Zweite Schweizer Medaille in Tokio: Der Mountainbiker Mathias Flückiger wollte Gold, schätzt jetzt aber auch Silber

Der Mountainbiker Mathias Flückiger hat lange gebraucht, um sein Potenzial zu entfalten – nun gewinnt er eine Olympiamedaille.

Philipp Bärtsch, Tokio
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Der Mountainbiker Mathias Flückiger gewinnt Silber.

Der Mountainbiker Mathias Flückiger gewinnt Silber.

Christopher Jue / EPA

In Mathias Flückiger hatte sich auf dem Weg an diese Olympischen Spiele so viel Selbstvertrauen angesammelt, dass es ihm wohl bald zu den Ohren hinausgelaufen wäre. Es war erfrischend, dem 32-jährigen Oberaargauer in den letzten Monaten zuzuhören, denn so offensiv wie er äussern Schweizer Athleten ihre Ziele selten.

Je näher das grosse Rennen kam, desto bereitwilliger nahm Flückiger die Favoritenrolle an, desto deutlicher sprach er aus, worum es für ihn in Japan gehe: um Gold, um den Olympiasieg. «Ich will mein Potenzial ausschöpfen, ich will gewinnen», sagte er am Freitag.

Nicht stänkern jetzt!

Es ist Silber geworden. «Vielleicht hat es von aussen gewirkt, als nähme ich das Maul ein bisschen zu voll», sagte Flückiger nach der Siegerehrung. Wehe den Stänkerern und Nörglerinnen, die ihm das nun zum Vorwurf machen! Sie sollen bestraft werden mit tausendundeiner Plattitüde von dieser Sorte: «Ich gebe mein Bestes und hoffe, dass etwas möglichst Gutes dabei herauskommt.»

Vor der Siegerehrung hatte sich Flückiger noch nicht richtig freuen können, er haderte mit zwei Fehlern, die Thomas Pidcock genutzt hatte, um ihn entscheidend zu distanzieren. Erst auf dem Podest wurde Flückiger bewusst, wie wertvoll auch die Silbermedaille ist.

Flückiger hatte früh geglänzt, er war Welt- und Europameister in der U-23-Kategorie. Doch als der gelernte Baumaschinenmechaniker den Sport zum Beruf machte, entwickelte er sich nicht wie erhofft. Er trainierte zu viel, tüftelte zu viel am Material herum, dachte zu viel nach, ging in den Rennen zu viel Risiko ein. Der zwei Jahre ältere Nino Schurter fuhr derweil von Sieg zu Sieg. An ihm, dem erfolgreichsten Mountainbiker der Geschichte, orientierte sich Flückiger. Er stand nicht gerne im langen Schatten, aber wichtiger war, dass ihn der direkte Vergleich antrieb.

Schurter verbringt seine ganze Karriere in derselben Equipe, seine wichtigsten Bezugspersonen sind stets dieselben geblieben. Im Magazin «N° 1» bezifferte er sein höchstes Jahreseinkommen auf knapp zwei Millionen Franken. Mathias Flückiger hingegen fuhr die Saison 2018 ohne Fixlohn. Sein Team steckte in Turbulenzen, es hatte gerade keinen Grosssponsor.

Ausgerechnet in jenem Jahr gelang Mathias Flückiger der erste Weltcup-Sieg, mit knapp 30 Jahren.

Für Flückiger hat es sich gelohnt, im Team zu bleiben, das so knapp dran war. Es ist das Team seines ehemaligen Konkurrenten Ralph Näf, der neue Partner fand, allen voran den Schweizer Velohersteller Thömus. Die Betreuung in dieser Equipe war immer auf einem hohen Niveau, und mittlerweile ist der Betrieb auch solide finanziert.

2019 feierte Flückiger den zweiten Weltcup-Sieg. Leistungsmässig hatte er die Lücke zu Schurter praktisch geschlossen. Ein Hauptgrund: Der einstige Bergfloh hat im Vergleich zu früher rund sechs Kilogramm an Muskelmasse zulegen können – was ihm auf den modernen Strecken hilft.

