Eugen Ruges Roman „Pompeji“ :
Früher begann der Tag mit einem Bimssteinschlag

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Venus-Darstellung aus einem Privathaus in Pompeji: Ob das Geschehen in Eugen Ruges historischem Roman auch eine zweite, versteckte Bedeutung hat?
Eugen Ruge taucht in seinem neuen Roman in die Welt der römischen Antike ein. Doch statt mit der Geschichte die Gegenwart zu erschließen, klimpert er nur mit historischen Motiven und Zitaten.

Ein Schlüsselroman ist eine Freude, wenn man das Schloss kennt, in das er passt. Sonst hält sich das Erfreuliche in Grenzen. Denn mit jeder Seite, die man liest, wächst die Gewissheit, dass einem bei der Lektüre etwas Wichtiges entgeht. Am Ende hat man wie in Platons Höhle nur die Schatten der Dinge und Menschen wahrgenommen, von denen das Buch handelt, ihre Hohl­formen, nicht ihre wahre Gestalt.

Am Fuß einer Treppe im dreistöckigen Haus des Fabius Rufus in Pompeji, einem der größten Wohnkomplexe der antiken Ruinenstadt, liegt die mit Gips ausgegossene Hohlform eines Toten. Der Mann könnte versucht haben, auf das Dach des Gebäudes zu entkommen, als ihn der py­ro­­klas­ti­sche Strom erfasste, der am zweiten Tag des Vesuvausbruchs im Jahr 79 nach Christus über die Stadt raste. Sein Körper ruht in der Haltung eines Schlafenden auf den Stufen zum Obergeschoss, und so, als Schlafender, muss er auch dem Schriftsteller Eugen Ruge erschienen sein, denn Ruge hat ihn mit seinem neuen Buch zum Leben erweckt.

Bei Eugen Ruge heißt der Mann Josse alias Josephus alias Jowna, und er stammt aus der Unterschicht des Volkes, das vom Magistrat der römischen Landstadt Colonia Cornelia Veneria alias Pompeji unter Führung des Großgrundbesitzers Fabius Rufus regiert wird. Die sozialen Verhältnisse in dem Städtchen, das sich noch von einem Erdbeben im Jahr 62 erholt, sind stabil, nur im Vogelschutzverein, der sich regelmäßig in einer alten Schmiede trifft, sammeln sich versprengte Oppositionelle – Pythago­reer, Epikureer, Kyniker, Sophisten und ein paar Radikalplatoniker, die übliche Mischung der frühen Kaiserzeit.

Der Faden des Geschehens verzweigt sich

Aber auch dieser Debattierklub wäre nicht imstande, die Ruhe im Schatten des Vesuvs nachhaltig zu erschüttern, wenn ihn Ruges Held auf der Suche nach Unterhaltung nicht ausgerechnet in dem Augenblick besuchte, als ein aus Sizilien an­gereister Geologe die Ergebnisse seiner Un­ter­su­chung der To­des­ur­sa­che zweier Vo­gel­schüt­zer vorstellt, die vor Kurzem bei einer Erkundungstour in Hanglage er­stickt sind. Als Josse erfährt, dass seine Heimatstadt unter einem Vulkan liegt, macht er einen Vorschlag, der die Versammlung aufmischt und die Handlung des Romans in Gang bringt: Wenn der Berg sich nicht bewege, dann, so der Mann aus dem Volk, müsse es eben die Stadt tun.

Eugen Ruge: „Pompeji“. Roman .Dtv, München 2023.364 S,. geb., 25,– €.
Eugen Ruge: „Pompeji“. Roman .Dtv, München 2023.364 S,. geb., 25,– €.dtv

Von hier aus verzweigt sich der Faden des Geschehens in zwei Hauptrichtungen. Die eine führt zum „Fenster des Meeres“, einer Bucht an der Felsenküste, in der die Vereinsmitglieder alsbald er­proben, wie ei­ne Neugründung der Stadt in Form einer Landkommune aussehen könnte. Die an­de­re weist zurück nach Pom­peji, wo das alteingesessene oder zu­gewanderte Establishment dem basis­demokratischen Experiment vor seinen Toren nicht tatenlos zu­schau­en will. Und weil Josse nicht nur ein Fremdling in beiden Welten, sondern auch ein Jüngling in der Blüte seiner Jahre ist, verknüpfen sich seine Erfahrungen in der großbürger­lichen wie der außerbürgerlichen Sphäre immer auch mit erotischen Abenteuern, sei es mit der jungen Skythin Ascula, die ihn am Strand verführt, sei es mit der nach Rosenwasser duftenden Aristo­kratin Livia Numistria, der Ehefrau des erwähnten Fabius Rufus, die mit Josse den zweiten Frühling eines sexuell unterversorgten Matronendaseins erlebt.

