Interview

Herr Suter, sind Sie eigentlich der erfolgreichste Autor der Schweiz? Martin Suter: «Unter uns gesagt, ja.»

Seit langem hat der Zürcher Schriftsteller aufgehört zu diskutieren, da er skeptisch ist, ob damit politisch etwas erreicht werden kann. Auch mit dem Glauben habe er seine Nöte, sagt Martin Suter im Interview. Und nicht erst, seit sein Sohn gestorben ist.

Roman Bucheli, Andreas Scheiner 29 Kommentare
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«Ich bin ein politischer Mensch, aber kein politischer Schriftsteller», sagt Martin Suter.

«Ich bin ein politischer Mensch, aber kein politischer Schriftsteller», sagt Martin Suter.

Annick Ramp / NZZ

Herr Suter, wenn Sie in diesen Tagen morgens aufstehen, woran denken Sie als Erstes?

Ich denke nicht, hier erwacht der berühmte Martin Suter, bald steht er auf. Nein, ich denke nur: wieder diese Rückenschmerzen.

Und was ist mit dem Text, den Sie am Tag zuvor geschrieben haben und nun vielleicht überarbeiten müssen?

An die Arbeit versuche ich eigentlich nur während der Arbeit zu denken.

Sicherlich beschäftigt Sie, was in der Welt gerade vor sich geht.

Ich bin natürlich, wie wir alle, ein bisschen ängstlich angesichts der weltpolitischen Ereignisse. Ich schaue am Morgen, ob nichts Schlimmes passiert ist in der Nacht, meistens ist dann aber doch etwas passiert.

Drängt Sie diese Sorge nicht dazu, sich zu politischen Themen zu äussern?

Nein.

Wieso nicht?

Ich bin ein politischer Mensch, aber kein politischer Schriftsteller. Ich glaube nicht, dass meine Funktion als Schriftsteller darin besteht, meine politische Meinung öffentlich kundzutun.

Und wenn Ihnen Lukas Bärfuss in der Zeitung die Welt erklärt, dann sind Sie genervt?

Nein, ich bin sogar froh, wenn er das macht, dann muss ich es nicht tun.

Sie kneifen also?

Ich glaube eben nicht an diese Leuchtturm-Funktion des Schriftstellers. Es ist einfach nicht meine Rolle. Sie bezeichnen mich als Unterhaltungsschriftsteller, und das will ich auch sein.

Sind Sie privat streitlustiger?

Streitlustig bin ich nicht. Das Diskutieren habe ich seit dem Konfirmationsunterricht aufgegeben. Natürlich habe ich eine politische Haltung, trotzdem bin ich auch skeptisch, ob man mit Diskutieren irgendetwas beeinflussen kann.

Aber das ist doch das Wesen der demokratischen Auseinandersetzung!

Ich bin ja auch ein überzeugter Demokrat. Aber die politischen Ansichten mancher Leute sind so, dass ich mit ihnen gar kein Wort wechseln will.

Wollen Sie uns sagen, welche Ansichten das sind?

Wenn Sie mich in das politische Links-rechts-Schema einordnen wollen, dann kann ich sagen: Ich bin gegen rechts. Was nicht unbedingt das Gleiche ist wie links.

Trotzdem haben Sie ein aufklärerisches Bedürfnis. Es gibt Bücher wie «Der Koch» und «Der Elefant», in denen Sie Politisches verhandeln, allerdings sehr weichgespült.

Ich finde nicht, dass Romane harte politische Auseinandersetzungen führen müssen. Das bedeutet nicht, dass ich die Augen verschliesse vor der Welt. Sobald man die Welt beschreibt, wie sie ist, wird das immer kritisch.

Wenn Sie sich schon nicht zur Politik äussern, es gibt gesellschaftliche Debatten, die Sie als Autor betreffen: Werden Sie in Ihrem nächsten Buch gendern?

