Nikab-Verbot in Frankreich: Eine Debatte voller falscher Annahmen

Vor zehn Jahren verbot Frankreich den Gesichtsschleier. Die Soziologin Agnès De Féo hat sich eingehend mit den Motiven der Nikab-Trägerinnen beschäftigt und die Auswirkungen des Verbotes erforscht. Heute warnt sie davor, in der Schweiz denselben Fehler zu wiederholen.

Ulrich von Schwerin
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In Frankreich wurde vor dem Verbot des Nikab viel über die Frauen hinter dem Schleier geredet, selber befragt wurden sie aber nur selten.

In Frankreich wurde vor dem Verbot des Nikab viel über die Frauen hinter dem Schleier geredet, selber befragt wurden sie aber nur selten.

Imago

Vor gut zehn Jahren hat Frankreich als erstes Land Europas die Verhüllung des Gesichts verboten. Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes am 11. Oktober 2010 droht Frauen beim Tragen des Nikab in der Öffentlichkeit eine Busse von 150 Euro. Der Verabschiedung des Gesetzes ging eine mehr als einjährige höchst emotionale Debatte über den Platz des Islam in Frankreich voraus. Die konservative Regierung des Präsidenten Nicolas Sarkozy prangerte den Nikab darin als Ausdruck der Unterdrückung der Frauen, als Symbol des Islamismus und damit als Gefahr für die Republik und die laizistische Ordnung an.

Die Befürworter eines Verbots argumentierten, dass die Bürger in einer Demokratie ihr Gesicht zeigen müssten, sonst sei ein Austausch nicht möglich. Das Verbot des Nikab wurde als Schritt zur Befreiung der Frauen präsentiert, die als Opfer ihrer Männer, Väter und Brüder sowie einer frauenfeindlichen Religion dargestellt wurden. Auch warnten die Nikab-Gegner trotz der geringen Zahl der Trägerinnen davor, das Phänomen der Vollverschleierung zu ignorieren, da es sich sonst unter den Musliminnen weiter ausbreiten würde.

Ein Gefühl des Déjà-vu in der Schweiz

In vieler Hinsicht erinnere diese Diskussion an die gegenwärtige Debatte in der Schweiz, meint die französische Soziologin Agnès De Féo, die seit 15 Jahren zum Nikab forscht und die Schweizer Debatte aufmerksam verfolgt. Die Befürworter des Verhüllungsverbots wiederholten alle Argumente, die vor zehn Jahren in Frankreich vorgebracht worden seien. Dies sei jedoch problematisch, denn ihre Forschung habe gezeigt, dass viele der Annahmen über die Nikab-Trägerinnen nicht zuträfen und das Verbot damit auf einer falschen Grundlage basiere.

Die Soziologin der Pariser Hochschule EHESS hat für ihre Doktorarbeit und eine Reihe von Dokumentarfilmen rund 200 Nikab-Trägerinnen interviewt und viele von ihnen über mehr als zehn Jahre immer wieder getroffen. Viele hat sie in ihre Wohnungen, auf der Strasse und in die Moscheen begleitet, bis sie ihr Vertrauen schenkten. Dadurch hat De Féo einen in Europa wohl beispiellosen Einblick in das Leben dieser Frauen, ihre Erfahrungen und Beweggründe erhalten.

«Niqab Hors-la-loi»: Dokumentarfilm von Agnès De Féo von 2012 über die Auswirkungen des Nikab-Verbots in Frankreich.

Sazana Productions

An den Debatten in Frankreich und der Schweiz stört sie, dass immer nur über, aber niemals mit den betroffenen Frauen geredet werde. Die Gegner des Nikab hätten eine feste Meinung über die Trägerinnen, ohne jemals eine einzige getroffen zu haben. Wenn man aber die Frauen und ihre Motive nicht ernst nehme und ihnen jeden freien Willen abspreche, sei dies zutiefst frauenfeindlich, kritisiert die Soziologin, die im Oktober das Buch «Derrière le Niqab» veröffentlicht hat.

Ein Symbol der Strenggläubigkeit

«In meinem Buch versuche ich die Realität zu beschreiben, wie sie von den Frauen erlebt wird, die den Nikab tragen», sagt De Féo in ihrer Pariser Wohnung in einem Gespräch über Zoom. In der Schweizer Debatte kursierten viele Vorstellungen über den Nikab, die aus Romanen über Frauen in Saudiarabien oder Afghanistan stammten. Die Situation in mehrheitlich muslimischen Gesellschaften sei aber nicht vergleichbar mit jener in der Schweiz, wo die Muslime in der Minderheit seien. Dort entspreche das Tragen des Schleiers der Norm, in Europa sei es dagegen antikonformistisch.

Über 15 Jahre hat Agnès De Féo zum Nikab geforscht und einen einmaligen Einblick in die Gedankenwelt der Trägerinnen gewonnen.

Über 15 Jahre hat Agnès De Féo zum Nikab geforscht und einen einmaligen Einblick in die Gedankenwelt der Trägerinnen gewonnen.

