Tödlicher Lausbubenstreich in Calgary, gestohlene Kupferdrähte in Cesana – Bobbahnen sind vom Verschwinden bedrohte Kunstwerke

Tödlicher Lausbubenstreich in Calgary, gestohlene Kupferdrähte in Cesana – Bobbahnen sind vom Verschwinden bedrohte Kunstwerke

Fredy Thuerig / Imago

Die Bobbahnen dieser Welt haben einen Niedergang hinter sich. Die Situation ist derart verzwickt, dass noch immer unklar ist, wo 2026 die olympischen Rennen stattfinden werden. Der Natureiskanal in St. Moritz-Celerina hat einen grossen Trumpf.

Marco Ackermann (Text), Dario Veréb (Bildredaktion) 9 min
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Sie kennen doch sicher die Hollywood-Komödie «Cool Runnings», die auf wahren Begebenheiten beruht: Vier lustige Jamaicaner haben den Traum, an Olympischen Spielen teilzunehmen. Und sie streben im Winter danach, obwohl sie davor nie Schnee gesehen haben. Dafür bilden sie die erste Bobmannschaft ihres Landes. Und 1988 an den Spielen in Calgary stehen sie tatsächlich am Start, sie verkörpern ganz im Sinne des olympischen Geistes das Motto: «Dabeisein ist alles.» Der Eiskanal von Calgary gilt seitdem als sporthistorische Stätte.

Heute existiert die Bahn nur noch als Legende; sie wurde 2019 geschlossen. Die Betreibergesellschaft gab bekannt, ihr fehlten Millionen, um notwendige Renovationsarbeiten durchzuführen. Sie hätte wohl nur gerettet werden können, wenn Calgarys Olympia-Kandidatur für 2026 erfolgreich gewesen wäre. So aber wurden schon bald die ersten fünf Kurven abgebrochen, um Platz zu schaffen für neue Infrastruktur, etwa für eine Snowboard-Piste. Die Leute am Hügel über der Stadt frönen heute anderen Wintersportarten.

Die Bahn hatte ohnehin länger nicht mehr als Synonym für Heiterkeit gegolten. Sie war eher ein Mahnmal, seit sich 2016 eine Tragödie ereignet hatte. Damals waren eines Nachts, ausserhalb der Öffnungszeiten, Teenager in die Anlage eingebrochen, um mit Schlitten verbotene Fahrten zu machen. Was wie ein Lausbubenstreich begann, mündete in ein tödliches Drama: Die Delinquenten prallten in Kurve fünf in eine Planke, wie sie in geschlossenen Bahnen üblich ist. Die Folge waren acht Schwerverletzte, zwei von ihnen starben – es waren Zwillingsbrüder.

Und so steht Calgary auch stellvertretend dafür, welchen Niedergang die Bobbahnen dieser Welt hinter sich haben, ja die Kunstwerke sind gar vom Verschwinden bedroht – und das just in diesen Tagen, in denen der für diese Sportart zuständige Weltverband (IBSF) seinen 100. Geburtstag feiert.

Die frühere Startanlage der Bobbahn in Calgary, kurz bevor sie abgerissen wurde und anderer Infrastruktur weichen musste.

Die frühere Startanlage der Bobbahn in Calgary, kurz bevor sie abgerissen wurde und anderer Infrastruktur weichen musste.

Brett Holmes / Getty
Ausblick über die ersten Kurven der Bobbahn in Calgary im Jahr 2015.

Ausblick über die ersten Kurven der Bobbahn in Calgary im Jahr 2015.

Jose Quiroz / Getty

Keine Bahn in Cortina d’Ampezzo: ein Schildbürgerstreich bester italienischer Prägung

Die Situation ist derart verzwickt, dass noch immer unklar ist, wo im Februar 2026 die olympischen Bobrennen stattfinden sollen. Der Gastgeber Italien verfügt über keine fertige Bahn. Deshalb droht ihm die Schmach, dass er die Schlittenwettkämpfe ins Ausland verlegen muss. Ein Vorgang, der in der Geschichte der Winterspiele ein Novum wäre. Es gibt Leute in Italien, die dieses Szenario noch abwenden wollen, Ende November soll in der Causa eine Entscheidung fallen.

Doch im Grunde ist es ein Schildbürgerstreich bester italienischer Prägung. Die Olympia-Organisatoren von 2026 hätten eigentlich die traditionsreiche, aber stillgelegte Bahn von Cortina d’Ampezzo reaktivieren wollen, weil die «Pista Eugenio Monti» Reminiszenzen geweckt hätte. Im Eiskanal, benannt nach dem neunfachen Weltmeister, wurden einst vielbeachtete Dreharbeiten für den James-Bond-Film «In tödlicher Mission» durchgeführt.

