«Margrith wollte nicht sterben»: Bestsellerautor Martin Suter über den Tod seiner Frau
Interview

«Margrith wollte nicht sterben»: Bestsellerautor Martin Suter über den Tod seiner Frau

Joël Hunn

Der Bestsellerautor Martin Suter spricht über den Tod seiner Frau und blickt zurück auf sein Leben, sein Schreiben und seine Schweiz.

Sacha Batthyany und Rafaela Roth 16 min
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Herr Suter, vor einem halben Jahr ist Ihre Frau Margrith verstorben. Trauernden sagt man oft, die Zeit heile alle Wunden. Stimmt das?

Martin Suter: Nein.

Das Leben geht weiter, noch so ein Satz.

Auch der stimmt nicht. Es fängt ein neues Leben an, das alte hat aufgehört. Das habe ich gelernt nach dem Tod meines Sohnes: Die Wunden heilen nicht, sie werden immer Wunden bleiben.

Sie kommen mit Ihrer Tochter gerade aus Marokko, wo Sie ein Haus besitzen, das Ihre verstorbene Frau eingerichtet und geprägt hat. Wie schwierig war diese Reise an einen Ort, an dem sie so präsent ist?

Meine Frau ist überall sehr präsent, auch in unserem Haus in Zürich, in dem ich mit unserer Tochter Ana lebe. Zürich ist Gegenwart, und Marrakesch war immer Zukunft; wir dachten, wir würden, wenn Ana ausgeflogen ist, hier unseren Ruhestand verbringen. In Zürich hat mir ihre Präsenz weniger ausgemacht, als ich dachte. In Marrakesch war es anders, die Erinnerungen an Margrith sind frischer, ich sah sie im Riad an jeder Ecke. Die ersten beiden Tage waren wir deprimiert, was ich selten bin. Meine Tochter verkroch sich im Bett, ich hatte eine dünne Haut. Es gab ja noch das Erdbeben, ich war beschäftigt mit den Schäden am Haus, aber irgendwann ging es uns besser. Wir wollen so bald als möglich wieder hin. Margrith ist in Marrakesch gar nicht tot.

Sie suchen nach Orten, die Sie mit ihr verbinden?

Die muss ich nicht suchen. Sie ist überall. Wir waren 48 Jahre zusammen.

In «Melody», Ihrem neuen Buch, stellt der Hauptprotagonist Dr. Stotz überall Schreine auf für seine grosse Liebe. Haben Sie Schreine?

Wir haben schöne Fotos von uns, die wir aufstellen und die ich rahmen liess. Schreine sind nicht nötig. Das ganze Haus ist einer.

Hat sich die Beziehung zu Ihrer Tochter seit dem Tod verändert?

Es gibt diese Nähe, weil wir so vieles gemeinsam erlebt haben, Schönes wie Schreckliches. Nicht zuletzt den Tod ihres Bruders. Sie erinnert sich daran, obwohl sie erst drei Jahre alt war. Sie wurde früh mit Tragödien konfrontiert. Heute hat sie denselben Instinkt wie ich. Wenn wir etwas sehen oder hören, denken wir sofort: Oh, das müssen wir Margrith – oder eben Mama – zeigen.

Wie geht das, trauern?

Das macht jeder anders. Meine Technik ist die Verdrängung. Es gibt viele Menschen, die sich wundern, warum ich bereits Pressetermine mache, Lesungen halte und auf der Bühne stehe. Ich habe mir diese Frage auch gestellt und eine Antwort gefunden: Es sind Dinge aus meinem alten Leben. Dinge, die ich mitnehmen kann. Eine Art Kontinuität.

Warum verdrängen Sie?

Ich finde Verdrängen nichts Schlimmes. Vielleicht bin ich ein oberflächlicher Mensch. Ich bin auch kein Sinnsucher. Ich frage mich nicht, warum Margrith – oder mein Sohn sterben mussten. Es ist zwar menschlich, in allem einen Sinn zu suchen, aber ich glaube nicht daran. Ich erinnere mich, dass ich als kleiner Junge in den Ferien mit den Eltern in Forte dei Marmi in einem Open-Air-Kino einen Film sah. Ein Christ, der von muskelbepackten Römern gekreuzigt und geblendet wurde und der immer wieder schrie: Perché, perché? Diese Szene hat sich bei mir eingegraben, ich denke immer wieder an sie zurück: Warum, warum? Aber es gibt keine Antwort.

