: 21).

Abbildung 1: Zentrale Aspekte und Dimensionen gesellschaftlichen Zusammenhalts.

(Quelle: Schiefer et al. 2012: 24.)

Jeder dieser Aspekte untergliedert sich in Teildimensionen (insgesamt sind es 9), die zur Stärkung bzw. Schwächung sozialer Kohäsion beitragen können. Der Aspekt »soziale Beziehungen« (Abb. 1 links) beinhaltet in diesem Modell die vier Teildimensionen sozialer Vernetzung, politischer und soziokultureller Partizipation, Vertrauen in Mitmenschen und politischer Institutionen sowie Akzeptanz von Diversität. Der Aspekt »Verbundenheit« (Abb.

Lockdown-Corona-Fictions als Seismograph für sozialen Zusammenhalt

1 oben mittig) wird beeinflusst von Gefühlen der Zugehörigkeit (zu einer Gruppe) und der Identifikation (mit einer Region, Nation etc.). Der Aspekt »Gemeinwohlorientierung« (Abb. 1 unten rechts) wird bestimmt durch die drei Teildimensionen gesellschaftlichen Verantwortungsbewusstseins (indem man für die Bedürfnisse und Ziele der Gemeinschaft eintritt und eigene Interessen zurücknimmt), Solidarität und Anerkennung sozialer Ordnung und sozialer Regeln (vgl. Schiefer et al. 2012: 23). Zudem wird sozialer Zusammenhalt »als graduelles Phänomen« angesehen, denn nicht alle Gesellschaften zeichnen sich im selben Maße als kohäsiv aus. Der »Kohäsionsgrad kommt in Einstellungen und Verhalten der Gesellschaftsmitglieder und gesellschaftlicher Gruppen zum Ausdruck und hat sowohl ideellen als auch relationalen Charakter« (ebd.: 21).

2.2

Erzählen als »sozialer Kitt«

Erzählen ist eine menschliche Handlung, die nicht auf literarische Texte begrenzt, sondern auch in mündlichen und nicht-fiktionalen Texten ungeachtet des Mediums allgegenwärtig ist (vgl. Aumüller 2012: 144). Die Relevanz des Erzählens wurde in unterschiedlichen Disziplinen herausgearbeitet, wie zum Beispiel in den Geschichtswissenschaften (White 1991 [1973]), der Philosophie (Ricœur 1990) oder der narrativen Psychologie (Bruner 1993; 1999; Boothe 2011; Straub 2013). Narrativistische Ansätze aus den Literatur- und Kulturwissenschaften weisen auf die lebensweltliche Relevanz des Erzählens hin, wie z.B. die Arbeiten von Birgit Neumann, die in Fictions of Memory (2005) den Zusammenhang von literarischen Texten und Erinnerungskulturen herausarbeitet, oder von Ottmar Ette (2010: 43-44), der Literatur als Lebenswissen begreift, mit dem ein direkter Zugang zu einer Gesellschaft und ihrer Kultur geschaffen werden kann. Auch Ansgar und Vera Nünning erforschen die »literarische Welterzeugung« (vgl. Nünning et al. 2010; Nünning V. 2013a/b). Unter den für sie wichtigsten lebensweltlichen Funktionen des Erzählens rangieren u.a. Episodenbildung, Geschehensintegration, die Strukturierung von Erfahrungen und die Ordnung von Wissen. Besonders in der alltäglichen und medialen Interaktion werden im Erzählmodus kulturelle Kommunikation realisiert, Erfahrungen ausgetauscht und Intersubjektivität hergestellt. Dem Erzählen wohnt dabei auch eine performative Kraft inne, die darin gründet, »dass Erzählungen nicht bloß ein Medium der Repräsentation kultureller Phänomene sind, sondern auch der Konstruktion von Geschichten, Identitä-

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ten und Welten. Erzählungen können zum einen eine wirklichkeitsstrukturierende Funktion erfüllen […]. Sie können darüber hinaus aber auch Welten und Wirklichkeitsmodelle erzeugen, die so kohärent, ausdrucksstark und suggestiv sein können, dass sie die reale Wirklichkeitserfahrung von Menschen beeinflussen und sogar prägen […].« (Nünning A. 2013: 40) Für die Frage nach der Funktion des Erzählens für den sozialen Zusammenhalt muss die elementare Erkenntnis aus der narrativen Psychologie hervorgehoben werden, welche »Erzählungen als ein zentrales Medium der Kohärenz- und Sinnbildung und damit auch der individuellen und kollektiven Identitätsbildung [begreift]« (Nünning A. 2013: 41). Auch der Kulturwissenschaftler Jan Assmann geht in Das kulturelle Gedächtnis (2005 [1992]) auf den Zusammenhang zwischen Erzählungen und kollektiver Identitätsbildung ein. Hierunter versteht er »das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren« (Assmann 2005: 132). Ein geteiltes Identitätsbewusstsein entsteht also erst dann, wenn die Beteiligten beginnen, sich als Gruppe zu identifizieren, denn die Gruppe gibt es »nicht ›an sich‹, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen. Sie ist so stark oder so schwach, wie sie im Bewußtsein der Gruppenmitglieder lebendig ist und deren Denken und Handeln zu motivieren vermag« (ebd.). Um sich als Gruppe zu definieren (und zu legitimieren), stützen sich ihre Mitglieder auf Ereignisse aus der Vergangenheit, die sie in ihrem kulturellen Gedächtnis bewahren. Eine Gruppe gewinnt Anteil an ihrem kulturellen Gedächtnis, indem ihre Mitglieder regelmäßig, z.B. auf Festen, zusammenkommen und ihr identitätsstiftendes Wissen, z.B. in Form von Mythen, austauschen. Die Erinnerung an die kollektive Vergangenheit wird dabei über Erzählungen weitergegeben, womit Assmann die enge Verbindung von kulturellem Gedächtnis und Erzählen hervorhebt: »Verinnerlichte – und genau das heißt: erinnerte – Vergangenheit findet ihre Form in der Erzählung« (ebd.: 75). Mit Hinblick auf den Zusammenhang von Erzählen und sozialer Kohäsion lässt sich somit konstatieren, dass Erzählungen wesentlich zur Stärkung von sozialen Beziehungen innerhalb von größeren (z.B. Nation, Glaubensgemeinschaft, politische Partei) und kleineren Gruppen (z.B. Familie, Sport- und Musikverein) beitragen, da sie es vermögen, Kausalitäten zwischen bestimmten Ereignissen herzustellen und diese aus divergierenden Blickwinkeln wiederzugeben. Sie eröffnen somit nicht nur Einblicke in unterschiedliche Lebensund Erfahrungswelten, wie dies z.B. auch bei Minderheiten der Fall ist, son-