Doch der Wiederaufbau der Bahn kam nicht zustande. Es liess sich keine Firma finden, die den gegen 100 Millionen Euro teuren Auftrag verantworten wollte. Die steigenden Energie- und Materialkosten hätten Bauunternehmer abgeschreckt, lautete die Begründung. Und in ihrer Verzweiflung erinnerten sich die Italiener an die Bahn in Cesana, die 2006 ein Schauplatz der Olympischen Spiele von Turin gewesen war. «Ausgerechnet Cesana», wird mancher gedacht haben, denn diese Anlage gilt als Symbol für eine toxische Symbiose.

Cesana gehört zu jenen Eiskanälen, die primär zugunsten von Winterspielen erstellt wurden, bald einmal aber keinen Zweck mehr erfüllten. Diese sogenannten «weissen Elefanten» gab es zum Beispiel auch in Nagano (Olympia-Gastgeber 1998) – oder in Sarajevo (1984). Jene Bahn fiel schliesslich dem Bosnien-Krieg zum Opfer, das Gelände dort war lange vermint. Als die Anlage zur Ruine wurde, arbeiteten sich Graffiti-Künstler an ihr ab.

Vom Krieg gezeichnet, von Graffiti-Künstlern besprayt: die Bobbahn in Sarajevo am Berg Trebevic, die einst für die Olympischen Spiele 1984 errichtet wurde.

Vom Krieg gezeichnet, von Graffiti-Künstlern besprayt: die Bobbahn in Sarajevo am Berg Trebevic, die einst für die Olympischen Spiele 1984 errichtet wurde.

Giles Clarke / Getty
In diesem Gebäude an der Bobbahn von Sarajevo waren 1984 Olympia-Fans untergebracht, im Bosnien-Krieg diente es als Artillerie-Stellung.

In diesem Gebäude an der Bobbahn von Sarajevo waren 1984 Olympia-Fans untergebracht, im Bosnien-Krieg diente es als Artillerie-Stellung.

Giles Clarke / Getty

Was die Bilanz nicht aufhübscht: Der sündhaft teure Eiskanal in Sotschi (2014) ist wegen des Ukraine-Kriegs ausser Traktanden gefallen. Auf der ebenso kostspieligen Anlage für Peking (2022) – Experten schätzten die Ausgaben auf eine halbe Milliarde Euro – wurde zwar kürzlich der Bob-Weltcup eröffnet, aber es meldeten sich so wenige Teilnehmerinnen für den Trip nach China an, dass die Frauenrennen gestrichen wurden. Whistler (2010) und Pyeongchang (2018) figurieren zurzeit nicht im Weltcup-Kalender.

Doch Thomas Schwab, Vorsitzender des Bob- und Schlittenverbands für Deutschland, relativiert auch. Er sagt: «Im Vergleich zu anderen Sportarten wie Skispringen oder Biathlon ist unsere Nachnutzung von olympischen Stätten sogar positiv, weil von unseren Anlagen noch mehr in irgendeiner Form befahren oder gebraucht werden. So auch jene von Pyeongchang, zurzeit einfach auf ein wenig tieferem Leistungsniveau.»

Das IOK darf sich kaum noch erlauben, Projekte zu unterstützen, die an ein Fass ohne Boden gemahnen

In Cesana war der Betrieb 2011 wegen mangelnder Rentabilität eingestellt worden. Doch niemand nahm den Abriss in Angriff, die Bahn rottete während Jahren vor sich hin. Als dann auch sie zur Ruine wurde, suchten sie Diebe auf, die Kupferdrähte mitlaufen liessen. Pläne, dass die Bahn einer Indoor-Skihalle weichen muss, wurden mehr als einmal verworfen. Und so kam als Pointe Cesana wieder ins Spiel, als es jüngst für die Italiener darum ging, mit eigenen olympischen Bobrennen ihren Stolz zu retten.

Um die Bahn renntauglich zu machen, müsste sie allerdings mit einem Betrag in der Grössenordnung von 35 Millionen Euro renoviert werden. Und weil es viele Fragezeichen gibt, ob sie nach 2026 jemand weiterbetreiben wird, stösst die Idee beim Internationalen Olympischen Komitee auf Skepsis. Das IOK mit seinen immer deutlicheren Bekenntnissen zu mehr Nachhaltigkeit darf sich kaum noch erlauben, Projekte zu unterstützen, die an ein Fass ohne Boden gemahnen. Klar ist einzig: Die Zeit drängt. Im nächsten Herbst müsste jene Bahn eigentlich fertig sein, auf der 2026 um Medaillen gefahren wird, denn es haben in der Saison vor Olympischen Spielen normalerweise Testwettkämpfe stattzufinden, quasi als Hauptprobe.

