Werdendes Herz

Ingeborg Lüscher ist eine der bekanntesten Schweizer Künstlerinnen. Die Intensität ihres Schaffens hält bis heute an – und ist derzeit im Kunstmuseum Solothurn zu spüren.

Hans Christoph von Tavel
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Erstmals in der Schweiz zu sehen: das «Bernsteinzimmer». (Bild: Rudolf Steiner / © Pro Litteris)

Erstmals in der Schweiz zu sehen: das «Bernsteinzimmer». (Bild: Rudolf Steiner / © Pro Litteris)

So etwas kommt selten vor. Nach 1982 und 1996 widmet das Kunstmuseum Solothurn nun zum dritten Mal Ingeborg Lüscher eine Retrospektive – dieses Mal anlässlich ihres 80. Geburtstages. Der Direktor, Christoph Vögele, hat zusammen mit der Künstlerin rund zehn Werkgruppen aus den Jahren seit 1970 im Erdgeschoss des Museums eingerichtet. Die Ausstellung steht unter dem Titel «Das Licht und die Dunkelheit knapp unter den Füssen». So umschreibt Lüscher das Verbindende zwischen den Werkgruppen und stützt sich dabei auf eine Stelle aus ihrer Dichtung «Angst des Ikarus», die 1982 erschien. Es ist die Schilderung der Reise einer Familie im Gotthard-Zug und wird begleitet von Fotografien des Mienen- und Gebärdenspiels der Frau und Mutter.

Schwankender Untergrund

Über das eigene Befinden der Erzählerin ist dort zu lesen: «Ich mache Pläne. Keiner ahnt die Dunkelheit unter den Füssen.» Dem Besucher der jetzigen Ausstellung, 30 Jahre später, obliegt es, der «Dunkelheit unter den Füssen» und dem «Licht», das ihr im Ausstellungstitel vorangestellt wird, nachzuspüren. Welches Licht meint Ingeborg Lüscher? Das Licht, das uns umgibt? Das Licht einer Erleuchtung in unserem Innern? Was ist die «Dunkelheit unter den Füssen»? Das Wirken der Natur im Erdreich? Der schwankende dunkle Untergrund, auf dem sich unser Schicksal abspielt? Die Ausstellung als Gesamtes ist eine künstlerische Installation von Ingeborg Lüscher in den ihr vertrauten Räumen des Kunstmuseums Solothurn, so als folgte sie einem «Plan» aus der «Angst des Ikarus».

Die einzelnen Ausschnitte aus der Arbeit seit den frühen 1970er Jahren werden so zu einer einmaligen Selbstdarstellung im Jahre 2016. Den Beginn macht der Garten des Armand Schulthess, der von der Künstlerin entdeckt wurde: ein Garten, den der völlig isolierte und unbekannte Besitzer mit Wörtern und Sätzen auf Blechbüchsen und andern Schildern durchsetzte. Es war Ingeborg Lüscher, die nach der mühsam erworbenen Bewilligung von Schulthess diesen Garten schliesslich unter dem Titel «Der grösste Vogel kann nicht fliegen» publizierte. Objekte, Fotos und Texte hatte sie für die Abteilung «Identität von Abbildung und Abgebildetem in der Bildnerei von Geisteskranken» für die «Documenta» 1972 in Kassel zur Verfügung gestellt. Objekte, die aus dem später zerstörten Garten gerettet wurden und heute in der Casa Anatta auf dem Monte Verità aufbewahrt werden, und Fotografien, die in Kassel erstmals dem Publikum vorgestellt wurden, sind in der jetzigen Ausstellung in ihrer originalen Montierung erneut zu sehen.

Mit der Frage nach der Identität der Abbildung und des Abgebildeten betritt der Besucher den nächsten Saal. Dort erwarten ihn die an Erdkrusten erinnernden Malereien auf Baumwollstramin, in denen lebensgrosse Umrisse von Frauenkörpern auszumachen sind. Ihre Haltungen und Gebärden verraten ihr Gefühlsleben in einer «schmutzig» oder eben «irdisch» wirkenden Umgebung, als ob sie auf der «Dunkelheit knapp unter unseren Füssen» liegen oder stehen würden. Diese Bilder, in den frühen 1980er Jahren entstanden, stellt Ingeborg Lüscher in der Ausstellung an den Anfang ihrer bildkünstlerischen Tätigkeit.

