Interview

Der Nikab – nur ein Stück Tuch oder die Uniform des Salafismus?

Das Parlament will von der Initiative für ein Burkaverbot nichts wissen, doch an der Urne hat das Volksbegehren Chancen. Zwei Musliminnen streiten über Sinn und Unsinn von Kleidervorschriften im 21. Jahrhundert.

Simon Hehli, Linda Koponen
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Die beiden Frauen mögen sich nicht besonders. Das wird schnell klar, als sie sich an den Tisch setzen, um zu streiten – und sich fortan kaum eines Blickes würdigen. Wenig zur Entspannung trägt bei, dass Rifa’at Lenzin und Saïda Keller-Messahli über ein Thema debattieren, das nicht nur innerhalb der muslimischen Gemeinschaft die Emotionen hochgehen lässt: das Frauenbild des Islams und die damit verbundenen Kleidervorschriften.

Keller-Messahli (62), die Menschenrechtsaktivistin, die vor dem politischen Islam warnt, macht sich stark für ein Burkaverbot. Damit gehört die gebürtige Tunesierin unter den hiesigen Musliminnen wohl zu einer kleinen Minderheit. Ihre Opponentin Lenzin (65) hält Massnahmen gegen die Ganzkörperverhüllung für völlig unnötig. Die Islamwissenschafterin mit schweizerisch-pakistanischen Wurzeln, die sich selber schon als «Berufsmuslimin» bezeichnet hat, engagiert sich im interreligiösen Dialog – und hat dafür einen Ehrendoktortitel der Universität Bern erhalten.

Im Streitgespräch zum Burkaverbot: Rifa’at Lenzin (links), Saïda Keller-Messahli (rechts).

Im Streitgespräch zum Burkaverbot: Rifa’at Lenzin (links), Saïda Keller-Messahli (rechts).

Karin Hofer / NZZ

Frau Lenzin, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie auf der Strasse eine vollverhüllte Frau sehen?

Lenzin: Nichts.

Wirklich?

Lenzin: Ein Nikab ist ein Kleidungsstück – nicht mehr und nicht weniger. Bereits vor dreissig Jahren gab es Frauen, die auf der Zürcher Bahnhofstrasse so unterwegs waren. Damals fanden die Passanten das allenfalls exotisch. Heute ist die Stimmung aufgeladen. Selbst wenn ich eine Burka tragen würde, würde ich es mir heute zweimal überlegen, ob ich so auf die Strasse gehe. Meistens handelt es sich aber um Touristinnen, die die Diskussion hierzulande gar nicht mitbekommen.

Warum sind Sie gegen ein Burkaverbot?

Lenzin: Ich sehe schlicht keinen Grund für ein solches Verbot. Wir leben im 21. Jahrhundert, man muss heute keine Kleidervorschriften mehr erlassen wie im Mittelalter. Schlimmer noch, wenn sich diese Kleiderordnung spezifisch gegen eine Gruppe richtet. Nur weil eine Frau eine Ganzkörperverschleierung trägt, bedeutet das noch lange nicht, dass sie in den heiligen Krieg ziehen will.

Frau Keller-Messahli, wann haben Sie in der Schweiz letztmals einen Nikab gesehen?

Keller-Messahli: Vor ein paar Monaten bin ich an der Zürcher Bahnhofstrasse zwei vollverhüllten Frauen aus Saudiarabien begegnet. Ich habe sie angesprochen und war erstaunt, als sie mir erzählten, wie froh sie seien, dass sie im Tessin ihre Gesichter zeigen durften. Der Vater als Familienoberhaupt konnte ihnen dies nicht verweigern, dem Verbot sei Dank.

Was bedeutet der Nikab für Sie?

Keller-Messahli: Er ist die Uniform des Salafismus. Im Zentrum jedes islamistischen Diskurses steht der Körper der Frau. Die Botschaft lautet: Die Frau, ihr Gesicht, hat im öffentlichen Raum nichts zu suchen. Die Negation ihrer Existenz ist das, was mich am meisten beelendet. Das hat etwas Gewalttätiges.

Lenzin: Ich sehe das etwas differenzierter. Die angesprochenen Touristinnen tragen den Nikab nicht als Uniform, sondern aus traditionellen Gründen oder weil es in ihrem Land Vorschrift ist.