Lockdown-Corona-Fictions als Seismograph für sozialen Zusammenhalt

dern bieten gleichzeitig auch Möglichkeiten der Identifikation mit diesen. Sie zeigen durch ihre Inhalte auf, wie soziale Vernetzung, politische und soziokulturelle Partizipation oder Vertrauen in und Verständnis für andere gelingen kann. Da Erzählungen eine zentrale Rolle in der Identitätskonstruktion eines Kollektivs spielen, nähren sie das Gefühl der Zugehörigkeit (zu einer Gruppe) und beeinflussen somit den »sozialen Kitt« (social glue), d.h. sie wirken auf den Aspekt der Verbundenheit im gesellschaftlichen Gefüge positiv (aber auch negativ) ein: »Since narratives play a crucial role in the formation of collective identities, common stories can acquire great importance as a cultural means of resilience. By providing common values, orientations, and traditions, narratives can establish cohesion between members; they can serve as a kind of ›social glue‹ that binds members together. Though stories can also foster divisions, they are major means of establishing communities.« (Nünning V. 2020: 42) Ebenso tragen Erzählungen zur Gemeinwohlorientierung bei, indem in ihnen die Normen, Werte und Praktiken des gesellschaftlichen Zusammenlebens einer Gruppe veranschaulicht und somit sichtbar gemacht werden. Eine gewichtige Rolle für Gruppen spielen also »die kollektiv geteilten Geschichten, die zur sozialen Kohärenzbildung, zur Entstehung von Deutungsund Interpretationsgemeinschaften sowie zur Verständigung über Werte und Normen beitragen« (Nünning A. 2013: 45-46) und die auch im Zuge des ersten Lockdowns der COVID-19-Pandemie auf transnationaler Ebene eine wichtige Funktion einnahmen.

3.

Sozialer Zusammenhalt und Erzählen in der Corona-Krise

Während der durch die COVID-19-Pandemie weltweit ausgelösten Krise konsultierten die Regierungen vornehmlich Virologen (intentional nicht gegendert) und ordneten vor allem bewegungseinschränkende Maßnahmen2 an, 2

Nach der Einstufung der Infektionskrankheit als weltweite Pandemie am 11. März 2020 (vgl. Adhanom Ghebreyesus 2020) verhängten mehr als 100 Regierungen (vgl. Dunford et al. 2020; Ritchie et al. 2020) bis Ende desselben Monats sogenannte LockdownMaßnahmen, um Infektionsketten zu unterbrechen und in weiterer Folge Gesundheitssysteme zu entlasten. Die umgesetzten Maßnahmen reichten von Schulschließungen über Reisebeschränkungen bis hin zur vollständigen Schließung ganzer Wirt-

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um die Infektionskurve abzuflachen. Im Gegensatz dazu bzw. als Reaktion auf den plötzlichen gesellschaftlichen Stillstand und die gewonnenen Zeitressourcen wandten sich viele Bürger*innen bestehenden Pandemieerzählungen zu.3 Im Zuge des »ersten Lockdown-Schock-Effekt[s]« (Singer et al. 2021: 102) begannen zahlreiche Menschen auch, ihre eigenen Corona Fictions zu produzieren, um die Krise sowie das Krisenmanagement zu verstehen, um sich von der Angst vor Ansteckung abzulenken oder um das ununterbrochene Zuhausesein leichter zu ertragen.

3.1

Sozialer Zusammenhalt im ersten Pandemiejahr

Krisen, insbesondere Seuchenkrisen wie die COVID-19-Pandemie, »fungieren als sozialer Stresstest, der die Belastungsfähigkeit gesellschaftlicher Bindekräfte und die Wirkmächtigkeit kollektiver Ängste bzw. Sicherheitsvorstellungen offen legt« (Thießen 2014: 13-14). Im ersten Jahr der Corona-Krise lassen sich zum Beispiel auf nachbarschaftlicher Ebene ein neues Miteinander auf der einen Seite und ein gesellschaftliches Auseinanderdriften auf der anderen beobachten, was ferner die Frage aufwirft, ob sich die Pandemie gesamtgesellschaftlich auf den Zusammenhalt aller Gruppen gleichsam auswirkt (vgl. Borkowska und Laurence 2021: 619). Im Zuge von Krisen sowie Zeiten rascher gesellschaftlicher Veränderungen oder zunehmender gesellschaftlicher Spaltung zeichnet sich deshalb die Suche nach Lösungsmodellen ab, um ein »notwendige[s] Maß an gemeinsamer Identität, Solidarität, Vertrauen und Partizipation sicherzustellen« (Schiefer et al. 2012: 6). Veränderungen im sozialen Zusammenhalt und in der psychischen Gesundheit im ersten Jahr der COVID-19-Pandemie konnten bereits durch mehrere sozialwissenschaftliche Studien belegt werden. Die Daten zur sozialen Kohäsion von Borkowska und Laurence (2021) legen beispielsweise dar, dass die Wahrnehmung von sozialem Zusammenhalt im Juni 2020 im Vergleich zu präpandemischen Vergleichszeiträumen niedriger war. Dieser Rückgang des wahrgenommenen Zusammenhalts erwies sich in benachteiligten Gruppen, bei bestimmten ethnischen Minderheiten und bei Geringqualifizierten

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schaftszweige und umfassten auch Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren für bestimmte Bevölkerungsgruppen (vgl. DWDS 2022). Unter den konsultierten Pandemieerzählungen befanden sich beispielsweise Albert Camus’ Roman Die Pest (1947), Wolfgang Petersens Katastrophenfilm Outbreak (1995) oder Edgar Allan Poes Erzählung Die Maske des roten Todes (1842).

