EU-Beitritt Türkei

Entwicklung im Beitrittsprozess – aktueller Stand

Unter den derzeitigen Beitrittskandidaten ist die Türkei das Land, das sich schon am längsten um eine Mitgliedschaft in der EU bemüht. Vertragliche Beziehungen zwischen der EU und der Türkei bestehen schon seit vielen Jahrzehnten, das Land ist ein wichtiger Partner der Europäischen Union, in den vergangenen Jahren insbesondere auch aufgrund der Zusammenarbeit im Zuge des EU-Türkei-Migrationspaktes. Bereits 1963 unterzeichnete die Türkei mit der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) das Assoziierungsabkommen von Ankara. Die im Rahmen dieses Abkommens im Jahre 1995 errichtete Zollunion ist sowohl für die EU als auch für die Türkei mit wirtschaftlichen Vorteilen verbunden.

Ein möglicher EU-Beitritt der Türkei war schon seit 1983 in der politischen Diskussion, ein offizielles Beitrittsgesuch bei der EU hat die Türkei schließlich im Jahr 1987  eingereicht. 1999 wurde dem Land der Status eines Beitrittskandidaten verliehen. Die Beitrittsverhandlungen begannen im Jahr 2005, wurden jedoch aufgrund der unbefriedigenden Situation von Rechtsstaatlichkeit, fortwährenden Menschenrechtsverletzungen und der Zypernproblematik vor einigen Jahren eingefroren. Die Aussichten auf einen EU-Beitritt stehen somit seit längerem schlecht, es gilt als unwahrscheinlich, dass die Türkei eine Vollmitgliedschaft erlangen wird. Allerdings scheint im Zuge des NATO-Gipfels 2023 doch wieder eine Annäherung möglich. Nachdem Präsident Erdogan signalisiert hatte, seine Zustimmung zum NATO-Beitiritt Schwedens zu erteilen, sofern die EU der Türkei den Weg in die Europäische Union ebne, sagte EU-Ratspräsident Charles Michel zu, nach Möglichkeiten zu suchen, die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei zu „revitalisieren“. Die Kommunalwahlen Anfang April 2024, aus denen die Oppositionspartei CHP als Sieger hervorging, könnten ein Fingerzeig sein in Richtung weiterer Annäherung der Türkei an die EU.

Wie stehen die Chancen auf einen EU-Beitritt der Türkei? Was sind Schwierigkeiten und Herausforderungen?  ARTE Info+ erklärt es in einem Video.

Die Beitrittsverhandlungen - Schwierigkeiten und Hürden

Antrag auf Beitritt zur EU


1987 hat die Türkei einen Beitrittsantrag beim Europäischen Rat eingereicht. Nach Absprache mit dem Rat der EU gibt die Europäische Kommission eine Stellungnahme über den Antrag auf EU-Mitgliedschaft ab.

Status als Beitrittskandidat


Im Anschluss an die Tagung des Europäischen Rates vom Dezember 1999 in Helsinki hat die Türkei schließlich den Status eines Bewerberlandes erhalten. Seither zählt die Türkei alsozu den Beitrittskandidaten.

Der Wege hin zu Beitrittsverhandlungen


Bis zum tatsächlichen Beginn der  Beitrittsverhandlungen vergehen manchmal jedoch wiederum einige Jahre.  Schon vorab müssen gewisse Reformen umgesetzt sein. Es ist also oftmals ein weiter Weg bis zum Start der Verhandlungen. In laufenden Fortschrittsberichten verfolgt die EU den Stand der Entwicklung.

Im Falle der Türkei hat der Europäische Rat in seinen Schlussfolgerungen auf der Tagung vom 16./17. Dezember 2004 festgestellt, dass die Türkei die Kriterien für die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt.

Beginn und Verlauf der Beitrittsverhandlungen


Ziel der Beitrittsverhandlungen ist es, in 35 Kapiteln die einzelnen Bereiche wie Wirtschaftspolitik, Außenpolitik, Rechtsstaatlichkeit und einige mehr zu verhandeln. Die Verhandlungen werden in Beitrittskonferenzen zwischen den Regierungen der EU-Länder und der Regierung des Kandidatenstaates geführt. Ziel ist die vollständige Übernahme des rechtlichen Besitzstandes der EU durch den Beitrittskandidaten.