Bestreiten Sie denn, dass es Frauen gibt, die froh um ein solches Verbot wären – weil sie nicht die Möglichkeit haben, sich gegen ihre Männer aufzulehnen?

Lenzin: Das Wohlbefinden saudischer Touristinnen ist für mich in dieser Sache zweitrangig. Ich bin dagegen, Dinge in die Verfassung zu schreiben, die für die Schweiz keine Bedeutung haben.

Es gibt auch ein paar hier lebende Frauen, die vollverschleiert auftreten, etwa die Konvertitin Nora Illi . . .

Lenzin: Sie tragen den Nikab wirklich aus freien Stücken und als eine Art Uniform. Diese Frauen wollen auch provozieren. Wenn man den Nikab verbietet und sie damit aus dem öffentlichen Raum ausschliesst, können sie sich als Opfer inszenieren. Denn ihre Religionsfreiheit wird beschnitten. Ein Burkaverbot nützt niemandem, es ist kontraproduktiv. Ausserdem verbieten die Schweizer Gesetze bereits, dass ein Mann seine Frau zu etwas zwingt, das sie nicht will.

Keller-Messahli: Aber das reicht nicht. Es kommen immer wieder junge Frauen zu mir, weil sie zu Hause Probleme haben und einen enormen sozialen Druck verspüren. Man kann nicht beweisen, dass ein Vater seine Tochter dazu zwingt, sich zu verhüllen. Das findet in den eigenen vier Wänden statt und erfolgt oft über subtile soziale Mechanismen. Der politische Islam verabscheut jede Individualität und zwingt alle, genau gleich herumzulaufen, genau gleich zu denken.

Lenzin: Die grosse Mehrheit der Musliminnen in der Schweiz käme nie auf die Idee, einen Nikab anzuziehen. Natürlich könnte man die winzige Minderheit, die das anders sieht, dazu zwingen, öffentlich nicht mehr verhüllt aufzutreten. Aber welches Problem wäre damit gelöst?

Keller-Messahli: Es geht darum, den Gruppendruck zu brechen. Seit in Tunesien eine islamistische Partei an der Macht ist, verhüllen sich Frauen, die früher frei waren, gearbeitet und sich schön gemacht haben. Sie tun das, weil sie so ihre Ruhe haben.

Lenzin: Man kann doch die Situation in der Schweiz nicht mit jener in Tunesien vergleichen.

Keller-Messahli: Solche Mechanismen existieren auch in Europa.

Aber kann man den islamistischen Extremismus bekämpfen, indem man ein paar arabischen Touristinnen die Polizei auf den Hals hetzt?

Keller-Messahli: Nein, dafür ist das Problem natürlich zu gross. Ein Burkaverbot würde aber ein politisches Signal senden: Wir tolerieren es nicht, dass Frauen aus dem öffentlichen Raum verbannt werden. Auch Musliminnen, die nicht das Glück haben, in der Schweiz zu leben, wären froh um ein solches Zeichen. Frau Lenzin sagt, dass uns die Frauen in Saudiarabien nichts angingen. Das kann man in einer globalisierten Welt doch nicht mehr sagen! Ich erinnere daran, dass in Iran Frauen zu bis zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt werden, weil sie sich gegen das theokratische Regime auflehnen und nicht länger Bürgerinnen zweiter Klasse sein wollen.

Lenzin: Wir müssen Gesetze erlassen, die dem Schweizer Kontext angemessen sind. Ich bin nicht für den Nikab, aber ich bin gegen Repression. Eine Person von einem Zwang befreien zu wollen, indem man sie einem anderen Zwang unterwirft, halte ich für fragwürdig. Diese Symbolpolitik hat einen Beigeschmack – man schlägt den Sack und meint den Esel. Vordergründig ist die Rede von der Burka, gemeint sind aber Muslime im Generellen. Das ist, was bei der Bevölkerung und damit auch bei den Muslimen ankommt.

Verhüllte Touristin aus dem arabischen Raum an der Bahnhofstrasse in Zürich.

Verhüllte Touristin aus dem arabischen Raum an der Bahnhofstrasse in Zürich.

Karin Hofer / NZZ

Dieses Argument erinnert an die Debatte um die Minarettinitiative. Auch da warfen die Gegner den Initianten vor, Misstrauen gegenüber den Muslimen geschürt zu haben.

