Kopf, Bauch, Rücken: Woran merke ich, ob meine Schmerzen chronisch werden?

Fast jeder Dritte hat Dauer-Beschwerden

Schmerzen können, egal wo sie sitzen, nach drei Monaten chronisch werden, also dauerhaft bleiben

Schmerzen können, egal wo sie sitzen, nach drei Monaten chronisch werden, also dauerhaft bleiben

Foto: pankajstock123 - Fotolia
Von: Sarah Majorczyk und Bettina Albers

Sucht man im Internet nach dem Wort „Schmerz“, fallen zwei Begriffe immer wieder: „komplex“ und „subjektiv“.

Die beiden Begriffe zeigen: Schmerzen sind schwer fassbar, schwer messbar und ebenso schwer beschreibbar. Denn jeder empfindet ihn anders!

Schmerz kann eine eigene Krankheit sein

Den Schmerz als eigene Diagnose, also nicht als Symptom oder Begleiterscheinung einer anderen Erkrankung, gibt es bisher nur in Deutschland. Mittlerweile gibt es international aber auch Fortschritte.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sich entschieden, den Begriff „Chronischer Schmerz“ als eine eigene Diagnose in die Klassifikation der Erkrankungen aufzunehmen, die Menschen überall in der Welt beeinträchtigen. Damit wird klar und akzeptiert, dass Schmerz etwas Eigenes ist, eine Erkrankung mit ganz spezifischen Eigenschaften. Schmerzen betreffen nicht nur den Körper, sondern auch den ganzen Menschen und sie machen eine ganz eigene Behandlung nötig.

Alles zum Thema Schmerz lesen Sie im neuen Schmerzportal von BILD.

Jeder 3. Deutsche hat Dauer-Schmerzen

In einer Studie aus dem Jahr 2014 gaben etwa 23 Millionen Deutsche (28 Prozent) an, unter chronischen Schmerzen zu leiden. Das ist fast jeder dritte Deutsche!

Die Deutsche Schmerzgesellschaft bemüht sich, auf diese hohe Rate an Betroffenen aufmerksam zu machen und die Versorgung von Schmerzpatienten zu verbessern. Das ist notwendig, denn die gleiche Studie ergab auch, dass fast ein Viertel der Schmerzpatienten mit ihrer Behandlung unzufrieden ist. Es passiert auch heute noch, dass Menschen mit einer chronischen Schmerzerkrankung über viele Wochen, Monate oder sogar Jahre nicht die richtige Diagnose erhalten und schlimmstenfalls als eingebildete Kranke oder als psychisch krank abgestempelt werden.

Wenn der Schmerz zur Dauerschleife wird

Ein akuter Schmerz hält nur eine bestimmte Zeit lang an. Er geht vorüber, wenn die schmerzauslösende, klar erkennbare Ursache behoben wurde und der Heilungsprozess weitgehend abgeschlossen ist. Beim chronischen Schmerz hat dieser sich verselbstständigt und dauert bereits über drei Monate an.

Bei chronischen Schmerzen kommt es zu Veränderungen der „Schmerzreizleitung“. Zum einen wird die Verbindung zwischen den Synapsen im Rückenmark weiter ausgebaut und dadurch dauerhaft „scharfgeschaltet“. Experten sprechen auch vom Schmerzgedächtnis.

Hinzu kommt, dass sogenannte hemmende Neuronen, die eine Art Wächterfunktion im Rückenmark übernehmen und entscheiden, ob eine Schmerzinformation weiter an das Gehirn geleitet wird oder nicht, bei chronischen Schmerzen häufig außer Kraft gesetzt sind. So kommt es zur „Dauerdurchlässigkeit“ des Schmerzsystems oder auch zu spontaner Aktivität, also zu Schmerzimpulsen ohne einen Schmerzreiz.

Erklärgrafik: Wie entstehen Schmerzen – Das Schmerznetzwerk im Gehirn – info.bild.de

Durch welche Faktoren werden Schmerzen chronisch?

Schmerztherapeuten haben herausgefunden, dass es verschiedene Risikofaktoren gibt, die dafür sorgen, dass akute Schmerzen zu chronischen werden (Chronifizierung). Diese Faktoren betreffen sowohl persönliche Ansichten und Verhaltensweisen des Patienten wie auch seine Emotionen und sein soziales Umfeld. In der Fachliteratur werden sie „yellow flags“, gelbe Flaggen, genannt.

