Im Schweizer Biathlon gibt es Wachstumsstörungen – die Situation im Frauenteam ist sogar zerrüttet

Swiss Ski verfolgt im Biathlon eine Vorwärtsstrategie, 2025 finden in Lenzerheide Weltmeisterschaften statt. Doch die olympische Gegenwart ist ernüchternd, der Zeitdruck gross. Und die Karrieren der beiden Aushängeschilder neigen sich dem Ende zu.

Philipp Bärtsch, Zhangjiakou
Drucken
Selina Gasparin überquert die Ziellinie im olympischen 15-km-Rennen: Es reicht nur zu Rang 62.

Selina Gasparin überquert die Ziellinie im olympischen 15-km-Rennen: Es reicht nur zu Rang 62.

Kirsty Wigglesworth / AP

Vor zwei Jahren gehörte die Schweizer Frauenstaffel zu den besten der Welt. Lena Häcki und die drei Gasparin-Schwestern Selina, Elisa und Aita schafften es in drei von sechs Staffelrennen der Biathlonsaison 2019/20 auf das Podest.

Am Mittwoch ereignete sich im olympischen Staffelrennen ein kleines Drama. Die Startläuferin Irene Cadurisch musste mit Kreislaufproblemen aufgeben und medizinisch betreut werden, nachdem sie früh den Anschluss verloren hatte und ihrer einstigen Form schon seit Saisonbeginn hinterhergelaufen war. Lena Häcki, Selina Gasparin und Amy Baserga kehrten unverrichteter Dinge ins olympische Dorf zurück.

Der Tiefpunkt passt sowohl zur negativen Entwicklung des Frauenteams als auch zum insgesamt ernüchternden Abschneiden der Schweizer Biathletinnen und Biathleten in Zhangjiakou. Und das wiederum passt gar nicht zur Vorwärtsstrategie, die der Verband Swiss Ski verfolgt, seit klar ist, dass die Weltmeisterschaften 2025 in Lenzerheide stattfinden werden.

Der Teamgeist ist verflogen

Selina Gasparin ist eine Pionierin; sie war die erste Schweizer Biathletin, die sich im Weltcup etablierte, und damals die einzige Frau unter lauter Männern. Heute ist das Frauenteam grösser denn je, grösser auch als vor zwei Jahren. Doch der Teamgeist von damals ist verflogen und einer Atmosphäre gewichen, die einem Gegeneinander näherkommt als einem Miteinander. Manche Athletin ist zu sehr mit eigenen Problemen beschäftigt, als dass sie etwas zu einer positiven Gruppendynamik beitragen könnte.

Der verschärfte interne Konkurrenzkampf, gerade um die vier Olympiastartplätze, hat das Klima getrübt. Das begann schon in der vergangenen Saison, als es an den Weltmeisterschaften einen umstrittenen Selektionsentscheid gab. Obwohl sich Irene Cadurisch mit einem 8. Rang im 15-km-Rennen für einen Staffeleinsatz aufgedrängt hatte, kam einmal mehr die Stammbesetzung zum Zug. Häcki und die Gasparin-Schwestern wurden nur Zwölfte. Cadurisch fühlte sich spätestens von da an als fünftes Rad am Wagen.

Irene Cadurisch am Mittwoch im olympischen Staffelrennen. Später muss sie mit Kreislaufproblemen aufgeben und medizinisch betreut werden.

Irene Cadurisch am Mittwoch im olympischen Staffelrennen. Später muss sie mit Kreislaufproblemen aufgeben und medizinisch betreut werden.

Reuters

Es hätte etwas aufzuarbeiten gegeben im Sommer. Aber die Biathlon-Sparte war da gerade führungslos. Mitte April hatte Swiss Ski den Disziplinenchef Markus Segessenmann entlassen, weniger als ein Jahr vor den Olympischen Spielen. Segessenmann hatte in Teilen der nationalen Szene und der Swiss-Ski-Führung den Rückhalt verloren, er war seit einem Mitarbeitergespräch im Jahr vor der Trennung quasi auf Bewährung. Dennoch hatte Swiss Ski zum Zeitpunkt der Entlassung keine Nachfolgelösung in der Hinterhand.

