Der ideale Bundesrat – oder: Wieso es das Schlechteste wäre, nur die Besten zu wählen

Am Mittwoch wählt das Parlament sieben Personen in den Bundesrat. Wie sähe ein perfektes Gremium aus? Und wäre es nicht Zeit für eine neue Zauberformel – eine, die nichts mit den Parteien zu tun hat?

Fabian Schäfer, Samuel Tanner, Marc Tribelhorn (Text), Simon Tanner (Illustrationen) 17 min
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Wäre die Schweiz ein Theater, so wäre der Bundesrat das Starensemble, bestehend aus sieben auserwählten Selbst- und Hauptdarstellern aus allen Landesteilen. Der Bundesrat ist nicht nur die wichtigste und bekannteste Institution des politischen Systems, sondern auch die faszinierendste – und die am wenigsten verstandene.

Am Mittwoch muss ebendieser Bundesrat im Parlament zur sogenannten Gesamterneuerungswahl antreten, wobei schon die Bezeichnung in die Irre führt, weil dabei selten etwas erneuert wird und schon gar nicht das Gesamte. Eine Vakanz gibt es, weil der SP-Bundesrat Alain Berset zurücktritt. Zur Wahl steht – nicht Daniel Jositsch.

Viele bedauern, dass der Zürcher Ständerat nicht antreten darf. Seine Partei hat es ihm faktisch verboten, indem sie ihn nicht nominiert hat. Manche Parlamentarier von SVP, FDP oder Mitte liebäugeln damit, Jositsch trotzdem zu wählen, weil sie in ihm den fähigsten Bundesrat sehen, den stärksten, den besten.

Aber «der Beste» ist selten der beste Bundesrat. Ein einzelner Bundesrat ist immer nur ein Bruch: ein Siebtel des Ganzen. «Der Bundesrat entscheidet als Kollegium»: Der banale Satz, der schon zahlreiche Landesväter und Landesmütter zur Weissglut getrieben und mittlere Staatskrisen ausgelöst hat, steht in der Bundesverfassung, Artikel 177, Absatz 1.

Der Bundesrat – das sind, wenn es gut läuft, nicht sieben Personen. Es ist ein siebenköpfiges Kollektiv, das alle massgeblichen politischen Kräfte abdeckt, von der SVP bis zur SP. Wenn die Bundesrätinnen und Bundesräte ihre gemeinsame Sitzung haben, meistens am Mittwoch, tragen sie ihre verschiedenen Meinungen in das Bundesratszimmer. Und wenn sie wieder herauskommen, vertreten sie alle dieselbe Meinung. So einfach ist das. Und so schwierig.

Adrian Vatter, Erfinder der bundesrätlichen Typologie.

Adrian Vatter, Erfinder der bundesrätlichen Typologie.

ZVG

Der frühere Bundesrat Kaspar Villiger bezeichnete das Gremium einmal als «kurios zusammengewürfelte Truppe» ohne hierarchische Führung. Man stelle sich vor, diese Truppe bestünde aus sieben Männern vom Schlage eines Alain Berset. Oder aus drei Bersets und vier Karin Keller-Sutters. Sieben Machtmenschen mit ausgeprägtem Gestaltungswillen mögen starke Bundesräte sein, aber kein starkes Kollegium. Neben der parteipolitischen und der geografischen Herkunft sind bei der Zusammensetzung des Bundesrats auch der Charakter der Einzelnen, ihr Stil, ihr Rollenverständnis, ihr Verhältnis zur Macht wichtig. Um diese Dimensionen zu ergründen, hat der Politikwissenschafter Adrian Vatter von der Universität Bern in seinem Buch «Der Bundesrat» eine Typologie entwickelt. Er hat viele heutige und ehemalige Bundesratsmitglieder interviewt, ihre Auftritte und ihre Amtsführung analysiert, Dokumente studiert, mit Chefbeamten gesprochen.

Vatter hat sechs Typen eruiert: Konkordanzpolitiker, Verwalter, Populäre, Intellektuelle, Bürdenträger und Regenten. Die Zuteilung ist nicht immer einfach und eindeutig – manchmal aber sehr: Dass mit Alain Berset ein Regent die Bühne verlässt, dürfte unbestritten sein. Soll man ihn durch einen Regenten ersetzen?