Marc Rozenblum

Keine der Nikab-Trägerinnen in Frankreich trage ihn, weil dies der Tradition ihrer Herkunftsländer entspreche, sagt De Féo. Die meisten Muslime in Frankreich stammten schliesslich aus Marokko, Tunesien und Algerien, wo der Nikab traditionellerweise nicht getragen werde. Grossbritannien mit seiner grossen pakistanischstämmigen Gemeinde sei heute das einzige Land Europas, in dem Frauen den Gesichtsschleier trügen, weil auch ihre Mütter ihn getragen hätten.

«In Frankreich ist es das Gegenteil: Die Töchter tragen den Nikab aus Opposition zu ihren Müttern, die das Kopftuch nach ihrer Ankunft in Frankreich abgelegt haben, um den Französinnen zu gleichen», sagt De Féo. Die meisten Nikab-Trägerinnen, die sie getroffen hat, stammen aus Familien, in denen der Islam keine Rolle spielte, fast die Hälfte waren Konvertitinnen. Für diese neu bekehrten Musliminnen ist der Nikab das zur Schau gestellte Symbol ihrer Strenggläubigkeit.

Nicht unterdrückt, sondern unangepasst

Tatsächlich haben viele der Frauen aber nur ein oberflächliches Verständnis des Islam. Oft machen sie sich nicht die Mühe, Arabisch zu lernen, und begnügen sich mit Übersetzungen des Koran. Das Tragen des Nikab reiche, um ihnen ein Gefühl von Überlegenheit zu geben, sagt De Féo. Anders als vielfach angenommen betrieben sie keine Mission, weil sie nicht wollten, dass andere den Nikab trügen. «Sie wollen sich unterscheiden, einzigartig sein.» Andere Muslime würden dies als überheblich empfinden und den Kontakt zu ihnen meiden.

Das Tragen des Nikab ist eine individuelle Entscheidung, die wenig mit Tradition oder Zwang, aber umso mehr mit der persönlichen Erfahrung als Frau zu tun hat.

Anders als von den Nikab-Gegnern behauptet werden die Frauen auch nicht von ihren Vätern oder Männern dazu gezwungen, den Schleier zu tragen. «Es ist falsch, zu behaupten, die Frauen seien unterwürfig, vielmehr sind sie aufsässig, weil sie sich damit gegen das Gesetz und gegen ihre Männer auflehnen», sagt De Féo. Die meisten Männer wollten nicht, dass ihre Frauen den Nikab trügen, weil er die Blicke der Leute auf sie ziehe und stigmatisierend wirke.

Ein Grossteil der Nikab-Trägerinnen ist ohnehin alleinstehend mit einer oft wechselvollen, schmerzhaften Beziehungsgeschichte. Viele haben Kinder von früheren Männern und träumen von einer festen Beziehung. Doch seien ihre Ansprüche an die Männer so hoch, dass ihre Beziehungen meist rasch scheiterten, sagt De Féo. Ihre Motive, den Nikab zu tragen, seien letztlich sehr individuell und eng verknüpft mit ihrer persönlichen Erfahrung als Frau in der Gesellschaft.

Revolte gegen das vorherrschende Schönheitsideal

Der Nikab kann in vielen Fällen als Ausdruck der Revolte gegen ein als einschränkend empfundenes Mode- und Schönheitsideal verstanden werden – ein Ideal, dem sie selbst nicht entsprechen, etwa weil sie übergewichtig sind. Durch das Tragen des Nikab entzögen sich die Frauen den Blicken der Männer und gewännen damit das Gefühl der Kontrolle über ihren Körper zurück, erklärt De Féo die Logik. Zugleich erhöhe die Verhüllung des Körpers paradoxerweise die Sichtbarkeit der Trägerinnen in der Öffentlichkeit, da sie alle Blicke auf sie ziehe.

«Der Nikab gibt den Frauen das Gefühl, überlegen zu sein und die Situation zu beherrschen, da er sie den Blicken der anderen entzieht und ihnen zu schauen erlaubt, ohne gesehen zu werden», erklärt De Féo im Zoom-Gespräch. Zur Illustration zieht sie einen schwarzen Nikab hervor und legt ihn vor der Kamera an. «Sehen Sie, wenn Sie den Nikab tragen, empfinden Sie ihn nicht als einschränkend, da er das Sichtfeld nicht reduziert.»

Allerdings ist der Nikab in anderer Hinsicht sehr wohl einschränkend, da er die Frauen isoliert und ihre soziale Marginalisierung verschärft. Oft hätten die Frauen den Nikab als Akt der Rebellion gegen ihre Eltern und die Gesellschaft angelegt, sagt De Féo. Doch sei die Folge, dass sie in der Gesellschaft wie unter den Muslimen an den Rand gedrängt würden. Viele empfinden den Nikab daher als Sackgasse und legen ihn nach einigen Jahren ab. Andere radikalisieren sich aber auch.

