Oskar Freysinger | Als Politiker tot. Sonst neu geboren
«Wie kann ich dem Volk böse sein? Es hat mich befreit»
Sonntag, 19. März 2017, 12.30 Uhr. SVP-Staatsrat Oskar Freysinger hat Gewissheit: Abwahl! Dann verschwindet er von der Bildfläche. Und taucht jetzt wieder auf. Mit seinem bis jetzt «persönlichsten» Buch.
Oskar Freysinger, schauen Sie sich diesen Zeitungsartikel hier von 1999 über Ihre damalige Ständeratskandidatur an. Wenn Sie das Bild sehen: Ist das der gleiche Freysinger wie heute?
«Meine Weltanschauung hat sich grundsätzlich nicht geändert, aber sie ist heute gefestigter. Mit 58 sieht man das Leben natürlich anders. Wenn man jung ist, ist man vielleicht mehr diesseitsorientiert. Heute habe ich weniger Mühe loszulassen. Das beginnt mit dem Körper: Man merkt, wie die Kräfte im Vergleich zu früher schwinden. Meine kreativen Fähigkeiten hingegen dürften jetzt auf dem Höhepunkt sein. Heute bin ich sicherlich reifer als auf dem Foto hier – auch durch die Mühsal der vergangenen Jahre.»
Damals hatten Sie ohne jegliche Chance für den Ständerat kandidiert. 2017 war das anders: Ihre Wiederwahl in den Staatsrat wäre reine Formsache gewesen, hätten Sie nicht den grossen Fehler gemacht, mit dem «Rechtsbürgerlichen Bündnis» die CVP und damit die Mehrheit in der Regierung anzugreifen.
«Aus politischer Sicht war es ein Fehler, ich wurde abgewählt. Vom menschlichen Standpunkt aus war es aber richtig. Ich wollte von der Walliser Bevölkerung eine klare Antwort: Unterstützt ihr meinen Plan und gebt mir so endlich eine Motorsäge in die Hand, um die morschen Bäume zu fällen, nachdem ich vier Jahre lang mit einer Nagelfeile arbeiten musste? Oder eben nicht.»
Sind Sie eigentlich sauer auf die Walliser Wählerinnen und Wähler?
«Wie kann ich dem Volk böse sein? Es hat mich befreit.»
Sie nahmen die Abwahl bewusst in Kauf?
«Für mich war klar, dass ich nicht vier weitere Jahre in Sitten den ‹Manoggel› machen wollte. Zumal sich die Zusammensetzung der Regierung auch ändern würde: Mit den CVP-Staatsräten Jean-Michel Cina und Maurice Tornay konnte ich wenigstens noch zusammenarbeiten, die hielten ihr Wort. Mit den neuen, die gekommen sind, hätte ich das vergessen können.»
Ihr Buch ist auch eine Leidensgeschichte. Schon lange vor der heissen Phase des Wahlkampfs beschreiben Sie in eindrücklicher Weise Abnutzungserscheinungen, Leere und Lustlosigkeit. Wäre es nicht besser gewesen, sich professionelle Hilfe zu holen?
«Hilfe muss man sich holen, wenn man nicht mehr in der Lage ist, das Leben zu verkraften, wenn die Probleme von der Psyche aus kommen. Ich habe aber genau gewusst, woher meine Probleme rührten. Als Staatsrat fühlte ich mich wie ein Hamster im Hamsterrad…»
… und gleichzeitig in einem Käfig?
«Der Hamster rennt und rennt und rennt. Und kommt nicht vom Fleck. Und er meint, das Rad sei daran schuld. Sobald er aber anhält und das Rad stillsteht, merkt er erst, dass er sich in einem Käfig befindet. Und genau das habe ich gemacht. Ich habe aufgehört, blindlings weiterzurennen. Und dann blieb mir keine andere Wahl, als alles auf eine Karte zu setzen: alles oder nichts. Ich habe mich gefrag, ob ich eine mögliche Abwahl verkraften würde und bejahte die Frage, denn die einzige Macht, die zählt, ist tief in einem drinnen. So habe ich durch den Verlust der politischen Macht die Macht über mich selber wiedererlangt. Das war es mir wert.»
Hatten Sie Selbstmordgedanken?
«Nein, nie. Dafür bin ich zu lebenslustig und kreativ. Die Politik war nie mein Lebensziel, auch wenn sie in meiner bisherigen Existenz eine grosse Rolle spielte. Mein wirkliches Leben spielt sich aber anderswo ab. Ich bin ein Literat, von Kindesbeinen an. Ich habe in den letzten zwei Jahrzehnten 19 Bücher geschrieben. Auf Französisch und Deutsch. Gibt es im Wallis einen Autor, der Gleiches behaupten kann? In diesem Bereich war die Politik immer ein Hindernis. Viele Leser werden nie auf meine Bücher zugehen und sie lesen, weil ich im falschen politischen Lager bin.»
