Die alte Dame ist wieder zu Besuch im Zürcher Schauspielhaus. Sie wirkt noch ziemlich frisch

In seiner Dürrenmatt-Inszenierung nimmt sich der Schauspielhaus-Intendant und Regisseur Nicolas Stemann überraschende Freiheiten heraus. Darf er das?

Ueli Bernays
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Plötzlicher Wohlstand führt zu Konsumrausch: Sebastian Rudolph und Patrycia Ziolkowska überzeugen in «Der Besuch der alten Dame».

Plötzlicher Wohlstand führt zu Konsumrausch: Sebastian Rudolph und Patrycia Ziolkowska überzeugen in «Der Besuch der alten Dame».

Zoé Aubry

Immer kommt irgendwer zu spät. Auch an diesem Abend. Längst sitzt das Publikum voller Erwartung auf seinen Plätzen, da tippelt links noch eine Frau in weisser Bluse, rechts ein Mann in schwarzer Hose an den Rängen vorbei bis vor die in Dunkelheit getauchte Bühne. Haben die beiden den Zug verpasst? Den Personenzug von Winterthur nach Zürich? Oder von Kaffigen nach Güllen?

Statt sich sofort zu setzen, stehen die Frau und der Mann minutenlang blöd da. Plötzlich ergreifen sie das Wort, um nun ein seltsames Gespräch zu führen – über die «Gudrun», über den «Rasenden Roland». Es handelt sich dabei offenbar um internationale Züge, die nicht mehr hielten in ihrer heruntergekommenen Provinzstadt.

Das Stück kann man auch lesen

Schon sind wir mittendrin in Friedrich Dürrenmatts «Der Besuch der alten Dame», dieser «tragischen Komödie», die vor 65 Jahren im Zürcher Schauspielhaus Premiere feierte und die Generationen von Schülern gelesen und gedeutet haben. Es ist zu hoffen, dass sich die Anwesenden an den Text erinnern. Denn wie sich zeigt, hat der Regisseur Nicolas Stemann für seine Inszenierung auf die vorgesehene Rollenverteilung verzichtet. Die Schauspielerin Patrycia Ziolkowska und der Schauspieler Sebastian Rudolph teilen sich den ganzen Text: Bald spricht er, bald spricht sie.

Wer das Stück nicht kennt, dürfte anfangs Mühe haben, die verzweigten Dialoge in einem Erzählstrang zu bündeln. Wer aber mit der «Alten Dame» vertraut ist, vermisst zunächst das zahlreiche und schillernde Personal. Der nonchalante Reduktionismus der Regie hat seinen Preis. Aber, das sei gleich verraten, er zahlt sich aus.

Dürrenmatt selbst hat im Vorwort zur Text-«Endfassung» von 1980 nahegelegt, dass man die «Alte Dame» auch als literarisches Stück lesen könne. Tatsächlich scheint es nun, als würden die beiden Schauspieler das Publikum und mithin die Leserschaft repräsentieren. Und ähnlich wie die Phantasie bei der Lektüre aus Sprache lebendige Figuren formt, so entwickelt sich das Live-Rezitativ immer mehr zum gespielten Theater.

Der Grundkonflikt des Stücks erweist sich zum Glück als überschaubar: Die Greisin und Grosskapitalistin Claire Zachanassian kommt in ihre Heimat Güllen zurück, die sie vor 45 Jahren als armes Mädchen verlassen hat. Sie verspricht der darbenden Gemeinde Investitionen in Milliardenhöhe – unter der Voraussetzung, dass Ill, ihr erster Liebhaber, der sie einst verraten hat, dafür mit dem Tod bestraft wird.

In einer Art Hörspiel ist über scherbelnde Lautsprecher zu vernehmen, wie sich Claire und Alfred einst liebten und verliebten. Dann erst wird die dunkle Bühne zum Schauplatz. Von Requisiten und Kulissen befreit, hat sie die morbide Anmutung einer unendlichen Nacht, in der die blütenweissen Hemden der Schauspieler gespenstisch flackern.

