Mit Tempo Teufel ins Rampenlicht – hier rast die neue Generation der Schweizer Abfahrer

Die Königsdisziplin entwickelt sich aus Schweizer Sicht erfreulich, selbst 22-Jährige klassieren sich in der Weltelite. Doch Beispiele aus der Vergangenheit zeigen, dass frühe Erfolge noch keine grosse Karriere garantieren.

Remo Geisser, Wengen 6 min
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Er fährt erst seit diesem Winter regelmässig im Weltcup und wird bereits mit Beat Feuz verglichen: Franjo von Allmen.

Er fährt erst seit diesem Winter regelmässig im Weltcup und wird bereits mit Beat Feuz verglichen: Franjo von Allmen.

Jean-Christophe Bott / Keystone

Mit dem Rücktritt von Beat Feuz vor ziemlich genau einem Jahr ging eine Ära zu Ende. Er hatte die Abfahrt lange dominiert, war unter anderem Weltmeister und Olympiasieger geworden. Mauro Caviezel wurde 2023 zur Aufgabe gezwungen; er erholte sich nie vollständig von einem Schädel-Hirn-Trauma. Und Urs Kryenbühl kämpfte in den letzten Jahren mit diversen Problemen, er fällt auch in diesem Winter aus.

Damit brach dem Schweizer Abfahrtsteam ein grosser Teil der Spitze weg, die Hoffnungen ruhten vorwiegend auf dem Alleskönner Marco Odermatt. Doch nun blasen neue Namen zum Halali. Nicht alle sind sie jung an Jahren, aber alle haben wenige Abfahrtskilometer in den Beinen und trotzdem in diesem Winter bereits Ausrufezeichen gesetzt. Das verschafft dem Team eine neue Dynamik.

Justin Murisier, ein 32-jähriger Jungspund

Justin Murisier ist der Senior der Gruppe, er hat schon 32 Jahre auf dem Buckel und viele schmerzhafte Erfahrungen hinter sich. Erstmals fiel er im Weltcup als Slalomfahrer auf, das war im Jahr 2010. Der Walliser galt damals für die Zukunft als möglicher Gesamtweltcup-Sieger. Dann aber riss er sich zweimal hintereinander die Kreuzbänder. Auf dem Weg zurück wurde er 2018 noch einmal von einem Kreuzbandriss gestoppt.

Murisier fand danach im Riesenslalom Anschluss an die Weltspitze, doch im Dezember 2021 startete er mit fast 30 Jahren erstmals im Weltcup zu einer Abfahrt. Er habe immer davon geträumt, Abfahrer zu werden, sagte er nun in Wengen. Das mag auch daran liegen, dass er in der Familie ein berühmtes Vorbild hat: Sein Onkel William Besse gewann 1994 die Lauberhornabfahrt.

Zuerst brillierte er im Slalom, mit 30 Jahren lancierte er eine Karriere als Abfahrer: Justin Murisier.

Zuerst brillierte er im Slalom, mit 30 Jahren lancierte er eine Karriere als Abfahrer: Justin Murisier.

Claudia Greco / Reuters

Murisier tastete sich langsam an die Königsdisziplin heran, er musste die Pisten kennenlernen und vor allem die Technik umstellen: vom aggressiven, kurzen Schwung des Riesenslaloms zum gefühlvollen Gleiten durch die langgezogenen Kurven der Abfahrt.

Heute bildet der 32-Jährige eine Art Tandem mit Odermatt. Die beiden teilen sich im Sommer stets das Zimmer, sie besichtigen die Strecken gemeinsam und besprechen die Linienwahl. Murisier sagt, dass ihm Odermatt aufzeige, was in der Abfahrt mit der Technik eines Riesenslalomfahrers möglich sei: Dinge, die sich sonst keiner zutraue.

Inzwischen hat Murisier die Transformation weitgehend geschafft, er verpasste im Dezember in Bormio das Podest als Vierter nur knapp und liess am Donnerstag in Wengen einen zehnten Rang folgen.

Odermatt und Murisier verkörpern den modernen Typus des Abfahrers, der sich im Riesenslalom eine starke Technik aneignet und dann auf die schnellen Disziplinen umsteigt. Das gilt als Kardinalsweg, seit in den 1990er Jahren der Carvingski im Weltcup Einzug hielt. Doch es geht auch anders, das zeigen die jungen Wilden im Schweizer Team.

Alexis Monney beschied als Bub seinem Grossvater, er wolle dereinst Skirennfahrer und Millionär werden. Das Talent dazu scheint ihm in die Wiege gelegt worden zu sein. Der Vater Louis Monney sagte der NZZ: «Manchmal kam es mir vor, er müsse gar nicht lernen, Ski zu fahren – er konnte es einfach.» Dieser Vater weiss, wovon er spricht, wenn er vom Skifahren redet, er trainierte einst im Weltcup Paul Accola.

Sohn Alexis wurde umsichtig gefördert, doch die Weichen wurden früh in Richtung Abfahrt gestellt, der Riesenslalom spielte nur eine Nebenrolle. 2020 wurde er Juniorenweltmeister. Danach nahm er den kürzesten Weg. Im Europacup hatte er gerade einmal zwei Top-10-Klassierungen geschafft, als er erstmals in den Weltcup aufgeboten wurde. Und dort fand er rasch den Tritt: Im zehnten Rennen fuhr er erstmals in die Top 10.

