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Neuer Roman «Melody»Martin Suter lässt am Zürichberg die bürgerliche Welt untergehen 

Martin Suter weiss, eine gute Geschichte braucht ein gutes Geheimnis.

Wenige Tage bevor der neue Roman von Martin Suter im Handel ist, spricht mich ein Mann im Anzug im Tram Nummer 8 am Paradeplatz an, als er ebendieses Buch «Melody» in meiner Hand sieht. Im Epizentrum des erschütterten Zürcher Finanzplatzes, an dem gerade Historische vonstattengeht. «Ich habe leider nur eine 50er-Note in bar, kann ich Ihnen das Buch trotzdem abkaufen?» Ob er gerade nicht andere Prioritäten habe, frage ich den Fremden. Er nickt und will nur wissen, ob es wieder ein klassischer Suter sei. «Ja, und wie. Es kommen übrigens auch Schweizer Bankkonten vor.»  – «Grossartig!»

Heute erscheint der neue, zwölfte Roman des Schweizer Bestsellerautors. Wer beim letzten Buch, dem biografischen Roman «Einer von euch» über den deutschen Fussballer Bastian Schweinsteiger, Angst hatte, wir hätten Suter verloren, sei beruhigt. Mit «Melody» hat er sich rehabilitiert. Martin Suter ist in Höchstform.

In «Melody» fliessen über Jahrzehnte hohe Geldbeträge auf ein Konto mit dem bedeutungsvollen Namen «Sigalia» – auf Griechisch «Schweigen». Dorthin überweist Dr. Peter Stotz stattliche Summen. Der Alt-Nationalrat, ranghohe Milizoffizier, Königsmacher des Freisinns, einer, der die Fäden in Politik und Wirtschaft zog und über sich sagt: «Ich wollte keine Politik machen. Ich wollte Politiker machen. Ich wollte Einfluss darauf nehmen, wer was wird.»

Stotz ist Kunstliebhaber, war langjähriger Verwaltungsrat der Zürcher Oper. Aber er ging in den 80ern auch an eine «Punk Night» in der Roten Fabrik. Was er selber nicht sagt: Er sorgte dafür, dass das Opernhaus damals mit 61 Millionen saniert wurde und er direkter Feind der Vertretenden der Jugendunruhen wurde. Das erzählen andere über ihn.

Seine Liebe verschwand vor 40 Jahren 

Hier sind wir bereits bei der Frage, die in «Melody» gestellt wird: Was hinterlassen wir – und welche Geschichten müssen erzählt werden? Und was soll bitte verschwiegen bleiben, dass wir schlussendlich so dastehen, wie es am vorteilhaftesten scheint? Geld hilft da natürlich. Aber reicht es, um eine Lebenslüge aufrechtzuerhalten? Unterdessen ist Dr. Stotz ein alter Mann, der nicht mehr lange zu leben hat, sich gegen die Klettverschlussschuhe gerade noch wehren kann, aber ohne Rollator nicht mehr zurechtkommt.

Er lebt in einer Villa am Zürichberg mit seiner Melody. Sie ist anwesend auf einem Ölbild oder in Altarnischen zwischen den Bücherregalen mit Fotos, drumherum Andenken aller Art: Theaterkarten oder Pafümflacons, dazu frische Blüten und angebrannte Kerzen. Melody, eine deutlich jüngere Buchhändlerin, war seine grosse Liebe und verschwand vor 40 Jahren. Darüber ist er nie hinweggekommen. 

1983, drei Tage vor der durchorchestrierten Hochzeit, verschwindet Melody. Gerade war man noch in Paris beim Schneider für das Brautkleid, es soll dort erstmals zu mehr als einem innigen Kuss und getrennten Schlafzimmern gekommen sein. Angeblich.

Melancholisch, aber nicht sentimental erzählt Martin Suter von einer grossen Liebe.