Durch die Politik konnten Sie aber auch Ihren Bekanntheitsgrad steigern, was Ihnen als Schriftsteller zugutekommt.
«Die Journalisten haben sich nie für meine Bücher interessiert, sondern nur für den Politiker. Der Autorenverband wollte mich nicht aufnehmen, und als ich den Rilke-Preis erhalten hatte, weil ich meinen Text anonym eingereicht hatte, hat sich ein Jury-Mitglied im Nachgang beim Publikum dafür entschuldigt. Ich habe Andreas Weissen angeboten, bei der kommenden BergBuchBrig aus meinem Alpen-Roman ‹Bergfried› vorzulesen. Er lehnte mit fadenscheinigen Gründen ab. Als Schriftsteller wurde ich immer wieder ausgegrenzt. Das ist der Preis, den ich für die Politik bezahlen musste. Dieser Preis ist mir zu hoch. In den kommenden Jahren will ich mich als Schriftsteller etablieren. Ich werde mit Werken wie ‹Löwenzahn› eine Spur hinterlassen. Nicht durch die Politik.»
Sie schreiben es in Ihrem neuen Buch selbst: Der Politiker Oskar Freysinger ist tot. Nun sind Sie auferstanden als derjenige, der Sie eigentlich wirklich sein wollen. Sie selbst und Ihr allerengster Kreis werden in dieser Heilsgeschichte erlöst. Ist das nicht ein bisschen wenig für einen Polit-Messias?
«Ich bin kein Messias, wir alle tragen unser Kreuz. Und wir alle müssen uns harten Entscheiden stellen.»
Aber es geht auch um die «Jünger», die Partei, all diejenigen, die während Jahren an Sie und die Werte und Positionen, die Sie vertreten, geglaubt haben.
«Der SVP Wallis geht es heute besser als vor anderthalb Jahren. Das unterschätzen viele Medien und Polit-Experten. Im Parlament ist sie zurück in ihrer angestammten Rolle als Oppositionspartei. Und weil ich nach meiner Abwahl auf Tauchgang ging, hatte sie in Ruhe Zeit, die Nabelschnur zu durchschneiden…»
… ein politischer Vatermord war also nicht nötig.
«Der Vater hat sich selbst entsorgt. Die Partei war wie mein eigenes Kind, und ich habe alles dafür gemacht, damit es nun auf eigenen Beinen steht. Wir haben die nötigen Strukturen in den Gemeinden und Bezirken. Und wir haben mit Cyrille Fauchère und Franz Ruppen auch das Personal für kommende Staatsratswahlen. Klar ist nicht alles perfekt, aber in welcher Partei ist es das schon.»
In Ihrem Buch legen Sie Wert darauf, Ihre politische Karriere als «Zufall» oder «Missverständnis» zu beschreiben. Sie haben in den letzten 20 Jahren eine Partei gegründet und stark gemacht, Sie waren Gemeinderat, Grossrat, Nationalrat, Staatsrat, wollten Bundesrat werden. Das ist etwas viel Zufall, nicht?
«Aber es war so. Bei der Parteigründung der hiesigen SVP zum Beispiel war ich zuerst Interimspräsident, weil sonst niemand wollte. Und das Interim zog sich hin. Als 2002 unser Haus angezündet wurde, wollte ich aufhören, alles hinschmeissen. Meine Frau hat mich dazu bewegt, nicht aufzugeben. Aus Prinzip. Ein Jahr später war ich Nationalrat. Es war auch nicht mein Ziel, Staatsrat zu werden. Bei meiner Nominierung war ich der Einzige im Parteivorstand, der gegen mich selbst gestimmt hatte. Und dann kam mein Konkurrent von der FDP, Christian Varone, mit diesem Stein aus der Türkei zurück. Und alles hat sich schlagartig geändert…»
Ihre Wahl 2013 beschreiben Sie als «politischen Unfall».
«Dieses unglaubliche Resultat hat in mir schiere Angstgefühle ausgelöst. Wie um alles in der Welt wollte ich den Erwartungen, die dieses Wahlresultat widerspiegelte, gerecht werden? Und das in einer Regierung, wo ich grösstenteils auf mich allein gestellt sein würde? Dabei hatte jedes Geschäft, das mein Departement in der vergangenen Legislatur vorbereitet hatte, vor dem Parlament wie auch vor dem Volk standgehalten. Vier Jahre lang habe ich das Budget eingehalten. Aber das war allen wurstegal. Man wollte, dass ich mich als Staatsrat anpasse, dass ich mich zurückhalte und unsichtbar werde. Aber das konnte und wollte ich nicht. Das Leben ist zu kurz, um in der Kantonsregierung die graue Maus zu spielen.»
