Interview

Mit Stammgast Martin Suter in Zürichs legendärstem Restaurant: «Die ‹Kronenhalle› ist ein sehr bürgerliches Lokal mit einem oft sehr unbürgerlichen Publikum»

Die «Kronenhalle» feiert ihren hundertsten Geburtstag, Bestsellerautor und Schaltjahrkind Martin Suter seinen 19. An der berühmtesten Brasserie der Schweiz schätzt er fast alles. Ein Tischgespräch.

Daniel Fritzsche (Text), Karin Hofer (Bilder) 7 min
Drucken
Am sogenannten Diogenes-Tisch hatte Martin Suter einst eine schicksalshafte Begegnung. Seither kehrt er immer wieder zurück.

Am sogenannten Diogenes-Tisch hatte Martin Suter einst eine schicksalshafte Begegnung. Seither kehrt er immer wieder zurück.

Martin Suter sitzt da, als gehöre er zum Inventar. Fein krawattiert, im dunklen Dreiteiler, wartet er an seinem liebsten Tisch, weiss gedeckt und sanft illuminiert von der goldenen Tischlampe. Die Serviceangestellte in der schwarzen Bluse hat ihm soeben Wasser mit einem kräftigen Schuss Zitrone nachgeschenkt. Es ist Nachmittag, die Brasserie angenehm leer.

Martin Suter, was bedeutet Ihnen die «Kronenhalle»?

Es ist nicht irgendein Restaurant, es ist etwas ganz Besonderes – ein Lokal mit Geschichte. Schon mein Grossvater war hier Gast. Kürzlich habe ich seine Tagebücher gelesen, die «Kronenhalle» wird darin mehrfach erwähnt. Die Atmosphäre ist einmalig, sie begleitet mich beim täglichen Schreiben: Über meinem Arbeitstisch hängt die legendäre Fotografie von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt aus den sechziger Jahren. Sie sitzen am Tisch hier vorne, rauchen und unterhalten sich intensiv. Dieser Geist umweht das Lokal bis heute.

Kann man Sie als Stammgast bezeichnen?

Ich denke schon. Wenn ich in Zürich bin, bin ich sicher einmal in der Woche hier, gerne auch häufiger. Seit ich Witwer und alleinerziehender Vater bin, führe ich gelegentlich meine Tochter zum Abendessen aus. Ich habe meinen fixen Tisch in der Brasserie, das hat sich so eingebürgert, im ersten Stock und in der Gaststube nebenan bin ich weniger gerne. So hat jeder seine Vorlieben.

Hulda Zumsteg gilt als Mutter der «Kronenhalle». 1924 – vor hundert Jahren – übernahm sie zusammen mit ihrem Mann Gottlieb das heruntergewirtschaftete ehemalige Hôtel de la Couronne am Bellevue und machte es zur ersten Adresse der Stadt. Sie starb 1985. Welche Erinnerungen haben Sie an sie?

Hulda Zumsteg war eine legendäre Gastgeberin. Sie wacht heute noch über die Brasserie. Hier hinten an der Wand ist sie auf dem eindrücklichen Gemälde von Varlin verewigt. Noch als alte Frau machte sie die Honneurs, begrüsste die Gäste mit einem Glas Champagner in der Hand – aus dem sie allerdings nicht trank, es war mehr ein Accessoire. Bis kurz vor ihren Tod drehte sie rituell ihre Runden, am Ende gestützt durch Servicepersonal. Jemand zur Linken, jemand zur Rechten. So habe ich es in Erinnerung. Und auch ihr Sohn Gustav war wichtig. Er sorgte dafür, dass heute all die berühmten Kunstwerke an den Wänden hängen.

Was macht die Atmosphäre für Sie einzigartig?

Die «Kronenhalle» ist ein sehr bürgerliches Lokal mit einem oft sehr unbürgerlichen Publikum. Man hat das Gefühl, dass man hier drin alles Politische und Ideologische abstreifen muss. Wer sich die Preise leisten kann, den erwartet ein aussergewöhnliches Erlebnis.

Ist es das, was Künstler, Schriftsteller und Musiker bis heute anzieht?

Wahrscheinlich. Und die Gastfreundschaft. Meine Frau und ich haben das immer sehr geschätzt. Wir waren mehrere Jahre Auslandschweizer, lebten in Guatemala und Ibiza. Wenn wir nach vielen Monaten wieder ins Lokal zurückkamen, wurden wir empfangen, als wären wir erst gestern hier gewesen. Das gibt es nur noch in ganz wenigen Restaurants in Zürich. An anderen Orten wechselt das Personal im Wochentakt, das ist hier anders und spricht für ein gutes Arbeitsklima.