Lockdown-Corona-Fictions als Seismograph für sozialen Zusammenhalt

als besonders stark ausgeprägt. Die Daten von Brand und Kolleg*innen (2021) beziehen sich auf das Jahr 2020 und zeigen einen relativ stabilen sozialen Zusammenhalt für das erste Jahr der Pandemie. Sie weisen aber ebenfalls darauf hin, dass der Zusammenhalt unter Personen mit niedrigem ökonomischem Status, in prekären Lebenslagen, unter 30 Jahren oder mit niedrigem Bildungsstand geringer ausfällt. Aus den Daten der CovSocial-Studie von Singer und Kolleg*innen (2021: 102) ist erkennbar, dass »das psychische Wohlbefinden, die Resilienz und die soziale Kohäsion während des ersten Lockdowns im März 2020 abgenommen haben«, weshalb die Forschungsgruppe dieses Phänomen als »ersten Lockdown-Schock-Effekt« (ebd.) bezeichnet. Mit Bezug auf die Kategorie sozialer Kohäsion untersuchte sie den Aspekt der sozialen Beziehungen mit Fokus auf die Teildimensionen Vertrauen in Mitmenschen sowie politische Institutionen, Interaktion und Zugehörigkeitsgefühl. Die Ergebnisse zeigen, dass das Vertrauen in nahestehende Personen und Nachbar*innen stabil blieb, während die soziale und politische Beteiligung im ersten Lockdown massiv abnahm. Persönliche Interaktionen mit Mitmenschen wurden weniger, wenngleich (insbesondere von Frauen) versucht wurde, Beziehungen über soziale Medien zu pflegen. Auch das Zugehörigkeitsgefühl zur eigenen Stadt (hier am Beispiel Berlin), der eigenen Nation (hier am Beispiel Deutschland), und in weiterer Folge Europa sowie der Welt nahm ab (vgl. ebd.: 14, 85-99).

3.2

Entstehung von sozialem Zusammenhalt durch die Produktion von Corona Fictions

Bereits in Boccaccios Decameron (1349-1353), einer der ersten großen Pesterzählungen der europäischen Literaturgeschichte, tritt die soziale Funktion des Erzählens deutlich zutage. In der Rahmenhandlung erfahren wir von der 1348 in Florenz wütenden Pest, die die gut situierte Pampinea dazu veranlasst, mit einer Gruppe von weiteren sechs Frauen und drei Männern auf das Land zu flüchten und sich dort die Zeit mit Geschichtenerzählen zu vertreiben. Ohne den Aufruf Pampineas, die Stadt zu verlassen, wäre das Sichgegenseitig-Erzählen von Geschichten und die Sammlung von 100 Novellen also erst gar nicht möglich. Wie Sebastian Neumeister (2021) anmerkt, fungiert hier die Darstellung der Erzähler*innenrunde dabei weniger als eine Gesellschaftsutopie, sondern ihr erzählendes Zusammenkommen dient den Figuren vielmehr als Auszeit vom harten, durch die Seuche geprägten Alltag.

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In den Corona Fictions, die im Zuge des ersten Lockdowns erschienen, lässt sich ebenfalls ein gewisser Trend zum kollektiven Erzählen erkennen. Im Folgenden wird auf die Entstehung von sozialem Zusammenhalt im Literaturbetrieb zum einen und in der Musikbranche zum anderen verwiesen, insofern, als in diesen beiden Bereichen die Produktion der ersten – generell Kurzgattungen zurechenbaren – Corona Fictions beobachtet werden konnte (vgl. Hobisch et al. 2022).4 Am Beginn der Corona-Krise entstanden in den unterschiedlichsten Sprach- und Kulturräumen zahlreiche literarische Gemeinschaftsproduktionen, die in ihren Grundzügen der sozialen Funktion von Pampineas Gesellschaft ähneln.5 Diese Corona Fictions wurden zum Beispiel in Form von Anthologien konzipiert, worunter thematische, gattungs- und gruppenspezifische Sammelbände zu verstehen sind, die unter dem Signum des ersten Lockdowns erstellt wurden (vgl. Völkl [forthcoming]). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache, dass diese Corona-Fictions-Anthologien – entgegen der üblichen retrospektiven Zusammenstellung von Anthologien – im Zuge der Corona-Krise prospektiv entstanden sind. Das heißt, die Herausgeber*innen haben entweder direkt Personen angefragt, am Sammelband teilzuhaben, oder es wurden Schreibwettbewerbe veranstaltet.6 Wie den meisten Vorworten zu entnehmen, sind die Corona-Fictions-Anthologien aus dem Bedürfnis heraus entstanden, Zeugnis von diesem ersten, fast weltweit gleichzeitig stattfindenden Lockdown abzulegen. Die kollektiv geteilte Erfahrung der Isolation (teilweise alleine oder im engsten Kreis einer Familie oder Wohngemeinschaft) wurde zur weltweiten Inspirationsquelle. Die anthologischen Inhalte spiegeln demnach individuelle und kollektive Reaktionen auf die Anfangsphase der COVID-19-Pandemie wider, wie die Anthologie Récits infectés (Brassard et al. 2020) aus Quebec oder Bitácora del virus. Palabras del reposo (Giacosa und Siegrist 2020) aus Argentinien. Ebenso imaginieren sie aber auch postpandemische Weltentwürfe, wie in der franko-kanadischen Anthologie Imaginer 4

5 6

Umfassendere Werke, wie z.B. Romane oder Spielfilme, erschienen erst gegen Ende 2020, da deren Konzeption und Produktion in der Regel mehr Zeit in Anspruch nehmen als Musikvideos, (Web-)Serien, Gedichte oder Kurzgeschichten. Darunter finden sich auch dezidierte Decameron-Variationen (vgl. Stemberger 2021: 5664). Wettbewerbe wurden z.B. vom Collectif Sororistas (2020), von Avalos et al. (2020) oder von der Katholischen Universität von La Plata, Argentinien (Editorial UCALP 2020) veranstaltet.