Mit dieser Frage alleingelassen

Es ist an diesem Punkt etwa in der Mitte des Buches, dass den Leser der Verdacht beschleicht, die Geschehnisse in „Pom­peji“ könnten eine zweite, versteckte Be­deutung haben – etwa so, wie in Christa Wolfs „Kein Ort. Nirgends“ die erstickende Realität der späten DDR oder im „Treffen in Telgte“ von Günter Grass die geistige Ge­men­ge­la­ge der frühen Bundesrepublik zu Wort kommt. Das liegt weniger an Ruges ausgefeilten, vor Ort recherchierten Schilderungen pompejischer Stadtpaläste (das Haus des Bauunternehmers Polybius, dem er sich ausführlich widmet, kann man heute noch besichtigen) als an der Mühe, die er sich mit der Beschreibung selbst von Nebenfiguren gibt. Der Epikureer Diablo etwa, Josses Rivale bei Ascula, wirkt „bä­ren­haft mit seinem mächtigen Zottelkopf“ und „verwilderten Bart“, zugleich aber „in seinen Bewegungen zart, beinahe weiblich“, während der verarmte Kleinadlige Maras, der die Kommune am Meeresufer anführt, ein „Strichmännchen“ mit großem Kopf und dünnen Beinen, dabei gleichfalls „zart, beinahe zerbrechlich“ und mit Augen „von tiefem, traurigem Braun“ gesegnet ist. In der Skizze der unglücklichen Ascula wird diese Stricheltechnik zur ätzenden Karikatur: „Ihre Sonnenbräune war fleckig, sie hatte zu kurze Ohrläppchen, eine zu spitze Nase, ihre Schultern waren zu männlich, und ihr Hintern tendierte zur Birnenform.“ Könnte es sein, dass diese Prosa-Pastiches ebenso wie die revolutionären Floskeln, die ihnen Ruge in den Mund legt, verzerrte Abbilder realer Vorbilder sind?

Doch das Buch lässt den Leser mit dieser Frage allein. Es stellt die Parabel, die in allen Pompeji-Erzählungen steckt, weder aktualisierend scharf, noch bettet es sie historistisch ein wie die Romane von Bulwer-Lytton und Robert Harris. Stattdessen folgt es einem Kurs, der einer ausgedehnten Besichtigungstour mit finalem Knalleffekt gleicht. Josse lässt sich also von der städtischen Elite bestechen und flaniert dabei durch deren Villen, gründet dann einen Vulkan-Verein mit eigenem Kult, sodass wir auch die örtliche Priesterschaft in Gestalt des Auguren Lucretius kennenlernen, und landet schließlich als Ma­gis­trats­kandi­dat auf dem Forum, während Schwefelgeruch die Ka­ta­stro­phe ankündigt. Zwischendurch haben wir auch den unvermeidlichen Plinius in seinem Hauptquartier in Misenum getroffen, wo er ganze Absätze aus seiner Naturgeschichte zi­tiert, und noch der Untergang der Stadt im Bimssteinregen ist mit einem Lukrez-Zitat über die Vergänglichkeit des Weltenrunds garniert. So bleibt der Ab­stand zur Trivialliteratur gewahrt.

Aber auch, leider, der zu den großen ­Ro­manciers. Denn was der Autor Ruge uns nicht gibt, ist ein Grund, uns tiefer einzulassen auf diese an ihrer Oberfläche so liebevoll ausgepinselte Geschichte. Die Sprache, in die er sie kleidet, klingt mo­dern („römischer Imperialismus“, „emanzipatorischer Anspruch der Frauen“, „falsches Bewusstsein“), aber die Haltung dahinter ist es nicht. Die epische Ironie, nach der die vielen augenzwinkernden Ansprachen des Erzählers an seine Leser tasten („wir wissen, dass . . . “), war bei Thomas Mann ein Erkenntnismittel; hier ist sie nur noch ein Mittel. Deshalb hat es keinen Sinn, in den Umwälzungen der Gegenwart nach einem Phänomen zu suchen, das im Spiegel von Ruges „Pompeji“ klarer sichtbar wird. Dieses Bild schließt nichts auf, es klimpert nur mit seinen historischen Schlüsseln. Das war in Eugen Ruges früheren Geschichtsromanen anders.

Eugen Ruge: „Pompeji“. Roman .Dtv, München 2023.364 S,. geb., 25,– €.