Und überhaupt: Wie müsste der typologisch ideale Bundesrat aussehen? Vatter bietet eine Art neue Zauberformel an – eine, bei der es nicht um Parteien geht, sondern um Charaktere:

  • Zwei Populäre. Sie sind extrovertiert, sympathisch, charmant, gelegentlich charismatisch. Der grosse Auftritt liegt ihnen, sie können gut reden, sich und ihr Anliegen verkaufen, sie lieben die Medien, und die Medien lieben sie. Sie gewinnen Abstimmungskämpfe und eignen sich als Integrations- und Identifikationsfiguren für den gesamten Bundesrat. 
  • Zwei Konkordanzpolitiker. Sie halten das Team zusammen, vermitteln, suchen den Konsens. Ihr Wesen ist umgänglich. Sie verstehen sich als Generalisten, bringen sich auch ausserhalb des eigenen Departements ein, sie haben ein Flair für runde Tische und breite Anhörungen. 
  • Zwei Verwalter. Sie interessieren sich mehr für konkrete Ergebnisse als für abstrakte Ideen, von Visionen halten sie nichts. Als belastbare, nüchterne Chrampfer leiten sie im Idealfall wichtige Departemente; sachkundig und pragmatisch setzen sie grosse Reformen um. Sie sehen sich primär als Departementschefs. 
  • Ein Regent. Sie oder er geniesst die Macht, liebt es, zu entscheiden, die grossen Linien festzulegen. Konfrontationen und Provokationen gehören gelegentlich dazu. Regenten können nett, jovial und staatsmännisch sein, aber auch schroff und unzimperlich. Sie sehen das politisch Mögliche, gehen Risiken ein, sind intellektuell stark und ideologisch flexibel. Vatter unterscheidet eine negative Variante, den machiavellistischen Machtmenschen, und eine positive: den Staatsmann, die Staatsfrau.

Auf einen Intellektuellen verzichtet Vatter in dieser Zauberformel, weil es ihn nicht unbedingt brauche. Dies gilt erst recht für den Typus des Bürdenträgers, das dauerbesorgte Gegenstück zum Regenten, dem das Amt mehr Last ist, als dass es ihm Freude bereitet.

Nimmt man nun diese Typenformel einerseits und die Ahnengalerie der Bundesrätinnen und Bundesräte der vergangenen Jahrzehnte sowie deren politische Bedeutung andererseits – dann lässt sich daraus ein historisches Idealgremium formen, ein nicht nur typologisch vorbildliches Exekutivkollektiv.

Wir haben mit dem Bundesratskenner Vatter ein mögliches «Dream-Team» zusammengestellt. Dies waren unsere Kriterien: Die heutige parteipolitische Zusammensetzung wird eingehalten, die Sprachregionen sind akzeptabel vertreten, die Geschlechter ebenso (soweit es die historischen Beispiele zulassen), amtierende Regierungsmitglieder werden nicht berücksichtigt.

Und das könnte er sein, der ideale Bundesrat.

Kurt Furgler, Regent: Macht und Müüli

Er regierte mit seinen Mundwinkeln – beliebt machte ihn «das verführerische Schauspiel der Intelligenz» nicht, hochgeachtet schon

Kurt Furgler standen Strenge und Selbstbewusstsein ins Gesicht geschrieben. Wenn er als Bundesrat vorne am Rednerpult stand, um zu einem seiner rhetorischen Kunstflüge abzuheben, dann zog er seinen Mund zum Müüli zusammen. Schon in der studentischen Verbindung tauften sie ihn so, später registrierten sie es im Bundeshaus: Dieser Mann braucht nicht viel mehr als seine Mundwinkel, um zu regieren.

Furgler entwickelte früh eine Selbstverständlichkeit der Macht. Er wuchs im katholischen Milieu von St. Gallen auf, wurde Ministrant, avancierte an der Universität Freiburg zum Doktor der Jurisprudenz, gründete die Handballabteilung von St. Otmar, wurde Spieler und Trainer, teilweise beides gleichzeitig. «Nöd logg lo gwönnt», hiess seine Losung. St. Otmar wurde bald Schweizer Meister.

Körperliche Schwächen kompensierte Furgler durch «das rasche Erkennen der Schwächen des Gegners» und «erbitterten Willen» (so notierte es sein Biograf José Ribeaud). Furgler wurde Anwalt, Nationalrat sowie Fraktionschef der CVP und wurde nach 1367 Diensttagen zum Oberstbrigadier befördert. Kaum ein Artikel über ihn, in dem er nicht als «brillant» bezeichnet würde.