Auch Claire Zachanassian ist ja eine Art Gespenst, ein Racheengel oder gar ein Zombie. Einen Autounfall soll sie ebenso überlebt haben wie einen Flugzeugabsturz. Sie sei nicht totzukriegen, sagt sie selbst. Allerdings existiert sie nicht mehr als ein Mensch aus Fleisch und Blut, sie erweist sich vielmehr als Konstrukt von Prothesen, die sich mitunter selbständig machen.

Schuld und Schulden

Für Patrycia Ziolkowska ist das eine erste Steilvorlage, um ihre schauspielerische Expressivität zu demonstrieren. Zuerst spielt sie die Zachanassian als forsche und robuste Frau, die kühl und souverän über die Schmeichelei und die heuchlerischen Ideale der Güllener hinweggeht. Plötzlich aber wird die Protagonistin durch technische Defekte der Prothesen in einen ratternden Automaten verwandelt. Und weil es nun so lustig zugeht auf der Bühne, gibt auch Sebastian Rudolph eine Zachanassian-Karikatur zum Besten – mit Puffärmeln und grossem Hut geschmückt, sieht er aus wie eine Dame aus dem 19. Jahrhundert.

Aber fertig lustig, weiter in diesem Text, der sich überraschend frisch ausnimmt. Stemann hat ihn zwar kaum überarbeitet, einiges aber weggelassen. Den Streichungen sind sprachliche Anachronismen («Weiber») ebenso zum Opfer gefallen wie das allzu lange «Blabla» des Bürgermeisters und anderer Nebenfiguren. Letztlich können das Stück und die Inszenierung davon profitieren. Es gibt mehr Raum für die Kür von Ziolkowska und Rudolph, die einzelne Passagen in unterschiedlichen Versionen auskosten – mit wechselndem Dialekt, Tempo, Tonfall.

Es bleibt aber auch mehr Zeit für das zentrale Thema: die Verwicklung von Schuld und Verschuldung. Ende des ersten Akts mochten die Güllener – unter dem scheuen Beifall des Publikums – ihre eigene Humanität beschwören und Zachanassians teuflisches Angebot ausschlagen. Im zweiten Akt werden sie allerdings unversehens von einer Konsumwut ergriffen. Weil es an Geld fehlt, lassen sie alles bloss aufschreiben: Vollmilch, Butter, besseren Tabak und Whiskey.

Die Kosten des Wohlstands

Für den Wohlstand auf Kredit stehen insbesondere auch gelbe Schuhe, die plötzlich alle tragen. «Dingdong», tönt es immer wieder, «dingdong». Und dann werden wieder Schuhe ausgeliefert. So viele Schuhe bringt die Post, bis die Bühne mit Schuhen förmlich gepflastert ist. Auch der Hinterste und Letzte wird nun die Anspielung auf Amazon, Zalando usw. verstanden haben. Machen wir uns auch zu Sündern durch unseren Konsum? Aber das «Dingdong» wirkt eher witzig als pastoral-moralisch.

«Dingdong!» – Die Post hat wieder gelbe Schuhe gebracht.

«Dingdong!» – Die Post hat wieder gelbe Schuhe gebracht.

Zoé Aubry

In «Der Besuch der alten Dame» aber geht es nun schon um Moral. Im Meer der gelben Schuhe merkt Alfred Ill bald, dass die Kreditsumme für die Güllener zu gross wird, dass ihre Schulden alleine durch seinen Tod zu tilgen sein werden. Das erklärt auch, weshalb er immer mehr als Täter, als Unhold angesehen wird. Und es ist nicht abzustreiten: Er hat Claire einst missbraucht; und er hat eine gemeinsame Tochter verleugnet.

Ill steigert sich in eine Angst, die durch den harten Techno (Musik: Camilla Sparksss) etwas zu stur und zu aggressiv unterstrichen wird. Im letzten Akt aber wird er zu einer Art Jesus-Figur. Indem er seine Schuld anerkennt, nimmt er die Schulden der Mitmenschen auf sich. Bei Dürrenmatt werden die Güllener das Todesurteil vollstrecken, um die versprochene Milliarde einzustreichen. Bei Stemann aber ist zuletzt das Publikum wieder gefragt: Hätte es Ills Tod zugestimmt? Im Sinne der Gerechtigkeit? Um des Wohlstands willen?

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