Der Reiz des Verbotenen

Dabei hat das Verbot von 2010 eine zentrale Rolle gespielt. Vor dem Beginn der Debatte über das Verbot im Juni 2009 gab es laut Schätzungen zwischen 350 und 2000 Nikab-Trägerinnen in Frankreich. Zwar waren dies deutlich mehr als die 30 Frauen, die laut Studien in der Schweiz den Gesichtsschleier tragen. Doch waren es auch nur 0,05 Prozent der Musliminnen in Frankreich. Ähnlich wie in der Schweiz handelte es sich also um ein völlig marginales Phänomen.

Das Verbot stigmatisierte die Trägerinnen, verstärkte aber auch die Bedeutung des Nikab als Zeichen des Protests gegen einen als islamfeindlich wahrgenommenen Staat.

Die heftige monatelange Debatte machte den Nikab jedoch zu einem zentralen Thema des öffentlichen Diskurses und gab ihm eine ganz neue Bedeutung. Nicht nur reagierten viele Nikab-Trägerinnen mit Trotz auf ihre Stigmatisierung. Viele Frauen entschieden sich auch erst unter dem Eindruck der Debatte dafür, den Nikab zu tragen. Manche konvertierten sogar erst danach zum Islam. In der Folge des Verbots stieg die Zahl der Nikab-Trägerinnen in Frankreich deutlich an.

«Je mehr man davon gesprochen hat, desto mehr hat es sich ausgebreitet. Die Medien haben eine wichtige Rolle dabei gespielt, ein Phänomen zu verstärken, das zuvor kaum existent war», meint De Féo. Auch viele Musliminnen, die den Nikab ablehnten, empfanden das Verbot als diskriminierend und als Angriff auf ihre Religion. Durch das Verbot wurde es zwar schwieriger, den Nikab zu tragen. Doch zugleich gewann er als Zeichen des Protests an Bedeutung.

Beleidigungen und Ausschreitungen auf den Strassen

Auch sonst schuf das Verbot neue Probleme: Viele Bürgerinnen und Bürger fühlten sich durch das Verbot ermächtigt, Nikab-Trägerinnen auf der Strasse zu beschimpfen oder gar physisch anzugreifen. Wenn die Polizei verschleierte Frauen kontrollierte und versuchte, das Verbot durchzusetzen, kam es in Vierteln mit Bewohnern mit Migrationshintergrund immer wieder zu Unruhen, weil sich andere Bewohner mit den betroffenen Frauen solidarisierten. In Argenteuil etwa gab es im Juni 2013 heftige Ausschreitungen nach einer Polizeikontrolle.

Zermürbt durch die häufigen Beleidigungen und die oft demütigenden Kontrollen gaben viele Frauen irgendwann auf und legten den Nikab ab. Andere radikalisierten sich in der Isolation über das Internet und schlossen sich nach der Ausrufung des «Kalifats» in Syrien und im Irak dem Islamischen Staat (IS) an, weil sie meinten, dort endlich ihren Glauben frei leben zu können. Nach der Niederlage des IS sitzen viele dieser Frauen heute in Gefangenenlagern in Syrien und im Irak.

Die allermeisten Muslime lehnen den Nikab ab, doch würden sie ein Verbot als Signal empfinden, dass sie mit ihrer Religion in der Schweiz nicht willkommen seien.

Unter dem Eindruck der Bilder der verdreckten, verhärmten Frauen in den Wüstencamps veränderte sich das Image des Nikab in Frankreich. «Der Nikab ist nicht länger das heroische Symbol, das die eigene Frömmigkeit zu beweisen erlaubt», meint De Féo. Bei allen Parallelen zwischen den Debatten in Frankreich und der Schweiz sei die Situation heute nicht mehr die gleiche wie 2010. Es sei daher offen, ob ein Verbot heute dieselbe Reaktion hervorriefe.

Lieber abwarten, bis der Nikab von allein verschwindet

Zwar fände sie es als Soziologin interessant, im Fall eines Verbots die Reaktionen in der Schweiz zu erforschen. Dennoch hofft sie auf eine Niederlage der Nikab-Gegner bei der Abstimmung am 7. März. «Es ist eine Debatte über etwas, das in der Realität praktisch nicht existiert, und ein Vorwand für viele Leute, ihre Islamfeindlichkeit auszuleben.» Die Initiative richte sich nicht allein gegen den Nikab, sondern gegen die Sichtbarkeit der Muslime. Ein Verbot würde an alle Muslime in der Schweiz das Signal senden, dass sie nicht willkommen seien.

De Féo würde sich wünschen, dass die Schweiz nicht in dieselbe «Falle» tappt wie Belgien, Österreich, Dänemark oder die Niederlande, die seit 2010 beim Nikab dem französischen Beispiel gefolgt sind. Ein Verbot führe nur zu Trotz und erhöhe die Bedeutung und die Anziehungskraft des Nikab. Auch ohne eine Intervention des Staats würden die meisten Frauen über kurz oder lang die Vollverschleierung aufgeben, meint die Soziologin. «Es ist sehr schwierig, den Nikab zu tragen, und viele legen ihn irgendwann ab. Meiner Meinung nach ist es besser, das Phänomen von allein verschwinden zu lassen.»

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