Im Falle der Türkei beinhaltet der von beiden Seiten beschlossene Verhandlungsrahmen daneben auch eine sogenannte Einbeziehungsklausel, die eine weitgehende Verankerung der Türkei in Europäischen Strukturen für den Fall vorsieht, dass die Türkei langfristig nicht in der Lage ist, den Verpflichtungen einer EU-Vollmitgliedschaft vollständig nachzukommen. Eine Suspendierungsklausel sieht die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen für den Fall vor, dass die Türkei Grundwerte der Europäischen Union wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ernsthaft und dauerhaft bricht.

Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wurden am 3. Oktober 2005 eröffnet. Der Rat der EU hat in seinen Schlussfolgerungen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gebilligt. Insgesamt wurden von den 35 Kapiteln bislang jedoch nur 18 Kapitel eröffnet. Nur ein Kapitel konnte bislang geschlossen werden. das letzte Kapitel wurde 2016 eröffnet. Aufgrund der Entwicklungen in der Türkei sprach sich das  EU-Parlament im November 2016 für ein Einfrieren der Beitrittsgespräche aus.

Entwicklung der Verhandlungen - Schwierigkeiten und Hürden

Zypern-Problematik

Im Laufe der Jahre war es aufgrund von divergierenden Ansichten und Vertragsverletzungen immer wieder zu zeitweiligen Blockierungen der Verhandlungen gekommen. Ein hauptsächliches Problem rankt sich dabei um die Zypernfrage. Vor Aufnahme der Beitrittsverhandlungen war die Türkei in dieser Hinsicht auf die Europäische Union zugegangen. Premierminister Recep Tayyip Erdogan versprach beim EU-Gipfel in Brüssel Ende 2004, die Ausdehnung der Zollunion auf die zehn neuen EU-Länder – und damit auch Zypern – anzuerkennen. Er sei zur späteren Unterzeichnung des Protokolls zur Zollunion bereit. Am 29.07.2005 wurde diesbezüglich ein Zusatzprotokoll zum Abkommen von Ankara, das sogenannte Ankara-Protokoll, unterzeichnet. Kurz nach Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen hat die Türkei jedoch bekräftigt, das EU-Mitglied Zypern weiterhin nicht anerkennen zu wollen. Die Europäische Union hingegen verlangte von der Türkei, Zypern im Zuge der Beitrittsverhandlungen anzuerkennen. Bis heute ist die Missachtung der Souveränität und Hoheitsrechte Zyperns wie auch Griechenlands eine der entscheidenden Hürden, die einem EU-Beitritt der Türkei entgegenstehen.

Bereits im Jahr 2006 drohte die Europäische Kommission damit, die Beitrittsverhandlungen abzubrechen, wenn Ankara seine Häfen für Schiffe aus Zypern nicht öffne. Die Türkei weigerte sich jedoch weiterhin, die in der Zollunion geschaffene Warenverkehrsfreiheit in Form eines freien Zugangs zyprischer Schiffe, Flugzeuge und LKWs auf türkisches Hoheitsgebiet zu gewährleisten.

Der Rat der Europäischen Union hat diese Vertragsverletzungen wiederholt kritisiert und als Antwort darauf im Dezember 2006 die teilweise Aussetzung der Beitrittsverhandlungen beschlossen.Bis zur Lösung des Zypernkonfliktes und einer nicht-diskriminierenden Umsetzung des Ankara-Protokolls durch die Türkei blieben weitere Verhandlungskapitel ungeöffnet und konnten keine weiteren Kapitel abgeschlossen werden. Der Rat der EU hat diesen Beschluss wegen Ausbleibens von Fortschritten bei der Umsetzung des Ankara-Protokolls nach 2006 jährlich erneuert.

