Tour de Suisse: Stefan Bissegger erzwingt den ersehnten Etappensieg

«Das ist Karma»: Im Zeitfahren noch knapp geschlagen, triumphiert der 22-jährige Frauenfelder auf dem vierten Teilstück der Tour de Suisse. Mit ihm wird nun zu rechnen sein.

Sebastian Bräuer
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Stefan Bissegger hat schon den unbedingten Siegeswillen eines Champions.

Stefan Bissegger hat schon den unbedingten Siegeswillen eines Champions.

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Die meisten Radfahrer wären stolz und glücklich, in ihrem ersten Profijahr an einem Auftakt-Zeitfahren der Tour de Suisse Zweiter zu werden. Stefan Bissegger aber ärgerte sich, als er am Sonntag in seiner Heimatstadt Frauenfeld vom Schweizer Landsmann Stefan Küng um 4 Sekunden geschlagen wurde. Er haderte nicht mit seiner Fahrt, die war nahe am Limit, aber mit dem Wetter. Denn als er auf der Strecke war, regnete es stärker als später bei Küng.

Bissegger tritt nicht an, um Zweiter zu werden. Er ist erst 22 Jahre alt, verfügt aber schon über den unbedingten Siegeswillen eines Champions.

Drei Tage später hat der Profi aus dem Team EF Education First den ersehnten Etappensieg nachgeholt, er hat ihn regelrecht erzwungen. Als er auf dem Flugplatz Gstaad Saanen über die Ziellinie rollte, ballte Bissegger beide Fäuste und klopfte sich kräftig auf die Brust. Unmittelbar danach sagte er: «Das ist Karma.» Er sei am Sonntag so nah dran gewesen, jetzt sei er glücklich.

78 Kilometer vor dem Ziel hatte sich Bissegger auf der vierten Etappe einer bis dahin dreiköpfigen Fluchtgruppe angeschlossen, die sich zuvor gebildet hatte. Das Quartett mit dem Schweizer Joel Suter fuhr zeitweise siebeneinhalb Minuten Vorsprung auf das Feld heraus. Den Ausreissern kam entgegen, dass sich der Leader Mathieu van der Poel nicht aktiv darum bemühte, das gelbe Trikot zu behalten, sein Team Alpecin-Fenix leistete wenig Nachführarbeit. Auch die anderen Mannschaften neutralisierten sich immer wieder gegenseitig.

Vor dem 171 Kilometer langen Teilstück lag Bissegger in der Gesamtwertung 6:05 Minuten zurück. Er befand sich am Mittwoch bis kurz vor Schluss in der virtuellen Leaderposition. Dass es am Ende nicht reichte, das gelbe Trikot vom Velo-Star van der Poel zu übernehmen, konnte er jedoch verschmerzen. Schon auf der Strecke entschied er sich nach kurzer Rücksprache mit seinem sportlichen Leiter, ganz auf den Etappensieg zu setzen. Dieser war ihm mehr wert.

Der Entscheid erwies sich als richtig, denn aus der Spitzengruppe fiel nur Suter bereits im Aufstieg nach Saanenmöser zurück. Mit den beiden anderen Fluchtgruppen-Kollegen Benjamin Thomas und Joey Rosskopf lieferte sich Bissegger in der letzten Abfahrt und auf den flachen Schlusskilometern taktische Scharmützel, die viel Zeit kosteten. Dem Fahrer, der auch in Bahnrennen brilliert, liegen nicht nur die Zeitfahren, in denen vor allem pure Power gefragt ist, sondern auch normale Etappen mit listigen Finten und explosiven Antritten.

«Es ist wie ein Pokerspiel», sagte er anschliessend. «Auf der Bahn lernt man das.» Rosskopf zog den Endspurt an, worauf Bissegger gehofft hatte, und es gelang ihm, den Amerikaner auf den letzten Metern souverän zu überholen.

In den kommenden Tagen wolle er nun seine beiden Teamkollegen Rigoberto Urán und Neilson Powless unterstützen, die in der Gesamtwertung über gute Aussichten verfügten. Ausserdem werde er schauen, was die Beine im zweiten Zeitfahren am Samstag noch hergeben.

Zu Beginn der Rundfahrt hatte Bissegger jenen Kampf gegen die Uhr am vorletzten Tag der Rundfahrt, der über den Oberalppass führt, noch als zu schwer bezeichnet, um dort vorne mitfahren zu können. Er dürfte doch auch kein Siegkandidat sein. Doch sein Ehrgeiz wächst.

Bald tritt der 22-Jährige an den Olympischen Spielen noch einmal auf der Bahn an, aber seine Zukunft liegt auf der Strasse. Im März gewann er an der Fernfahrt Paris–Nizza bereits das Zeitfahren, wobei er unter anderem den Grand-Tour-Sieger Primoz Roglic und den früheren Weltmeister Rohan Dennis schlug, der nun auch in Frauenfeld das Nachsehen hatte.

Am Ende fehlten Bissegger 39 Sekunden, um das gelbe Trikot als zweiter Schweizer an dieser Rundfahrt nach Küng tragen zu dürfen. Auf die Frage, ob er der verpassten Chance nicht doch ein wenig nachtrauere, sagte Bissegger am Abend in Gstaad: «Hoffentlich klappt es nächstes Jahr.» Mit ihm wird nun zu rechnen sein.

84. Tour de Suisse. 4. Etappe, St. Urban–Gstaad (171 km): 1. Stefan Bissegger (SUI) 3:46:21. 2. Benjamin Thomas (FRA). 3. Joey Rosskopf (USA), gleiche Zeit. 4. Joel Suter (SUI) 0:23 zurück. 5. Edward Theuns (BEL) 5:16. 6. Sebastian Molano (COL). 7. Omar Fraile (ESP). 8. Mike Teunissen (NED). 9. Fred Wright (GBR). 10. Michael Matthews (AUS).

Gesamtklassement (4/8): 1. van der Poel 12:40:51. 2. Alaphilippe 0:01. 3. Küng 0:04. 4. Schachmann 0:06. 5. Mattia Cattaneo (ITA) 0:13. 6. Iván García Cortina (ESP) 0:16. 7. Richard Carapaz (ECU) 0:17. 8. Neilson Powless (USA) 0:29. 9. Andreas Kron (DEN) 0:37. 10. Bissegger 0:38. 11. Rigoberto Urán (COL) 0:39. 12. Fuglsang, gleiche Zeit.

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