Fab Four: Das Form-Barometer der Tour de France-Favoriten

19.02.2024

Die Tour de France ist das wichtigste Rennen – das ganz große Highlight der Saison. In jedem Jahr wird die Tour von den Fans mit besonderer Spannung erwartet – doch 2024 wird ganz besonders werden. Denn der Kampf und Gelb wird voraussichtlich von vier Ausnahmeathleten geprägt, die bei der Tour noch nie aufeinander getroffen sind. Jonas Vingegaard, Tadej Pogacar, Remco Evenepoel und Primoz Roglic wollen Gelb – bei der Frankreich-Rundfahrt treffen diese „Fab Four“ zugleich das erste Mal in diesem Jahr aufeinander. 

Jonas Vingegaard ist der Titelverteidiger, hat seinen Ex-Kollegen Primoz Roglic nun als Gegner. Roglic wird sich gezielt auf die Tour vorbereiten. Tadej Pogacar hingegen will erst den Giro bestreiten, dann zur Tour reisen. Remco Evenepoel gibt im Sommer bei der Frankreich-Rundfahrt sein Debüt auf der größten Bühne der Welt.

In dieser Kolumne begleitet Bernd Landwehr, Chefredakteur des Cyclingmagazine, die vier Top-Favoriten auf ihrem Weg zum Grand Depart der Tour de France. Er analysiert ihre Vorbereitung analysiert, ordnet die Leistungen ein und lässt so ein „Tour-Barometer der Fab Four“ entstehen. 

Folge 1 – Saisonstart der Tour-Aspiranten

Jonas Vingegaard – der Tour-Sieger setzt auf Bewährtes

27 Jahre / Team Visma | Lease a Bike / Grand Tour-Siege: 2 x Tour / Tour-Teilnahmen: 3

Zwei Mal in Folge hat Jonas Vingegaard die Tour de France bereits gewonnen, für das Jahr 2024 ist demnach wohl der Top-Favorit. Seine Vorbereitung auf die Tour verlief bei beiden Siegen ähnlich. In der direkten Vorbereitung das Critérium du Dauphiné, Höhentrainingslager und gezielter Formaufbau. Im Frühjahr jeweils die Baskenland-Rundfahrt, zuvor Paris-Nizza oder Tirreno-Adriatico. Der Saisoneinstieg war jeweils Ende Februar – in Spanien oder Frankreich.

Ganz ähnlich soll es auch 2024 laufen. Saisoneinstieg Ende Februar bei O Gran Camiño. Dann Tirreno-Adriatico und die Baskenland-Rundfahrt. Dann die Pause, Trainingslager und über Critérium du Dauphiné zum Grand Depart. 

Nach der Vuelta 2023 war ausreichend Zeit für eine Pause und Zeit mit der Familie, dann der Einstieg in die Vorbereitung. Bei Visma | Lease a Bike weiß man genau, wie man Vingegaard in Top-Form zur Tour bringt. Da wird man sich auch nicht aus der Ruhe bringen lassen, sollte es zum Saisonbeginn nicht sofort nach Wunsch verlaufen. Im Jahr 2023 beispielsweise, war Vingegaard im Frühjahr Tadej Pogacar noch deutlich unterlegen. Doch im Sommer bei der Tour lief es für den Dänen perfekt. 

Die Gewissheit, einen Aufbau für die Tour bereits mehrfach erfolgreich vollzogen zu haben, gibt Vingegaard und seinem Team Sicherheit. Mit den ersten Rennen im Februar dabei ohne Druck wieder in den Rennrhythmus zu finden, dürfte ihm sehr gefallen. 

Eine erste echte Standortbestimmung gibt es frühestens bei der Baskenland-Rundfahrt – doch schon beim Auftaktzeitfahren von Tirreno-Adriatico werden die Blicke auf ihn, seine TT-Position und das Equipment gerichtet sein. 

Tadej Pogacar – „defensiver“ Start in die Saison

25 Jahre / UAE Team Emirates / Grand Tour-Siege: 2 x Tour / Tour-Teilnahmen: 4

Im vergangenen Jahr war Tadej Pogacar im Frühjahr in unfassbarer Form. Er gewann jedes Rennen. Souverän, scheinbar mühelos. Jaén Paraiso Interior, Ruta del Sol, Paris-Nizza. Dann standen die Klassiker an – er gewann die Flandern-Rundfahrt, Amstel Gold Race  und Fleche Wallonne, ehe er sich bei Lüttich-Bastogne-Lüttich das Handgelenk brach. Er hätte vielleicht auch dieses Monument gewonnen.

Die Saisonsonplanung für 2024 ist gänzlich anders. Er will den Giro d’Italia bestreiten, dann im Juli zur Tour de France. Das Frühjahr fällt demnach deutlich reduziert aus – folgt dem Aufbau für den Giro. Strade Bianche, Mailand-Sanremo, Katalonien-Rundfahrt, Lüttich-Bastogne-Lüttich – anschließend zum Giro. 

Der Rennplan von Tadej Pogacar passt zum geplanten Doppel-Start bei Giro und Tour. Beide Grand Tours zu gewinnen gilt aktuell als unmöglich. Zuletzt gelang das 1998 Marco Pantani – vermutlich mit reichlich Beschleunigungsmitteln. Beim Team UAE wird man alles daran setzen, einen optimalen Double-Plan zu entwerfen – wie gut es Pogacar verkraftet, beide Grand Tours zu kombinieren, bleibt abzuwarten.