Lockdown-Corona-Fictions als Seismograph für sozialen Zusammenhalt

l’après (Collectif 2020) oder in der chilenischen Sammlung COVID-19-CFCh. Antología sci fi en tiempos de pandemia (Espinoza Benavides 2020). Die futuristischen Handlungsstränge der Erzählungen in Espinoza Benavides’ Anthologie muten dabei recht dystopisch an, was auf die hier gelungene Verbindung von Science-Fiction- und Fantasy-Genre zurückzuführen ist, die bei der Visualisierung wissenschaftlicher Errungenschaften kaum an Beschränkungen der Imagination gebunden sind. Darüber hinaus erschienen auch gruppenspezifische Corona-Fictions-Anthologien, wie Les femmes écrivent le monde de demain (Collectif Sororistas 2020), die von einer Gruppe von 150 französischsprachigen Frauen – den Sororistas – herausgegebenen wurde und die ebenfalls postpandemische – allerdings feministische – Zukunftsvisionen vereint. Im argentinischen Sammelband Confines: antología en tiempo de riesgo (Aprea und Pasquali 2020) wurden ferner ausschließlich Texte von Personen aus der sogenannten Risikogruppe inkludiert. Ebenfalls als Reaktion auf den ersten Lockdown wurde online zwischen Mitte März und Mitte April 2020 eine Vielzahl an Musikproduktionen auf sozialen Medien in Form von (Balkon-)Konzerten live gestreamt oder auf Videoplattformen wie YouTube u.Ä. veröffentlicht, die sich unter den jeweiligen Hashtags miteinander verbanden. Auch wenn die zahlreichen Lieder, die mit #stayathome, #quedateencasa, #restecheztoi oder #BleibZuhause (oder #andratuttobene u.Ä.) versehen waren, oft von Einzelkünstler*innen stammen, so wurde hier durch die Verwendung der spezifischen Hashtags eine Gruppenzugehörigkeit und eine Verbundenheit mit all jenen hergestellt, die sich ebenfalls im Lockdown befanden. Für diese anfänglichen musikalischen Antworten auf die Pandemie, die vorerst nur im ersten Lockdown in dieser hohen Frequenz und Dichte entstanden, konnten Marcel Vejmelka und Timo Obergöker (vgl. 2021) vier thematische Liedgruppen ermitteln: (1) die LockdownLieder, die die Welt aus dem Lockdown heraus schildern und bebildern, (2) die Stay-at-home-Lieder, die von den positiven Seiten des Lockdowns erzählen und appellieren zu Hause zu bleiben, sowie (3) die meist gecoverten CharityLieder, die zu gegenseitiger Unterstützung und Solidarität aufrufen. Die letzte Gruppe (4) titulieren Vejmelka und Obergöker mit »the song is the dance«. Sie beinhaltet die »Jerusalema« Tanz-Challenge, die mit einer Choreographie zu diesem Song aus dem Jahr 2019 um die Welt ging und mit der sich Arbeitskräfte des Gesundheitswesens, der Polizei oder der Feuerwehr bei all jenen bedankten, die für sie zu Hause blieben, um das Gesundheitssystem nicht

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zu überlasten.7 Der kurzen Beschreibung der einzelnen Liedgruppen lässt sich bereits entnehmen, dass mit ihnen auch der Aspekt der Gemeinwohlorientierung beflügelt wurde. Die Lieder wurden unter anderem in virtuellen Konzerten zum Besten gegeben, die Tausende von Menschen gleichzeitig vor ihren jeweiligen Computerbildschirmen »versammelten«. Diese Konzerte im #stayathome-Format verstehen Martin Butler und Marek Jeziński (2021: 31) als Zeugnis des »pandemic dissocial«, d.h. als die Nachahmung des Sozialen durch virtuelle Formen der Kommunikation bzw. in diesem konkreten Fall, des – virtuellen – Zusammenseins.

3.3

Darstellung von sozialem Zusammenhalt in Corona Fictions

Trotz der anfänglich positiven Prognosen in den medialen und politischen Berichten während des ersten Jahres der Pandemie sind sowohl die Autor*innen/Kreator*innen kultureller Produktionen in der Realität als auch die Figuren der Corona Fictions in der Fiktion mit dem »ersten Lockdown-SchockEffekt« (Singer et al. 2021: 102) konfrontiert. Zurückgeworfen auf die private Sphäre der eigenen vier Wände, leiden auch Letztere unter den eingeschränkten Möglichkeiten der sozialen Vernetzung und haben Mühe, sozialen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten. Wie soziale Beziehungen, Solidarität und ein Gefühl von Verbundenheit aufgrund oder sogar trotz der Beschränkung auf die private Sphäre angeregt werden, wird nun am Beispiel des französischen Charity-Lieds Symphonie confinée – La tendresse (Vander 2020) (und anschließend der Funktion der Balkon-Metapher) exemplarisch gezeigt. Das Besondere an diesem Musikvideo ist, dass es nicht nur auf inhaltlicher Ebene sozialen Zusammenhalt darstellt, sondern diesen gleichzeitig im Zuge der Produktion erzeugt. Dieses Phänomen scheint sich laut Priscila Alvarez-Cueva

7

An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass nicht alle Bevölkerungsgruppen im gleichen Ausmaß von den Viruseindämmungsmaßnahmen betroffen waren. Die Gruppe der sich im ersten Lockdown befindenden Bevölkerung umfasste alle Altersgruppen – von Schulkindern bis hin zu Bewohner*innen von Altenheimen – sowie sämtliche Berufsgruppen, die nicht als »systemrelevant« eingestuft wurden. Während der (seit Pandemiebeginn weltweit mehrmals wiederholten) Lockdown-Phasen gingen demnach Beschäftigte im Lebensmittelverkauf, Gesundheits- und Transportwesen sowie bei der Polizei oder der Feuerwehr weiterhin regelmäßig zur Arbeit. Überall dort, wo es möglich war, wurde aus dem Home-Office gearbeitet und Home-Schooling praktiziert.