Auch in der Linken gab es Bewunderinnen, die frühere SP-Nationalrätin Yvette Jaggi aus der Waadt schrieb: «Der Kopf von Kurt Furgler funktioniert perfekt. Er ist geordnet und schnell wie das Gedächtnis eines Computers und kann jederzeit (. . .) eine umfassende Logik liefern. Er bietet dauernd das verführerische Schauspiel der Intelligenz in Aktion.»

Nur umfassend logisch, dass dieser Kurt Furgler im Jahr 1971 in den Bundesrat gewählt wurde. Er sollte ihn über viele Jahre dominieren. In seinen besten Zeiten vereinte er die Macht des gesamten bürgerlichen Lagers auf sich. Furgler arbeitete an der Totalrevision der Bundesverfassung, die später selbst vom langjährigen SP-Präsidenten Helmut Hubacher gewürdigt wurde: «Die Furgler-Kommission legte (. . .) vor, was selten passiert in der schweizerischen Politik: nicht einfach einen Entwurf, sondern wirklich einen Wurf.»

Kurt Furgler war der Bundesrat des grossen Wurfs: Er debattierte im Fernsehen mit Max Frisch über die Möglichkeiten der Macht, er las nachts, nach langen Arbeitstagen, noch Goethe, Tolstoi, Solschenizyn. Er suchte nicht die Teil-, sondern die Totalrevision. «Seine Brillanz, die ihm vieles ermöglichte und erleichterte, erschwerte ihm auch manches», schrieb die NZZ. Er war hochgeachtet, beliebt war er nicht. Die Totalrevision der Bundesverfassung wurde erst angenommen, als sie auf annehmbar-helvetisches Mass zurückgestutzt war. Lange nach dem Rücktritt von Kurt Furgler.

Kurt Furgler war Bundesrat der CVP (heute: Die Mitte) von 1972 bis 1986.


Friedrich Traugott Wahlen, Konkordanzpolitiker: Der Ernährer der Nation

Der Mann aus Gmeis bei Zäziwil arbeitete für die Uno in der ganzen Welt – bis er als «Schutzgeist» nach Bern gerufen wurde

Friedrich Traugott Wahlen war schon bei seiner Wahl prominenter, als er durch das Bundesratsamt je hätte werden können. Und er war ein wandelnder Widerspruch: im wahrsten Sinn schollenverbunden und zugleich weltgewandt, idealistisch und illusionslos, gottesfürchtig und gestaltungswillig.

1899 in Gmeis bei Zäziwil im Emmental geboren, Sohn eines Lehrers und Predigers, ein Hochbegabter, der Klassen übersprang und trotzdem nur ein Ziel hatte: Bauer zu werden. Nach der landwirtschaftlichen Schule hängte er ein Studium an der ETH an, dissertierte über Leguminosen und siedelte nach Kanada über, wo er zum Direktor der landwirtschaftlichen Untersuchungsanstalten berufen wurde, noch bevor er richtig Englisch konnte.

Seine wichtigste Mission folgte nach der Rückkehr in die Heimat. Als Leiter der Eidgenössischen Versuchsanstalt in Oerlikon stieg er zum führenden Agronomen des Landes auf. Und als die Schweiz im Zweiten Weltkrieg durch die Achsenmächte eingekreist war, rief er 1940 angesichts zaudernder Behörden öffentlich zur «Anbauschlacht» auf. Was General Guisan auf dem Rütli tat, tat Wahlen am Radio: «Wir wollen kämpfen um die Unabhängigkeit der Schweiz mit Brot aus eigenem Boden.» Mit dem «Plan Wahlen» schuf er das grösste Ernährungsprogramm der helvetischen Geschichte. Die Ackerfläche wurde verdoppelt, der Selbstversorgungsgrad von 52 auf 73 Prozent gesteigert, das Selbstbewusstsein als Nation gestärkt.

Wahlen, den die eigene Popularität stets kaltliess, zog es erst spät in die Parteipolitik, naturgemäss zu den reformierten Bauern der BGB (heute: SVP). 1942 wurde er als Berner Zürcher Ständerat, gab das Mandat aber 1949 wieder ab, weil seine Expertise in der Uno gefragt war. Für deren Ernährungsprogramm arbeitete er fortan in Washington und Rom, als Kämpfer gegen den Hunger in der Welt. Und so kam es, dass er 1958 als Auslandschweizer von seiner Partei zum Bundesratskandidaten gekürt und vom Parlament gewählt wurde.

