Er zählt zu den erfolgreichsten Schriftstellern der Gegenwart. Die Kunst der Unterhaltung beherrscht er wie nur wenige. Nun wird Martin Suter siebzig – und stellt uns noch immer vor viele Rätsel.
Gäbe es ein Jüngstes Gericht für Literaturkritiker: Ich und meinesgleichen hätten das Schlimmste zu fürchten. Wenn ich mir nur schon alle meine Verbalinjurien gegen den Schriftsteller Martin Suter in Erinnerung rufe, beginne ich vor Angst zu schlottern. «Die literarische Antithese» nannte ich ihn, das war noch vornehm. Einmal schrieb ich von einem «Tuttifrutti-Thriller», und bei anderer Gelegenheit verhängte ich über ein Buch die Höchststrafe: «nebenwirkungsfrei».
Allein, Beschimpfungen fallen gelegentlich auch auf jenen zurück, der sie ausspricht. Martin Suter sei bei der Wahl der Adjektive «so unzimperlich wie einfallslos», schnödete ich einmal (und wieherte wohl vor innerer Freude, als ich es schrieb). Aber war ich und sind manche unter uns Literaturkritikern nicht geradeso unzimperlich und einfallslos, wenn es um Martin Suter geht? Der Mann provoziert uns mit seiner nonchalanten Leichtigkeit, sein Erfolg macht uns nervös (und ratlos), und Unterhaltungsliteratur scheint uns ohnehin irgendwie anstössig. Wir halten uns schadlos, indem wir ihm Kunst- und Stillosigkeit vorwerfen.
Dabei macht er einfach seine Sache verdammt gut. Oder genauer: Was immer der Mann macht, er macht es gut: Sei es Werbung (da war er noch sehr jung), seien es Drehbücher (etwa zu Daniel Schmids Film «Jenatsch»), seien es Songtexte (für Stephan Eicher) oder eben, seit den neunziger Jahren und also im reifen Alter, Romane: Immer verbindet er sein Naturtalent mit einer Prise Unbekümmertheit – so viel Lust an der Sache muss sein – und harter Arbeit.
Wir Kritiker glauben immer, nur das Komplexe oder die stilistische Subtilität gebe zu tun. Zugleich lassen wir uns auch vom ganz Einfachen betören und stellen dann regelmässig mit Kennermiene und etwas gönnerhaft fest: schweisstreibende Schwerarbeit. Aber kommt einmal einer mit Unterhaltung, zumal guter und unter Berücksichtigung der genretypischen Regeln gut gemachter Unterhaltung, hört der Spass gleich auf. Wir rühren die Bücher nur noch mit spitzen Fingern an.
Martin Suter aber lehrt uns Kritiker das Fürchten und verhagelt uns mit seiner Kunst der Unterhaltung das Geschäft. Wir fallen zwar mit unseren Instrumenten über seine Bücher her, lassen die Fetzen fliegen und stellen am Ende triumphierend fest: Da bleibt fast nichts mehr. Aber spricht das nun gegen die Bücher? Oder nicht vielmehr gegen unsere Instrumente? Ja, sollen wir etwa, so höre ich nun meine Kollegen entsetzt rufen, unterschiedliche Massstäbe anlegen, gar, Gott bewahre, Nachsicht üben?
Gemach, Freunde, behaltet eure Massstäbe und die gespitzten Bleistifte. Denkt nur an Goethe (oh, ich sehe schon, gleich beginnt ihr vor Wut zu schäumen, aber bleibt nur ruhig): Wie fragte doch der gute alte Goethe? «Was hat sich der Autor vorgesetzt? Ist dieser Vorsatz vernünftig und verständig? Und inwiefern ist es gelungen, ihn auszuführen?» Wenn nun einer Romane schreibt, zu deren Kunst es unbestritten gehört, dass ein Schuft aussieht wie ein Schuft und auch flucht und riecht wie einer: Soll man sich darüber mokieren, dass die Schurken bei Martin Suter immer aussehen wie Schurken, seien sie reich oder arm, durchtrieben oder tölpelhaft?
Und wozu überhaupt das Gerede von den einfallslosen Adjektiven? Das ist ja gerade der springende Punkt! Die meisten Menschen gehen doch als Klischees ihrer selbst durchs Leben und durch die Welt. Nun wendet ein Neunmalkluger ein: Aber man darf das Klischee nicht klischiert darstellen. Ja, wie denn sonst? Man schaue einem Komiker zu: Er übertreibt ins Grosse und Groteske, was ohnehin jeder sieht. Martin Suter macht nichts anderes: Er ist ein gewiefter Übertreibungskünstler. Der zudem seinen Plot mit genau dosiertem Witz, Kitsch und Suspense versetzt.
Das alles ist ihm wahrscheinlich nicht an der Wiege gesungen worden – oder vielleicht doch. Denn er sei, er sagt es selbst, ein Glückskind. Geboren an einem Sonntag, überdies an einem Schalttag. Nur alle vier Jahre feiert er am 29. Februar Geburtstag. Diesen Hüpfer in der Zeit muss erst einmal einer finden – und dann auch noch punktgenau treffen. Durch die Hintertür kam er ins Leben. Auf ähnlich verschlungenen Wegen wurde er Werber, dann Drehbuchautor (mit grossem Erfolg: «Giulias Verschwinden»), schliesslich Schriftsteller. 1997 debütierte Suter mit «Small World», einem glänzenden Roman über Altersdemenz (2010 verfilmt mit Gérard Depardieu in der Hauptrolle), und 2008 hat er in dem Roman «Der letzte Weynfeldt» das Handwerk der literarischen Unterhaltung perfektioniert.
Seither wundert man sich: Was hat er noch alles auf Lager? Malt er demnächst? Oder spielt er Kontrabass? Jedenfalls steht er derzeit zusammen mit dem Freund und Musiker Stephan Eicher auf der Bühne und spielt Mundharmonika. Wird er also bald auch die Musik- und Kunstkritiker das Fürchten lehren? Zuzutrauen wäre es ihm. Man wünschte es ihm – und uns erst recht. Einstweilen aber gratulieren wir zum Siebzigsten.