Lockdown-Corona-Fictions als Seismograph für sozialen Zusammenhalt

(2021) generell für das gemeinsame Musizieren oder die gemeinsame Rezeption von Corona-Fictions-Musikvideos zu bewahrheiten, wie sie in ihrem Artikel »Music to Face the Lockdown: An Analysis of Covid-19 Music Narratives on Individual and Social Well-Being« untersucht, da beide Prozesse nährend auf Wohlbefinden und soziale Kohäsion wirken. Symphonie confinée – La tendresse wurde während des ersten Lockdowns vom französischen Künstler Valentin Vander auf YouTube veröffentlicht. Es handelt sich dabei um eine Coverversion des 1963 produzierten Chansons »La Tendresse« des französischen Sängers und Schauspielers Bourvil. Die Chansonkundigen erkennen bereits durch die historische Referenz den Appell an das Mitgefühl und die Nächstenliebe, die mit diesem Lied angesprochen werden. Die Erträge des im Lockdown gecoverten Chansons wurden nämlich, wie aus der Beschreibung unter dem YouTube-Video ersichtlich, an die Fondation de France zur Unterstützung von Krankenhäusern gespendet (vgl. Vander 2020). Darüber hinaus erzählt das vierminütige Video anhand seiner Bildkomposition von der Stärke des Kollektivs und gemeinnütziger Zusammenarbeit. Während zu Beginn des Videos lediglich Valentin Vander zu sehen ist (vgl. Abb. 2) und nach ihm Aufnahmen weiterer Einzelpersonen folgen, kommen im weiteren Verlauf – zusätzlich zu den Einzelaufnahmen – immer mehr Splitscreen-Einstellungen zum Einsatz, d.h. geteilte Bildschirme mit mehreren Kacheln, auf denen gleichzeitig jeweils wieder Einzelpersonen sichtbar werden (vgl. Abb. 3). Am Ende des Liedes erscheinen schließlich alle Künstler*innen, die an diesem Charity-Projekt partizipierten, auf kleinen Kacheln im Bild (vgl. Abb. 4). Das sichtliche Anwachsen der Gruppe ist dabei deutlich als Appell zur Nachahmung an die Öffentlichkeit gedacht, das Projekt zu unterstützen und solidarisch zu Hause zu bleiben. Die Tatsache, dass sich die Protagonist*innen des Videos – in diesem Fall die Musiker*innen und Sänger*innen selbst – zumeist in ihren Wohnungen, Häusern oder Vorgärten zeigen, verstärkt diesen Appell. Dieser intime Blick auf die Künstler*innen in ihren eigenen vier Wänden lässt die Grenzen zwischen öffentlicher und privater Sphäre verschwimmen (vgl. Vejmelka und Obergöker 2021: 35:06-35:40), wodurch ein neuartiges Verhältnis der Nähe zum Publikum hergestellt wird und die teilweise unterschiedlichen, teilweise ähnlichen Erfahrungen, die gleichzeitig im Lockdown gemacht werden, an Sichtbarkeit gewinnen.      

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Abbildung 2: Symphonie confinée – La tendresse, Min. 0:11.

Abbildung 3: Symphonie confinée – La tendresse, Min. 3:11.

     

Lockdown-Corona-Fictions als Seismograph für sozialen Zusammenhalt

Abbildung 4: Symphonie confinée – La tendresse, Min. 3:41.

Wie bereits erwähnt, stellt das Video aber nicht nur die Stärke sozialen Zusammenhalts in den Vordergrund, sondern lebt sozialen Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung auch durch seine besondere Machart in einer Zeit erschwerter Produktionsbedingungen. Um dieses Musikvideo zu realisieren, brachte Valentin Vander 45 Musiker*innen und Sänger*innen zusammen, ohne dass diese jemals physisch zusammengekommen wären. Vander schickte den Kooperationspartner*innen lediglich seinen Gitarrentrack und/oder Gesangstrack von La Tendresse, woraufhin diese ihren eigenen Instrumental- und/oder Gesangspart (für den gesamten Song) in einem möglichst sauberen Klang und Bild hinzufügten. Weitere künstlerische Vorgaben waren nicht vorhanden. Am Ende lagen Vander 45 Versionen des kompletten Liedes mit seiner Gitarre, seiner Stimme und dem Part jeder bzw. jedes Einzelnen vor. Aus diesen wurden in einer stundenlangen Mosaikarbeit aussagekräftige Teile der Einzelversionen ausgesucht, zusammengeschnitten und zu einer Symphonie arrangiert. Als weiteres Beispiel für die Darstellung sozialen Zusammenhalts auf Inhaltsebene dient nun der in der Anfangsphase der Corona-Krise zum metaphorischen Ort der Solidaritätsbekundungen stilisierte Balkon. Dieser Mauervorsprung, von dem aus im ersten Lockdown ein Großteil der Bevölkerung allabendlich seinen Tribut an die systemrelevanten Bürger*innen zollte, fin-