Menschenrechtsverletzungen

In den jährlichen Fortschrittsberichten über die Türkei kritisiert die EU-Kommission regelmäßig den politischen  Reformprozess. Bereits im Fortschrittsbericht 2006 hatte sie das Reformtempo kritisiert, das sich seit dem Beginn der Verhandlungen  verlangsamt habe. Signifikante weitere Anstrengungen seien erforderlich. Die Liste der Kritikpunkte ist lang: Es gebe nach wie vor Berichte über Folter und weitere Menschenrechtsverletzungen. Das geltende Strafrecht in Sachen Meinungsfreiheit sei immer noch Grund für Besorgnis. Der Einfluss des Militärs sei noch immer viel zu groß, die Reform des Justizsystems komme nicht schnell genug voran. Kritisiert wurde unter anderem auch die mangelnde Religionsfreiheit in der Türkei.

„Positive Agenda“ seit 2012 als Ergänzung zu den Beitrittsverhandlungen

Die Europäische Kommission verfolgt gegenüber der Türkei seit 2012 die „Positive Agenda“ als Ergänzung zu den Beitrittsverhandlungen. Neben einer Vertiefung des außenpolitischen Dialogs sieht diese unter dem Dach des Assoziierungsabkommens der Europäischen Union und der Türkei von 1963 einen technischen Dialog zu den Themen des EU-Besitzstands unterhalb der Schwelle von Kapitelöffnungen und -schließungen vor, welcher seit 2012 in acht Arbeitsgruppen geführt wird.

Dynamisierung der Verhandlungen 2013 und 2015

2013 und erneut 2015 kam es zu einer Dynamisierung der zwischenzeitlich weitgehend blockierten Beitrittsverhandlungen. Die Europäische Union schloss mit der Türkei 2013 ein Rückübernahmeabkommen, das Rückführungen ausreisepflichtiger Personen in die Türkei regelt. Gleichzeitig wurden Verhandlungen über eine Visaliberalisierung aufgenommen und der Türkei ein Fahrplan zu Schaffung der Voraussetzungen übermittelt, der insgesamt 72 zu erfüllende Bedingungen beinhaltet.

Putschversuch 2016 - Weitere Rückschritte im Bereich Rechtsstaatlichkeit

Eine weitere Zäsur war der Putschversuch in der Türkei im Jahr 2016. Die seitdem eingetretenen Entwicklungen in der Türkei werden von Europäischen Union  mit großer Sorge betrachtet. Die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit sowie Achtung der Grundfreiheiten in der Türkei bieten fortwährend Anlass zu Sorge. Angesichts nachhaltig gravierender Rückschritte in Schlüsselbereichen wie Achtung der Grund- und Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit liegen die Beitrittsverhandlungen derzeit faktisch auf Eis.

Spannungen im östlichen Mittelmeerraum - Griechland und Zypern

Auch die Lage im östlichen Mittelmeer trug weiterhin zu Spannungen bei. Die Türkei steht dort im Konflikt mit den EU-Mitgliedern Griechenland und Zypern um die Ausbeutung großer Gasvorkommen. Nach den umstrittenen Erdgas-Bohrungen vor Zypern 2019, hatte die EU daraufhin Sanktionen gegen die Türkei beschlossen. Zu den Strafmaßnahmen zählten die Kürzung von EU-Geldern und die vorläufige Beendigung von Spitzengesprächen über Handelsthemen.