Die Bobbahn in Cesana, 2006 Schauplatz der Olympischen Winterspiele von Turin.

Die Bobbahn in Cesana, 2006 Schauplatz der Olympischen Winterspiele von Turin.

Andrea Alfano / Imago
Der Wiederaufbau des Eiskanals in Cortina d’Ampezzo ist gescheitert.

Der Wiederaufbau des Eiskanals in Cortina d’Ampezzo ist gescheitert.

Pawel Kopczynski / Reuters

Für die italienischen Olympia-Organisatoren ist der Schaden so oder so angerichtet, denn nun ist unter ihnen ein Theater losgegangen. Der Co-Gastgeber Cortina d’Ampezzo und seine Region Venetien fühlen sich abgewertet, weil der Mitstreiter Mailand und die Region Lombardei verhältnismässig stärker zum Zug kommen. Und würde Cesana mit der Region Piemont einbezogen, wäre das eigene Stück am Kuchen noch kleiner.

Es gibt anderseits Italiener, die finden: «Cesana oder Cortina: Hauptsache, Italien!» Dann fliesse immerhin keine Wertschöpfung ins Ausland ab, sagen sie, und Italien brauche doch wenigstens eine einzige Bobbahn. Sie erinnern daran, dass das Land einst nicht nur in Cortina über eine berüchtigte Piste verfügte, sondern auch in Cervinia. Jene Bahn wurde irgendwann zu gefährlich, weil so starke Fliehkräfte auf die Athleten wirkten, dass ein paar von ihnen in Ohnmacht fielen.

Die Chancen stehen nicht schlecht, dass die Schweiz bereits 2026 wird olympische Schlittenrennen ausrichten können

Für den Fall, dass die Olympia-Rennen nicht in Italien stattfinden können, haben sich ausländische Bewerber in Stellung gebracht. Aber auch sie werden von Fragezeichen begleitet.

Da wäre Igls in Österreich: eine kurze und eher einfache Bahn, auf der der Start überproportional ins Gewicht fällt. Mit anderen Worten: Die Athletik dominiert über die Steuerkünste. Auch solche Bobsportler, die noch nie Schnee gesehen haben, können hier gute Figur machen, was die Attraktivität mindert.

Oder Königssee in Deutschland: die älteste Kunsteisbahn der Welt, 1968 erbaut, idyllisch gelegen. Doch sie wurde im Sommer 2021 von einem schweren Unwetter heimgesucht. Murgänge zerstörten und verschütteten den oberen Teil der Strecke – und führten zu Bildern des Grauens. Das Ereignis war ein harter Schlag für den Schlittensport in Bayern, gerade für Nachwuchsathleten: Wenn sie trainieren wollten, mussten sie je nachdem mit dem Bus zweieinhalb Stunden nach Igls fahren, die Heimkehr erfolgte oft erst spätabends.

Murgänge zerstörten und verschütteten den oberen Teil der Strecke am bayrischen Königssee – und führten zu Bildern des Grauens.

Murgänge zerstörten und verschütteten den oberen Teil der Strecke am bayrischen Königssee – und führten zu Bildern des Grauens.

Peter Kneffel / DPA
Die Bahnverantwortlichen am Königssee haben versprochen, in Schutzmassnahmen zu investieren und die Anlage künftig ressourcenschonender zu betreiben.

Die Bahnverantwortlichen am Königssee haben versprochen, in Schutzmassnahmen zu investieren und die Anlage künftig ressourcenschonender zu betreiben.

Getty

Die Bahn am Königssee soll nun mit Bundesgeldern für gegen 60 Millionen Euro bis im Herbst 2025 wieder hergerichtet werden, was für die nächsten Winterspiele etwas spät ist. Umweltschützer hatten gefordert, dass sie versetzt werde, am jetzigen Standort sei im Zuge des Klimawandels die Gefahr zu gross, dass sich das Schreckensszenario wiederhole. Die Bahnverantwortlichen hingegen wollen mehr oder weniger an der jetzigen Lage festhalten. Sie versprachen, in Schutzmassnahmen zu investieren und die Anlage künftig ressourcenschonender zu betreiben, es fiel der Modebegriff «CO2-neutral».

Und so stehen die Chancen gar nicht schlecht, dass die Schweiz bereits 2026 wird Schlittenrennen der Winterspiele ausrichten können. Der Olympia-Bob-Run St. Moritz-Celerina verströmt Charme und gilt als die einzige Natureisbahn der Welt, was nicht der schlechteste Trumpf ist in Zeiten von Debatten über Nachhaltigkeit.