Ein viermonatiges Vakuum

Hippolyt Kempf, der Nordisch-Direktor, übernahm ad interim, ehe Mitte August mit Lukas Keel ein neuer Disziplinenchef vorgestellt wurde, der schon wesentlich früher verfügbar gewesen wäre. In den vier Monaten ohne Disziplinenchef blieb einiges liegen, nicht nur auf den Baustellen rund um das Frauenteam. Heute sagt Kempf: «Ich sah das relativ trocken: Wir haben eine Trainerin, einen Co-Trainer – das müsste eigentlich gut funktionieren. Aber es kann sein, dass ich das Führungsvakuum unterschätzt habe.»

Nun ist die Situation so zerrüttet, dass der neue Chef Lukas Keel davon spricht, Hilfe von aussen zu holen, «auf sportpsychologischer Ebene». Er verwendet derzeit etwa viel eigene Energie darauf, dass sich Amy Baserga, die zweifache Juniorenweltmeisterin und grosse Zukunftshoffnung, nicht beirren lässt vom Klima, in das sie als Neuling hineingeraten ist.

Das Teamgefüge wird sich nur schon darum verändern, weil die langjährige Leaderin Selina Gasparin am Saisonende aufhört. Die 37-jährige Bündnerin gewann im Winter 2013/14 zwei Weltcup-Rennen und eine olympische Silbermedaille; niemand aus der Schweiz war in dieser Sportart so erfolgreich wie sie. Doch die Abschiedssaison verläuft miserabel. «Schlechter kann es nicht mehr werden», sagte Gasparin vor dem ersten Einsatz in China. In der Saisonvorbereitung sei sie ständig krank gewesen.

Niemand aus der Schweiz war im Biathlon so erfolgreich wie sie. Doch die letzte Saison von Selina Gasparin verläuft miserabel.

Niemand aus der Schweiz war im Biathlon so erfolgreich wie sie. Doch die letzte Saison von Selina Gasparin verläuft miserabel.

AP

Nach dem 62. Platz im 15-km-Rennen durfte Gasparin zu ihrer grossen Enttäuschung nicht zum Sprint über die halbe Distanz antreten. Kempf und Keel argumentierten, dass sie die Selektionskriterien für Einzeleinsätze nur zur Hälfte erfüllt habe. Ihren jüngeren Schwestern Elisa, 3o, und Aita, 28, war im relevanten Zeitraum gar kein zählbares Resultat gelungen. 2014 und 2018 hatten sich jeweils alle drei Gasparins für die Winterspiele qualifiziert.

Hört auch Benjamin Weger auf?

Im Männerteam denkt Benjamin Weger an Rücktritt, mit 32 Jahren und nach vier Olympischen Spielen. Der Walliser ist mit vier Weltcup-Podestplätzen der mit Abstand erfolgreichste männliche Biathlet, den die Schweiz je hatte. Auch Weger lief es in Zhangjiakou gar nicht. Auf die Verfolgung verzichtete er, nachdem er im Sprint unter Atemproblemen gelitten hatte. Weger war Anfang Jahr an Corona erkrankt, ein Zusammenhang ist möglich.

Der Generationenwechsel schreitet jedenfalls voran. Neben Weger waren bei den Männern drei Olympia-Neulinge am Start, von denen niemand Spitzenresultate erwartete. Und doch fällt die Gesamtbilanz vor dem abschliessenden Einsatz von Lena Häcki im Massenstart düster aus, einmal abgesehen vom 8. Rang in der Mixed-Staffel. 2018 hatte das damalige Team noch sechs olympische Diplome eingeheimst.

Obwohl, angeführt von Amy Baserga und dem einstigen Jugendweltmeister Niklas Hartweg, ein paar wenige vielversprechende Talente nachrücken, wird es eine Herkulesaufgabe, bis zu den Weltmeisterschaften 2025 im eigenen Land wieder zwei halbwegs schlagkräftige Teams hinzubekommen.

Amy Baserga ist zweifache Juniorenweltmeisterin und die grosse Zukunftshoffnung.

Amy Baserga ist zweifache Juniorenweltmeisterin und die grosse Zukunftshoffnung.