Politische Affronts - Konfrontationen mit der EU

In der Vergangenheit war Präsident Erdogan schon mehrfach mit politischen Affronts und Brüskierungen aufgefallen, die ihn auf Konfrontationskurs mit der EU brachten.. Der Fall um Osman Kavala, Kunstmäzen und Menschenrechtsaktivist, rückte jüngst wieder in die Schlagzeilen. Kavala  befindet sich seit vier Jahren in Haft, da er die Gezi-Park-Proteste 2013 in Istanbul mit initiiert und die Regierung habe stürzen  wollen. 2019 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Freilassung gefodert. 2020 hatte der Europarat der Türkei mit Disziplinarmaßnahmen gedroht. Nachdem  jüngst zehn Botschafter - darunter auch Deutschland, Frankreich und der USA - nun ebenfalls die Freilassung Kavalas forderten, erklärte Erdogan sie zu „unerwünschten Personen“ und drohte mit einer Ausweisung.  Der Fall Osman Kavala ist nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Roy Karadag wichtig, um zu zeigen, dass Demokratie für die EU ein bedeutender Faktor sei. Die deutsche und die europäische Seite sollten demonstrieren, ob ihnen etwas an der türkischen Demokratie und auch am EU-Beitrittsverfahren der Türkei liege oder ob sie hier sowieso keine Zukunft mehr sehen und deshalb nicht groß etwas unternehmen würden, auch  aus realpolitischen Gründen, um die Partnerschaft nicht zu gefährden. Solange die Türkei sich der Umsetzung eines Europaratsurteils widersetze, habe sie keine Zukunft in der EU,  Perspektiven gebe es nur in einer engen Anbindung an die freie westliche Welt, so damals CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt.

Anfang Dezember 2021 griff der Europarat zu einem selten genutzten Mittel und leitete ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Türkei ein, da Kavala noch immer nicht freigelassen wurde. Als Mitgliedsland des Europarats ist die Türkei verpflichtet, sich an Urteile des Gerichts zu halten. Der Europarat, dem aktuell 46 europäische Länder angehören (Russland ist jüngst ausgeschieden), wacht unter anderem über die Einhaltung der Menschenrechte und ist keine EU-Institution.

Am 25. April 2022 wurde Osman Kavala wegen eines angeblichen Umsturzversuches von einem Istanbuler Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt. International löste das Urteil Entsetzen und scharfe Kritik aus. Konsequenzen für die Mitgliedschaft der Türkei im Europarat werden erwartet.

Auch im Fall des Journalisten Deniz Yücel hatte der  Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Januar 2022 eine Strafe an die Türkei erlassen. Knapp vier Jahre nach seiner Freilassung muss die Türkei nun wegen seiner Inhaftierung eine Geldstrafe zahlen.

Weitere Rückschritte - Kaum noch Chancen auf Vollmitgliedschaft

Die Türkei hat kaum noch Chancen auf einen Beitritt zur Europäischen Union. Das stellte die EU-Kommission bereits im Fortschrittsbericht 2019  klar. Das Land entferne sich immer weiter von den Werten der Gemeinschaft.„Die Türkei hat sich weiter von der Europäischen Union wegbewegt”, erklärte die Kommission, „Die Verhandlungen sind (...) praktisch zum Stillstand gekommen.” In dem im Oktober 2020 erschienenen Länderbericht würdigte die EU-Kommission die Türkei zwar als wichtigen Partner und erkannte Erfolge der Zusammenarbeit im Migrationsbereich an, konstatierte jedoch zugleich gravierende Rückschritte in Schlüsselbereichen wie Menschenrechte oder Justizsystem.

Auch der im Oktober 2021 veröffentlichte Türkei-Bericht 2021der Europäischen Kommission bescheinigt dem Land weitere Rückschritte in vielen Bereichen. Kritisiert wird das Präsidialsystem, das dem Präsidenten zu viel Macht verleihe, die Gewaltenteilung sei nicht mehr gewährleistet, und die Sonderrechte, die staatliche Behörden, Polizei und Justiz seit dem Putschversuch 2016 haben, würden die Demokratie und Grundrechte einschränken. Präsident Erdogan reagierte erzürnt, keiner der in diesem Bericht aufgeführten Aspekte sei aus ihrer Sicht ernst zu nehmen,  sagte er.  Die Türkei sei als ein souveränes Land bereit, mit der EU auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln, könne und werde es aber nicht zulassen, dass sich die Union in die inneren Angelegenheiten des Landes einmische. Der Bericht übersehe auch die Pflichten und Verantwortungen – Stichtwort Zollunion, Visa-Freiheit – die die EU gegenüber der Türkei habe, so Erdogan, und dies in einer Zeit,  in der sich dieTürkei bemühe, mit der Europäischen Union eine positive politische Agenda zu erschaffen (Länderbericht 2021 der EU-Kommission zur Türkei)

Im Juni 2022 äußerte der Europäische Rat tiefe Besorgnis über die jüngsten wiederholten Handlungen und Erklärungen der Türkei. In seinen Schlussfolgerungen formulierte der Europäische Rat die Erwartung an die Türkei, das Völkerrecht uneingeschränkt zu achten, im Interesse der regionalen Stabilität Spannungen im östlichen Mittelmeerraum abzubauen und gutnachbarliche Beziehungen nachhaltig zu fördern.