Verdrängen Sie, weil Sie Angst haben, ob der Emotionen zu zerbrechen, würden Sie sie durchleben?

Verdrängt man aus Angst? Wahrscheinlich schon. Ich will mich nicht so richtig damit befassen. Es ist ähnlich wie mit dem Gedanken an den eigenen Tod.

Sie haben sich nie mit dem Tod befasst? Aber das machen doch alle Menschen ständig.

Nachdenken ist das eine. Aber sich den eigenen Tod vergegenwärtigen? Auf diese Hände blicken, diese Finger – und denken, die sind irgendwann kalt und tot? Dieser Gedanke ist erschreckend.

Kommen Ihnen solche Gedanken nach diesen Schicksalsschlägen häufiger, oder denkt man ab einem gewissen Alter zwangsläufig an den Tod?

Der Tod wird normaler im Alter. Aber die Angst ist auch jetzt spürbar, wobei es vor allem die Angst ist, einen geliebten Menschen zu verlieren.

Wie verändert sich die Liebe, wenn jemand stirbt – gefriert sie?

Gefrieren?

Was bleibt von der Liebe, wenn die geliebte Person nicht mehr ist?

Die Liebe bleibt. Man kann sie nur nicht mehr praktizieren, und damit meine ich nicht die Sexualität. Die Liebe zu meiner Frau wird nicht kleiner, sie wird anders, fast reiner, weil man sich, solange man zusammen ist, auch einmal auf den Wecker geht. Jetzt aber fällt alles Ärgerliche weg, und es bleibt nur das Ungetrübte.

Merkt man erst, was man hatte, wenn man es nicht mehr hat?

Ich wusste immer, was ich habe, und weiss auch jetzt, was mir immer fehlen wird. Ich bedauere auch nicht, dass wir noch dies oder jenes hätten machen müssen.

Hatten Sie grosse Krisen in Ihrer Ehe?

Nein, abgesehen von den ersten Jahren. Ich war schon einmal verheiratet. Nach der Trennung von meiner ersten Frau wollte ich nie mehr eine feste Beziehung eingehen, was ich Margrith auch gesagt habe, die ich kurz darauf kennengelernt hatte. Wir lebten die ersten sieben Jahre getrennt, bis Margrith die Nase voll hatte und mich verliess. Dann habe ich ihr den Hof gemacht.

Sie haben für die Liebe gekämpft.

Wie ein Löwe. Wir sind dann zusammengezogen, nach weiteren sieben Jahren habe ich ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie war berührt von der Idee. Und die Ehe hat viel verändert. Sie machte alles verbindlicher und grösser. Ich erinnere mich, dass die Standesbeamtin beim Satz «Bis dass der Tod euch scheidet» etwas verstohlen sagte, sie müsse das halt sagen. Ich aber fand den Satz richtig. Und jetzt ist es eingetroffen. Leider zu früh.

Dürfen wir erfahren, was passiert ist?

2016 hatte man bei meiner Frau zufällig einen Lungentumor entdeckt, von dem der grosse Professor Weder vom Unispital sie auf wunderbare Weise befreite. Sie war genesen, nur fanden die Ärzte zwei Jahre später, wieder zufällig, einen ganz anderen Krebs. In Zürich hatte man sie schon aufgegeben, sie kam nach Lausanne an die Onkologie, in die Hände von Dr. Digklia, einer jungen griechischen Onkologin, die uns sagte, Margriths Leben sei noch lange nicht fertig. Sie hat meiner Frau noch einmal fünf Jahre geschenkt. Gestorben ist sie nicht am Krebs, sondern an Nebenwirkungen, an Organversagen und einer Sepsis. Die letzten zwei Monate war sie stationär in Lausanne, ich wohnte in einem Hotel, meine Tochter pendelte. Es war eine harte Zeit. Das Essen war nicht gut im Kantonsspital. Ich habe im Hotel im Badezimmer Tajine für sie gekocht.

