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Die Snowboarder galten als Rockstars der Halfpipe

Partys, Rausch und Runs – die Snowboarder galten in den 1990er Jahren als Anarchisten des Sports. Wie war es wirklich? Auf der Suche nach einem verlorenen Lebensgefühl.

Christine Steffen 10 min
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Dem Himmel entgegen: Gian Simmen zirka 1998 in Les Diablerets.

Dem Himmel entgegen: Gian Simmen zirka 1998 in Les Diablerets.

Patrick Armbruster

Spricht man heute mit Snowboardern der Aufbruchzeit vor der Jahrtausendwende, fällt immer wieder ein Wort: Freiheit. Was hatte es in den 1990er Jahren tatsächlich auf sich mit der Freiheit im Snowboarden? War sie mehr als eine Projektion, der die Bilder zugrunde lagen von Menschen, die sich in den Himmel schraubten? Und wo war die Freiheit zu finden: An den Partys? Auf der Pipe? Am Dreh für die Filme? Ist sie mehr als eine wehmütige Erinnerung jener, die dabei waren?

Die Schweizer Profis Michi Albin, Gian Simmen und Fabien Rohrer haben in den wilden Jahren unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt, verbunden hat sie ein Spirit und Lifestyle, der vom Surfen und Skaten kam und Abenteurer aus aller Welt zusammenführte. Sie sahen sich als Freigeister, zelebrierten den Individualismus, suchten ihren eigenen Ausdruck: in den Runs, der Kleidung, der Musik.

Je länger man ihnen zuhört, desto stärker wird das Gefühl für die Freiheit, die sie meinen. Sie hat zum Beispiel damit zu tun, wie sie zu Himmelsstürmern wurden. Michi Albin, 45, war einer der spektakulärsten und erfolgreichsten Schweizer Snowboarder, Ende der 1990er Jahre hat er verschiedene Big-Air-Events gewonnen. Doch als Spitzensportler hat er sich nicht gesehen, «definitiv nicht».

Albin hat nicht die klassische Karriere des Sporttalents gemacht, das vom Verband erfasst wird und dann die verschiedenen Förderstufen durchläuft, er ging in Pontresina in die Snowboardschule und versuchte, die Tricks, die er in Heftchen sah, nachzumachen. Kein Trainer war der Antrieb, sondern der Ehrgeiz, besser auszusehen. Kein Verband oder Verein hat ihn gepusht, sondern die Kollegen, die ebenfalls an den Tricks feilten. Regeln gab es keine, aber hundert Varianten, es musste nur cool aussehen. «Es ging um den Look, ums Feeling», sagt Albin.

Pipe und Film

Gian Simmen, 44, erster Halfpipe-Olympiasieger überhaupt, ist ein Selfmade-Star wie Albin; er ist über das Skaten zum Snowboarden gekommen. Skifahren habe er gehasst, der Wintersport damals sei genormt gewesen, «blau, rot, blau, rot durch die Slalomstangen». Und die Ski, alle ungefähr gleich lang, «zwei Meter lange Kästle-Latten, es war ein Krampf, sie zu fahren.»

Die Snowboarder hätten gezeigt, dass man nicht nur gerade fahren könne, sondern auch seitwärts. Dass es nicht nur links, rechts gebe, Stangenfahren eben, sondern auch Freeriden. Dass man sich rückwärts bewegen und in der Luft drehen konnte. «Express yourself» – so nennt es Simmen. Mit dem Board an den Füssen habe man ausbrechen können aus dem normalen Leben. «Dann gab es praktisch keine Leitplanken mehr, nur noch die grosse Freiheit. Das Gefühl ist gigantisch».

Die Erfahrung vom Fliegen haben sie mitgenommen, zurück ins normale Leben. Sie haben keine konventionellen Biografien; als sie nach der Karriere landen mussten, war das nicht einfach. Aber sie haben mitgenommen, was Michi Albin «Weltoffenheit» nennt.

In seiner Zeit als Snowboardprofi war es möglich, den Lebensunterhalt mit maximaler Absenz von Routine und Normen zu bestreiten. Wettkämpfe waren nur ein Teil davon, die Fahrer machten sich einen Namen mit Filmen und Fotoshootings – und sie verdienten gut.

1991 nahm der Snowboardhersteller Burton Michi Albin unter Vertrag, er wurde Teil eines internationalen Teams, Schweden, Japaner, Franzosen, das war seine Clique. Er bekam ein Reisebudget, suchte sich Wettbewerbe aus und liess sich die Flüge buchen, wobei der Reiseunternehmer in Wien eine gewisse Flexibilität beweisen musste, wenn die Jungs den Hangover ausschliefen und wieder einmal einen Flug verpassten.