Lenzin: Auch mit jener Initiative wollte man vor zehn Jahren «ein Zeichen setzen». Das Resultat ist eine Entfremdung zwischen der muslimischen Minderheit und der Mehrheitsgesellschaft.

Keller-Messahli: Ich war gegen die Minarettinitiative. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass sie die Feindschaft gegenüber den Muslimen verstärkt hat. Vielmehr setzte sie eine Debatte in Gang, die längst reif und nötig war. Die Leute verspüren ein Unbehagen. Sie merken, dass es im Zusammenhang mit den Moscheen und den islamischen Dachverbänden hochproblematische Entwicklungen gibt.

Lenzin: Frankreich hat ein Burkaverbot – und seit dessen Einführung gibt es mehr Frauen, die mit einer Burka oder einem Nikab herumlaufen als vorher! Das zeigt, dass man mit einem Verbot genau jene Entwicklungen befeuert, die man bekämpfen will. Muslime verstehen ein Verhüllungsverbot nicht als Zeichen gegen die Burka, sondern als eines gegen ihre Präsenz. Wir brauchen eine Debatte darüber, wie wir die Muslime als Religionsgemeinschaft in die schweizerische Gesellschaft einbinden können. Stattdessen diskutieren wir über solchen Unsinn wie das Burkaverbot.

Keller-Messahli: Wir sind uns wohl in einem Punkt einig: Die Rechten tun gerne so, als seien sie gegen den politischen Islam, aber in Wahrheit sind sie gegen den Islam im Generellen. Die Rechten – wie die Islamisten – wollen eine homogene Gesellschaft. Alles, was nicht dazu passt, ist ihnen unangenehm.

Islamkritiker wie Kacem El Ghazzali halten dafür den Linken vor, sie protegierten den Islamismus.

Keller-Messahli: Diese Kritik teile ich. Die Linken spielen dem politischen Islam auf unglaublich naive Art in die Hände – und zwar im Namen von Minderheitenschutz, Antikolonialismus und Antikapitalismus. Es passiert in der Schweiz etwas Ähnliches wie in Frankreich: Die Linke hat dort den politischen Islam immer in Schutz genommen und dabei übersehen, dass dieser genauso totalitär ist wie jede rechte Ideologie.

Lenzin: Die Misere der Banlieues ist nicht den Sozialisten geschuldet, sondern dem Versagen der Politik. Die französische Integrationspolitik ist vielmehr wegen des extremen Laizismus auf der ganzen Linie gescheitert. Der Staat hat die einzelnen Religionsgemeinschaften und ihre Probleme einfach ignoriert.

Keller-Messahli: Eine klare Trennung von Staat und Religion ist doch nicht extremistisch! Im Gegenteil: Der Laizismus ist der einzige Garant für ein friedliches Zusammenleben in den pluralistischen westlichen Gesellschaften.

Ist der Islam grundsätzlich frauenverachtend?

Lenzin: Nein, aber einzelne Muslime sind es. Der Islam wurde in eine patriarchale Gesellschaft hinein offenbart. Solche Gesellschaften haben immer die Tendenz, die Frauen zu marginalisieren. Die Ursache ist aber nicht der Islam. Ähnliche Tendenzen gibt es auch in christlichen Gesellschaften und im Judentum.

Keller-Messahli: Wenn wir vom Islam sprechen, meinen wir primär den Koran. Dieser ist eine Sammlung von völlig widersprüchlichen Texten. Das grosse Problem ist, dass in der islamischen Welt keine demokratische, kritische Auseinandersetzung mit dem Koran stattfindet. Die Islamisten verhindern dies, weil sie die Texte wörtlich-fundamentalistisch auslegen und Kritik nicht dulden. Dadurch sorgen sie dafür, dass die meisten islamischen Länder rückständig bleiben, nicht nur bezüglich Frauenrechten.

Lenzin: Das ist eine ziemlich oberflächliche Sicht der Dinge. Es gibt in der islamischen Welt sehr wohl theologische Debatten, auch in Iran. Man kann auch nicht einfach sagen, dass der Koran die Frau durchwegs als minderwertig hinstelle. Als religiöses Subjekt, welches das göttliche Heil erfahren kann, ist sie dem Mann absolut gleichgestellt. Das streicht die feministische Theologie heraus.

Keller-Messahli: . . . und daneben gibt es völlig frauenverachtende Stellen. Etwa jene Sure, in der steht, dass der Gatte seine Frau, die sich gegen ihn auflehnt, im Ehebett meiden und sie mit Schlägen züchtigen soll.