Wahlen erklärte, er trete «ohne jede Verpflichtung» in den Bundesrat ein – «nur meinem Gewissen, dem Wohle des geliebten Schweizervolkes und den Grundlagen der abendländischen Zivilisation und Kultur verpflichtet». Wer viel geleistet und gesehen hat, schert sich weniger um Parteidoktrinen. «Seine überlegene Art machte ihn zu einer einmaligen Konsenspersönlichkeit», bilanzierte der Historiker Georg Kreis.

Wahlen war nacheinander Justizminister, Volkswirtschaftsminister und Aussenminister, bis er auf Ende 1965 zurücktrat. Er kooperierte, vermittelte, delegierte, dünkellos und ideologiefrei. Er setzte sich für die Einführung des Frauenstimmrechts ein und für die Abschaffung der diskriminierenden konfessionellen Ausnahmeartikel. Er plädierte für einen Ausbau der Schweizer Entwicklungshilfe, aus «Solidarität mit allen Rassen». Er verteidigte die Neutralität und forcierte den Vollbeitritt zum Europarat, den er als «edlen Versuch» sah, «die Macht dem Recht zu unterwerfen».

Auch noch als Altbundesrat sprang er im Auftrag der Kollegialbehörde ein, wenn Geschick und Geist gefragt waren: bei der Lösung der Jurafrage, den Vorbereitungen zur Totalrevision der Verfassung – oder als Schweizer Repräsentant an der megalomanen Feier des Schahs zum 2500-Jahr-Jubiläum des Perserreichs. In den Nachrufen auf Wahlen fehlte eine Formulierung fast nie: «Schutzgeist der Schweiz».

Friedrich Traugott Wahlen war Bundesrat der BGB (heute: SVP) von 1959 bis 1965.


Ruth Dreifuss, Konkordanzpolitikerin: Das komische Wesen, das gar nicht so komisch war

Sie war vierfach in der Minderheit. Dann wurde sie eine Bundesrätin der Mehrheiten

Ruth Dreifuss sagte ganz ruhig in die Kamera, was für sie «sehr schockierend» war – zu merken, wieso sie in den Bundesrat gewählt werden sollte: «Ich fürchte, dass es zwei Gründe sind», sagte sie, «und beide sind unannehmbar. Ich beruhige die Leute, weil ich ein wenig bieder aussehe. Und ich entspreche genau dem, was man von einer Frau in der Politik erwartet: ledig, keine Familie, so etwas zwischen Mann und Frau.»

Dreifuss wurde am 10. März 1993 in den Bundesrat gewählt – anstelle von Christiane Brunner, ihrer Freundin aus Genf, ihrer «politischen Zwillingsschwester» (Brunner), die den Männern in Bern aber irgendwie zu laut und zu auffällig war. Oder wie es ein freisinniger Hinterbänkler in die Kamera sagte: «Es stört mich bei Frauen, wenn sie sich arrogant in die Diskussion einmischen.» Brunner wurde nach einer sexistisch-verleumderischen Kampagne nicht gewählt.

Und so begann die Bundesratskarriere von Ruth Dreifuss, auf der jetzt die Hoffnungen der schweizweit demonstrierenden Frauen lagen und die eine Sozialdemokratie zwischen Regierungs- und Oppositionsanspruch zusammenhalten musste. Ruth Dreifuss schien all diese Ansprüche in sich ausgleichen zu können.

«Ich wurde von meiner Geburt an politisiert», sagte sie einmal. Ihr Vater Sidney Dreifuss arbeitete in den vierziger Jahren in der Flüchtlingshilfe der Israelitischen Kultusgemeinde in St. Gallen. Nach dem Krieg wuchs sie in Genf auf, wo sie ihre Arbeit als Sozialarbeiterin prägte. Sie war immer eine Anwältin der Unterprivilegierten: Im Bundesrat vertrat sie als erste Jüdin, als zweite Frau, als Linke und als Welsche gleich vier Minderheiten.