Nach Wiederwahl von Präsident Erdogan 2023 - Enge Partnerschaft als Modell der Zukunft?

Nach der Wiederwahl des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan hat sich Manfred Weber, der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei,  dafür ausgesprochen, den EU-Beitrittsprozess mit der Türkei zu beenden. Die vergangenen Jahre hätten zwar gezeigt, dass eine enge Partnerschaft wichtig sei, aber „weder die Türkei noch die EU” eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU wollten. „Diesen Prozess müssen wir zu den Akten legen, weil er bessere Beziehungen mehr blockiert als unterstützt”, so Weber. Der richtige Zeitpunkt „für einen generellen Neustart zwischen der EU und der Türkei auf einer realistischen Grundlage” sei gekommen. Die Europäische Union solle den Beitrittsprozess der Türkei zugunsten einer engen Partnerschaft abbrechen. Da die gegenseitige Abhängigkeit nach wie vor jedoch groß ist, äußerte EU-Kommissionspräsidentin im Hinblick auf die künftigen Beziehungen: „Es ist von strategischer Bedeutung sowohl für die EU als auch für die Türkei, diese Beziehungen voranzutreiben.”

Nach NATO-Gipfel 2023 - „Revitalisierung" der Beziehungen möglich?

Im Zuge des NATO-Gipfels im Juli 2023 signalisierte Präsident  Erdogan seine Zustimmung zum NATO-Beitritt Schwedens,  wenn gleichzeitig die Europäische Union „offene Beitrittsgespräche” mit seinem Land wieder aufnehme. Die Türkei könne den NATO-Beitritt Schwedens ratifizieren, sofern die EU der Türkei den Weg in die Europäische Union ebne, sagte Erdogan am Vortag des NATO-Gipfels nach einem Gespräch mit EU-Ratspräsident Charles Michel. Michel sagte dem türkischen Präsidenten zu, nach Möglichkeiten zu suchen, die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei zu „revitalisieren“.  Er habe den EU-Außenbeauftragten Joseph Borrell angewiesen, Vorschläge für das weitere Vorgehen zu unterbreiten. Allerdings steht diese Aussage Michels nicht im Zusammenhang mit einer Wiederaufnahme von EU-Beitrittsgesprächen. Die EU-Länder müssten einstimmig beschließen, solche Verhandlungen wieder aufzunehmen, was kaum zu erwarten ist.

Nach Kommunalwahlen 2024 - Weitere Annäherung an die EU?

Bei den Anfang April 2024 stattfindenden Kommunalwahlen in der Türkei hat sich die sozialdemokratische CHP in den wichtigsten Städten des Landes, darunter Istanbul, gegen die islamisch-konservative AKP von Präsident Erdoğan durchgesetzt. Der große Gewinner bei der CHP ist der Bürgermeister von Istanbul: Ekrem Imamoglu. Landesweit betrachtet liegt die AKP jedoch noch fast gleichauf mit der CHP. Auch wenn es nur Kommunalwahlen waren, das Ergebnis könne die Türkei verändern, so der Politikwissenschaftler Suat Özcelebi. Das türkische Volk habe der Regierung 'Stopp' gesagt: „Diese Ergebnisse werden dazu führen, dass sich die Politik neu strukturiert, es wird neue politische Führungspersonen geben. Insbesondere den Namen Ekrem Imamoglu werden wir von jetzt an in Verbindung mit den Präsidentschaftswahlen 2028 öfter hören.” Die Reaktionen der EU auf die Wahlen fielen positiv aus. Man freue sich darauf, gemeinsam mit Ankara weiter an Reformen zu arbeiten. EU-Außenbeauftragte Josep Borrell lobte den ruhigen und professionellen Ablauf der Wahlen. Manche EU-Politiker sehen in dem schlechten Abschneiden von Erdogans Partei bei den Kommunalwahlen eine sich abzeichnende Kursänderung, womöglich auch was eine künftige EU-Mitgliedschaft der Türkei anbelangt.

