Ein englisches Unternehmen belebt die traditionsreichen Sechstagerennen neu. Es ist ein schwieriger Spagat, das zeigt sich in Berlin.
Nun pfeifen sie wieder, an einem guten Abend bestimmt ein Dutzend Mal. Es ist das denkbar beste Zeichen für den Veranstalter, denn in Berlin wird beim Bahnradsport auf diese Weise Stimmung gemacht. Jeder kann einstimmen in den Sportpalast-Walzer, den Siegfried Translateur ursprünglich als «Wiener Praterleben» komponiert hat. Der seit 1923 gepflegte Brauch darf auch in diesen Tagen nicht fehlen, obwohl das Sechstagerennen längst ostwärts, ins Velodrom am Prenzlauer Berg, umgezogen ist. Dort gingen die Six Day Berlin am Dienstag um Mitternacht zu Ende.
Wie viel aber lässt sich hinüberretten in die neue Zeit, und wie viel darf man erneuern, ohne Traditionalisten abzuschrecken? Diesen Spagat versucht Valts Miltovics gerade. Der neue Managing Director des ältesten Sechstagerennens hat ein kniffliges Mandat übernommen. Er soll dafür sorgen, dass das an Historie reiche Spektakel in ein zeitgemässes Event mit gestrafftem Programm umgewandelt wird. So will es sein Arbeitgeber, die in London ansässige Madison Sports Group, die 2015 die Rechte daran erworben hat.
Zur 106. Auflage sind aus dem Berliner Sechstagerennen die Six Day Berlin geworden – eine von vier Etappen einer neuen Wettbewerbs-Serie: Der Six-Day-Series. Wie zuvor in London und Amsterdam und ab Ende Januar in Kopenhagen strampeln dabei Zweier-Teams einer Nation in diversen Kriterien um Punkte und Prämien. Die besten zwölf werden am 17. März zum Finale nach Palma de Mallorca eingeladen. Hinzu kommen Einlagen für Sprinter und Junioren, Steher-Rennen, ein exzellent besetzter Ladies Cup und was sonst so die Runde macht – bis hin zu den Jedermann-Rennen, die jeweils um Mitternacht eine junge Klientel anlocken.
Das ist ganz viel Buntes für viele Generationen, man wolle «in eine neue Ära» hineinrauschen, heisst es in einer Pressemitteilung, nachdem zuletzt so viele Sixdays zwischen Antwerpen und Köln, Dortmund und Zürich gestorben sind. Doch nach den ersten Tagen macht sich in Berlin ein gewisser Verdruss breit unter den Insidern – bei aller Inszenierung. Er gilt dem auffälligen Mangel an Überrundungen während der Jagden, die sonst für die besonderen Momente sorgen. Auch werden Wertungen für Zwischenspurts vermisst; ohne sie wirkt das Treiben im 250 m weiten Oval phasenweise zu gleichförmig, wie man Miltovics bald zuträgt.
Zum Sonntag, bei Halbzeit, präsentierte der gebürtige Lette einige Korrekturen. Seither gibt es wieder Zwischenwertungen, bei denen die Teams im Hauptrennen punkten können; das hat der Weltverband UCI kurzfristig bewilligt. Ausserdem wurde der stadtbekannte Track-DJ Tomekk etwas gebremst: Sein Musikmix, der sehr trendy begann, schliesst nun hörbar mehr Mainstream-Sounds ein. In beiden Fällen sei man wohl «ein bisschen zu weit von Tradition» weg gewesen, sagt Miltovics, er wollte schnell darauf reagieren.
Der frühere Eishockey-Amateur ist ein smarter Kommunikator, der in Berlin den Ausgleich anstrebt. Ihm gehe es darum, «den Zwischenweg» zu finden, Das sei «ein Prozess, auch für uns . . . wir müssen lernen.» Dennoch ist er von der schrittweisen Modernisierung der Bahnrad-Shows überzeugt: Vorerst sei vielleicht nicht alles perfekt, «aber wir gehen schon in die richtige Richtung».
Neugier ist allerdings reichlich vorhanden
Ein neues, zukunftsträchtiges Produkt, eine Mischung aus solidem Sport, coolem Entertainment und Nostalgie: Noch lässt sich schwer abschätzen, wie erfolgreich das werden kann. Die hohe Zeit der Sixdays schien schon vorbei zu sein, als sich Mark Darbon, der CEO der Madison Sports Group, dafür zu interessieren begann. Der ehemalige Organisationschef der Sommerspiele von London glaubt, dass in dem Format noch Leben und damit Potenzial steckt. Darum möchte er «die traditionsreiche Geschichte des Sports zelebrieren und ihn gleichzeitig weiterentwickeln», wie er immer wieder betont – selbst wenn das bisher kaum Gewinne verspricht.