Sie zeigte sich, wie sie mit Bruno Manser vor dem Bundeshaus strickte. Sie sprach, in einer kalten Novembernacht, auf dem Strassenstrich in Genf mit den Prostituierten. Sie kritisierte den Bundesrat von damals, der im Zweiten Weltkrieg den jüdischen Flüchtlingen an der Grenze mit kaltem Herzen gegenüberstand. Aber sie fragte sich auch: «Wie würde ich handeln, wenn ich heute vor der gleichen Entscheidung stünde?»

Ruth Dreifuss war ein «Symbol einer Schweiz, die sich verändert», wie sie selbst einmal feststellte. Aber sie verkündete die Veränderung nicht mit der Selbstgerechtigkeit derer, die früher als alle andern das Licht gesehen haben. Sie wusste: «‹Rein richtig› gibt es in der Politik nicht. Ein gutes Medikament hat immer Nebenwirkungen.» Die Vorsteherin des Departements des Innern war eine Bundesrätin der Konkordanz. In den wirtschaftlich schwierigen neunziger Jahren verteidigte sie, ganz Sozialdemokratin, die Sozialwerke. Die Bundesrätin der Minderheiten gewann Mehrheiten für die Revisionen von Alters-, Invaliden-, Krankenversicherung. In einer Zeit des offenen Drogenelends avancierte sie zur Pionierin einer liberalen Drogenpolitik.

«Für meine Kollegen war ich ein komisches Wesen», sagte sie später. Zehn Jahre lang etablierte und normalisierte sie im Bundesrat viele angeblich komische Wesen und Welten – nicht zuletzt sich selbst.

Ruth Dreifuss war Bundesrätin der SP von 1993 bis 2002.


Nello Celio, Populärer: Der erste Fernsehstar der politischen Schweiz

«Für mich gab es keine Tragödien» – ein Tessiner mit 63 Verwaltungsratsmandaten wird zum Volkshelden

Beliebt im Volk waren einige Bundesräte. Aber nur einer löste mit der Ankündigung seines Rücktritts eine Protestbewegung aus: Nachdem Nello Celio im Jahr 1972 seinen Abgang auf Ende Jahr bekanntgegeben hatte, lancierte ein freisinniger Parteifreund die Petition «Celio muss bleiben!». Bald stapelten sich über 20 000 Postkarten im «Bernerhof», wo Finanzminister Celio residierte – und seine Amtszeit um ein Jahr verlängerte. Schwergefallen war es ihm nicht, wie er nach seinem endgültigen Abschied erzählen sollte: «Ich habe jede Minute als Bundesrat genossen. Ich habe nie gelitten, wenn etwas schiefging, für mich gab es keine Tragödien.»

Überhaupt war der Mann aus der Sonnenstube der Schweiz ein «Sonnyboy», wie es damals in Bundesbern hiess. Er hatte Charme und Charisma, trug den Schalk im Gesicht und war bei aller politischen Ernsthaftigkeit meist für ein Spässchen zu haben. Seine Witze erzählte er in drei Landessprachen. War er in guter Gesellschaft, stimmte er zu später Stunde Tessiner Gassenhauer an. Und doch war sein Aufstieg zum populären Bundesrat alles andere als selbstverständlich.

1914 im Dörfchen Quinto in der Leventina geboren, wuchs Celio ohne seinen Vater und in bescheidenen Verhältnissen auf. Als Kind musste er noch barfuss zur Schule gehen. Diese Lebensrealität prägte später auch seine Politik im Bundesrat, oder genauer: sein Verständnis des Sozialstaats als eine politische und menschliche Notwendigkeit, nicht als finanzielle Belastung, wie es Teile der FDP sahen.

Celio studierte Recht, wurde mit 25 Jahren ins Tessiner Parlament und mit 32 Jahren in die Regierung gewählt. Mit Mitte 40 hatte er vorübergehend genug von der Exekutivpolitik, beriet als Anwalt und Notar Unternehmen. Als Celio, der eine Zeitlang die FDP Schweiz präsidiert hatte, 1966 in den Bundesrat gewählt wurde, war er nur drei Jahre im Nationalrat gewesen (ohne einen einzigen Vorstoss eingereicht zu haben) und hatte 63 Verwaltungsratsmandate.