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Voraussetzungen zum EU-Beitritt

Alle zukünftigen Mitgliedsländer müssen bestimmte wirtschaftliche und politische Bedingungen, die so genannten Kopenhagener Kriterien”, erfüllen, um der Union beizutreten zu können. Den folgenden Voraussetzungen müssen die neuen Mitgliedsländer daher entsprechen:

  • Stabilität der Institutionen, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten;
  • eine funktionierende Marktwirtschaft;
  • die Übernahme der gemeinschaftlichen Regeln, Standards und Politiken, die die Gesamtheit des EU-Rechts darstellen.

Die EU ihrerseits unterstützt diese Staaten bei der Verbesserung der Infrastruktur und Wirtschaft, hilft bei der Übernahme des EU-Rechts, und stellt finanzielle Unterstützung zur Verfügung.


Ausführliche Informationen über die „Kopenhagener Kriterien"


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Perspektiven für einen EU-Beitritt der Türkei

Eine künftige Vollmitgliedschaft ist wenig wahrscheinlich. In den vergangenen Jahren haben die Spannungen zwischen der EU und der Türkei erheblich zugenommen, das Verhältnis ist zerüttet. Beide sind jedoch in vielerlei Hinsicht aufeinander angewiesen. Sowohl die EU als auch die USA und die NATO betonen stets die geopolitische Bedeutung des Landes. Auch in Bezug auf das Flüchtlingsabkommenbaut die EU weiterhin auf die Kooperation mit Ankara. Insgesamt betrachtet ist daher anstatt einer anzustrebenden Vollmitgliedschaft allenfalls noch von der Möglichkeit einer künftigen privilegierten Partnerschaft die Rede.

Im Frühjahr 2021 wollten die Kommissionschefin und der EU-Ratspräsident auf einem Treffen von Spitzenvertreter einen Schritt auf Ankara zugehen. Beim Besuch bei Staatschef Erdogan haben sie der Türkei einen Fahrplan für eine mögliche Verbesserung der Beziehungenerläutert. Dabei hat die EU dem Land eine verstärkte Wirtschaftszusammenarbeit signalisiert. EU-Ratschef Charles Michel hat Erdogan eine Ausweitung der EU-Zollunion und Reiseerleichterungen für türkische Bürger in Aussicht gestellt. Allerdings knüpfte die EU dies an klare Bedingungen: Erdogan muss seine Provokationen gegenüber  den EU-Partnern Griechenland und Zypern auf Dauer einstellen.

Das Treffen sorgte allerdings aufgrund der Brüskierung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für einen Eklat. Bei ihrem Besuch in der Türkei wurde von der Leyen sprichwörtlich in die Ecke gedrängt und musste abseits auf dem Sofa Platz nehmen während EU-Ratspräsident Charles Michel auf dem einzigen Stuhl neben Erdogan Platz nahm. Von der Leyen fühlte sich herabgesetzt und verletzt und verwies im Anschluss auf den prinzipiell schwierigen Stand der Frauen in der Türkei. Der Rückzug der Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen sei ein furchtbares Signal.

Nach Auffassung von EVP-Fraktionschefs Manfred Weber sei jetzt für die EU der richtige Zeitpunkt gekommen, um im Verhältnis zur Türkei „reinen Tisch“ zu machen und den EU-Beitrittsprozess komplett zu stoppen. „Der EU-Beitritt der Türkei ist eine Illusion. Es wird einen EU-Beitritt der Türkei nicht geben“, sagte er. Nur wenn sich die EU und die Türkei ehrlich machten, könnten sie gute Beziehungen aufbauen, fügte Weber hinzu. Im Mai 2021 hat das Europäische Parlament die Europäische Kommission aufgefordert, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auszusetzen. Mit einer deutlichen Mehrheit von 480 zu 64 Stimmen (bei 150 Enthaltungen) wurde eine entsprechende Resolution angenommen.