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det sich in zahlreichen Corona Fictions aus dem ersten Pandemiejahr wieder. Die Balkonaufnahmen, wie jene in der Sitcom Diarios de la cuarentena (Longoria 2020)8 (Abb. 5), zeigen zumeist Stadtbewohner*innen, die in Spanien um 20 Uhr auf ihre Balkone treten und minutenlang in feierlicher Stimmung vor sich hin klatschen. Dieser solidarische Akt wird am Ende der ersten Episode von Diarios de la cuarentena auch filmisch gebührend zelebriert, indem hier dieselbe statische Kameraeinstellung mehr als 30 Sekunden lang die klatschende Menge fokussiert. Diese und ähnliche Balkonszenen sind insbesondere in filmischen Corona Fictions stark vertreten. Sogar der Protagonist Juan von ¡Ni te me acerques! (Ramos del Val 2020), der sich mitten in der Einöde eines verlassenen Hotels befindet, steigt abends auf den Balkon hinaus, um vor allem dem öffentlichen Gesundheitswesen mit gebrülltem »¡Viva la sanidad pública!« (dt.: »Es lebe das Gesundheitswesen!«) für deren Einsatz zu danken (Ramos del Val 2020: 01:35:41). Diese als Solidaritätsakt interpretierte neue Handlungspraktik des ersten Lockdowns, die alsbald von unterschiedlichsten Stimmen kritisiert wurde,9 wird von Andrea Scrima, der Herausgeberin des Sammelbandes Writing the Virus (2020), folgendermaßen beschrieben: »In the first days of lockdown, a solemn mood prevailed as we watched health workers battle an invisible enemy under inconceivable conditions. […]. As a new sense of solidarity took hold, we adhered to lockdown and quarantine, we scrubbed our hands and applauded essential workers every evening from our windows and balconies.« (Scrima 2020) Die Bezeichnung des Virus als »unsichtbarer Feind« (invisible enemy), gegen den das Gesundheitspersonal kämpft (to battle), ist hier besonders auffällig,

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Noch im ersten Lockdown hatte der spanische Filmproduzent Álvaro Longoria die Idee, diese kollektive Erfahrung in der Sitcom Diarios de la cuarentena (Longoria 2020) zu verarbeiten. Die acht jeweils etwa 30 Minuten langen Episoden (capítulos) der Serie zeigen, wie die Bewohner*innen von zehn verschiedenen Haushalten mit dem plötzlich veränderten Alltag zurechtkommen, denn der Lockdown wurde in Spanien – wie in der ersten Folge gezeigt – über Nacht verhängt. Wichtig anzumerken ist, dass die Serie im Internet auf dem Sender RTVE zwischen dem 7. April und dem 19. Mai 2020, also noch mitten im spanischen Lockdown, ausgestrahlt wurde. Am Ende des französischen Essaybandes Tracts de crise, dessen 69 Essays im französischen Lockdown vom 18. März bis 11. Mai 2020 publiziert wurden, fragt Sylvain Tesson (2020: 538f) beispielsweise, ob nicht nur den Intensivmediziner*innen applaudiert würde und ob man nicht auf anderes essenzielles Personal vergessen würde.

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Abbildung 5: Diarios de la cuarentena (Longoria 2020, Capítulo 1, 27:19-27:52).

befördert der Rückgriff auf die Kriegsrhetorik nicht zuletzt den gemeinsamen Kampfgeist. Die kämpferische Seuchenrhetorik zieht sich durch die faktualen und fiktionalen Narrative der SARS-CoV-2-Pandemie gleichermaßen. So zum Beispiel erwähnt der französische Präsident in seiner Rede vom 16. März 2020 nicht zufällig sechs Mal, dass Frankreich im Krieg stünde. Mit »Nous sommes en guerre« (dt.: »Wir sind im Krieg«) beschwört er letztlich die Verbundenheit und Mobilmachung des französischen Volkes im »Kampf gegen den unsichtbaren Feind« (vgl. Pröll 2020: 307; Schmelzer 2020: 138-141). Fiktional greift der französische Corona-Fictions-Film 8 Rue de l’Humanité10 (Boon 2021) in seiner Einstiegsszene simultan neben menschenleeren Straßen in Paris einen Teil dieser Rede mit Macrons Stimme aus dem Off ebenfalls auf, bevor die Kadrage eine der für die Pandemie typischen Pariser Balkon-Klatsch-Szenen in den Fokus nimmt, die auch ein Plakat mit folgender Aufschrift beinhaltet: »CONFINÉS ÉGALITÉ FRATERNITÉ« (Boon 2021: 00:01:09) (dt.: »Lockdown,

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Für weitere Analysen von Boons Film siehe Obermayr und Völkl (2022).

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Gleichheit, Brüderlichkeit«), und den Impetus des sozialen Zusammenhalts somit gleich an den Anfang des Filmes stellt. Die Kriegsrhetorik in Verbindung mit dem Balkon findet sich auch in den Texten der Corona-Fictions-Anthologien wieder. So zum Beispiel wird der Mauervorsprung im Gedicht »El Niño Cobaya« zum Schützengraben (trincheras), von dem aus der Applaus zu den Kugeln (balas) der spanischen Krieger*innen (guerreros españoles) mutiert, mit dem der Kampf gegen das Virus ausgetragen wird (librar sus batallas): »Las trincheras son balcones/y los aplausos son balas/de guerreros españoles/que libran así sus batallas« (Fedriani 2020: 128).11 Auch in der dystopischen Gewinnergeschichte »El equilibrio natural« (Vara 2020) der Anthologie La vida en tiempos del coronavirus (Avalos et al. 2020) erzählt Gaia, die Virologin aus einer entfernten Zukunft, von den Anfängen der Pandemie und erwähnt dabei die rituellen Solidaritätsbekundungen auf den Balkonen mit dem Gesundheitspersonal, das am Schlachtfeld Haut und Leben ließ (se dejaba la piel y la vida en el campo de batalla). Dabei beschreibt sie auch, wie die Menschen der Angst mit Kreativität begegneten (afrontó el miedo con creatividad) und das allabendliche Balkonklatschen zu einer positiven Erfahrung wurde, indem es ein Gefühl von Geselligkeit auslöste (última gota de sociabilidad): »La gente afrontó el miedo con creatividad y resultaron historias tan bellas como los aplausos desde el balcón. Se convirtieron en un ritual. Una última gota de sociabilidad. A las ocho, todos los ciudadanos se asomaban a sus ventanas para aplaudir a un personal sanitario que como Gaia, se dejaba la piel y la vida en el campo de batalla. La solidaridad era una cualidad que no podían encerrar.« (Vara 2020: 18)12 Mit anderen Worten können der Balkon bzw. das Balkongeklatsche als ein Ort bzw. ein Mittel angesehen werden, mit dem soziale Beziehungen, Solidarität