Das Gespräch wird jäh unterbrochen. Durch die Eingangstüre platzt Stephan Eicher. «Mein Schal, ich habe meinen Schal verloren!», ruft der Chansonnier, ein guter Freund Suters. Zusammen haben sie vor dem Interviewtermin über neue Songideen und sogar eine Oper gebrütet. Nach längerer Suche taucht das schwarze Stück Stoff unter der Sitzbank auf. «Ein Glück!», sagt Eicher erleichtert und umarmt Suter.

In der Brasserie treffen sich noch heute Literaten, Musiker, Künstler. Hier setzt Stephan Eicher zur Umarmung an.

In der Brasserie treffen sich noch heute Literaten, Musiker, Künstler. Hier setzt Stephan Eicher zur Umarmung an.

Wenn sich die beiden in Zürich treffen, dann eigentlich immer in der «Kronenhalle». Es sei quasi ihre Kantine, scherzen sie. «Wer geht schon nicht gerne in die «Kronenhalle»?», fragt Eicher rhetorisch, umarmt noch einmal seinen Freund und verschwindet so plötzlich, wie er gekommen ist. «Adieu!»

Herr Suter, wann ist die beste Zeit, die Kronenhalle zu besuchen?

Für mich ist es die magische Stunde am Nachmittag – nach der Hektik des Mittagessens und vor der Apérozeit. Am liebsten an einem heissen Sommertag. Dann ist es hier angenehm kühl, es hat nur wenige Besucher, und man kann etwas aus der kleinen Karte bestellen. Ich treffe mich zu dieser Zeit oft mit Leuten, um etwas in Ruhe zu besprechen. Dann muss man nicht schreien.

Können Sie sich an Ihren ersten Besuch erinnern?

Das war erst, als ich als Werber tätig war. Als Bub war ich nie hier. Ich wuchs in Oerlikon auf, die «Kronenhalle» galt damals schon als schickes, teures Lokal, eher nichts für ein Kind aus Zürich-Nord.

Als gut bezahlter Kreativdirektor haben Sie dann aber alles nachgeholt . . .

Es stimmt, in der Werbebranche konnte man damals richtig viel Geld verdienen. Wir arbeiteten aber auch den ganzen Tag bis spät am Abend. Dann versuchten wir, die Lebensqualität in teuren Restaurants wie diesem nachzutanken. Ich vermisse die Zeit nicht, heute habe ich einen ganz anderen Rhythmus und den Luxus, mir Zeit nehmen zu können.

1997 erlebten Sie einen Besuch, der sich bei Ihnen eingebrannt hat.

Der Diogenes-Verleger Daniel Keel lud meine Frau und mich zum Essen ein. Wir sassen am selben Tisch wie wir jetzt, am Diogenes-Stammtisch, unter Bildern von Dürrenmatt. Keel fragte mich, ob ich schon immer Schriftsteller werden wollte; ich hatte damals noch keinen Roman veröffentlicht. Meine Frau sprang dazwischen und meinte: «Er will kein Schriftsteller werden. Er will Bestseller-Autor werden.» Ich lief rot an, es war mir unendlich peinlich . . .

. . . aber am Ende kam es so. Hier nahm alles seinen Lauf.

Ja, es muss der Zauber dieses Tisches gewesen sein.

Hier wurden Sie zum Schriftsteller getauft. Sie sind dem Lokal treu geblieben. Andere Leute stürzen sich auf den letzten Pop-up-Schrei, die hippste Gastro-Sensation. In der Kronenhalle herrscht Beständigkeit. Was ist reizvoll daran?

Eine runde Geschichte, ein guter Roman lebt von beidem: dem Reiz des Neuen und dem Wert des Bekannten. Das Wechselspiel zwischen Überraschung und Bestätigung, das macht letztlich auch ein vergnügliches Leben aus. Wenn ich hier reserviere, weiss ich, was mich erwartet: kulinarisch wie atmosphärisch. Wiederholung gibt Halt. Abwechslung ist aber auch etwas Schönes. Es braucht wohl beides.

Weisse Tischtücher, frische Blumen – in der «Kronenhalle» zählt Eleganz noch etwas.

Weisse Tischtücher, frische Blumen – in der «Kronenhalle» zählt Eleganz noch etwas.

Apropos Kulinarik: Was sollte man in der «Kronenhalle» bestellen?

Früher gehörte es in Zürcher Kreisen zum guten Ton, über die Küche zu schnöden. «Teuer, aber wenig raffiniert», war das Urteil. Das gilt meines Erachtens nicht mehr, das Niveau hat sich merklich gesteigert. Empfehlen kann ich den Wagen über Mittag. Wenn man Glück hat, wird Bollito misto serviert. Die Speisekarte ist währschaft und fleischlastig, aber es gibt auch immer mehr Vegetarisches.