Albin bestritt zuerst vor allem Wettkämpfe der ISF, der Internationalen Snowboarding Federation, dann die Big-Air-Events mit «crazy Preisgeldern», bis zu 50 000 Franken. Die restliche Zeit investierte er in Filmaufnahmen. Er lebte aus dem Koffer, im Sommer probierte er in Camps auf Gletschern neue Tricks aus, im August surfte er in Biarritz, Australien oder Bali. Eine Wohnung hatte er keine, wozu auch. Er schlief auf der Couch bei Freunden.

Big in Japan: Die beiden Schweizer Michi Albin (r.) und Romain de Marchi 2001 an einer Afterparty in Tokio.

Big in Japan: Die beiden Schweizer Michi Albin (r.) und Romain de Marchi 2001 an einer Afterparty in Tokio.

«Luxuszigeuner», seien sie gewesen, sagt Fabien Rohrer. Auf Bildern aus dieser Zeit sehen die Snowboarder aus, als würden sie zu sehr coolen Bands gehören. Als hätten sie die Hippiezeit in die 90er Jahre gerettet – aber mit mehr Flair. «Wir waren Spitzensport-Lifestyler», sagt Fabien Rohrer, «es war ein bisschen wie Woodstock.»

Man sieht Hasardeure mit Lausbubengesichtern, zu jedem Unsinn bereit. Jungs, die auf einem Bügelbrett surfen, geklaut im Hotel. Spassvögel mit seltsamen Perücken auf dem Kopf auf einem Flughafen in Australien, mässig begeisterte Zöllner. Man sieht Partys, nackte Oberkörper, Flaschen, Zigaretten. Es sieht nach Exzess aus und nach sehr viel Fun, aber nicht so sehr nach Sport.

«Wir waren Rockstars, ganz klar», sagt Gian Simmen. Dieses Selbstverständnis war nicht herbeiphantasiert. In Japan, wo die Snowboarder äusserst populär waren, fanden sich 50 000 bis 60 000 Zuschauer an Megaevents ein. Michi Albin erzählt, wie die Polizei an den Abschrankungen Fans zurückhalten musste, die gerade ihren Beatles-Moment hatten. Er war mit dem sehr jungen Shaun White unterwegs, der ihn, als die Begeisterung überbordete, fragte: «Michi, was soll ich machen?» «Ich sagte ihm, er solle die Brille und die Handschuhe in eine Richtung werfen, und wir sind in die andere gelaufen, wo unser privater Bereich war. Es war Wahnsinn.»

Party und Hype

Das Image der Party-People klebte an den Snowboardern, es wurde zum Klischee, das den Wert der sportlichen Leistung oft überdeckte. Wie wichtig waren die Partys wirklich? «Wir waren 90 Prozent am Snowboarden und 10 Prozent am Feiern», sagt Rohrer. Er hat bei beidem alles gegeben: Besuche in Stripklubs, zerlegte Hotelzimmer, es war viel dabei, was ein Rock’n’Roll-Leben interessant macht. Es kam vor, dass Rohrer in der Hotellobby mit dem Feuerlöscher einen Schneesturm veranstaltete, um eine Medaille zu feiern. «Dann musste ich halt 5000 Franken für die Reinigung zahlen», sagt er, «ich trug die Konsequenzen, nicht der Verband.»

«Jeder hat gern Party gemacht», sagt Gian Simmen, natürlich sei auch «ein Gräsli oder zwei» geraucht worden. Er sei aber bis nach dem Wettkampf so sauber wie möglich geblieben. «Ich habe den Alkohol damals nicht gut vertragen, und ich vertrage ihn heute nicht gut. Meine Leistung lässt nach, wenn ich zu wenig Schlaf habe und zu viel trinke.»

Beim Feierabendbier: Gian Simmen im Jahr 2000 in Sapporo.

Beim Feierabendbier: Gian Simmen im Jahr 2000 in Sapporo.

Patrick Armbruster

«Vielleicht tönt das doof», sagt Michi Albin, «aber zum Teil fuhr man mit Hangover fast besser, man hat sich weniger Gedanken gemacht, war lockerer.» Man habe sich als Superstar gefühlt und nicht daran gedacht, dass etwas schiefgehen könnte. Als die Events, die Pipes und die Unfallgefahr grösser wurden, wuchs aber auch die Vernunft. Albin findet, ein bisschen mehr «Guidance» hätte nicht geschadet, etwas mehr Professionalität, etwas weniger Flüge verpassen, ein zuverlässigerer Umgang mit Sponsoren und Medien, ein stärkeres Bewusstsein für den Körper.

Es war nicht nur so, dass lange niemand auf die Idee kam, dass man die Bretter auch pflegen könnte, dass man vielleicht höher springt, wenn das Board nicht verkratzt und löchrig ist, sondern gewachst. Wie dem Brett wurde anfangs auch dem Körper wenig Beachtung geschenkt – bis man vor allem in der Surfszene beobachtete, dass es Dinge wie Yoga gab, die offensichtlich gut taten und die man zurückhaltend ins eigene Repertoire aufnahm.