Für das Frühjahr dürfte es bedeuten, dass Pogacar etwas defensiver in die Saison startet, erst zum Giro die Form erreicht, die ihm ganz große Siege ermöglicht. Auch die mentale frische kann bei dieser Saisongestaltung eine Rolle spielen. Gelingt ihm beim Giro der Sieg, geht er mit breiter Brust und ohne Druck in die Tour. Das kann von Vorteil sein. Andererseits kostet der Giro natürlich Körner, die es in den fünf Wochen bis zur Tour wieder aufzufüllen gilt – lange Pause und Neuaufbau sind nicht möglich. Das Giro-Tour-Double gilt im modernen Radsport als unmöglich – sollte es aber doch einen Fahrer auf diesem Planeten geben, der das unmöglich schaffen kann, dann ist das sicher Tadej Pogacar.

Primoz Roglic – im neuen Team Fokus auf Gelb

34 Jahre / Bora-hansgrohe / Grand Tour-Siege: 3 x Vuelta, 1 x Giro / Tour-Teilnahmen: 5

Später Start und voller Fokus auf die Tour de France – Primoz Roglic ordnet seinem großen Ziel alles unter. Er wechselte zu Bora-hansgrohe, um noch einmal Gelb anzugreifen. Die letzte Lücke in seinen Palmares will er beim Tourfinale in Nizza schließen – der größte Triumph seiner beeindruckenden Karriere.

Für dieses Ziel wurde ein Plan entworfen, der Risiken minimiert und gezielt Highlights auf dem Weg zur Tour setzt. Auch, um sich im neuen Kader einzufinden. Erst bei Paris-Nizza wird Roglic in die Saison starten. So spät, wie keiner seiner drei Hauptkonkurrenten. Nach dem Start in Frankreich geht es zur Baskenland-Rundfahrt und vor der Tour de France steht dann nur noch das  Critérium du Dauphiné an. Ein Minimum an Rennen, aber ausreichend Gelegenheit sich zu testen, auch im Vergleich mit der direkten Konkurrenz. Optimal wäre, er holt sich bei den Rennen auch das Selbstvertrauen – oder besser gesagt, beschert seinem Team ein Top-Resultat und lässt die Kollegen umso mehr an das „Projekt Gelb“ glauben. Denn die Unterstützung des Teams und der unbedingte Glaube seiner Helfer wird bei der Tour de France nötig sein.

Roglic selbst weiß, was er kann und was nötig ist. Am Ende der Saison wird der Slowene 35 Jahre alt – es wird nicht mehr viele Chancen geben. Das motiviert ihn, wirklich 100 Prozent in das Projekt zu investieren. Alles oder nichts – Vollgas bis zum Finale in Nizza. Primoz Roglic hat von den „Fab Four“ vielleicht den größten Druck, aber er ist es gewohnt, diesen zu spüren. 

Roglic kann sich auf dem Weg zur Tour kaum Rückschläge erlauben. Er wird alles daran setzen, Risiken zu minimieren und auch Höhentrainingslager-Ketten und Renneinsätze ganz gezielt und absolut professionell angehen. Seine Helfer bei der Tour werden eingeschworen, auch von ihnen wird an Professionalität alles abverlangt. Roglic will liefern, idealerweise bereits im März. Jeder Sieg im Bora-Trikot vor der Tour nimmt Druck und bringt Zuversicht. 

Remco Evenepoel – Debütant früh auf der Siegerstraße

24 Jahre / Soudal-Quick Step / Grand Tour-Siege: 1 x Vuelta / Tour-Teilnahmen: 0

Erstes Rennen, erster Sieg – souverän, beeindruckend stark gewann er die Figueira Champions Classic. Remco Evenepoel ist perfekt in die Saison 2024 gestartet. Als erster der „Fab4“ hat er eine Duftmarke hinterlassen und klargemacht, dass er den Winter nutzte, nach der Offseason gut gearbeitet hat. 

Evenepoel wird bei der Tour de France im Juli sein Debüt geben. Als Ex-Weltmeister, Monument-Sieger und früherer Vuelta-Champion steht hinter seinen Qualitäten kein Fragezeichen. Aber wie schlägt er sich beim größten und härtesten Rennen der Welt? Wie geht er mit der traditionell hektischen ersten Woche um? Wie gut verkraftet er den Rummel, den Mediendruck und permanente Anspannung? All das wird man erst im Juli erfahren. Doch das Team gibt sich große Mühe den Druck von seinen Schultern zu nehmen. 

Evenepoel ist hochtalentiert und brutal ehrgeizig. Er will in Bestform zur Tour de France, dort für sich selbst rausfinden, zu was es reichen kann. Er wird wichtige Lektionen lernen, egal wie es ausgeht. Evenepoel ist gerade 24 Jahre alt geworden, ihm bleiben reichlich Chancen bei der Tour. Das Wissen darum wird ihm Lockerheit geben.

Sein Rennprogramm hat keine Überraschungen. Nach dem Start in Portugal geht es zu Paris-Nizza, dann zur Baskenland-Rundfahrt und im April stehen die drei Ardennen-Rennen an. In der direkten Vorbereitung auf die Tour wird er dann das Critérium du Dauphiné absolvieren. Dazwischen Höhentrainingslager-Ketten – wie das üblich ist. Im Juli wird man sehen, ob Wunderkind Remco auch „Tour kann“.

Fotos: © A.S.O./Charly Lopez, © Roth&Roth