Sie haben im Hotel-Badezimmer was gemacht?

Ich habe mir eine Induktionsherdplatte gekauft. Darauf kochte ich ihr in einer Tajine Poulet au Citron, das sie so mochte. Und auch ihre anderen Lieblingsmenus.

Hatten Sie diese salzigen Zitronen, wie man sie aus Marokko kennt?

Ich lege sie selbst ein. Ich habe immer ein bis zwei Gläser dieser eingemachten Zitronen im Kühlschrank.

Essen Sie die Tajine auch von Hand?

Nein.

Diese fünf geschenkten Jahre, wie haben Sie die als Paar erlebt?

Im Ganzen waren es sieben. Wir haben diese letzten Jahre sehr intensiv verbracht, aber nicht im Bewusstsein, dass es jederzeit fertig sein könnte. Gestern habe ich das erste Exemplar von «Melody» gefunden. Ich hatte ihr damals eine Widmung geschrieben: «In einer schwierigen und doch schönen Zeit», schrieb ich. Ich habe nicht geahnt, dass sie so schnell endet.

Sie haben sich auf den Tod nicht vorbereitet?

Wir haben Gespräche geführt, aber rein theoretisch: Was macht man, wenn der eine vor dem anderen geht? Es waren Detailfragen; Abdankung: ja oder nein, Familiengrab, solche Dinge.

Kam Ihnen Ihr Hang zum Verdrängen in die Quere in den letzten Monaten? Haben Sie sich in die Arbeit geflüchtet?

Nein, so war es nicht. Wir haben wenig über den Tod gesprochen, weil meine Frau das nicht wollte. Margrith wollte nicht sterben. Sie wollte es fast noch weniger wahrhaben, dass es so weit ist, als ich. Sie hat ein Büchlein geschrieben in den letzten Jahren, als sie auch psychologische Betreuung erhielt. Vielleicht schrieb sie über ihre Träume oder Dinge, die sie beschäftigten. Als ihr Buch mir nach ihrem Tod in die Hand geriet, überlegte ich, was ich damit tun solle. Ich wusste, ich durfte es nicht lesen, sie hätte es mir ja sonst gezeigt. Aber aufbewahren darf ich es.

Konnten Sie sich verabschieden?

Sie wollte keinen Abschied, was ich akzeptierte. Ich war aber bei ihr bis zum letzten Atemzug.

Was haben Sie in dieser Zeit über das Leben gelernt?

Ich bin nicht so lernbegierig. Ich kann diese Frage nicht beantworten.

Sie kennen das Gefühl des Trauerns. Vor 14 Jahren haben Sie Ihren Sohn verloren. Trauern Sie anders um Ihre Frau als um Ihren Sohn?

Bei meinem Sohn war es anders. Ich habe vorhin gesagt, ich würde mir keine Gedanken machen über den Sinn des Lebens, aber über Gerechtigkeit mache ich mir sehr wohl Gedanken. Bei ihm war es so ungerecht, er war noch so jung. Wenn Sie geplant haben, mich zum Weinen zu bringen, dann gratuliere ich Ihnen.

Gehen unsere Fragen zu weit?

Nein. Als mein Sohn starb, habe ich die Ringierpresse wegen ihrer sensationslüsternen Berichterstattung beim Presserat verzeigt. Aber jetzt waren die Medien anständig. Ich bin froh, wenn alle wissen, dass das eine grosse Liebe war. Dass es mich mitnimmt, darf man auch wissen – und dass ich trotzdem weiter witzeln will.

Herr Suter, was bedeutet Liebe?

Liebe bedeutet, 48 Jahre lang zusammen zu sein und nie das Gefühl zu haben, man habe etwas verpasst.

Wenn Sie als ehemaliger Werbetexter die Aufgabe erhielten, einen Slogan über die Liebe zu verfassen: Wie würde der lauten?

So.

War Ihre Ehe monogam?

Ja. Nach den ersten sieben etwas wilden Jahren nicht sehr, aber dann stand für mich fest: nie mehr eine andere. Und so war es auch.