Nein, werde ich nicht. Das Gendern ist eine für mich etwas bizarre Frage. Da muss ich mich nun nicht mehr aktiv einmischen. Ich habe nicht mehr genug Lebenszeit, um mich damit zu befassen.

Haben Sie es schon einmal mit einem Sensitivity-Reader zu tun gehabt?

Ich weiss gar nicht, was das ist.

Es gibt Verlage, die ihren Autoren Leute zur Seite stellen, die bei sensiblen Themen wie Homosexualität oder Hautfarbe dafür Sorge tragen, dass keine Gefühle von Lesern verletzt werden.

Da würde ich aber ein ernstes Wörtchen mit meinem Verlag reden. Das ist alles schon sehr irritierend. Man kann jetzt als Weisser ja auch keine Dreadlocks mehr tragen. Und allein wenn ich das sage, bin ich wahrscheinlich schon voll in einem Shitstorm.

Diese Intoleranz verträgt sich schlecht mit einer Literatur, die die Welt immer neu zu denken versucht. Was ist Ihre Strategie, um Ihre Leser in andere Welten zu entführen?

Man muss eine Lüge in zehn Wahrheiten verpacken, damit sie glaubwürdig wird. Ich bin darauf angewiesen, dass die Leser meine Bücher glauben. Ich beneide alle, die leichtgläubig sind.

Beneiden Sie auch Leute, die gläubig sind?

Ja, natürlich.

Wieso?

Ach, weil es das Leben einfacher macht. Ich glaube auch nicht den Leuten, die sagen, dass das Alter und der Tod sie nicht erschrecken.

Was hindert Sie denn daran, zu glauben?

Der gesunde Menschenverstand kommt mir immer wieder dazwischen.

Das heisst, Sie versuchen es, dann werden Sie von Ihrem Verstand ertappt und zurückgeholt.

Es gibt ja hochintelligente Leute, die bedingungslos gläubig sind. Ich wollte einmal ganz ernsthaft diese Sache mit dem Glauben angehen und habe den Abt des Klosters Einsiedeln gebeten, mir einen Kontakt zu vermitteln zu einem Pater. Dieser sagte zu mir: «Tun als ob.» Wenn man lange genug tut als ob, ist man plötzlich gläubig. So habe er es geschafft. Das finde ich sehr eindrücklich. Ich habe es leider nicht geschafft.

In dem Filmporträt über Sie, das nächste Woche in die Kinos kommt, gibt es eine sehr intime Szene, wo Sie über Ihren verstorbenen Sohn reden. Das ist, wenn wir es richtig sehen, das erste Mal, dass Sie es tun. Was hat Sie dazu bewogen?

Als der Regisseur das Thema zur Sprache brachte, war unsere Tochter dabei. Für sie ist der Tod ihres Bruders kein Tabuthema, sie hat sofort darüber gesprochen. Da wollte ich nicht einschreiten. Es ist ein Widerspruch zum Filmtitel «Alles über Martin Suter. Ausser die Wahrheit». Natürlich ist das die Wahrheit. Es ist ein Film über Martin Suter, und dieser Tod gehört nun in Gottes Namen auch zu seinem Leben.

Das Besondere dieser Szene liegt darin, dass Sie gar nicht so sehr über den verstorbenen Sohn reden, sondern vielmehr zeigen, wie die Familie die Erinnerung an ihn bewahrt.

Niemand von uns will vergessen. Natürlich ist das etwas sehr Persönliches.

Wie hat der Tod ihres Sohnes Ihr Leben verändert?

Nach einem solchen Ereignis ist es für jemanden, der gerne gläubig wäre, sehr schwer, an diesem Projekt weiterzuarbeiten. Natürlich erschüttert das einen. Und natürlich dachte ich dann auch, es wäre schön, wenn ich nun glauben könnte.

Das hat Sie also nicht bestärkt in Ihrer Gottsuche?