11 12

Übersetzung: »Die Schützengräben sind Balkone/und der Beifall sind Kugeln/der spanischen Krieger*innen/die so ihre Schlachten schlagen.« Übersetzung: »Die Menschen begegneten der Angst mit Kreativität, und die Geschichten waren so schön wie der Beifall vom Balkon. Sie wurden zu einem Ritual. Ein letzter Tropfen Geselligkeit. Um acht Uhr lehnten sich alle Bürger*innen aus ihren Fenstern, um den Gesundheitshelfern zu applaudieren, die wie Gaia ihre Haut und ihr Leben auf dem Schlachtfeld gelassen haben. Solidarität war eine Eigenschaft, die sie nicht wegschließen konnten.«

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und ein Gefühl von Verbundenheit aufgrund oder sogar trotz der Beschränkung auf die private Sphäre hervorgerufen werden. Dass diese Bekundung der Solidarität temporär seien und nicht ewig währen würden, lässt sich auch schon in den Corona Fictions ablesen, wenn die Erzählerin aus »Mentiras« (Fedriani 2020) zum Beispiel von der Erschöpfung des sozialen Zusammenhalts nach sechs Monaten Lockdown berichtet: »Llevamos seis meses encerrados. #UnDiaMenos y #EstolovencemosUnidos siguen siendo los hashtags del gobierno. No obstante, la España triste y aburrida ya no sale al balcón a aplaudir. Vivimos en letargo. Parece la hora de la siesta en agosto. Una siesta eterna.« (Fedriani 2020: 117).13 Das »erzählende Ich« vergleicht hier die spanische »siesta en agosto«, also den hochsommerlichen Mittagsschlaf während brütender Hitze im August, mit der Lockdownstimmung im Land: ausgestorbene Straßen, geschlossene Läden und erst recht niemand (mehr) auf den Balkonen.

4.

Conclusion

Im ersten Lockdown am Beginn der Corona-Krise im März 2020 wurde physisches Abstandhalten zum Gebot der Stunde. Hierbei konnte zeitgleich jedoch ein soziales Näherrücken als eine Art Coping Strategie beobachtet werden, das insbesondere im verbindenden Potenzial des Geschichtenerzählens in Erscheinung trat. Der vorliegende Beitrag zeigte am Beispiel von audiovisuellen und literarischen Corona Fictions, wie durch das Erzählen und Teilen von Geschichten, aktive Vernetzung und sozialer Zusammenhalt gefördert werden. So wurden insbesondere im ersten Lockdown neben musikalischen und filmischen Produktionen, die sich z.B. ähnlicher Hashtags auf YouTube, Twitter und ähnlichen Plattformen bedienten, auch vermehrt literarische Texte im Kollektiv geschaffen, die sich z.B. in der Kreation von Corona-Fictions-Anthologien äußerten. Gemein ist diesen Gemeinschaftsproduktionen das (virtuelle) Näherrücken und die soziale Vernetzung, wobei diese sozio-kulturelle Partizipation

13

Übersetzung: »Wir sind seit sechs Monaten eingesperrt. #EinTagWeniger und #WirSchaffenDasGemeinsam sind immer noch die Hashtags der Regierung. Doch das traurige und gelangweilte Spanien geht nicht mehr auf den Balkon, um zu applaudieren. Wir leben in Lethargie. Es fühlt sich an wie die Siesta im August. Eine ewige Siesta.«

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durch die neuen Kommunikationstechnologien, die eine transnationale Kommunikation in Sekundenschnelle erlauben, ermöglicht wurde. Durch das Erzählen ähnlicher Erfahrungen, das Einschreiben in das kollektive Gedächtnis und das Aufzeigen von Strategien für mehr individuelle und kollektive Widerstandsfähigkeit im realen Leben während der Pandemie bieten sowohl Produktion als auch Rezeption der Lockdown-Corona-Fictions allen Beteiligten Unterstützung und Anleitung zugleich, um diese außergewöhnliche Zeit so gut wie möglich zu überstehen und zu verarbeiten.

Danksagung Diese Forschung wurde durch den Wissenschaftsfonds (FWF) gefördert, P 34571-G; Projektteam: Yvonne Völkl, Julia Obermayr, Elisabeth Hobisch.

Literatur Corona Fictions Aprea, Carlos und Roberto Pasquali (Hg.). Confines. Antología en tiempo de riesgo. Anthology, La Plata: Pixel, 2020. Avalos, Guadalupe, et al. (Hg.). La vida en tiempos del Coronavirus: Antología. Anthology, s.l.: Nordlys Publicaciones, 2020. Boon, Dany. 8 Rue de l’Humanité, Frankreich: Netflix, 2021. Brassard, Léonore, et al. (Hg.). Récits infectés. Anthology, Montréal: 2020, recitsinfectes.com/. Aufgerufen am 22. Feb. 2022. Collectif (Hg.). Imaginer l’après. Anthology. Sudbury, ONT: Éditions Prise de parole, 2020. Collectif Sororistas (Hg.). Les femmes écrivent le monde de demain. Anthology, Domont: Dupli-Print, 2020. Corvillo, Carolina (Hg.). Delirios de cuarentena: Ficciones de 20 autores en la pandemia del 2020. Anthology, Madrid: s.l., 2020. Editorial UCALP (Hg.). Antología. Historias de cuarentena. Anthology, La Plata – Buenos Aires: UCALP, 2020. Espinoza Benavides, Leonardo (Hg.). COVID-19-CFCh. Antología sci fi en tiempos de pandemia. Anthology, Chile: Sietch Ediciones, 2020.