Doch nicht alle Snowboarder gingen den anarchistischen Weg. Fabien Rohrer, 47, hatte bereits Mitte der 1990er Jahre drei Betreuer: einen Mental- und einen Techniktrainer, sowie einen Präparator für die Boards. Er stiess damit in der Szene auf Widerstand, was ihm egal war.

Man kann es als Vorbereitung sehen auf den «Hohn und Spott», den er erntete, als er in den späten 1990er Jahren zum ersten Mal auf dem Titelbild der «Schweizer Illustrierten» war – spiessiger ging es nicht. Rohrer hat bereits auf Massentauglichkeit gesetzt, als die Szene noch als Subkultur galt. Er nahm sich Bernhard Russi zum Vorbild, der mehrheitsfähigste Darling der Schweiz überhaupt, und lernte von dessen Umgang mit den Medien.

Golfschläger statt Snowboard: Sommersport mit Fabien Rohrer zirka 1999 in Crans Montana.

Golfschläger statt Snowboard: Sommersport mit Fabien Rohrer zirka 1999 in Crans Montana.

Patrick Armbruster

Er vermarktete sich geschickt als Filou aus dem Berner Oberland, und als er sich 1996 in Stefanie Berger, Miss Schweiz im Jahr zuvor, verliebte, gab es kein Halten mehr. Rohrer sagt, er habe es knallhart durchgezogen und alles gemacht, was der Popularität gedient habe. In den 2000er Jahren bekam er einen hochdotierten Sponsoringvertrag mit Adidas, kein cooler Brand damals. Wieder stiess er in der Szene an. Es störte ihn nicht.

Hauptsache, das Produkt Fabien Rohrer habe an Wert gewonnen. Man könnte sagen, er habe früh gespürt, in welche Richtung es geht. Rohrer hat sein Image schon geschickt kapitalisiert, bevor sich der Underground-Mythos der ganzen Szene im Mainstream auflöste.

Zwist und Spirit

Neben einer breiteren Öffentlichkeit verfolgten auch die grossen Sportverbände die frische Szene aufmerksam. 1998 in Nagano hatte Snowboarden seine olympische Premiere. Nicht am Start war der Beste: Der Norweger Terje Håkonsen boykottierte die Spiele. Simmen gewann überraschend Gold, Rohrer wurde Vierter, Albin bastelte sich seinen eigenen FIS-Punkt aus Papier, ein lustiger Scherz, aber natürlich keine Olympia-Qualifikation.

Håkonsens Absenz war ein klares Signal. Die Qualifikation für die Olympischen Spiele lief über FIS-Wettkämpfe und nicht über die Anlässe des Verbands der Snowboarder. In deren Augen glich das einer feindlichen Übernahme. «Wir wollten nicht, dass ein alter Mann kommt und uns sagt, wie wir unseren Sport ausüben sollen», erinnert sich Albin.

Das Regelwerk der Spiele war unvereinbar mit dem Eigensinn und Nonkonformismus der Snowboarder. Dass alle Schweizer Athleten und Athletinnen die gleiche Kleidung tragen sollten, kam als Zwang zur Uniformierung an. «Wir waren nicht das Team Schweiz, wir hatten keine Lust, für ein Land zu starten», sagt Albin, «wir waren Snowboarder.»

Wer die Spiele ablehnte, konzentrierte sich auf die Big-Air-Events, «das war unser Olympia», sagt Albin. Eine Spaltung habe es nicht gegeben in der Szene, aber viele Diskussionen. Den Nutzen der Spiele sahen auch die Rebellen: einem breiteren Publikum zu zeigen, dass es nicht nur um Party ging, sondern vor allem um Action auf Schnee. Die Schweiz hatte mit Rohrer und Simmen neue Lieblinge, Lausbuben-Athleten, «die nicht mit dem Ovo-Grandprix und Medientraining gross geworden waren, sondern frei von der Leber weg erzählten», wie Simmen sagt.

Was ist denn nun geblieben vom Geist von damals, von der Freiheit? Simmen, heute verantwortlich für den Snowpark im Skigebiet Grindelwald-First und SRF-Snowboardexperte, sagt: «Es gibt keine Regeln, wie du einen Trick machen musst. Das ist Freiheit, damals wie heute. Der Spirit ist noch da. Aber um an die Spitze zu kommen, musst du ein brutal guter Athlet sein, ein Akrobat, körperlich topfit. Das lässt keinen Raum zum Partymachen, du kannst dich nicht mehr gehenlassen.»