Während Skeptiker also für einen Abbruch der aussichtslosen Beitrittsgespräche plädieren, hoffen Beitrittsbefürworter auf eine Zeit nach Erdogan 

Die Ansichten des türkischen Präsidenten Erdogan selbst in Bezug auf die EU und einem Beitritt der Türkei schwanken. Hatte er sich in den vergangenen Jahren eher zurückhaltend bis kritisch im HInblick auf die EU und eine Mitgliedschaft seines Landes geäußert, hat  Erdogan seine Ambitionen bekräftigt, der EU nach wie vor beitreten zu wollen und sprach sich für eine Erneuerung der Beziehungen aus.Skeptiker betrachten die Charmeoffensive der Türkei zurückhaltend, sei sie doch aus der Not geboren, nicht noch weitere Sanktionen gegen das Land zu riskieren und sich international weiter ins Abseits zu stellen. Töne der Versöhnung gab es zuletzt auch gegenüber den USA, Israel, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Was das türkisch-europäische Verhältnis anbelangt, äußerte sich Präsident Erdogan auf einem Treffen in Ankara Anfang 2021 in einer Grundsatzrede wie folgt:

„Die türkische Nation will eine Zukunft gemeinsam mit Europa. Darum streiten wir seit fast 60 Jahren für einen Beitritt zur Europäischen Union, und lassen uns auch von den zahlreichen Ungleichbehandlungen, die wir erleben mussten nicht von unserem Ziel abbringen: Die Vollmitgliedschaft in der EU.”

Und in einer Rede Ende 2020 forderte er die EU auf, ihr Versprechen zu halten und erklärte:

„Wir sehen uns immer als Teil Europas. Wir haben uns entschieden, Europa zu bevorzugen, solange sie uns nicht zwingen, uns anderswo umzusehen.”

Wie sich im Zuge des NATO-Gipfels 2023 zeigte, verfolgt Erdogan dieses Ansinnen noch immer. Er signalisierte, die Blockade gegen den NATO-Beitritt Schwedens aufzugeben, wenn gleichzeitig die Europäische Union „offene Beitrittsgespräche” mit seinem Land wieder aufnehme. EU-Ratspräsident Charles Michel. sagte dem türkischen Präsidenten zu, nach Möglichkeiten zu suchen, die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei zu „revitalisieren“. Allerdings steht diese Aussage Michels nicht im Zusammenhang mit einer Wiederaufnahme von EU-Beitrittsgesprächen. Die EU-Länder müssten einstimmig beschließen, solche Verhandlungen wieder aufzunehmen, was in den vergangenen Jahren kaum zu erwarten war. Nach dem schlechten Abschneiden von Erdogans AKP-Partei bei den Kommunalwahlen im April 2024, könnte sich eine weitere Annäherung der Türkei an die EU abzeichnen.

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PRO und CONTRA EU-Beitritt der Türkei

10 Argumente

Pro Contra
Die Türkei gehört kulturell längst zu Europa (Fußball-EM etc.). Die Türkei ist geografisch und historisch gesehen kein europäisches Land.
Die EU hat der Türkei einst einen EU-Beitritt zugesagt und sollte ihr Versprechen halten. Die EU ist schon derzeit mit den anstehenden Westbalkan-Erweiterungen überfordert.
Stärkung/Beibehaltung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Türkei liegt im Interesse der EU. Seit Jahrzehnten kommt es anhaltend zu Verletzungen der Menschnrechte und des Rechtsstaats.
Der Flüchtlingspakt mit der Türkei sollte bestehen bleiben.. Die Türkei verstößt in mehrerlei Hinsicht immer wieder gegen die Verträge.
Innerhalb der eigenen türkischstämmigen Bevölkerung möchte die EU nicht Gefahr laufen, mit einer EU-Absage aggressive Elemente zu provozieren. Der Zypern-Konflikt stellt eine große Hürde auf dem Weg in die EU dar.
Auch eine innenpolitische Zuspitzung in der Türkei wäre zu befürchten, würde dem Land die EU-Perspektive genommen. Die türkische Wirtschaft entspricht nicht dem europäischen Standard.
Die Opposition und demokratischen Kräfte im Land, die ihre Hoffnung in eine EU-Mitgliedschaft setzen, sollten weiterhin unterstützt werden. Der Beitritt der Türkei wäre eine große finanzielle Belastung für die EU.
Die Aufnahme der Türkei in die EU würde eine Brücke zur islamischen Welt schlagen und eine religionsübergreifende Wertegemeinschaft fördern. Das religiöse und kulturelle Wertesystem der Türkei weicht von jenem der EU zu sehr ab.
Die EU bekäme weltpolitisch mehr Gewicht, die Gesamtbevölkerung der EU würde erheblich anwachsen. Mit der Türkei bekäme die EU schwierige Außengrenzen zum Iran, zu Syrien und den Kaukasusstaaten.
Ein Beitritt der Türkei wäre insgesamt ein geostrategischer und sicherheitspolitischer Gewinn. Die Türkei soll damit auch in der NATO gehalten werden. Es genügt, die Türkei zu einem „privilegierten Partner“ der EU mit Sonderrechten zu machen.