Wenn es einen Gott gibt, der so etwas zulässt, dann will ich nichts mit dem zu tun haben. Und wenn es ihn nicht gibt, dann muss ich auch nicht versuchen, an ihn oder etwas zu glauben. Man wird da sehr pragmatisch.

Hat der Verlust des Kindes Ihr Verhältnis zur Sterblichkeit verändert?

Nicht sehr, weil ich den Tod ja nie als Anfang von etwas anderem betrachtet habe. Das Ende hat seinen Schrecken nicht verloren.

Als Schriftsteller aber können Sie über Leben und Tod Ihrer Figuren verfügen. Kommen Sie sich da ein wenig gottähnlich vor?

Überhaupt nicht. Ich habe nicht das Geringste an Gottähnlichkeit bis jetzt in mir entdeckt.

Die Schriftstellerin Isabel Allende liebt es, ihre literarischen Geschöpfe auf möglichst verschiedene Arten umzubringen. Wie halten Sie es damit?

Es sind auch schon Figuren in meinen Büchern gestorben. Ich bin nicht gegen den Tod in einer Geschichte, wenn es ihn braucht. Aber ich bin kein Machtmensch. Ich habe grosse Vorbehalte gegenüber Machtmenschen.

Gerade machtlos sind Sie aber auch nicht als Autor.

Natürlich bin ich der Chef einer Geschichte und will das auch bleiben.

Sie hatten als Werbetexter wilde Zeiten erlebt; jetzt erscheinen Sie als die Inkarnation der biederen Seriosität mit täglichen Exerzitien an der Schreibmaschine. Das sieht von aussen recht langweilig aus.

Ich empfinde mein Leben nicht als langweilig. Manchmal wünschte ich mir, es wäre langweiliger. Ich habe mit sechzehn beschlossen, dass ich nicht Urwalddoktor werden will, sondern Schriftsteller. Und Sie wissen, wie lange ich gebraucht habe, um das umzusetzen. Schreiben ist ein sehr abenteuerlicher Beruf. Man lebt in vielen verschiedenen Welten. Wenn ich jetzt nur noch in meinen, wie Sie es nennen, langweiligen Welten leben würde, könnte ich keine Bücher mehr schreiben. Und es ist natürlich hilfreich, dass ich gelebt habe.

Was heisst das, Sie haben gelebt?

Ich habe viele Stunden in Kneipen verbracht, in Gesprächen, in Blödeleien. Ich bin weit in der Welt herumgekommen. Ich kaufte einen alten Land Rover und bin durch Afrika gefahren, habe viele Gesichter, Gesten, Bewegungen gesehen. Ohne bewusstes Beobachten habe ich ein unbewusstes Repertoire an Bildern im Kopf gesammelt, ehe ich Bücher zu schreiben begann.

Gab es diesen Tag, als Sie beschlossen haben, ich ziehe einen Anzug an, und das ist jetzt mein neues Ich?

Nein, nein, einen Anzug habe ich schon als kleiner Junge getragen. Da kam eine Störschneiderin ins Haus, und die hat dann ein Anzüglein angemessen mit einer kurzen Hose für den Sommer und Knickerbocker für den Winter. Ich habe immer Anzüge gemocht.

Halten Sie es mit Robert Walser, und schreiben Sie mit einer Krawatte?

Ich schreibe tatsächlich so, wie ich auch sonst angezogen bin. Und ich trage sehr oft Krawatte. Ich finde es ein schönes Kleidungsstück.

Ihr Debüt «Small World» (1997) war ein komplexes Buch mit ernstem Thema. Seither haben Sie mehr und mehr ins Genre der Unterhaltungsliteratur gewechselt.

Ich habe «Small World» nie als etwas anderes als Unterhaltungsliteratur betrachtet. Es ist trotzdem ein ernstes, aber auch mein erfolgreichstes Buch. Ich finde nicht, dass ich unernster geworden bin.

