Majoran-Gewürz: Die Geheimnisse des Krauts

Eine kleine Quizfrage aus der deutsch-deutschen Geschichte: Was verbindet Meißener Porzellan, Thüringer Majoran und die Lasertechnik von Carl Zeiss Jena, mit der sich schon zu Zeiten Erich Honeckers das Spaceshuttle durch den Weltraum navigierte? Darauf kommt man nie: Alle drei gehörten zu den ganz wenigen Exportgütern der DDR, die der Staats- und Parteiführung für jede Ostmark eine Westmark und damit Säcke voller Devisen einbrachten. Der Majoran war sogar von derart guter Qualität, dass ihn kaum ein Arbeiter-und-Bauern-Staat-Bewohner jemals zu Gesicht bekam, weil die gesamte Ernte zum Klassenfeind in den Westen geschafft wurde. Das freilich wusste fast niemand, weder diesseits noch jenseits der Mauer. Und kaum bekannt ist bis heute, dass einer der besten Majorane der Welt immer noch aus Aschersleben in der Magdeburger Börde kommt – aus Sachsen-Anhalt also, nicht aus Thüringen, womit die Komplikationen noch lange nicht enden. Kräutlein Wohlgemut hilft gegen alles Wolfram Junghanns kennt sie alle und weiß auch sonst alles über den thüringischen Majoran sachsen-anhaltischer Provenienz. Denn er stammt aus einer Ascherslebener Bauernfamilie, die von der ersten Stunde an die Majoran-Geschichte in der Börde mitgeschrieben hat – seine Mutter, so erzählt er gerne, marschierte mit einem Rucksack voller Majoran in den Westen, um sich vom Erlös des feinen Krauts Stoff und Schnittbögen für ihr Brautkleid zu kaufen. Thüringisch ist der Majoran, weil der Pionier seines Anbaus ursprünglich aus Thüringen stammte, dann aber Ackerland in Sachsen-Anhalt erbte, 1890 die ersten Felder anlegte und schnell feststellte, dass die Region rund um Aschersleben wie geschaffen ist für den Majoran. Sie liegt im Regenschatten des Harzes, gehört deswegen zu den trockensten und wärmsten Regionen Deutschlands, auch der lockere Löss der Börde ist ganz nach dem Geschmack des Krauts, das sich hier noch wohler fühlt als in seinem Ursprungsgebiet in Ägypten und Vorderasien. Majoran wurde dort schon im ersten Jahrtausend vor Christus angebaut und von allen Hochkulturen der Antike gleichermaßen als Gewürz und Symbol der Glückseligkeit hoch geschätzt. Griechen und Römer würzten schwere Fleischgerichte mit Majoran, weil dessen ätherische Öle für eine gute Verdauung sorgen, schwärmten wie der Dichter Catull von der stimulierenden Wirkung des Krauts und widmeten es der Liebesgöttin Aphrodite; sie verwandelte den Sohn des Priesterkönigs Amarakos, der ihr kostbare Salben und Öle herstellte, in einen Majoran-Strauch, nachdem ihm eine Schale zerbrochen und er darüber vor Schreck tot umgefallen war. Im Mittelalter galt Majoran als Wunderpflanze gegen Pest, Nervenleiden und Impotenz, wurde „Kräutlein Wohlgemut“ genannt, vertrieb zuverlässig Hexen und böse Geister, brachte Kinder zum Reden, wenn sie das Sprechen nicht lernen wollten, wurde von Hildegard von Bingen als Arznei gegen „Kopfschmerz durch Verqualmung des Magens“ empfohlen. Und für Shakespeare war Majoran nichts weniger als „the Herb of Grace“, das Kraut der Anmut. Der Pharao wäre verzückt Für Wolfram Junghanns ist er noch viel mehr, nämlich das Alpha und Omega seines Lebens und außerdem das deutschste aller deutschen Kräuter, weil es in fast jeder deutschen Wurst steckt. Nach einer Lehre als Landwirt studierte er in Halle Pflanzenzucht, schrieb darüber eine Doktorarbeit, leitete lange einen großen Kräuterbetrieb in Aschersleben und machte sich 1998 mit einer eigenen Firma selbständig, mit der er fünfzig Tonnen Majoran pro Jahr erntet. Er verkauft seine Schätze zwar auch an einige Spitzengastronomen, Feinkosthändler und Teeproduzenten und betreibt einen kleinen Fabrikladen mit seinen Kräutern, Ölen und Senfen. Doch zu seinem großen Kummer geht das Gros der Ware in die Industrie, etwa zu Kosmetikfirmen, weil den meisten deutschen Essern die Qualität des Ascherslebener Majorans egal ist. Sie schauen lieber auf den Preis und geben sich mit dem Supermarktkraut aus Ägypten zufrieden, das den Gewürzmarkt in Deutschland nahezu vollständig dominiert. „Die Felder werden mit Nil-Wasser gegossen, und in der Sahara-Hitze verflüchtigen sich die ätherischen Öle des Majorans ganz leicht“, sagt Junghanns und schüttelt dabei nicht nur seinen Kopf. Ein Kilo ägyptischer Majoran kostet zwei Euro, ein Kilo mitteldeutscher zehn Euro, allein schon deswegen, weil in jedem Hektar Jahr für Jahr bis zu sechstausend Euro Handarbeit stecken. Man braucht viele fleißige Hände, um die Felder zu jäten und die Erde zwischen den Majoran-Sträuchern blitzblank zu halten. Doch als Lohn bekommt man eine zu hundert Prozent reine Ernte und einen sofort nach dem Pflücken fachmännisch verarbeiteten Majoran, der so intensiv und kraftvoll, so verführerisch und betörend schmeckt, dass er jeden Pharao verzückt hätte. Wolfram Junghanns führt uns in seinem Büro vor, wie wenige Blättchen genügen, um den ganzen Raum mit Majoran-Duft zu aromatisieren. Bei einer Verkostung lernen wir dann nicht nur, wie vielfältig Majoran schmeckt, sondern auch, dass er noch immer eine Wunderpflanze ist und im Volksmund „Wurstkraut“ genannt wird, weil er dank seiner stimulierenden Substanzen gleichermaßen der beste Freund Thüringer Rostbratwürstchen und Pfälzer Saumägen ist. Er steckt voller Antioxidantien, wirkt also lebensverlängernd, dazu noch antibakteriell, und das beste Mittel gegen eine Erkältung ist nach wie vor noch eine Majoran-Butter, die man über Nacht ansetzt und sich dann auf die Brust schmiert. Aschersleben ist bis heute das größte deutsche Anbaugebiet von Kräutern und Gewürzen, doch darüber ist noch nicht einmal der lokale Landrat so recht im Bilde. Auch sind alle Versuche erfolglos geblieben, den Majoran zu einem Markenzeichen und Identifikationsfaktor der Region zu machen. Ein paar Jahre lang sei eine Majoran-Königin gewählt worden, das sei allerdings längst wieder eingeschlafen, sagt Wolfram Junghanns und schaut versonnen über seine Felder. Wie schön wäre es, wenn sie ein Juwel auf einer kulinarischen Landkarte Deutschlands wären, einer Topografie des guten Geschmacks, wie sie Frankreich, Spanien oder Italien seit Jahrhunderten besitzen. Und wie leicht wäre es, eine solche Karte zu zeichnen. Warum tun wir es nicht?