Sie sind ein sehr kontrollierter Mensch.

Ich verliere die Kontrolle fast immer nur fast. Wenn ich sie ganz verloren habe, schaue ich rasch, dass ich sie zurückkriege. Ich finde es beispielsweise wichtig, dass man höflich ist. Mich stört wahnsinnig, wenn Menschen unhöflich sind. Das hat mir auch in Guatemala gefallen, wo wir gelebt haben. Die Mayas, die sich noch als Indigene bezeichnen, pflegen eine irrsinnige Höflichkeit. Ihre ewig langen Anreden in Briefen können einem fast auf den Wecker gehen. Aber diese gepflegten Umgangsformen sind sehr wichtig, und ich halte es für schädlich, dass sie bei uns verlorengehen.

«Ich bin kein grosser Leser mehr, ich lese nur noch mich.»

«Ich bin kein grosser Leser mehr, ich lese nur noch mich.»

Ein Thema, das sich in Ihren Büchern durchzieht, ist die Frage nach der Identität: Wer bin ich, und wer könnte ich noch sein? Ist man sich selbst in der Liebe zu einem anderen Menschen am nächsten?

Ich denke nicht. Für die Beantwortung der Frage, wer man ist, reicht ein Leben nicht aus. Die Frage nach den Identitäten ist eine, die mich literarisch interessiert. An einer Lesung wurde ich einmal gefragt, was mein Thema sei, und ich antwortete abwehrend, dass ich das nicht wisse. Beim Signieren des Buches sagte mir dann derselbe Mann, er kenne mein Thema: Schein und Sein – und er hatte recht. Diese Identitätssuche interessiert mich aber nicht nur in Büchern, auch im realen Leben. Früher bekam man Rollen zugeteilt in der Gesellschaft, man war Bäcker oder Fürst. Heute kann man als Bankdirektor mit der Harley-Davidson im Lederlook rumbrettern am Wochenende. Diese Möglichkeiten, verschiedene Identitäten vorzutäuschen, kenne ich persönlich auch. Als ich auf Ibiza lebte, gab ich mich als Gentleman-Farmer, machte Wein und Olivenöl.

Aber wenn man liebt, spielen Hüllen keine Rolle mehr. Ihre Frau hat nicht den Olivenbauer in Ihnen geliebt. Es gibt in der Liebe nur Sein, kein Schein.

Wer so lange zusammen ist wie wir, kann sich nicht mehr viel vormachen, das stimmt.

Man steht sich nackt gegenüber, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn, sehen Sie das auch so?

Darüber habe ich mit meiner Frau gestritten, wir waren nicht gleicher Meinung. Lange meinte sie, es brauche die absolute Ehrlichkeit, mit der Zeit wurde auch sie ein wenig moderater. Ich hingegen fand immer, ein wenig diplomatisch lügen sei fast liebevoller. Meine Nacktheit war leicht überschminkt.

Ist das Anzugtragen bei Ihnen auch Hülle? Ist Martin Suter zu Hause ein anderer Mensch?

Nein. Ich habe aus mir keinen Markenartikel gemacht. Schon als Kind habe ich Krawatten und Anzüglein getragen.

Woran erkennen Sie einen guten Anzug?

Am Kragen. Er darf im Nacken nicht abstehen.

Nicht an den Knöpfen?

Dass einer an den Ärmeln offen ist, ist ein altes, etwas manieriertes Zeichen dafür, dass es sich um einen Massanzug handelt. Es gibt auch die sich küssenden Knöpfe, wenn sie sich leicht berühren.

In Ihren Büchern geht es oft ums Essen. Ist das Ihre Art, über Sex zu schreiben?

Ich finde, ein Buch muss riechen. Es muss einen Geschmack haben. Ich hatte einmal eine Theorie: Schriftsteller schreiben detailliert erst über Sex, wenn die Mutter gestorben ist.

Und wie ist das bei Ihnen?

Meine Mutter wird bald 101-jährig. Über Sex schreibe ich tatsächlich kaum, da haben Sie recht, dabei wäre ich gut darin, ich müsste es einmal ausprobieren.