Wie konnte dieser Mann der Wirtschaft zum Mann des Volkes werden? Es waren vor allem seine kommunikativen Fähigkeiten. Nach eineinhalb Jahren im Amt wechselte Celio vom Militär- ins Finanzdepartement. Als Kassenwart der Nation hatte er mit grossen Herausforderungen zu kämpfen: der Konjunkturüberhitzung und hohen Inflationszahlen. Zudem stiegen die Ansprüche an den Staat stark. Je drängender die Probleme waren, desto häufiger trat der Tessiner am TV auf. Celio wurde zum ersten Fernsehstar der Schweizer Politik. In einfachen Worten erklärte er auch Komplexes: «Ich bin überzeugt, dass jedes Problem so dargestellt werden kann, dass es im Volk verstanden wird.»

Nach seinem Rücktritt gab er sich politisch entbehrlich: «Man sollte sich hüten, seinen Nachfolgern dreinzureden. Spätestens sechs Monate nach dem Rücktritt hat man einfach die nötigen Informationen nicht mehr, um gute Ratschläge zu verteilen.» Er fand schnell wieder zurück ins Geschäftsleben – und in die Verwaltungsräte der Schweizerischen Kreditanstalt, von Alusuisse, Von Roll, Pirelli oder Fiat.

Nello Celio war Bundesrat für die FDP von 1967 bis 1973.


Elisabeth Kopp, Verwalterin: Wer so viel aushalten kann

«Aus dir wird höchstens ein Eisrevue-Star», sagte ihr Schulrektor. Dann wurde sie die erste und einsamste Bundesrätin der Schweiz

Am Tag ihrer Beerdigung, in der Kirche von Zumikon, entschuldigte sich Karin Keller-Sutter bei ihr – im Namen des Bundesrats, der eine Kollegin «in den vielleicht schwierigsten Momenten ihres Lebens alleingelassen hat». Vielleicht, sagte Keller-Sutter zur Trauergemeinde, seien manche hier, um die Verstorbene still um Verzeihung zu bitten. «Nicht jeder Fehler», sagte sie, «ist ein Skandal. Wir sollten das bedenken, bevor wir den Stab über einer Person brechen und sie der gesellschaftlichen Ächtung aussetzen. Es ist die Höchststrafe in unserem Land.»

Diese Höchststrafe verbüsste Elisabeth Kopp, die erste Frau im Gemeinderat und im Gemeindepräsidium von Zumikon, die erste Frau im Bundesrat.

«Aus dir wird höchstens einmal ein Eisrevue-Star», hatte der Schulrektor noch zu ihr gesagt. Sie wurde eine politische Eiskunstläuferin in den Jahren des grossen Tauens, am Ende des Kalten Kriegs. Sie war eine Spagatakrobatin zwischen der alten Welt und einer neuen – es gibt leichtere Schicksale. Sie war überall, wo sie hinkam, «die erste und einzige Frau» (Kopp über Kopp).

Sie war eine Feministin, aber eine bürgerliche: Im Militär fuhr sie schwere Lastwagen. Sie entstammte dem Zürcher Freisinn, der lange Macht und Mythos war, der aber als Mythos zu enden drohte. Sie war eine Freisinnige, die in Umweltfragen eine Frühgrünliberale war. Als sie Bundesrätin wurde, liess ihr Mann ihr den Vortritt, wie sie später schrieb, aber schliesslich stand er doch am Anfang ihres Endes.

Wer sich während Umbrüchen in der alten und in der neuen Zeit gleichzeitig zurechtfinden will, muss viel aushalten können. Von der ersten Bundesratssitzung mit Elisabeth Kopp ist überliefert, wie Otto Stich desillusioniert daraus zurückgekehrt sei und gesagt habe: «Heute war alles anders als bisher. Niemand hat mehr einen Witz erzählt.»

In diesem kühlen Umfeld etablierte sie sich als konkordante Aktenarbeiterin, die als Justiz- und Polizeiministerin in asylpolitisch angespannten Zeiten das Asylgesetz überarbeitete und an der Urne gegen Kritik von links und ganz rechts durchbrachte, die das spätere Staatssekretariat für Migration gründete und die das alte Eherecht revidierte und damit die Stellung der Frauen verbesserte. Sie war die erste Bundesrätin, die ihre Chefbeamten in die Kommissionssitzungen mitnahm – vielleicht um ein bisschen weniger allein zu sein.