Neugier ist allerdings reichlich vorhanden. Zum Auftakt Ende Oktober war der Lee-Valley-Velopark in London stets prall gefüllt. Sogar der Tour-de-France-Sieger Bradley Wiggins und der Strassenweltmeister Mark Cavendish fuhren im Hauptwettbewerb mit, sie wurden am Ende von den belgischen Spezialisten Kenny de Ketele und Moreno de Pauw düpiert. Die zweite Etappe in Amsterdam, wo es seit 1932 rund geht, zeigte ebenfalls ein positives Bild: Sie bestätigte de Ketele / de Pauw als bestes Team sowie den Deutschen Maximilian Levy als Top-Sprinter, der das Rundenrekord-Rennen mit Bahnrekord gewann.
In Berlin könnte der Trend nun bestätigt werden. 10 000 Menschen strömen laut Veranstalter zum Auftakt am Donnerstag herbei, 12 000 füllen die in die Erde eingelassene Halle am Samstag bis auf den letzten Platz. Sie sehen zu, wie sich die Niederländer Youri Havik und Wim Stroetinga als Führende in der Gesamtwertung behaupten, vor den Franzosen Kneisky/Thomas und den favorisierten Belgiern. Die Abstände bleiben allerdings gering, denn das Niveau ist hoch. Wo früher mit einer Übersetzung von 50×16 gefahren wurde, um die gut ein Dutzend Rennwochen im Winter zu überstehen, geht es jetzt, bei ausgedünnter Agenda, mit deutlich grösserer Übersetzung über die Bahn: bis zu 54×15, sonst eine Übersetzung fürs Zeitfahren.
Kein Fahrer könne sich heutzutage während eines Rennens erholen, ist Marcel Kalz überzeugt. Der deutsche Mitfavorit beweist es unfreiwillig, als er nach drei Tagen wegen einer Verletzung aus einem vorigen Engagement passen muss. Alle treten eine «dicke Kette», wie es im Jargon heisst, und sind auf Zusatzpunkte und, damit verbunden, lukrative Prämien fixiert. Ohne diese lohne es sich nicht, sagt der Schweizer Claudio Imhof, «du musst schon unter den besten sieben bis acht sein, wenn du wirklich etwas mitnehmen willst». Ein guter Teil der Antrittsprämie gehe schon für Materialkosten und Betreuer drauf, sagt der 26-Jährige, in Berlin zusammen mit Tristan Marguet auf der Bahn.
«Ich habe ihnen gesagt: ‹Jungs, ihr braucht eine Bühne, ihr braucht die Leute, also müsst ihr das Rennen interessant gestalten.›»
Zweitklassige Teams hätten keine Chance mehr, sagt auch Dieter Stein als Sportlicher Leiter mit langjähriger Erfahrung. Der fünffache DDR-Meister im Bahnradsport hat die Gefahr erkannt, dass in Berlin und anderswo «nur noch im Kreis gefahren» wird – und freut sich umso mehr über die wieder eingeführten Zwischenwertungen. Seine Botschaft an die Aktiven war in den Diskussionen darum entsprechend deutlich: «Ich habe ihnen gesagt: ‹Jungs, ihr braucht eine Bühne, ihr braucht die Leute, also müsst ihr das Rennen interessant gestalten.›»
Irgendwas müsse aber richtig laufen, sagen Miltovics und sein Team, wenn sich inzwischen sogar globale Top-Brands für werbliche Auftritte an den Six Day Series interessierten. Schon jetzt fungiert ein koreanischer Autokonzern als Premium-Sponsor. Zudem liefert nicht mehr die regionale Brauerei, sondern der weltgrösste Bierkonzern das frische Helle. Ob das noch genug Berlin ist, müssen die Besucher auf den Rängen selbst entscheiden. Im Innenraum kämpfen unterdessen Wodka-Drinks und Apéritifs mit Schaum- und Weisswein um die Führungsposition. Hier gleicht das Ambiente einer Bar oder Lounge.
Zu viel Zeitgeist oder noch zu wenig? Miltovics ist sicher, dass der Stil richtig ist, um mit den Sechstagerennen von gestern nach morgen zu gelangen. Schon im Vorfeld hat er von einer «Revolution» gesprochen, die das gute alte Bahnradformat erfahre – über 140 Jahre nach den ersten, historisch belegten Renntagen im englischen Birmingham. Am Sonntag, nach dem Familientag, gibt er sich umso optimistischer. Das Wochenende habe gezeigt, «dass unser Konzept funktioniert», lässt er sich von seinem PR-Team zitieren.
Wie nachhaltig der Mini-Boom werden kann und wieweit er sich auf andere Städte übertragen lässt – das ist fürs Erste schwierig einzuschätzen. Zeit zum Verschnaufen bleibt der Six-Day-Karawane aber ohnehin nicht: Ab morgen Donnerstag rollen die Bahnradfahrer durch das Oval der Ballerup Super Arena bei Kopenhagen.
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