Es fällt auf, dass Sie detailliert über Weine schreiben und Lasagne mit Meeresfrüchten, aber kaum eine Zeile über die körperliche Liebe. Würden Sie von sich sagen, Sie seien verklemmt?

Ich bin nicht verklemmt, aber ich glaube, dass man ab einem gewissen Alter keine Sexszenen mehr schreiben sollte. Dr. Stotz fragt in «Melody» seinen Nachlassverwalter: Er habe sich immer geekelt vor alten Männern, die über Sex redeten, ob es ihm auch so gehe? Ich glaube, das hat etwas. Zwischen den Zeilen aber höre ich heraus, dass Sie mir sagen wollen, Essen sei der Sex des Alters.

Höflich ausgedrückt – ja. Was in Ihren Büchern, abgesehen vom Essen, auffällt: Sie wollen Ihre Leser und Leserinnen als Autor verführen, machen überraschende Twists und legen falsche Fährten. Woher kommt diese Lust an der Verführung?

Verführen trifft es nicht. Wenn, dann will sich sie entführen. Ich will, dass sie unbrauchbare Mitglieder der Gesellschaft werden; wenigstens in diesen drei Tagen, bis sie mit dem Buch durch sind, sollen sie im Tram vergessen auszusteigen. Aber wenn Sie unbedingt ein Sexwort suchen, dann ist es eher «befriedigen» als «verführen». Die Engländer haben in der Literaturkritik den Begriff: a satisfying read. Und um jetzt in Ihrer Analogie zu bleiben, glaube ich, es braucht einen guten Rhythmus, um die Partner, also die Leserinnen und Leser, immer wieder zu bestätigen und dann zu überraschen. Dieses Wechselspiel, wenn man so will, ist vielleicht ähnlich beim Sex wie in der Lektüre.

Sind Sie eigentlich ein Gourmet? Was isst ein Martin Suter, natürlich in Anzug und Krawatte, zum Frühstück?

Wenig. Ich bin ein Jo-Jo-Mensch. Essen wandelt sich bei mir in Fett um. Als ich dann das Intervallfasten kennengelernt habe, merkte ich, dass es nichts anderes bedeutet, als aufs Frühstück zu verzichten. Gegen 11 Uhr esse ich gerne Naturjoghurt, den ich selbst mache, oder marokkanischen Raib. Früher habe ich Brot gebacken, weil es in Guatemala kein feines gab.

Was kommt danach? Martin Suter beim Häuten einer Feige.

Was kommt danach? Martin Suter beim Häuten einer Feige.

Gibt es Speisen, die Sie seit dem Tod Ihrer Frau nicht mehr essen, weil Sie sie mit ihr assoziieren?

Im Gegenteil. Ich habe schon zweimal Poulet au Citron gekocht. Ich meide die Erinnerungen an sie nicht. Ausser die Musik von Billie Eilish, die geht mir zu nah. Meine Frau hörte ihre Lieder bis zum letzten Atemzug.

Musik transportiert Emotionen, mehr als Essen und Literatur.

Musik ist eine andere Art von Emotion. Deswegen mag ich es auch, für Stephan Eicher Lieder zu schreiben. Ein Lied ist mehr als ein Gedicht. Ich habe mir einen Bluesound angeschafft, ein Multi-Zimmer-Sound-System. Es ist toll, jetzt kann ich in allen Zimmern die gleiche Musik hören, wenn ich das will.

Was hören Sie?

Mal eine Oper, mal die Stones, vieles von früher.

Was lesen Sie?

Ich bin kein grosser Leser mehr, ich lese nur noch mich. Ich bin auch kein Förderer junger Stimmen, kein Entdecker neuer Talente. Ich erhalte zwar jede Menge Manuskripte, aber ich schaffe es nicht, sie zu lesen, und gebe sie weiter. Ich bin ein alter Mann.

Sie sind ein Nostalgiker.

In der Musik. Aber in meinem Alter kommt man nicht mehr darum herum, sich an früher zu erinnern.

Sind Sie ein eifersüchtiger Mensch?

Nicht sehr. Ich hatte einmal einen Künstlerfreund, der mir sagte, seine Eifersucht sei das Schlimmste, sie plage ihn derart. Mir ist sie fremd. Ausser in der Liebe, natürlich.