Als sie sich etabliert hatte, nach vier Jahren im Amt, erfuhr Elisabeth Kopp im Herbst 1988 von einer Mitarbeiterin, dass eine jener Firmen unter Geldwäschereiverdacht stand, in denen ihr Ehemann Hans W. Kopp im Verwaltungsrat sass. Kopp war offenbar ein glänzender Anwalt, der im Schatten zu geschäften gelernt hatte – nicht zum ersten Mal schien er ihren Ruf zu gefährden. Sie rief ihn an: Er solle sofort aus dem Verwaltungsrat zurücktreten! Am Ende musste auch sie zurücktreten – aus dem Bundesrat. Das Telefonat, das sie zuerst abgestritten hatte, wurde öffentlich bekannt. Eine fahlgesichtige Elisabeth Kopp verliess das Bundeshaus durch den Nebenausgang – jahrelang blieb sie auf der Flucht vor der politisch-medialen Verfolgung.

Was unterging, war ein Bericht, der sie dafür rühmte, dem «Land nach bestem Wissen gedient und ihr Amt kompetent, umsichtig und mit Engagement geführt» zu haben. Der Bericht der Untersuchungskommission, die ihren Fall aufgearbeitet hatte.

Elisabeth Kopp war Bundesrätin der FDP von 1984 bis 1989.


Hans Peter Tschudi, Verwalter: AHV, Autobahn, Affenzahn

Der Mann des nationalen Aufbruchs – wie in der Schweiz ein Verwalter zum Revolutionär werden kann

Es geht also doch. Sogar im politischen System der Schweiz, in dieser komplizierten Maschine der Langsamkeit und der gegenseitigen Behinderung, kann einer in wenigen Jahren Grosses erreichen, wenn er klug und tüchtig ist und zur richtigen Zeit am richtigen Ort. In der denkwürdigen Bundesratswahl 1959, in der das Gremium zum ersten Mal nach der Zauberformel zusammengesetzt wurde, nach der Logik des freiwilligen Proporzes, wurde ein Mann gewählt, der in Bern neue Massstäbe setzen sollte: Hans Peter Tschudi, 46-jähriger Sozialdemokrat aus Basel, Professor für Arbeits- und Sozialversicherungsrecht.

Tschudi war ein «wilder» Kandidat. Seine Genossen hätten lieber ihren Präsidenten Walther Bringolf im Bundesrat gesehen, einen ehemaligen Kommunisten, dem die Bürgerlichen misstrauten. Tschudi war der Kompromisskandidat. Und der erste Zauberformel-Bundesrat, der Höhepunkt der helvetischen Konkordanz, war das perfekte Klima für Tschudi. Gesellschaft und Wirtschaft hatten sich in den 1950er Jahren stark entwickelt, der Staat hatte nicht mitgehalten: Die Infrastrukturen waren rückständig, die Sozialwerke schwach.

Tschudi trieb den Ausbau in einer Geschwindigkeit voran, über die man heute nur noch staunen kann. In seinen vierzehn Jahren im Departement des Innern produzierte er 164 Vorlagen, im Durchschnitt eine pro Monat, wie Wolf Linder im Bundesratslexikon vorrechnet. Das «Tschudi-Tempo» wurde zum geflügelten Wort.

Am eindrücklichsten zeigte es sich bei der AHV. Heute herrscht Freude, wenn nach 25 Jahren wieder einmal eine Reform gelingt. Tschudi brachte in seiner Amtszeit vier Reformen durch. Unter ihm entwickelte sich die AHV, die zunächst sehr bescheidene Renten auszahlte, zum wichtigsten Sozialwerk. Die Neuerungen kamen mit einem Affenzahn: Zusatzrenten für Ehefrauen, Kinderrenten, Reduktion des Frauenrentenalters, Drei-Säulen-Prinzip, Ergänzungsleistungen – und immer wieder Rentenerhöhungen. Bei Tschudis Rücktritt waren die Renten gut fünfmal so hoch wie im Jahr seiner Wahl.

Und das ist nicht alles. Tschudis Wirken reichte weit über die Sozialversicherungen hinaus. Er ist auch der Strassenbauer der Nation: Die Autobahnen gehörten damals noch zum Innendepartement, und Tschudi setzte den forcierten Ausbau zügig um, den das Volk 1958 beschlossen hatte. Es wäre noch mehr aufzuzählen: Hochschulen, Forschungsförderung, Ende des Klosterverbots, Kulturpolitik, Umweltschutzartikel in der Verfassung.

Hans Peter Tschudi hat gezeigt, dass unter den richtigen Umständen ein begnadeter Verwalter ein Revolutionär sein kann. Einer der kleinen, schnellen Schritte. Nach 14 Jahren im Amt war er immer noch fit. Er kehrte zurück an die Universität.