Dann erstaunt es Sie auch nicht, was Peter von Matt letzte Woche in der NZZ über Sie sagte? «Martin Suter ist kein Trivialautor.»

Das hat Peter von Matt gesagt?

Das ist doch wie ein Ritterschlag.

Mich hat immer ein bisschen geschmerzt bei Peter von Matt, dass er in seiner Sammlung der schönsten schweizerdeutschen Gedichte keines von meinen ausgewählt hatte.

Aber erstaunt Sie seine Aussage?

Weniger als Sie.

Also doch?

Die Aussage selbst kann ich voll unterschreiben. Dass sie von Peter von Matt kommt, überrascht mich etwas und freut mich sehr.

Wie ist es um Ihren Glauben an die Literaturkritik bestellt?

Eigentlich kann ich nicht sagen, dass die Literaturkritik mich nur unfreundlich behandelt hat. Ich habe immer gesagt: Eine gut geschriebene und intelligent begründete Kritik nehme ich ernst. Aber die sind sehr selten.

Haben Sie noch nie Mordphantasien gegenüber einem Literaturkritiker gehabt?

Nein, nie.

Martin Walsers Buch «Tod eines Kritikers» hat Sie nicht inspiriert?

Das waren noch andere Zeiten. Es gibt dieses Jüngste Gericht eines Marcel Reich-Ranicki nicht mehr. Dass einer ein Buch hochjubeln oder vernichten kann, ist heute nicht mehr möglich. Ich weiss nicht, ob ich es bedauern oder ob es mich freuen soll.

Sind Sie eigentlich der erfolgreichste Autor der Schweiz?

Das dürfen Sie mich nicht fragen, aber unter uns gesagt, ja.

Und wie finden Sie das?

Ich würde keine Bücher schreiben, wenn sie nicht oder kaum gelesen würden. Das gebe ich zu, nicht gerne, aber ich gebe es zu.

Sind Sie auch ein Vielleser?

Ich bin kein Vielleser mehr, weil ich ein Vielschreiber bin. Ich lebe in der Welt der Geschichte, die ich schreibe, und in der Welt, die ich mit meiner Familie teile. Ich kann dann oft nicht noch in einer dritten Welt der Buchlektüre leben.

Der Autor als Filmfigur

sca. · Der Titel ist gelogen. «Alles über Martin Suter. Ausser die Wahrheit», so heisst das Filmporträt, das am 25. August in die Schweizer Kinos kommt. Aber der deutsche Regisseur André Schäfer («Deutschboden») bleibt den Tatsachen treu. Oder den Romanen: Er inszeniert Stellen aus Suters Büchern nach, man sieht Suter durch das eigene Werk gehen. Dazwischen: Suter in Marrakesch, in Guatemala, in der «Kronenhalle». Bastian Schweinsteiger spricht über ihn, auch Benjamin von Stuckrad-Barre. Berührend sind die Passagen über den Tod seines Kindes. Kritiker wünschen sich mehr Kritik, aber der Film handelt nicht von ihnen. Sondern von dem sympathischen Suter, der auch im persönlichen Gespräch ausnehmend sympathisch ist. Und das ist nicht gelogen.

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Wolfgang Krug

"Ich bin gegen rechts. Was nicht unbedingt dasselbe ist wie links." Das unterschreibe ich. In meinen Augen ist rechts vor allem gefährlich, während links vor allem doof ist. Und die ganze Polarisierung hysterisch ist. Auch sonst nicke ich zu allem, was Martin Suter sagt. Was er nicht sagt: Er schreibt sehr gut. Schon als Texter tat er das.

Andreas Abplanalp

Ein bemerkenswert ehrliches, wahrhaftiges Eingeständnis eines wohldurchdachten Denkers und Schriftstellers, der nach seinem persönlichen Schicksalsschlag logischerweise auch auf die ewig ungelöste Frage der Theodizee Bezug nimmt und seine Nöte damit öffentlich macht. Man kann ihm dazu nur gratulieren.