Fabien Rohrer, Immobilienbesitzer und -verwalter, sieht es anders: «Du bist im Verbandskonstrukt drin, der Sport ist nur definiert durch Leistung: Das ist für mich toxisch. Zum Glück wissen sie nicht, wie wir das gelebt haben.» Und Michi Albin, der mit seiner Frau die Babynahrung Nübee entwickelt hat und vertreibt, sagt: «Snowboarden macht so Spass, dass es gar nie uncool werden kann.»

Was Snowboard auf jeden Fall zeigte, bevor es wie alle subkulturellen Bewegungen vom Mainstream gefressen wurde: dass man einfach mal machen kann. Dass man keine Angst haben muss, wenn etwas neu ist. Dass man sich nicht einschränken lassen soll. So sagt es Michi Albin. Und Fabien Rohrer hat «gelernt, Glück zu finden auf dieser nicht ganz einfachen Welt». Wenig ist das nicht.


Wie aus dem Funsport Extremsport wurde: Todesmut in der Eisröhre

Von Philipp Bärtsch, Zhangjiakou

Wer Nicolas Huber nur von Instagram kennt, glaubt wohl, der Snowboarder habe nichts als Schabernack im Kopf. Nach der Einreise in Peking musste Huber wegen eines positiven Corona-Tests zwei Tage in Isolation, und auch da machte er Faxen, trieb er Spässe, lebte er seine Vorliebe für Kostümierungen aus. Doch der 27-jährige Zürcher machte ebenso Fitnesstraining, visualisierte seine Tricks, sprach mit dem Sportpsychologen.

Sie sind nicht ausgestorben, die exaltierten Snowboarder, aber die Entwicklung ihres Sports seit der Olympia-Premiere vor 24 Jahren hat auch sie verändert. «Ich symbolisiere und zelebriere zwar das Anarchische», sagt Huber, «aber ich bin genauso professionell wie die Japaner und Chinesen, sonst wäre ich nicht hier. Es ist ein Leistungssport wie jeder andere, aber daneben kannst du auch ein bisschen blöd tun.»

Huber ist Slopestyle- und Big-Air-Spezialist, doch am anschaulichsten zeigt sich die Entwicklung in der Halfpipe, der Königs- und bis 2014 einzigen olympischen Freestyle-Disziplin. Als Gian Simmen 1998 Olympiasieger wurde, trug er noch eine Kappe statt einen Helm, und die Pipe war etwa drei Meter hoch.

Was Simmen und seine Kumpanen aufführten, galt nicht als gefährlicher Sport. Heute ist das anders. Die Pipes sind doppelt so hoch und mehr Eis- als Schneeskulpturen. Die Athleten springen fünf, sechs Meter über den Rand hinaus. Die schlimmsten Stürze fühlen sich an wie Stürze von einem Sprungturm auf einen Betonboden.

Der Schweizer Cheftrainer Pepe Regazzi sagt: «Verändert haben sich nicht etwa die Typen, da gibt es immer noch Rebellische und Streber, wie früher. Sondern die Infrastruktur und die Progression der Tricks.» Vor vier Jahren verpasste Iouri Podladtchikov, der Olympiasieger von 2014, die Spiele wegen eines Schädel-Hirn-Traumas. Und Regazzi sagte damals: «Unsere Sportart stösst an Grenzen, vor lauter Medaillendenken und Streben nach noch mehr Rotationen verlieren wir die Realität aus den Augen. Es ist auch der Moment für die Message, dass jeder Athlet in Gefahr ist.»

Nun ist Regazzi wie die ganze Szene gespannt, ob erstmals an Olympischen Spielen ein Triple Cork, ein Dreifachsalto, zu sehen sein wird. Der Tessiner sagt: «Ich könnte keinen Athleten puschen, einen Triple Cork zu machen. Ich bin seit 17 Jahren dabei und nicht bereit, das Leben eines Jungen zu riskieren.» Regazzi sah kürzlich in Laax den schweren Sturz von Ruka Hirano, der nach einem Triple Cork mit dem Gesicht voll auf den Schnee knallte. «Alle rannten zu ihm hin, alle dachten, er sterbe. Zum Glück war die Pipe eher weich.» Der 19-jährige Japaner verletzte sich nur leicht.

Freestyler trainieren heute wie Zirkusakrobaten. Viele haben neben einem Snowboard-Trainer auch einen Trampolin-Coach. Iouri Podladtchikov arbeitete jahrelang mit dem früheren Zirkusartisten Alexei Ivanov zusammen, der an der Accademia Teatro Dimitri unterrichtet, der Zirkusschule des 2016 verstorbenen Clowns. «Zum Trainingsalltag gehören aber auch Yoga, Meditieren, Visualisieren oder Atemübungen», sagt Pepe Regazzi. Verkatert fliegt auf diesem Niveau keiner durch die Luft.