Gibt es Eifersucht auf andere Autoren und deren Bücher, die Sie gerne geschrieben hätten?

Es gibt vor allem Songs, die ich gerne selber geschrieben hätte. Aber ich bin nicht eifersüchtig, sondern voller Bewunderung. In meiner Allmen-Reihe schreibe ich über einen bluesigen Bar-Song namens «Slow Dance». «It’s just a slow dance, not a romance.» Ich hätte Freude, wenn der von mir stammte.

In Ihren Büchern wird viel gesoffen, wie halten Sie es mit Alkohol?

Ich habe vor eineinhalb Jahren ziemlich spontan aufgehört zu trinken. Ich dachte, ich hätte genug Fässer voller Champagner und Wein gehabt.

Einfach so?

Ich bin mit Benjamin von Stuckrad-Barre befreundet. Einmal kam er spontan nach Zürich, wir wollten uns zum Mittagessen in der «Kronenhalle» treffen. Sein Flug hatte Verspätung, also sass ich da und wartete auf ihn. Normalerweise hätte ich mit einem Cüpli gewartet, aber an diesem Tag trank ich Mineralwasser. Als er dann eintraf, begann die Kellnerin zu schwärmen, sie sei ein grosser Fan, sie habe alles von ihm gelesen. Ich fand das toll, dass eine Kellnerin der «Kronenhalle» alle Bücher von Stuckrad-Barre gelesen hat, und dann sagte sie: Gut, dann kann ich die Weingläser jetzt je abräumen.

Stuckrad-Barre ist seit Jahren trocken.

Und an diesem Abend dachte ich, eigentlich kann man auch ohne Alkohol lustig sein. So hörte ich auf.

Diese Freundschaft zu Stuckrad-Barre, ist das auch Liebe?

Freundschaften zwischen Männern sind auch Lieben. Stuckrad-Barre ist ein reizender und sensibler Mensch. Und er war in dieser schweren Zeit einer der wenigen, mit denen ich reden konnte, ohne zu viel Sentimentalität. Ein anderer enger Freund ist Stephan Eicher. Das ist auch eine Liebe, aber sie hat überhaupt nichts Erotisches. Liebe hat zum Glück sehr viele Aspekte und sehr viele Formen.

Wie zeigen Sie Ihrer Tochter, dass Sie sie lieben?

Indem ich flunkere, Piercings schön zu finden. Und natürlich, indem ich es ihr sage.

Was genau sagen Sie?

«Ich liebe dich», aber ich sage es ihr auf Englisch, neben Spanisch, Deutsch und Schweizerdeutsch ihre Muttersprache.

Warum ist es einfacher auf Englisch?

Auf Zürichdeutsch kann man das nicht sagen, ich lieb dich, das ist vom Deutschen entlehnt und klingt seltsam in meinen Ohren, meine Generation hat das nicht im Wortschatz. Man kann nur sagen: Ich ha di gärn – und das klingt harmlos. Also sage ich es auf Englisch.

Sagt das etwas über die Schweizerinnen und Schweizer Ihrer Generation aus, dass es keine Wörter gibt, um sich zu sagen, dass man sich liebt?

Ich glaube schon. Es zeigt eine Distanziertheit zu den Gefühlen. Deswegen ist die schweizerische Volksmusik auch fast immer so furchtbar fröhlich. Da passiert nichts Schlimmes. Hören Sie sich einmal Country-Musik an, da gibt es die grossen Dramen. «You picked a fine time to leave me, Lucille. With four hungry children and the crop in the field.» Da lässt die Frau einen mit den vier Kindern sitzen, oder einer killt einen anderen.

Mussten Sie gehen, nach Guatemala oder Marokko, weil hier zu wenig Drama war?

Nein, ich ging nicht weg von der Schweiz, ich ging einfach in andere Länder. Mich hat es in die Ferne getrieben, weil es möglich war.

Es gab Schriftsteller vor Ihnen, denen war es hier zu eng.

