Bundesrat kommt Eltern von behinderten Kindern entgegen

Während Spitalaufenthalten erhielten behinderte Kinder bis jetzt keine Entschädigung mehr – obwohl sie auch dort auf intensive Betreuung ihrer Eltern angewiesen sind. Jetzt hat der Bundesrat reagiert.

Kari Kälin
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Monika Hasler und ihr Sohn Leander in ihrem Haus in Bütschwil SG. (Bild: Urs Bucher, 24. Mai 2019)

Monika Hasler und ihr Sohn Leander in ihrem Haus in Bütschwil SG. (Bild: Urs Bucher, 24. Mai 2019)

Leander ist neugierig, unternehmungslustig, will die Welt erkunden. Den Rollstuhl kann er selber bedienen, Gefahren einschätzen aber nicht. Ohne Beaufsichtigung würde er draussen direkt auf die Strasse fahren. Oder im Haus alle Schubladen ausräumen. Leander leidet an einer Mehrfachbehinderung. Er ist körperlich und geistig beeinträchtigt, kann nicht sprechen, aber mit Körpersprache und Lauten kommunizieren. Seine motorischen Fähigkeiten sind eingeschränkt, er benötigt Rund-um-die-Uhr-Betreuung.

Leander wird bald 15-jährig und erhält von der Invaliden­versicherung eine Hilflosenentschädigung und einen Intensivpflegezuschlag. Minderjährige haben Anspruch auf Hilflosenentschädigung, wenn sie zu Hause wohnen und dauernd auf fremde Hilfe angewiesen sind, beim Kleiderwechseln, Essen und Trinken, bei der Körperhygiene und bei der Pflege von sozialen Kontakten. Einen Intensivpflegezuschlag gibt es zusätzlich, wenn jemand pro Tag mindestens vier Stunden zusätzliche Betreuung braucht. Je nach Grad der Hilflosigkeit erhalten die Betroffenen pro Monat 474 bis 1896 Franken, je nach Betreuungsaufwand kommen 948 bis 2370 Franken Intensivpflegezuschlag dazu.

Zehn Tage lang im Kinderspital

Leanders Eltern, Hansjörg und Monika Hasler aus Bütschwil im Kanton St. Gallen, haben sich mit der Situation arrangiert. Sie führen ein Metallbauunternehmen, sind relativ flexibel, stemmen einen grossen Teil der Betreuung selber. Support erhalten sie von einer Assistenzperson, welche zum Teil von der IV finanziert wird. Die Familie Hasler hat zwei jüngere gesunde Buben.

Im letzten November musste sich Leander im Kinderspital St. Gallen am Fuss operieren lassen. Monika und Hansjörg Hasler kümmerten sich abwechselnd um Leander, schauten, dass er nicht aus dem Bett fällt, keine ­Katheter herausreisst, nicht mit dem Rollstuhl in fremde Zimmer fährt. Oft schliefen sie im Spital, manchmal sorgte eine Sitznachtwache für Entlastung.

Leanders Spitalaufenthalt belastete die Familie Hasler nicht nur emotional und zeitlich, sondern auch finanziell. Denn die Hilflosenentschädigung und der Intensivpflegezuschlag wurden für die Dauer des Spitalaufenthalts gestrichen. Der Gedanke dahinter lautet: Wenn sich ein Kind im Spital befindet, ist es genügend umsorgt. Bei behinderten Kindern reichen aber Elternbesuche nicht. Viele sind auch im Spital auf eine intensive Betreuung angewiesen, welche das Spitalpersonal überfordern würde. Die Eltern springen in die Bresche, doch die Entschädigung entfällt.

Jetzt können Betroffene aufatmen. Am letzten Mittwoch hat der Bundesrat entschieden, dass die Hilflosenentschädigung und der Intensivpflegezuschlag auch bei einem Spitalaufenthalt weiterhin ausgerichtet wird. Die Entschädigung wird erst dann eingestellt, wenn das behinderte Kind länger als einen Kalendermonat im Spital weilt. Katharina Schubarth vom Bundesamt für Sozialversicherungen erklärt anhand eines Beispieles, was das konkret bedeutet: Tritt ein Kind zum Beispiel am 15. Mai ins Spital ein und kann es das Spital am 3. Juli wieder verlassen, werden die Hilflosenentschädigung und der Intensivpflegezuschlag bis zum 31. Mai weiter ausgerichtet. Für den ganzen Monat Juni werden Entschädigungen eingestellt, für den 1. bis 3. Juli wieder ausgerichtet.

Behindertenverbände haben interveniert

Dass der Bundesrat die neue Regelung ins Gesetz über die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege aufgenommen hat, ist auch das Verdienst von Behindertenverbänden wie Procap. Die Selbsthilfeorganisation hatte in der Vernehmlassung diese Lücke kritisiert und darauf hingewiesen, dass die Eltern, vielfach die Mütter, ihre Erwerbstätigkeit ganz oder das Pensum drastisch reduzieren müssen. Der Walliser CVP-Nationalrat Benjamin Roduit gab derweil in einem Vorstoss zu bedenken, es sei schlicht unmöglich, das Kind einfach «abzugeben» und die Arbeit in dieser Zeit wieder aufzunehmen. Auch die laufenden Kosten, zum Beispiel jene für die Kita und die Betreuung der Geschwister, gelte es in dieser Zeit zu bestreiten.

Für Alex Fischer, Leiter Sozialpolitik bei Procap, stimmt die Stossrichtung: «Die Betroffenen sind in solchen Situationen menschlich und finanziell besonders gefordert. Bei kürzeren Spitalaufenthalten erleichtert somit der Bundesrat deren Situation substanziell.» Allerdings löse der Vorschlag das Problem von behinderten Kindern nicht, die länger als einen Kalendermonat im Spital blieben. Fischer hofft, dass das Parlament in der Beratung noch Verbesserungen beschliesst. Die Variante des Bundesrats würde die IV pro Jahr 2,5 Millionen Franken kosten.

Das neue Gesetz bringt für Eltern generell deutliche Verbesserungen. Wenn ein Kind schwer erkrankt, zum Beispiel an Krebs, oder einen schweren Unfall erleidet, sollen Eltern künftig neu Anspruch auf einen bezahlten Betreuungsurlaub von maximal 14 Wochen erhalten, finanziert durch die Erwerbsersatzordnung (EO). Heute haben Mütter und Väter oft keine andere Wahl, als ihre Arbeit aufzugeben oder sich krank schreiben zu lassen. Jährlich betroffen sind laut Bundesrat 4500 Familien. Die Mehrkosten für die EO schätzt er auf 74 Millionen Franken. Das ­Parlament muss die Vorlage noch beraten. Erst danach können die Änderungen in Kraft treten.