Genauso wie eine gelbe Flagge am Strand anzeigt „Achtung, die Badebedingungen sind nicht ideal, ungeübte Schwimmer sollten nicht ins Meer gehen“, so zeigen die gelben Flaggen bei der Diagnose: „Achtung, die Gegebenheiten sind nicht ideal. Die Schmerzen des Patienten könnten sich chronifizieren.“ Kommen viele dieser „yellow flags“ zusammen, ist es wahrscheinlich, dass ein Schmerz chronisch wird. Je früher der Patient mit einer sogenannten multimodalen Schmerztherapie behandelt wird, also einer Therapie, die nicht nur die körperliche Ursache im Blick hat, sondern auch die psychische Verfassung und die soziale Situation des Patienten einbezieht, desto höher sind die Heilungschancen.

Tatsache ist aber, dass bei den meisten Patienten jahrelang an einer oder mehreren vermeintlich körperlichen Ursachen herumgedoktert wird und die Patienten oft eine beeindruckend dicke Patientenakte haben, vielen Tests und Eingriffen unterzogen wurden, bevor sie am Ende als hoffnungslose Fälle oder Simulanten in Schmerzeinrichtungen überwiesen werden. Dass Schmerzen auch eine eigenständige Erkrankung sein können und diese Erkrankung sehr komplex und langwierig ist, wissen nach wie vor auch viele Ärzte nicht!

Was können Sie selbst tun?

Sie können sich als Betroffener die folgenden „gelben Flaggen“ bewusst machen und so Ihr Risiko für chronischen Schmerz besser einschätzen beziehungsweise mit Ihrem Arzt konkret über diese Dinge sprechen. Das australische „Pain Management Network“ fasst die Risikofaktoren wie folgt zusammen (hier übersetzt und angepasst):

Soziales und familiäres Umfeld

▶︎ Ich habe das Gefühl von meinem Partner „überbehütet“ zu werden. Ich bin körperlich und oft auch geistig selbst nicht gefordert, weil mein Partner alles für mich erledigt.

▶︎ Auch das Gegenteil kann der Fall sein: Ich erhalte von meinem Partner kein echtes Verständnis, stattdessen abfällige, „abstrafende“ Kommentare, auch Vorwürfe (wie zum Beispiel: „Jetzt können wir wegen dir nicht in den Urlaub fahren!“).

▶︎ Ich bekomme von meinem Partner oder von meiner Familie keine Ermunterung, über meine Probleme zu sprechen. Probleme werden bei uns in der Familie grundsätzlich unter den Teppich gekehrt.

Die BILD-Schmerz-SerieWas tun, wenn der Schmerz chronisch wird?

Quelle:

Emotionen und Gefühle

▶︎ Ich bin häufig niedergeschlagen und depressiv.

▶︎ Ich fühle mich nutzlos und glaube, nicht mehr gebraucht zu werden.

▶︎ Ich bin reizbar und rege mich schnell auf.

▶︎ Ich leide unter zahlreichen Ängsten.

▶︎ Ich isoliere mich sozial und ziehe mich von Freunden und Bekannten zurück.

Verhaltensweisen

▶︎ Ich bin passiv und habe keinen Elan. Eine Reha-Maßnahme ist für mich nicht interessant.

▶︎ Ich ruhe mich viel aus, liege oft.

▶︎ Ich ziehe mich von Alltagsaktivitäten zurück und vermeide Bewegung.

▶︎ Ich leide unter Schlafstörungen.

Innere Einstellung

▶︎ Ich glaube, dass Bewegung bei Schmerz schädlich ist. Ich nehme eine Schonhaltung ein, vermeide körperliche Aktivität, möchte auch nicht zur Bewegungstherapie.

▶︎ Ich gehe immer vom schlimmsten Fall aus, male mir detailreich negative Szenarien aus (Ärzte nennen das Katastrophieren).

▶︎ Ich glaube fest daran, dass der Schmerz unkontrollierbar ist, dass man eh nichts daran machen kann und ohnehin nichts hilft (Ärzte nennen das externale Kontrollattribution).