Sogar ein Planted-Zürich-Geschnetzeltes findet man mittlerweile auf der Karte . . .

Das habe ich noch nie probiert. Aber ich finde es gut, dass man auch hier ein Stück weit mit der Zeit geht.

Und zum Dessert die legendäre Mousse au Chocolat?

Die ist wunderbar, aber darf ich nicht bei jedem Besuch bestellen. Ich bevorzuge das Zitronensorbet.

Wieder ein Unterbruch. Eine Frau, die am Nebentisch sass und Suter schon eine ganze Weile aus dem Augenwinkel beobachtet hat, tritt an den Tisch heran. Sie sei ein riesiger Fan, sagt die Deutsche aufgeregt. Sie wolle nicht stören, aber sie hätte sich geärgert, wenn sie nichts gesagt hätte. Suter meint, auch ihn hätte das geärgert. Sie dürfe es gerne noch drei Mal wiederholen.

Suter, routiniert charmant, im Small-Talk-Modus. Die Lieblingsbücher der Frau sind «Die dunkle Seite des Mondes» und «Lila, Lila» – «in dieser Reihenfolge!» Suter empfiehlt ihr seinen zuletzt erschienenen Roman «Melody». Natürlich hat die Frau auch den schon gelesen, «in einem Zug». Suter freut sich still.

Herr Suter, kürzlich gab es in den Medien einen kleinen Aufreger wegen des Dresscodes, der hier verlangt wird: Veston bei Männern erwünscht, Sandalen und Jogginghosen verboten. Ist das zu streng? Sie selbst achten ja stets auf propere Kleidung.

Als Gast trägt man eine gewisse Verantwortung. Es ist ein Zeichen des Respekts vor der Institution, dass man sich entsprechend kleidet. Das Restaurant ist schön geschmückt: Weisse Tischtücher, frische Blumen, Kunst an den Wänden, elegantes Personal. Für das Auge ist es schade, wenn die Leute dann in Shorts dasitzen.

Der Gast muss sich also dem Lokal anpassen, nicht umgekehrt? Der «Kronenhalle»-Direktor sagt: «Unser Erfolg basiert auf vier Faktoren: Kunst, Küche, Service – und Gast.»

Die Gäste tragen zum einzigartigen Ambiente bei. Es hat doch auch etwas Festliches, wenn man sich für ein Essen schönmacht. Es muss ja nicht gleich der Smoking sein wie im adeligen England. Auch in der Schweiz hatte man sich in früheren Zeiten «gesunntigt». Als Bub habe ich es genossen, mich für die Sonntagsschule chic zu machen, mit weissem Hemd und Krawatte. Das macht Erlebnisse besonders, sonst ist doch alles eintönig und fad. Auch zum Schreiben ziehe ich mich immer ordentlich an. Ich will einen Unterschied machen von Bett zu Tisch.

Hulda Zumsteg, die Mutter der «Kronenhalle», wacht noch heute über ihr Lokal. Maler Varlin hat sie für die Ewigkeit festgehalten.

Hulda Zumsteg, die Mutter der «Kronenhalle», wacht noch heute über ihr Lokal. Maler Varlin hat sie für die Ewigkeit festgehalten.

In Ihren «Allmen»-Krimis kann man die «Kronenhalle» als wiederkehrenden Schauplatz, leicht verfremdet, erkennen. Wieso haben Sie sich dafür entschieden?

Meine Bücher spielen an fiktiven Orten, und dennoch entdecken die Leser darin immer wieder Bekanntes. Auch den Varlin mit Hulda Zumsteg habe ich schon abgewandelt in einem meiner Romane, «Der letzte Weynfeldt», auftauchen lassen. Im neuen «Allmen», der Ende März erscheint, trifft der Protagonist übrigens auf Weynfeldt, ein Crossover sozusagen. Das ist eine Premiere. Auch die «Kronenhalle» hat im neuen Buch wieder einen Auftritt.

In der «Kronenhalle»-Bar nebenan wird mittlerweile ja sogar ein Allmen-Cocktail kredenzt.

Den haben wir zusammen mit dem Barchef kreiert, er fährt ziemlich ein. An meinem letzten richtigen Geburtstag haben wir ihn aus der Taufe gehoben und ein schönes Fest gefeiert.

Das war 2020. Sie sind ein Schaltjahrkind, geboren am 29. Februar. Heuer feiern Sie Ihren 19. Geburtstag – wieder in der «Kronenhalle»?

Nein, diesmal nicht. Ich plane etwas ganz anderes, ein Fest in einem Lokal an der Langstrasse. So ziemlich das Gegenteil zur «Kronenhalle». Wiederholung und Abwechslung. Das macht auch das Feiern des Geburtstags interessanter.

Andere Autoren