Die Geschichte, die sie vereint

Sie träumen vom Stundenweltrekord, doch im Tour-de-Suisse-Zeitfahren vom Freitag in Worb ist nur einer Favorit: Tony Martin. Bradley Wiggins ist verletzt ausgeschieden, Fabian Cancellara ausser Form.

Christof Gertsch, Delsberg
Drucken
An der Weltmeisterschaft in Florenz im September standen sie alle auf dem Podest: Tony Martin (mitte), Bradley Wiggins (links) und Fabian Cancellara. (Bild: Imago)

An der Weltmeisterschaft in Florenz im September standen sie alle auf dem Podest: Tony Martin (mitte), Bradley Wiggins (links) und Fabian Cancellara. (Bild: Imago)

Diese Geschichte handelt von einem Dreikampf, der nicht stattfinden wird. Jedenfalls nicht heute, nicht im Zeitfahren der Tour de Suisse über 24,5 Kilometer in Worb. Denn Bradley Wiggins, der Zeitfahren-Olympiasieger von 2012, ist am Dienstag gestürzt und am Mittwoch nicht mehr angetreten. Und Fabian Cancellara, der Zeitfahren-Olympiasieger von 2008 und Zeitfahren-Weltmeister von 2006, 2007, 2009 und 2010, ist angeschlagen und sagt im «Blick» vom Donnerstag, dass er gar nichts mehr hören wolle von wegen Worb und Freitag, so sehr plagten ihn die Nachwehen eines Trainingssturzes, so sehr fühle er sich ausser Form.

Ein Zeitfahren-Dreikampf ohne Wiggins ist schon mal nur ein Zweikampf, und wenn Cancellara dann noch ohne Ambitionen an den Start geht, bedeutet das: freie Fahrt für Tony Martin, den Zeitfahren-Weltmeister von 2011, 2012 und 2013. Doch die Gefahr, dass Martin aus Mangel an ebenbürtigen Spezialisten langweilig wird, besteht nicht. Am Samstag hatte er bereits das Kurz-Zeitfahren zum Tour-de-Suisse-Start gewonnen, seither blieb er als Leader ungefährdet. Es geht ihm in Worb also vor allem darum, den Vorsprung auf die Kletterer auszubauen. Auf deren Terrain, in den Bergen, wird die Tour am Samstag und Sonntag entschieden.

Nur der Sportler, sonst nichts

So viel zur Ausgangslage. Aber damit ist die Geschichte des Dreikampfs noch nicht erzählt. Es ist die Geschichte von drei der besten Zeitfahren-Spezialisten, die es im Radsport je gegeben hat. Weshalb es auch die Geschichte des Stundenweltrekords ist. Das ist der einzige Wettkampf, der Radfahrern einen Vergleich mit der Vergangenheit erlaubt. Der Stundenweltrekord ist eines der grössten Dinge, die dieser Sport hervorgebracht hat, er findet auf der Bahn statt, sechzig Minuten im Kreis, er wirft den Fahrer auf sich selber zurück, nur Körper, Kraft und Ausdauer, keine taktischen Spielereien, keine Ablenkung, nichts. Vielleicht ist er das letzte Ziel, das einem Zeitfahrer bleibt, der sonst alles schon gewonnen hat.

Der Stundenweltrekord ist die Geschichte, die den Briten Wiggins, den Schweizer Cancellara und den Deutschen Martin vereint – so sehr sie sich auch an unterschiedlichen Punkten ihrer Karriere befinden. Wiggins steht gerade vor der Frage, ob er überhaupt noch einmal zu einem grösseren Erfolg imstande ist; sein Team wird ihn, den Tour-de-France-Sieger von 2012, wahrscheinlich nicht zur Tour de France aufbieten, nicht einmal als Helfer, er scheint sich überworfen zu haben mit Chris Froome, dem Tour-de-France-Sieger 2013. Cancellara wiederum blickt dem Karrierenende entgegen, vermutlich ist's 2016 so weit; und jetzt geht es darum, bis dahin möglichst viel herauszuholen. Martin schliesslich ist mit 29 Jahren der Jüngste des Trios; er hat noch mehrere gute Saisons vor sich und könnte sich alle möglichen Zerstreuungen aussuchen, zum Beispiel den Tour-de-Suisse-Sieg, warum auch nicht? Aber im Herzen ist er: Zeitfahrer.

Das Trio druckst herum

Wiggins, Cancellara und Martin sind die Fahrer, die dem Rekord neues Leben einhauchen könnten. Mitte der 1990er Jahre schien dieser auf dem Sterbebett zu liegen, weil der Weltverband UCI den Einsatz von Zeitfahren-Velos verbot. Das Wettrüsten in den Jahren zuvor, in dem es kaum um die Sportler, sondern nur noch um die Maschinen gegangen war, hatte die UCI dazu bewogen.

Doch vor ein paar Wochen ist die UCI auf ihren Entscheid zurückgekommen. Fortan ist wieder der eine oder andere technische Kniff erlaubt. Womit es eigentlich nur eine Frage der Zeit ist, bis der Erste des Trios eine Marke setzt, die den unspektakulären, weil von einem unbekannten Fahrer aufgestellten Rekord von 2005 vergessen macht: 49,7 Kilometer in der Stunde.

Eine Frage der Zeit? Oder eher des Muts? Zurzeit druckst nämlich jeder ein bisschen herum. Wiggins sagte im Mai, er würde gerne, ja, aber darüber hinaus war er wenig konkret. Cancellara sagte schon letztes Jahr, dass ihn der Rekord reizt, aber er gehört zu denen, die weniger Freude daran haben, dass die UCI die Richtlinien erneut überarbeitet hat, und jetzt ist er: demotiviert. Zwar soll er auf der Bahn in Grenchen kürzlich ein paar Tests absolviert haben, wie der «Tages-Anzeiger» schrieb, aber er ist die öffentliche Diskussion über den Stundenweltrekord derart leid, dass er wahrscheinlich schon die Augen verdreht, wenn er nur diesen Artikel liest. Und Martin? Martin sagte bei einem Gespräch mit der NZZ vor drei Wochen, dass er Lust verspüre. «Aber es wäre mir lieber, wenn Cancellara oder Wiggins vorlegen würden.»

Das ist der Stand der Dinge. Wobei es wahrscheinlich zum Wesen des Stundenweltrekords gehört, dass sich jeder Anwärter zurückhält – bis eines Tages einer auf der Bahn steht und angreift.

Zum Thema