▶︎ Ich hoffe auf eine schnelle Lösung vom Arzt und erwarte, dass der Schmerz mit einer Spritze oder Pille behoben werden kann, ohne dass ich viel an meinem Verhalten andern muss.

Erklärgrafik: Was Schmerz im Körper auslöst (Das Handbuch gegen den  Schmerz) – info.BILD.de

Arbeitsumfeld

▶︎ Ich glaube, dass ich wieder völlig schmerzfrei sein muss, bevor ich zur Arbeit zurückkehren kann.

▶︎ Ich habe große Sorge (oder erwarte gar), dass die Schmerzen zurückkehren, sobald ich die Arbeit wieder aufnehme.

▶︎ Ich habe viele negative, frustrierende Berufserlebnisse und schöpfe aus meinem Beruf weder eine innere Zufriedenheit noch Anerkennung (beispielsweise häufige Jobwechsel, Phasen von Arbeitslosigkeit, kein Fuß fassen, ausbleibende Beförderungen, viele Gelegenheitsjobs).

▶︎ Ich habe ein negatives Arbeitsumfeld, erlebe keine Kollegialität, stattdessen negative Erfahrungen mit Vorgesetzten und Kollegen, im schlimmsten Fall sogar Mobbing.

Kann das Hirn Schmerz vergessen?

Wenn Schmerz sich einmal im Schmerzgedächtnis festgesetzt hat, ist es schwierig und langwierig, diesen Prozess wieder rückgängig zu machen aber es ist möglich! Niemand sollte daher die Hoffnung aufgeben.

Negative Gefühle können Schmerz verschlimmern – ein Teufelskreis. Aber einer, aus dem man sich befreien kann. Wichtig ist, sich das bewusst zu machen. Dann wissen Sie, welche Haltung und welche Handlungen zu welchen Konsequenzen führten, und Sie können gezielt gegensteuern.

Mehr zum Thema Schmerzen und was wirklich hilft im neuen BILD-Ratgeber „Handbuch gegen den Schmerz“ (ZS Verlag, 304 Seiten, 24,99 Euro). Erstellt mit 15 der besten deutschen Schmerzmediziner erklärt das Buch alles von Medikamenten über Schmerzschrittmacher bis zu Physio-, Kunst- und Bewegungstherapien sowie Akupunktur und Co. Außerdem geben Patienten Einblick in ihr Leben mit dem Schmerz und wie sie Wege daraus gefunden haben. Weder die BILD-Autorin Sarah Majorczyk noch die mitarbeitenden Experten sind am Verkauf des Buches beteiligt.

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Foto: ZS Verlag

Aktiv gegen den Schmerz vorgehen

Menschen mit starken Rückenschmerzen neigen beispielsweise dazu, sich möglichst wenig zu bewegen. Das ist ganz natürlich, denn jede Bewegung schmerzt höllisch.

Wenn Sie aber wissen, dass genau diese Schonung dazu führt, dass sich der Rückenschmerz verschlimmert oder gar chronisch wird, können Sie sich dazu zwingen, in Bewegung zu bleiben, und bezwingen damit auch den Schmerz. Deshalb ist Aktivität so wichtig, denn die größte Gefahr bei diesem Schmerzkreislauf ist die Hilf- und Hoffnungslosigkeit, die viele Schmerzpatienten verspüren.

Schmerz zieht immer auch andere „Baustellen“ nach sich, die die Betroffenen psychisch belasten, wie die Angst, den Partner zu verlieren, oder die Sorge um den Arbeitsplatz. Der seelische Druck, der daraus entsteht, verstärkt wiederum den körperlichen Schmerz. Wichtig ist, zu analysieren, welche dieser Baustellen Sie haben, und diese anzupacken. Hierbei können Psychotherapeuten oft helfen.

Prof. Christine Schießl und Prof. Thomas R. Tölle

Prof. Christine Schießl und Prof. Thomas R. Tölle

Foto: Peter Müller

Fachliche Beratung: Prof. Thomas R. Tölle, Leiter des Zentrums für Interdisziplinäre Schmerzmedizin am Klinikum rechts der Isaar, Technische Universität München und Prof. Christine Schießl, Chefärztin der Algesiologikum-Tagesklinik für Schmerzmedizin in München.

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