Hans Peter Tschudi war Bundesrat für die SP von 1960 bis 1973.


Adolf Ogi, Populärer: Wie eine ewige Erstaugustrede

Die Kunst des positiven Denkens – der «Voyageur de charme» sorgt für kollegiale Entkrampfung

Wer von sich in der dritten Person spricht, macht sich verdächtig. Bei Adolf Ogi gehörte es schon immer zum Programm. Kein Bundesrat vor und nach ihm war so unkonventionell im Denken und Handeln. «Der Ogi» redete, wie ihm der Schnabel gewachsen war: kurze Sätze, Sprachbilder aus dem Sport, Euphorie, Heiterkeit, eine ewige Erstaugustrede – «Freude herrscht!».

Die grauen Mäuse in Politik und Verwaltung erschauderten ob so viel Farbe, reagierten nicht selten mit Spott und Häme. Otto Stich, sein Intimfeind im Bundesrat, ätzte über den «Skilehrer» in der Regierung. Ogi machte unbeirrt weiter, als Publikumsliebling im Inland und als Maskottchen der Schweiz im Ausland.

Das Anderssein lässt sich mit seiner Herkunft erklären. Der Ogi ist «halt än Efache», sagte er. Er kam nicht von der Universität ins Bundesratszimmer, sondern auf verschlungenen Pfaden, aus der Bergwelt von Kandersteg, seinem Kraftort bis heute. Sein Vorbild war der eigene Vater, der Förster, Bergführer, Gemeindepräsident und vieles mehr war, kurz: ein Chrampfer. Ogi junior, Jahrgang 1942, lernte früh, dass das Glas immer halb voll ist. Und spätestens in der Grenadier-Unteroffiziersschule merkte er, dass er führen und gestalten wollte, auch wenn er einmal einen «Chlapf» an den Grind bekam.

Sein Aufstieg zur Berühmtheit gelang über seine Tätigkeit im Skiverband, als Delegationsleiter bei den Olympischen Spielen in Sapporo 1972. «Ogis Leute siegen heute», hiess das Motto der Nation. Er wurde Direktor des Verbands und später von Intersport. Als politischer Quereinsteiger trat er der SVP bei, die mit dem Sportsmann neue Wähler ansprechen wollte. 1979 wurde er Nationalrat, 1987 Bundesrat, obwohl es unter Bürgerlichen Bedenken gab, ob Ogi «über das nötige geistige Format für dieses höchst anspruchsvolle Amt verfügt».

Seine Kritiker belehrte er eines Besseren, verzieh ihnen die damalige Geringschätzung aber nie. Er brachte das Jahrhundertprojekt Neat durch, die Bahn 2000, die Neuausrichtung der Armee. Er ging als erster Bundespräsident der Schweizer Geschichte auf ausgiebige Auslandreisen, was zuvor ein Tabu gewesen war, traf sich mit den Grossen der Weltpolitik von Clinton und Mitterrand bis zur Queen und zum Papst. Die leutselige Art des «Voyageur de charme» aus Kandersteg kam an. Auch innerhalb des Bundesrats sorgte er für kollegiale Entkrampfung, lud das Gremium zum Auslüften auch einmal zur Wanderung auf das Schilthorn.

Ogi glaubte an die vier M: «Man muss Menschen mögen!» Er wusste, wie Politik im Medienzeitalter funktioniert, nämlich nicht über langweilige Infoblätter und Pressekonferenzen, sondern «über das Herz, die Geste, die Emotion!». Er zeigte im Schweizer Fernsehen, wie man energiesparend Eier kocht, und telefonierte mit dem Astronauten Claude Nicollier im Weltall. Er lud die Verkehrsminister der EU-Staaten zum Helikopterflug, um ihnen die Schweizer Verkehrsprobleme zu demonstrieren. Und er schenkte Würdenträgern heimische Bergkristalle als Talismane.

Als Ogi aus dem Bundesrat zurücktrat, sagte er im Parlament: «Meine Damen und Herren, ich war damals, als Sie mich gewählt haben, nicht so schlecht wie mein Ruf. Und ich bin heute bei meinem Abschied auch nicht so gut wie mein Nachruf.»

Adolf Ogi war Bundesrat für die SVP von 1988 bis 2000.

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