Dabei ist das Regierungsamt in einem Kanton etwas vom «Urschweizerischsten», was unser Polit-System zu bieten hat. Kompromisse schmieden, Mehrheiten finden, Konkordanz – haben Sie sich das denn anders vorgestellt?
«Ich habe meine Arbeit gewissenhaft gemacht. Und teils Probleme gelöst, die als unlösbar galten. Die Julen-Geschichte mit den Brandvorschriften in seinem ‹Vernissage› in Zermatt – dieser mehrjährige Streit mit unserem Feuerinspektorat hatte ich in einer Stunde gelöst. Oder der Fall des Bauunternehmers Otto Ruppen bei Stalden, dem der Kanton ein Salz-Silo vor die Nase bauen wollte. Jetzt hat der Kanton das Silo tatsächlich woanders aufgestellt, bei Gamsen. Die Dienststellen des Kantons stehen im Dienst der Bürger. Die Steuerzahler sind die Auftraggeber, da muss man pragmatisch handeln. Aber die Kräfte der gegnerischen Parteien, der Medien und der sozialen Medien haben sich gebündelt, um sich auf mich einzuschiessen. So wurde auch Varone damals zu Fall gebracht. Und Tornay zum Rücktritt gezwungen. Und in den nächsten Jahren werden auf diese Art noch mehr Köpfe rollen. Sie werden sehen. Die Büchse der Pandora ist geöffnet.»
Ihr beschriebenes Muster: Sie werden von den Medien kritisiert, dann erklären Sie sich, was wiederum für Kritik sorgt. Sie sehen sich als Sisyphus der Walliser Politik. Dabei sind Sie doch vielmehr wie Odysseus auf seiner zehnjährigen Irrfahrt: Manche Rückschläge und Anfeindungen sind selbst verschuldet, manche nicht.
«Kann sein. Das Problem war aber, dass ich nicht mehr imstande war, diese negativen Energien in etwas Gutes zu verwandeln. Ich konnte nicht mehr. Ich habe den Kampf gegen meine zahlreichen Gegner und Widersacher – oder um bei Odysseus zu bleiben: gegen rachedürstende Götter, Ungeheuer und Hexen – nicht im März 2017 verloren, sondern bereits im November zuvor. Und zwar in meinem Herzen. Und das, obwohl ich meine Arbeit als Staatsrat korrekt machte.»
Nach Selbstkritik sucht man in Ihrem Buch vergebens.
«Doch. Einer meiner grössten Fehler war es, dass ich als Politiker Werte vertrat. So habe ich immer ein klares Ziel abgegeben, ich habe mich angreifbar gemacht. Die meisten Politiker bewegen sich heute schnell und verschwommen. So sind sie kaum fass- und kritisierbar. Als Eisbrecher habe ich für meine Partei neue Bahnen aufgerissen, was mir nicht so schlecht gelang. Ich habe meine Arbeit getan. Jetzt kann ich etwas Anderes unternehmen. So ist das im Leben.»
Bleiben wir noch kurz bei Odysseus. Dessen Frau, Penelope, wartet geduldig auf die Rückkehr ihres Mannes. Ihrer Frau erging es ähnlich. Sie waren zwar zusammen, und doch haben Sie sich entfernt.
«Das Buch ist einerseits ein Bildungsroman, an dessen Schluss der Autor nicht mehr derselbe ist wie zu Beginn. Aber es ist auch eine Liebesgeschichte. Keine Ahnung, was passiert wäre, wenn ich meine Frau nicht gehabt hätte. Und als zwischen den beiden Wahlgängen damals ihr Vater starb, sprang mein Sohn ein und kämpfte wie ein Löwe für mich. Diese schwere Prüfung hat uns zusammengeschweisst. Aber auch ausserhalb der Familie hat sich mein Umgang mit den Menschen verändert. Ich schüttle heute hundertmal weniger Hände, aber ich habe viel mehr Zeit für diejenigen, die mir wichtig sind. Und auch fürs Schreiben habe ich heute mehr Zeit. Für jede Stunde, die ich früher bei der Verfassung eines Buchs verbrachte, hatte ich schlechtes Gewissen, weil daneben die staatsrätlichen Dossiers abzuarbeiten waren. Heute klappe ich morgens mit kribbelnden Fingern den Laptop auf, und es fliesst einfach. Dieses Glücksgefühl ist unbeschreiblich.»
David Biner
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