Von Melody erzählt Stotz dem jungen Juristen Tom Elmer, der sich auf ein Inserat gemeldet hat und in die Gästewohnung der Villa Aurora zieht. Sein Auftrag: den Nachlass der grauen Eminenz ordnen, so, dass diese mit Stil abtreten kann. Neben der Archivarbeit gehören Gespräche am Kaminfeuer bei Cognacschwenker und Amaretti dazu, ausladende Essen selbstverständlich auch. Tom wird zum Gesellschafter von Dr. Stotz und kann sich weder gegen dessen Erzählen noch den vielen Alkohol wehren. Viel anderes bleibt ihm nicht übrig, er wird dafür bezahlt und untersteht dem Anwaltsgeheimnis.

Dass Melody urplötzlich fort ist, gestaltete sich für einen wie Dr. Stotz, der den Schein wahren muss, natürlich ausgesprochen ungünstig. Wurde sie im Auftrag ihrer strenggläubigen muslimischen Familie entführt? Ist sie gar mit jemand anderem durchgebrannt, oder lebt sie längst nicht mehr? 

Es beginnt nun das Geheimnisvolle, was Martin Suters Romane ausmacht. Tom Elmer, beeindruckend diskret, aber irgendwann mit zu viel Unstimmigkeit konfrontiert, trifft auf immer mehr Menschen, die Dr. Stotz kannten. Die Geschichte, angetrieben vom Rätsel um Melody und von der Suche nach der einen oder mehreren Wahrheiten führt nach Singapur, Marokko und Griechenland. Und auch für Tom hält sein neuer Job, der sich beinahe zum Krimi gestaltet, romantische Begebenheiten bereit.

Er dürfte einen neuen Bestseller geschrieben haben: Martin Suter (75).

Melancholisch, aber nicht sentimental erzählt Martin Suter von einer grossen Liebe, die sich seine Figur Dr. Stotz auch mit sehr viel Geld nicht halten kann – dafür braucht der Autor nur wenig für das Atmosphärische. Dialoge, die teils nur mittelmässig zu was führen, gerade darum, weil sie eben sehr echt sind, kann er. Und die Liebe zum Detail, manchmal zwei, drei Schlänker mehr als nötig, gibt jeder Figur Körper. Wir lesen, dass ein Vater an den Spätfolgen einer Tropenkrankheit verstarb. Auf nur zwei Zeilen im Roman tritt diese Figur auf und direkt wieder ab – diese Details sind dem Autor wichtig.

Man möchte ständig essen und trinken

Für die italienische Küche der Haushälterin Mariella, die alle um den Verstand kocht, diente Suter als Vorlage das Kochbuch «La Mia Cucina» von Patrizia Fontana, deren italienische Spezialitäten im Zürcher Kreis 6 verkauft werden. Womit wir auch direkt beim Lokalkolorit sind. Schauplatz ist Zürich. Der Zürichberg, die Rote Fabrik, das Zürcher Opernhaus zur Zeit der Unruhen von «Züri brännt». So deutlich verortet hat der Autor seine Romane selten. Und dann, auf den letzten Seiten, setzt Martin Suter zu einem Twist an – man staunt nicht schlecht.

Seine Leserschaft bekommt, was sie kennt: Eine überzeugend konstruierte Geschichte, denn nur gut konstruiert wirke sie nicht konstruiert, so arbeitet der Autor höchst erfolgreich seit Jahren. Dazu das sutersche Geheimnis, erzählt mit dramaturgischer Wendigkeit. Man kann kaum anders, als in diesen Tagen zu denken, dieser Dr. Peter Stotz könnte einer der alten Totengräber der Credit Suisse sein – einer aus dem «FDP-Filz» eben.

Am Zürichberg lässt Martin Suter jetzt bei gutem Essen die bürgerliche Welt untergehen. Und dafür bezahlen Menschen gerne 50 Franken bar.

Martin Suter: Melody. Diogenes Verlag, 2023. 326 S., ca. 35 Fr.