Jedes Jahr in den Wochen vor Weihnachten wird der Eiskanal von Grund auf neu gebaut, von Handwerkern aus Südtirol, seit letztem Donnerstag sind sie wieder im Einsatz. Sie verschaufeln auch diesmal 15 000 Kubikmeter Schnee und lassen ihn durch 10 000 Kubikmeter Wasser zu Eis gefrieren. Auch für die Engadiner belaufen sich die jährlichen Betriebskosten auf gegen 3 Millionen Franken, aber sie müssen nicht wie die Verantwortlichen von Kunsteisbahnen einen 100 Millionen teuren Betonbau amortisieren.

Dennoch wurden auch zu St. Moritz Bedenken geäussert – sogar aus der Schweiz. Der SRF-Bobexperte Christian Reich zweifelte an, dass das Natureis im Laufe des Februars, wenn die Temperaturen in der Regel wieder steigen, den Belastungen des Olympia-Programms standhielte. Der Bob-Weltcup im Engadin findet immer früher in der Saison statt. Zudem zeigte sich in der Vergangenheit, dass es bei der Präparierung der Bahn nicht unkompliziert ist, sie von Bob auf Rodeln umzustellen.

Die Bahn in St. Moritz wird jedes Jahr in den Wochen vor Weihnachten von Grund auf neu gebaut.

Die Bahn in St. Moritz wird jedes Jahr in den Wochen vor Weihnachten von Grund auf neu gebaut.

Urs Flüeler / Keystone
Der Eingangsbereich des Olympia-Bob-Run St. Moritz-Celerina.

Der Eingangsbereich des Olympia-Bob-Run St. Moritz-Celerina.

Alessandro Della Bella / Keystone

Als gesichert gilt, dass der Olympia-Bob-Run für eine gewisse Unberechenbarkeit steht; je wärmer es wird, desto bessere Zeiten sind möglich. Das kann Überraschungen begünstigen – gerade, weil die St. Moritzer Bahn von den technischen Herausforderungen her ebenfalls nicht eine allzu komplizierte Aufgabe darstellt.

Gregor Stähli, einst Weltmeister im Skeleton, heute Geschäftsführer des Olympia-Bob-Run, hält die Zweifel für überzogen. Er sagt, in den letzten zehn Saisons habe es nur vier Tage im Februar gegeben, an denen die Bahn habe geschlossen werden müssen, nur zwei davon wegen der Wärme. Auch eine Kunsteisbahn bekomme Probleme, wenn im Februar zu hohe Temperaturen herrschten. Weil man mit ihrem flüssigen Ammoniak das Eis kaum so stark kühlen könne, dass eine optimale Qualität dauerhaft gewährleistet sei. Jenen, die die St. Moritzer Bahn als zu einfach taxieren, hält Stähli entgegen: «Im letzten Winter gab es 78 Stürze, etwa die Hälfte davon an den Weltmeisterschaften.»

Die Olympia-Veranstalter von Squaw Valley lösten ihr Versprechen nie ein

Die wenigsten Sorgen dürften zurzeit die Bahnbetreiber in Lillehammer plagen – und so taugen die märchenhaften Winterspiele von 1994 einmal mehr zum Musterbeispiel. Die Norweger können wegen ihres Klimas und dank einer ausgeklügelten Technologie doppelt so lange wie St. Moritz Bobteams auf ihrer Anlage begrüssen. Und ist das Eis einmal geschmolzen, bieten sie in ihrer Betonrinne Taxibob-Plauschfahrten auf Rollen an. Maya Pedersen, Schweizer Skeleton-Olympiasiegerin von 2006 in Cesana, heute nah an der Bahn von Lillehammer wohnhaft, berichtet: «Bei uns herrscht immer Betrieb.»

Aber Lillehammer wird aufgrund der Distanz zu Italien das Problem der Winterspiele 2026 nicht lösen. Den Athleten bleibt nur übrig, zu hoffen, dass es nicht herauskommt wie 1960 in Squaw Valley, Kalifornien: Jene Olympia-Veranstalter lösten ihr Versprechen vom Bau einer Bobbahn nie ein, weshalb keine Medaillen vergeben wurden, es war von «Skandal» und «Respektlosigkeit» die Rede. Die NZZ schrieb damals: Der olympische Geist sei wieder einmal «in die Ferien geschickt» worden.

Im sogenannten Horse Shoe, der Schlüsselstelle der Bobbahn in St. Moritz/Celerina, sind die Zuschauer nah am Geschehen.

Im sogenannten Horse Shoe, der Schlüsselstelle der Bobbahn in St. Moritz/Celerina, sind die Zuschauer nah am Geschehen.

Urs Flüeler / Keystone
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