Wie selbstbestimmt leben Musliminnen in der Schweiz?

Lenzin: Grossmehrheitlich können sie frei über ihr Schicksal bestimmen.

Keller-Messahli: Das stimmt. Viele geniessen hier die Freiheiten, die sie in ihren Herkunftsländern sicher nicht hätten. Aber es gibt auch jene, die weiterhin unter dem Patriarchat leiden, junge Frauen zwischen 17 und 30 Jahren mit Wurzeln in der Türkei, in Kosovo oder im Maghreb. Sie sehen sich von den Eltern zu einer Heirat gedrängt oder geraten mit diesen in Konflikt, weil sie einen nichtislamischen Partner haben möchten.

Lenzin: Das sind typische Generationenkonflikte, die für Zuwanderer schwieriger zu lösen sind als für die Mehrheitsgesellschaft. Denn es prallen unterschiedliche Wertvorstellungen aufeinander. Ein Burkaverbot hilft da sicher nicht weiter . . . Ich sehe aber auch noch andere Einschränkungen. Kopftuchtragende Frauen sind praktisch vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen.

Manche sehen das Kopftuch ebenfalls als ein politisches Statement, quasi als «Nikab light».

Lenzin: Es ist auch nur ein Stück Tuch. Es ist für diese Frauen Teil ihrer religiösen Identität. Mir graut davor, dass nach dem Burkaverbot der nächste Angriff dem Kopftuch gelten wird. Wer sich für die Rechte der Frauen einsetzt, muss doch dafür kämpfen, dass sie tragen können, was sie wollen. Das sollte erst recht in einer liberalen Gesellschaft gelten.

Keller-Messahli: Ich bin entsetzt über diese Verharmlosungen! Es geht um viel mehr als um ein Stück Stoff. Wer in die muslimische Community hineinschaut, erkennt sofort: Das Kopftuch wird mehr und mehr zum Symbol einer totalitären Weltsicht. Ein Beispiel dafür ist Milli Görüs, eine islamistische Gruppierung mit türkischen Wurzeln, die in Deutschland unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht, in der Schweiz aber unbehelligt wirken kann. Auch in dieser Gemeinschaft gibt es eine totale Segregation der Geschlechter. Die Frauen haben alle exakt das gleiche Kopftuch, auch farblich. Dadurch demonstrieren sie, dass sie alle Teil der gleichen Gruppe sind, eine identitäre Einheit. Das hat für mich etwas Aggressives und Ausschliessendes wie bei den Rechtsextremen. Das Gefährliche ist, dass islamistische Gruppen wie Milli Görüs ihre Ideologie auch ungehindert in die hiesigen Islamverbände hineintragen können. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in zehn Jahren Verhältnisse wie in Frankreich haben.

Lenzin: Das ist barer Unsinn, Sie vermischen hier ganz viele unterschiedliche Dinge. Wollen wir in der gesellschaftlichen Debatte um den Islam vorankommen, braucht es einen Austausch mit allen Akteuren – auch den problematischen.

Keller-Messahli: Die Islamverbände tun so, als seien sie die legitimen Vertreter aller Muslime in der Schweiz. In deren Namen fordern sie die öffentliche Anerkennung, muslimische Grabfelder oder Religionsunterricht an den Schulen. Doch nur rund 15 Prozent aller Frauen und Männer mit muslimischem Hintergrund gehören einem Moscheeverein an.

Lenzin: Sie können doch nicht so tun, als seien die Muslimverbände die Speerspitze des Islamismus. Die Organisation der Muslime ist nun einmal anders als jene der Christen, unter denen viele noch Mitglieder in einer Landeskirche sind, auch wenn sie nie in einen Gottesdienst gehen. Aber die Muslimverbände sind die einzigen Repräsentanten für die Musliminnen und Muslime in der Schweiz. Die politische Anerkennung, muslimische Grabfelder oder der Islamunterricht an Schulen sind legitime Anliegen. Es wäre so viel sinnvoller, darüber zu diskutieren als über Burka und Kopftuch.

Keller-Messahli: Ich bleibe dabei: Das Ziel des politischen Islams ist es, Einfluss zu nehmen – auf welchem Weg auch immer. Die Mehrheitsgesellschaft muss sehr wachsam bleiben.

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