Filip Singer / EPA

Swiss Ski und die Lenzerheide waren davon ausgegangen, allenfalls den Zuschlag für die WM 2028 zu bekommen. Doch weil die weissrussische Kandidatur für 2025 im Weltverband auf grosse Vorbehalte stiess, erhielt die Schweiz im November 2020 die Titelkämpfe 2025 zugesprochen. In der Folge stritten Swiss Ski und Michael Hartweg, der private Investor hinter der Biathlon-Arena Lenzerheide und die treibende Kraft hinter der WM-Kandidatur, um die organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen. Swiss Ski drohte sogar, die WM an den Weltverband zurückzugeben.

Das finanzielle Risiko ist beträchtlich

Am Ende konnten sich die beiden Parteien doch noch gütlich einigen. Anfang November wurde kommuniziert, dass Swiss Ski die Anlage von Hartweg per 1. Mai 2022 übernehme. Hartweg hat einen zweistelligen Millionenbetrag in die Biathlon-Arena investiert. Laut einem Insider kauft ihm Swiss Ski die Aktien nun für 3,75 Millionen Franken ab.

Mit dem Deal ist der Skiverband dem eigenen Grundsatz untreu geworden, keine Infrastruktur zu betreiben. Das finanzielle Risiko ist beträchtlich und geht nur auf, wenn nach der WM-Hauptprobe im Dezember 2023 regelmässig Weltcup-Rennen durchgeführt werden können. «Unser Business-Plan sieht vor, mit einem Weltcup-Anlass im Winter 2027 den Break-even zu erreichen, von da an jede zweite Saison im Kalender zu sein und in den Jahren dazwischen Langlaufrennen der Tour de Ski zu veranstalten», sagt Hippolyt Kempf. Ob das klappen wird, ist offen. Biathlon-Weltcup-Anlässe sind begehrt, pro Saison gibt es nur neun Stationen.

In Lenzerheide wird weiter investiert. Bereits begonnen hat der Ausbau der Rollskibahn, geplant ist beispielsweise ein neues Trainingsgebäude. Die Biathleten sollen in Lenzerheide dereinst ähnlich gut ausgestattet sein wie die Langläufer in Davos. Der Disziplinenchef Keel möchte aber auch das Betreuerteam stärken, er wünscht sich zum Beispiel einen ausgewiesenen Langlauf- und Athletik-Coach, um an den läuferischen Defiziten zu arbeiten.

Lena Häcki unterwegs im Sprint. Sie beendet das Rennen im 23. Rang.

Lena Häcki unterwegs im Sprint. Sie beendet das Rennen im 23. Rang.

Getty

Biathlon ist erst seit 18 Jahren und dem Ende des Verbandes Biathlon Suisse in den Skiverband integriert. Die nationale Szene ist klein und überschaubar geblieben, es gibt entsprechend wenig Leute mit grossem Fachwissen. Verbandsbosse wie der Präsident Urs Lehmann, der Vizepräsident Peter Barandun oder Kempf haben zwar einen Narren gefressen an der Sportart und ihrem Potenzial, aber Swiss Ski hat in jüngster Zeit vor allem Biathlon-Know-how verloren, gerade mit den unschönen Abgängen der Disziplinenchefs Markus Regli 2018 und Segessenmann 2021. Der Nachfolger Keel trat den Job als Quereinsteiger aus der Sportindustrie an, zuvor war er Geschäftsführer der Schweizer Niederlassung der Wachsfirma Toko gewesen.

Die neue unternehmerische Dynamik mag für die Sportart eine grosse Chance bedeuten. Swiss Ski steht allerdings unter enormem Zeitdruck. «Sportliche Entwicklungen verlaufen nun einmal träger», ist sich auch Kempf bewusst. Biathlon ist in der Schweiz langsam, aber stetig gewachsen. Nun erlebt die Sportart einen Wachstumsschub mit Wachstumsstörungen. «Bei der Weltcup-Premiere in knapp zwei Jahren müssen wir eine Frau und einen Mann unter den ersten zehn haben», sagt Kempf. «Sonst hast du eine Riesenunruhe im VIP-Zelt.»

Mehr von Philipp Bärtsch (phb)