Dass sie schon vorher als politisch engagierte Frau und Künstlerin aktiv war, erfährt der Besucher erst in den folgenden Sälen. 1971 entstand die Fotoserie «Persien – Fussbekleidungen mit Texten von Schah Reza Pahlevi», in der das durch zerschlissenes Schuhwerk veranschaulichte Elend der Bevölkerung mit Worten des Schahs vom Glanz Persiens verknüpft ist. Hier erkennt man das Herz von Ingeborg Lüscher als wesentliche Antriebskraft ihres künstlerischen Schaffens. Dem Herzen widmete sie 1976 die grosse Installation «Das Herz auf dem Weg zur Werdung, eine cardio-psychologische Studie von Prof. L.». In 25 Vitrinen ist die Entstehung der Herzform in der Erdgeschichte anhand von gefundenen Kieseln und Steinen nachgezeichnet und wird von einer pseudowissenschaftlichen Analyse der «weichen Herzwerdung» des menschlichen Herzens begleitet.

Gegen Ende der 1980er Jahre setzte die Darstellung von Dunkelheit und Licht in der Gegenüberstellung von schwarzen und schwefelgelben Tafeln, Quadern und Objekten ein. Die Verwendung von Schwefel vergegenwärtigt für den Betrachter unvermittelt die Realität der Natur und steht als «Licht» der Asche dem Schwarz der «Dunkelheit» gegenüber. Diese Objekte aus mit Schwefel und Asche bestrichenem Holz regen ganz besonders zur Reflexion über die Identität der «Abbildung» und des «Abgebildeten» an. Die Aufgabe der Kunst, dem Betrachter das Wesen der Natur sichtbar zu machen, erweist sich hier als ein besonderes Anliegen der Künstlerin. Folgerichtig hängen in der Nachbarschaft von Schwefel und Asche grossformatige Tintendrucke von Flechten aus dem Jahre 2014. Es sind vergrösserte Aufnahmen von Jahrmillionen alten, lebendig sich erhaltenden geheimnisvollen Pilzen, Urwesen der organischen Natur.

Erschütternde Bilder

Als Schwerpunkt ist für den Besucher die Konfrontation mit Menschen aus Israel zu erleben, die Angehörige in den Vergeltungsschlägen zwischen Palästinensern und Israeli verloren haben. Dort erlebt er die «Dunkelheit knapp unter den Füssen» in überlebensgrossen erschütternden Bildern einer politisch aktuellen Videoarbeit aus dem Jahre 2011 unter dem «neutralen» Titel «Die andere Seite». Die Bilder beschränken sich auf das stumme Mienenspiel der Reaktion von Personen auf die Aufforderungen «Denke, wer du bist, deinen Namen, deine Herkunft», «Denke, was die andere Seite dir angetan hat», «Denke, kannst du das vergeben?». Den Abschluss der Ausstellung bildet das «Bernsteinzimmer», das erstmals in einem schweizerischen Museum zu sehen ist. Dieses geht in seiner jetzigen Fassung auf die leuchtende Installation aus Tausenden von «Sole»-Seifen zurück, die 2003 vollendet war. Sie hat das Verschwinden des historischen «Bernstein-Zimmers» zum Thema. Dieses Zimmer, ein Raum, in dem der Bernstein, die Natur, vom Menschen zur Gestaltung eines leuchtenden Ambiente verwendet worden war, wurde 1716 vom preussischen König an den russischen Zaren verschenkt und ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verschollen.

Ingeborg Lüscher. Das Licht – und die Dunkelheit knapp unter den Füssen. Kunstmuseum Solothurn. Bis 27. Juli 2016. Die Ausstellung wird begleitet von einer reich bebilderten, aufwendigen Publikation von Aufsätzen mehrerer Autoren zu verschiedenen Themen in deutscher und englischer Sprache.