Das war vor einem Jahr in Wengen, er wurde Zehnter. Eine Woche später wurde er im ersten Einsatz auf der berüchtigten Streif in Kitzbühel Elfter. In diesem Jahr bestätigte der 24-Jährige mit den Rängen 13 in Bormio und 12 in der verkürzten Abfahrt am Lauberhorn sein Talent. Monney hat sich in die Top 30 der Welt geschoben, alle anderen Athleten in dieser Gruppe sind mindestens drei Jahre älter als er.

Das Skifahren musste er nicht lernen – er konnte es einfach: Alexis Monney im Abfahrtstraining von Wengen.

Das Skifahren musste er nicht lernen – er konnte es einfach: Alexis Monney im Abfahrtstraining von Wengen.

Jean-Christophe Bott / Keystone

Noch jünger als Monney ist Franjo von Allmen – und der Berner startete im Weltcup noch fulminanter durch als der Freiburger. In seinem ersten Super-G, in Gröden, klassierte sich von Allmen im 9. Rang, einen Tag später liess er in der Abfahrt Platz 12 folgen. Das war in seinem dritten Einsatz in der Königsdisziplin. Die erste Abfahrt von Wengen beendete er als Vierzehnter.

Das ist für einen 22-Jährigen sehr beachtlich. Aber geradezu unfassbar ist die Art und Weise, wie von Allmen dieses Ergebnis erreichte. Er ging mit der Nummer 36 ins Rennen, musste aber seine Fahrt abbrechen, weil kurz vor ihm sein Teamkollege Marco Kohler im Haneggschuss gestürzt war. Von Allmen glitt langsam an Kohler vorbei und hinunter ins Ziel, wo er einen Helikopterflug zurück an den Start bekam.

Hohe Startnummern sind in Wengen kein Vorteil, hinzu kommt der Umstand, dass sich ein Fahrer ein zweites Mal mental aufbauen und mit angesäuerten Beinen den Hang hinunterwerfen muss. Von Allmen steckte all das locker weg und donnerte mitten in die Weltelite. Damit bewies er seine wohl grösste Qualität: Er lässt sich von nichts aus der Ruhe bringen und wird deshalb oft mit Beat Feuz verglichen. Allerdings wurde von Allmen im Super-G am Freitag aufgezeigt, wie hart das Leben in diesem Sport sein kann – er stürzte bei hohem Tempo.

Er lässt sich von nichts aus der Ruhe bringen: Franjo von Allmen springt am Lauberhorn über den Hundschopf.

Er lässt sich von nichts aus der Ruhe bringen: Franjo von Allmen springt am Lauberhorn über den Hundschopf.

Jean-Christophe Bott / Keystone

Vergleiche von Talenten mit bekannten Grössen sind heikel. Es gibt sie auch für Marco Kohler, dessen Karriere lange parallel zu jener von Marco Odermatt verlief. Die beiden fuhren schon als Kinder Rennen gegeneinander, sie besuchten gemeinsam die Sportmittelschule in Engelberg, und es gibt Leute, die sagen, Kohler sei damals mindestens gleich stark gewesen wie Odermatt.

Die Wege trennten sich 2018, als beide für die Junioren-WM in Davos selektioniert waren. Kohler verletzte sich im Training, Odermatt gewann fünfmal Gold und galt von da an als Versprechen. Heute ist er der beste Skifahrer der Welt.

Odermatt sprach seinem Freund während der langen Rehabilitation Mut zu

Kohler kämpfte sich zurück und startete 2020 als Vorfahrer am Lauberhorn. Im Ziel-S beging er einen Fehler und zog sich einen Totalschaden im Knie zu. In der langen Rehabilitation zweifelte er manches Mal an seiner Zukunft als Rennfahrer. Doch Odermatt habe sich immer wieder bei ihm gemeldet, sich nach den Fortschritten erkundigt und ihm Mut gemacht. «Er ist mein bester Freund», sagte Kohler in Wengen.

Sein Aufschwung wurde durch einen Sturz abrupt gebremst: Marco Kohler in einer Trainingsfahrt.

Sein Aufschwung wurde durch einen Sturz abrupt gebremst: Marco Kohler in einer Trainingsfahrt.

Jean-Christophe Bott / Keystone

Im vergangenen Winter gewann Kohler die Abfahrtswertung im Europacup und sicherte sich damit einen fixen Startplatz für diese Weltcup-Saison. In Gröden brillierte der 26-Jährige mit Rang 8, in Bormio erreichte er den 10. Rang in der Abfahrt und den 13. Rang im Super-G. Doch dann folgte der Crash am Donnerstag in Wengen. Auch er nahm den Helikopter, allerdings flog dieser ins Spital. Das Bangen um die Zukunft im Sport beginnt von neuem.

Kohler ist ein extremes Beispiel dafür, dass frühe Höhenflüge keine Garantie für langfristige Erfolge sind. Ein anderes ist Gilles Roulin. Der Zürcher fuhr in seiner dritten Weltcup-Abfahrt in den 12. Rang, im fünften Rennen verpasste er als Vierter knapp das Podest. Das war 2017, seither ist seine Karriere ein Auf und Ab, auf einzelne Spitzenklassierungen folgten immer wieder Rückschläge, auf dem Podest stand er noch nie.

Roulin schloss vor einem Jahr sein Jurastudium mit dem Master ab und arbeitete im Sommer auf einer Anwaltskanzlei. Im Mai wird er 30-jährig, er überlegt, ob er das Anwaltpatent erwerben soll. Aber sein Fokus gilt dem Skisport. Roulin sagt: «Es ist für mich immer noch ein Traum, dass ich Weltcup-Rennen fahren darf.»

Gilles Roulin nach seinen fulminanten Start in den Weltcup.

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