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Hinweis: Die hier aufgeführten Argumente stellen lediglich eine Auswahl dar. Die beiden Listen „Pro” und „Contra” sind ferner jeweils unabhängig voneinander zu betrachten, das heißt, nicht jedem Pro-Argument wurde ein dazu passendes Contra-Argument gegenübergestellt. Weiterhin sind die Argumente aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtend formuliert, so wird in manchen etwa die Sichtweise der Türkei eingenommen, in anderen jene der EU.


 


Links und Quellen:

Europäischer Rat / Rat der EU: EU-Erweiterung Türkei

Auswärtiges Amt: EU-Erweiterung Türkei

Stiftung Wissenschaft und Politik: Kein Rüffel aus Brüssel: Wie die Türkei die Europäische Union vorführt

Stiftung Wissenschaft und Politik: Prüfstein Türkei

Stiftung Wissenschaft und Politik: EU – Türkei: Zeit für andere Saiten

Stiftung Wissenschaft und Politik: EU-kompatibel oder nicht?

BpB: Das Flüchtlingsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei

BpB: Der gescheiterte Putsch und seine Folgen

Publikationen der LpB:

LpB: Zeitschrift "Der Bürger im Staat" Heft 1/2000
Die Türkei vor den Toren Europas (HTML)
Die Türkei vor den Toren Europas (PDF)

Nicht nur geografisch liegt die Türkei vor den Toren Europas. Sie ist seit dem Begründer der modernen Türkei, Kemal Atatürk, auch politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich nach Europa hin orientiert. Seit langem schon begehrt die Türkei Eintritt in die Europäische Union, seit Dezember 1999 ist das Land offiziell Beitrittskandidat. Auch in dieser Beziehung steht die Türkei also vor den Toren Europas.

 

LpB: Zeitschrift "Der Bürger im Staat" Heft 3/2005
Europa und die Türkei

Seit mehr als vierzig Jahren klopft die Türkei an die Tür der Europäischen Union und sucht um eine Vollmitgliedschaft nach. kein anderer Beitrittskandidat hat die politische Debatte und die öffentliche Meinung derart polarisiert. Die kontrovers geführte Diskussion, ob die Türkei überhaupt, zu welchen Bedingungen und zu welchen Zeitpunkt Teil der EU werden soll, wird die im Oktober 2005 beginnenden Beitrittverhandlungen begleiten.

LpB-Zeitschrift Politik und Unterricht Heft 1/2/2004
Europa wählt - Europa wird größer! Die EU und die Türkei

Mit der Türkei würde ein Land Mitglied der EU werden, das geografisch überwiegend nicht zu Europa gehört. Die politische Kultur der Türkei unterscheidet sich noch immer sehr von der des Westens. Der Modernisierungsprozess, dem sich die Türkei seit der Präsidentschaft Kemal Atatürks (1923-1938) unterzogen hat, lief auf eine mit autoritären Mitteln durchgesetzte Teilverwestlichung hinaus.

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