Lockdown-Corona-Fictions als Seismograph für sozialen Zusammenhalt

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Autor*innen

Jana Baumgärtner: Studierte Lehrerin für die Fächer Sport und Biologie und Doktorandin an der Universität Graz im Arbeitsbereich Bewegungs- und Sportpädagogik. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit Schüler*innenPerspektiven zum Sportunterricht und Körpernormorientierungen. Sabine A. Haring-Mosbacher: Assoziierte Professorin für Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Graz. Arbeitsschwerpunkte: Emotionssoziologie, Historische Soziologie, Geschichte der Soziologie, zentraleuropäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Josef Hlade: Postdoctoral researcher bei der Gesellschaft der Ärzte in Wien/ Uni Graz. Arbeitsschwerpunkte: Medizingeschichte, Geschichte der analytischen Philosophie, Neukantianismus. Hanna Hof: Ökonomin, aktuell Bachelor-Studium am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Altersökonomie, Gleichstellungsökonomik. Barbara Hönig: Habilitierte Soziologin, seit 2021 Postdoc-Universitätsassistentin am Institut für Soziologie der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Wissens- und Wissenschaftssoziologie, Geschichte der Sozialwissenschaften, Soziologie europäischer Integration. Margareta Kreimer (†): Ökonomin, von 2007 bis 2021 außerordentliche Universitätsprofessorin am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Care-Economics, Arbeitsmarktökonomik, Feministische Ökonomie, Gleichstellungsökonomik.

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Sozialer Zusammenhalt in der Krise

Christoph Kreinbucher-Bekerle: Promovierter Sportpsychologe, beschäftigt sich in seiner Lehr- und Forschungstätigkeit mit Fragen rund um Teilhabemöglichkeiten an Sport- und Bewegungsangeboten in schulischen und außerschulischen Settings. Simone Liesnig: Ökonomin, aktuell Master-Studium am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Gleichstellungsökonomik, Bildungs- und Weiterbildungsökonomik. Rudolf Meer: Post-Doc Mitarbeiter am Zentrum für Wissenschaftsgeschichte der Universität Graz. Arbeitsschwerpunkte: Integrating History and Philosophy of Science, Kant und Neukantianismus, Realismus-/ Antirealismusproblem. Regina Mikula: Außerordentliche Universitätsprofessorin am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz im Arbeitsbereich Empirische Lernweltforschung und Hochschuldidaktik. Arbeitsschwerpunkte: Biografie und Lernen, feministische Bildungsforschung, Hochschuldidaktik, Migrationsforschung. Julia Obermayr: Promovierte Kultur- und Medienwissenschaftlerin der Romania und Amerikas. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Lesbian Web Series, Minderheitenidentitäten und weibliche Repräsentationen in audiovisuellen Medien sowie sozialer Wandel in zeitgenössischen Corona Fictions. Sebastian Ruin: Professor für Bewegungs- und Sportpädagogik an der Universität Graz. In Lehre und Forschung befasst er sich schwerpunktmäßig mit Bildung und Erziehung im Kontext von Bewegung, Spiel und Sport, mit Körper und Körperlichkeit sowie mit Diversität. Karin Scaria-Braunstein: Universitätsassistentin am Institut für Soziologie der Universität Graz. Arbeitsschwerpunkte: Empirische Sozialforschung, Politische Soziologie, Jugendforschung, Kunstsoziologie. Katharina Scherke: Außerordentliche Universitätsprofessorin am Institut für Soziologie der Universität Graz und Sprecherin des Forschungsnetzwerkes »Heterogenität und Kohäsion« ebenda. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der

Autor*innen

Soziologie, Kultur- und Kunstsoziologie, Soziologie der Emotionen, Wissenschaftssoziologie. Manfred Sonnleitner: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz. Arbeitsschwerpunkte: Krisenpädagogische sowie logotherapeutische und existenzanalytische Ansätze in Handlungsfeldern der sozialen Arbeit, Existenzielle Pädagogik und professionelle Beziehungsgestaltung in psychosozialen Arbeitsfeldern, Existenzanalytische Konzepte der Krisenprävention. Annette Sprung: Professorin für Migration und Bildung am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz. Arbeitsschwerpunkte: Migration, Diversität, Rassismus, Erwachsenenbildung, politische Bildung, active citizenship. Yvonne Völkl: Habilitierte Literatur- und Kulturwissenschaftlerin im Fachgebiet der Romanistik. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich u.a. mit Literatur und Presse des 18. Jahrhunderts, franko-kanadischer Migrationsliteratur sowie zeitgenössischen Corona Fictions. Michael Wrentschur: Außerordentlicher Universitätsprofessor am Arbeitsbereich Sozialpädagogik, Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz und künstlerischer Leiter von InterACT, Werkstatt für Theater und Soziokultur. Arbeitsschwerpunkt: Soziale Theater- und Kulturarbeit, Partizipation, Armut und Prekarität, Szenisches Forschen.

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Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)

Die Corona-Gesellschaft Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft 2020, 432 S., kart., 2 SW-Abbildungen 24,50 € (DE), 978-3-8376-5432-5 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5432-9 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5432-5

Vera Hofmann, Johannes Euler, Linus Zurmühlen, Silke Helfrich

Commoning Art – Die transformativen Potenziale von Commons in der Kunst Juli 2022, 124 S., kart 19,50 € (DE), 978-3-8376-6404-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-6404-5

Kerstin Jürgens

Mit Soziologie in den Beruf Eine Handreichung 2021, 160 S., kart. 18,00 € (DE), 978-3-8376-5934-4 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5934-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Soziologie Gabriele Winker

Solidarische Care-Ökonomie Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima 2021, 216 S., kart. 15,00 € (DE), 978-3-8376-5463-9 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5463-3

Wolfgang Bonß, Oliver Dimbath, Andrea Maurer, Helga Pelizäus, Michael Schmid

Gesellschaftstheorie Eine Einführung 2021, 344 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-4028-1 E-Book: PDF: 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4028-5

Bernd Kortmann, Günther G. Schulze (Hg.)

Jenseits von Corona Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft 2020, 320 S., Klappbroschur, 1 SW-Abbildung 22,50 € (DE), 978-3-8376-5517-9 E-Book: PDF: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5517-3 EPUB: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5517-9

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