Das habe ich nie verstanden. Alle diese Klischees teile ich nicht: dass die Schweizer keinen Humor hätten, prüde oder engstirnig seien.

Aber sie verdrängen ihre Gefühle.

Sie verdrängen sie nicht, sie sind vielleicht nicht so gut darin, sie zu zeigen.

Sind Sie in dieser Hinsicht Schweizer?

Wahrscheinlich schon. Ich habe mich nie geniert, Schweizer zu sein, ausser . . .

. . . nach den Wahlen vor wenigen Wochen?

Ich wollte früher ansetzen. Meinem Bild der Schweiz – und dem Land an sich – haben Christoph Blocher und seine Bande enorm geschadet. Ich fand es immer schon absurd, dass die, die am schweizerischsten tun, der Schweiz in den letzten fünfzig Jahren mehr geschadet haben als alle Linken und als alle die anderen, die sie sonst immer verteufeln. Aber das hat mit Liebe, dem Thema dieses Gesprächs, nicht mehr viel zu tun.

Vielleicht schon. Mit Liebe zum Land.

Die hat die SVP gepachtet. Auf die kitschigste Art. Wenn sie dann mit diesen Heuwagen kommen.

Warum hat Blocher dem Land geschadet?

Ganz einfach: Er hat es polarisiert. Er hat die schon bestehende, normale, manchmal fast schon versöhnliche Polarisierung hochgezüchtet. Ich erinnere mich an die Vorgängerin der SVP, die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei. Die waren für uns Junge halt bünzlig, aber auch gemütlich. Da war man zwar ganz anderer Meinung, aber nicht verfeindet. Ich habe mich mein ganzes Leben mit der Sprache befasst und weiss: Wer den Ton verschärft, will die Fronten verhärten. Und verhärtete Fronten machen ein Land mit der Zeit kaputt.

Ihre persönliche Situation fliesst nie in Ihre Bücher. Auch den Tod Ihres Sohnes haben Sie nie literarisch verarbeitet. Wie trennt man den wahren Menschen vom Autor?

Ich schreibe nicht über mich, aber es bin immer noch ich, der schreibt. Dadurch glaube ich schon, dass das Leben mein Schreiben beeinflusst. Viele finden, Margrith sei präsent im neuen Buch; meine Freunde, der Journalist Finn Canonica und Philipp Keel, der Diogenes-Chef, sagten das. Ich habe es geschrieben, während sie krank war, auch in Wartezimmern und Krankenhäusern. Ich frage mich, wie ich das überhaupt konnte. Aber es war keine Flucht. Es war das Natürlichste der Welt.

Ihre Frau war auch Ihre erste Leserin. Können Sie ohne Margrith überhaupt neue Bücher schreiben?

Gute Frage. Schreiben kann ich sie, aber ich überlege mir heute viel häufiger, was sie wohl dazu sagen würde.

Schreiben ist Nachdenken. Ist es nicht so, dass man erst versteht, was mit einem geschieht, wenn man es aufschreibt? Kein Wunder, verfassen viele Autorinnen und Autoren autobiografische Texte. Aber Ihre Art ist das nicht.

Mich nerven Bücher, die so sind.

Dann nerven Sie die Bücher Ihres Freundes Stuckrad-Barre.

Ich habe sie erst gelesen, als ich ihn bereits kannte. Und sie haben mich nicht genervt, sondern betroffen gemacht und mit seiner Kunst, nicht nur genau zu beobachten, sondern das Beobachtete auch brillant zu beschreiben, begeistert. Als Leser will ich, dass die, die schreiben, über mir stehen und nicht vor mir auf dem Sofa liegen. Ich finde, der Schreibende muss eine höhere Instanz sein. Er ist Schöpfer, nicht Patient.

Dann die Frage an den Schöpfer: Wie lautet der beste Satz, den Sie je geschrieben haben?

Ich liebe dich.

Über diese Interview-Serie:
In den kommenden Monaten veröffentlichen wir an dieser Stelle Gespräche über die Liebe mit Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wissenschaft, denn wir sind der Meinung: Sie kommt zu kurz. ❤️wins.
Bereits erschienen: Teil 1 – Eine Prostituierte kauft sich einen Mann.

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