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Die Schweiz verletzt die Rechte von Menschen mit Behinderungen

In der Schweiz leben 1,8 Millionen Menschen mit einer Behinderung (2019). Das sind rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung. Davon sind laut Bundesamt für Statistik 507'000 stark beeinträchtigt, also rund 6 Prozent.

Susanne Leutenegger Oberholzer
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«Behinderte Menschen haben ein Recht auf Achtung ihrer Privatsphäre, der Familie und der Wohnung. Die Realität: Sie werden oft ungefragt in Institutionen abgeschoben.»

«Behinderte Menschen haben ein Recht auf Achtung ihrer Privatsphäre, der Familie und der Wohnung. Die Realität: Sie werden oft ungefragt in Institutionen abgeschoben.»

Alex Spichale

Herabgebrochen auf Baselland (2019: 290'000 Personen) bedeutet das: Mehr als 17'000 Menschen sind schwer behindert. Das ist in etwa die Einwohnerzahl von Muttenz. Wie gut werden die Rechte der fragilsten Menschen in unserer Gesellschaft gewahrt?

Diese Frage stellt sich nicht nur mir als Tante einer schwer behinderten Nichte. Diese Frage müssen sich Gesellschaft und Politik stellen. Der Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte der Menschen mit Behinderungen hat die Situation in der Schweiz analysiert. Der Bericht vom Frühjahr 2022 liegt beim Bundesrat. Die Baustellen werden sorgfältig analysiert und aufgelistet. Die Schweiz verletzt die Rechte von Menschen mit Behinderungen in vielerlei Hinsicht. Dazu eine kleine Auswahl.

In der Erwerbsarbeit werden sie in den geschützten Arbeitsmarkt mit schlechten Arbeitsbedingungen abgeschoben. Nötig ist ein Aktionsplan, der den Zugang aller Menschen in den privaten und öffentlichen ersten Arbeitsmarkt öffnet. Andere Staaten haben das vorgemacht.

Behinderte Menschen haben ein Recht auf Achtung ihrer Privatsphäre, der Familie und der Wohnung. Die Realität: Sie werden oft ungefragt in Institutionen abgeschoben. Zur Durchsetzung der Wahlfreiheit braucht es ein genügendes Angebot an zahlbaren barrierefreien Wohnungen, an Möglichkeiten zum betreuten Wohnen mit der nötigen Unterstützung, an Wohn­gemeinschaften.

Menschen mit Behinderungen können in der Schweiz noch immer von politischen Rechten ausgeschlossen ­werden. Einzig Genf hat das korrigiert. Art. 136 der Bundes­verfassung steht im direkten Widerspruch zum Gleichberechtigungsartikel (Art. 8 Abs. 2 BV).

Personen über 16 Jahren können nach dem Sterilisationsgesetz in der Schweiz noch immer ohne ihre Einwilligung zwangssterilisiert werden. Eine krasse Menschenrechtsverletzung!

2002 wurde das Behindertengleichstellungsgesetz vom Parlament verabschiedet. Seit 2004 ist es in Kraft. Auch 20 Jahre später wird es in vielen Bereichen nicht umgesetzt. Den Behinderten fehlt eine schlagkräftige Lobby im Parlament. 20 Prozent der Bevölkerung sind ungenügend vertreten, während die 2,5 Prozent Bauern in der Politik lauthals und wirksam ihre Stimme erheben.

Wo ist der Markus Ritter für Menschen mit Behinderungen? Es fehlt eine Gesamtstrategie von Bund, Kantonen und Gemeinden in der Behinderten-Gleichstellungspolitik. Dazu braucht es die Initiative des Bundesrats, der Sozialdirektorinnen und -direktoren und der Gemeinden. Baselland steht vor Verabschiedung eines Behindertenrechtegesetzes. Wir sind gespannt, wie wirksam es sein wird.

Diversity muss mehr sein als ein Schlagwort. Die Vielfalt der Menschen gehört zur Gesellschaft. Im Laufe unseres Lebens sind wir (fast) alle von geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen betroffen. Spätestens im Alter. Menschen mit Behinderungen sind Menschen wie du und ich.

Susanne Leutenegger Oberholzer politisierte 23 Jahre im Nationalrat (für Poch und SP). Die Juristin und Ökonomin lebt in Augst.

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