Vor den Weltmeisterschaften 2019 sagte Flückiger gegenüber den Tamedia-Zeitungen zum Vergleich mit Schurter: «Lange war er innerlich unerreichbar für mich. Wenn es darauf ankam, wandte sich das Schicksal stets gegen mich. Nun ist Nino für mich schlagbar, es ist möglich.» Flückiger wurde dann WM-Zweiter – hinter Schurter.

Als die Pandemie den Rennbetrieb im vergangenen Jahr lange lahmlegte, kam Flückiger nochmals einen grossen Schritt weiter. «Ich hatte plötzlich viel Zeit, an gewissen Grundlagen zu arbeiten, physisch, aber auch mental», sagte er am Montag nach dem Rennen. «Corona gab mir die Chance, mich zu finden und besser zu werden.» Die Auseinandersetzung mit sich selber führte auch zu einer Zäsur im Privaten. Flückiger trennte sich von seiner langjährigen Freundin; mittlerweile hat er eine neue.

Mathias Flückiger nach dem Rennen.

Mathias Flückiger nach dem Rennen.

Laurent Gillieron / EPA

In der Olympiasaison ist Flückiger besser denn je. Jüngst gewann er zwei Weltcup-Rennen am Stück. An Schurter nagt derweil der Zahn der Zeit. Nach Olympiabronze 2008, Olympiasilber 2012 und Olympiagold 2016 wurde der 35-Jährige am Montag Vierter. Im Vorfeld hatte Schurter stets davon gesprochen, diese Spiele seien seine letzten. Nun schwächte er das ab, «sehr wahrscheinlich» werde er 2024 in Paris nicht mehr dabei sein, sagte er.

Biker gegen Allrounder

Schurter, Flückiger – beide gehören sie zur Garde, die sich voll und ganz der Sparte Mountainbike verschrieben hat. Thomas Pidcock, der Triumphator von Izu, ist dagegen ein Allrounder wie Mathieu van der Poel, der Mitfavorit, der schon in der ersten Runde fürchterlich stürzte und später aufgab.

Pidcock wird in einigen Tagen erst 22-jährig, er gilt als Grossbritanniens nächste grosse Radsporthoffnung. Wie van der Poel brilliert er auf der Strasse, im Radquer und auf dem Mountainbike. Seit dieser Saison fährt er für Ineos, die grösste Mannschaft des Radsports. Im Frühjahr gewann Pidcock den Pfeil von Brabant, und das Gold Race, einen Klassiker, beendete er als Zweiter.

Danach debütierte Pidcock im Mountainbike-Weltcup. Mit dieser Disziplin hatte einst alles angefangen, in dieser Disziplin war er letztes Jahr U-23-Weltmeister geworden. Schon das zweite Weltcup-Rennen gewann Pidcock. Am 31. Mai erlitt er einen Schlüsselbeinbruch, er musste operiert werden. Und jetzt ist er Olympiasieger.

Cross-Country. Männer (28,25 km): 1. Thomas Pidcock (GBR) 1:25:14. 2. Mathias Flückiger (SUI) 0:20 zurück. 3. David Valero Serrano (ESP) 0:34. 4. Nino Schurter (SUI) 0:42. 5. Victor Koretzky (FRA) 0:46. 6. Anton Cooper (NZL), gleiche Zeit. Ferner: 9. Jordan Sarrou (FRA) 1:36. 12. Filippo Colombo (SUI) 2:50. 13. Henrique Avancini (BRA) 2:55. – 38 Fahrer gestartet, 36 klassiert. Aufgegeben: Mathieu van der Poel (NED / Sturz in Runde 1, Aufgabe in Runde 5), Ondrej Cink (CZE / Defekt und Aufgabe in Runde 5 an 3. Stelle liegend).

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