In der Achterbahn ohne Sicherheitsgurt
Österreich gilt in der Szene als Nur Speed, Spektakel und Medaillen allein sichern laut Schlittenikone Markus Prock weder Gunst, Geld, Talente noch Zukunft.
Die Antwort von Markus Prock kam wie aus der Pistole geschossen. „144 km/h sind mein persönlicher Rekord, aufgestellt in der Bahn von St. Moritz.“Im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“waren die Erinnerungen des inzwischen 59-jährigen Ex-Rennrodlers an dieses Highlight seiner Karriere noch ganz frisch. Kaum verwunderlich, gibt der Tiroler doch die Geschwindigkeit als zentralen Punkt an, warum der Rodelsport ihn einst begeistert und in seinen Bann gezogen hat. „Wenn du durch den Eiskanal schießt und diese gewaltigen G-Kräfte auf dich einwirken, ist das einfach eine Adrenalingeschichte.“
Tatsächlich mutet es wie eine Achterbahnfahrt ohne Sicherheitsgurt an, wenn sich die Athleten nur wenige Zentimeter über dem Eis in Richtung Ziel stürzen. Dem Rhythmus der Kurven und Kreisel folgend, von dem bis zu Sechsfachen des eigenen Körpergewichts in den Schlitten gepresst. Wobei sie – auf der ständigen Suche nach der perfekten Linie und der Jagd nach Tausendstelsekunden – natürlich lenkende Piloten und nicht bloß Passagiere sind.
Klappernde Visiere. Prock hat seine aktive Karriere, in der er drei Olympiamedaillen, zehn Gesamtweltcupsiege sowie zweimal WM-Gold gewann, 2002 beendet. Sein persönlicher Bestwert in Sachen Tempo wurde seither deutlich übertroffen, den aktuellen Rekord stellte Manuel Pfister 2010 in Whistler auf. Im Rahmen der Olympischen Spiele in Vancouver erreichte der Tiroler 154 km/h. „Der Druck auf den Kopf ist gewaltig, es nimmt einem die Luft, das Visier beginnt zu klappern“, hatte er damals seine Eindrücke von dieser neuen
Dimension im Eiskanal geschildert. Zum Vergleich: Österreichs schnellste Achterbahn, der „Boomerang“im Wiener Prater, ist mit 75 km/h nicht einmal halb so schnell.
In Whistler waren vor 14 Jahren neben all dem Spektakel jedoch vor allem die Gefahren dieses Sports mit aller Härte in den Fokus gerückt: Der Georgier Nodar Kumaritaschwili wurde aufgrund der extremen Geschwindigkeit aus der Bahn geschleudert und verstarb wenig später.
Nicht zuletzt deshalb tritt der Internationale Rodelverband (FIL) seither auf die Bremse. Für Prock ist ohnehin klar, dass es auch anderweitige Anreize gibt. „Am Material arbeiten, daran herumtüfteln, das macht die Faszination Rodeln genauso aus“, ist er überzeugt. Da passt es gut, dass der Österreichische Rodelverband (ÖRV), seit 2018 unter seiner Führung, mit Georg „Schorsch“Hackl einen Tüftler par excellence an Bord geholt hat. Als Technikguru der deutschen Mannschaft führte der Bayer diese zu zahlreichen Erfolgen, seit fast zwei Jahren ist Procks einstiger und härtester Konkurrent nun eine der Schlüsselfiguren für Rot-WeißRot. „Der Input von außen hat uns gut getan, Schorsch verfügt auch über viel Wissen aus deutschen Unis“, schildert der ÖRV-Präsident.
Immerhin würde man in Deutschland auf dem Materialsektor ein anderes System fahren, die Rennschlitten dort über andere Winkel verfügen. Und was schaffen Hackl und Österreich? Prock lacht. Wieder ein Vergleich: „Das ist, als würden Red Bull und Ferrari in der Formel 1 fusionieren.“
Weltklasse-Expertisen. Hackl ist neben Peter Penz (er feierte einst im Doppelsitzer mit Georg Fischler Weltcupsiege) nicht nur für schnelle Schlitten hauptverantwortlich. „Er ist auch Trainer an der Bahn – und unsere Athleten haben Respekt vor ihm.“Drei Olympiasiege, drei WM-Siege sowie die unumstrittene Expertise der deutschen Rodelikone machen Eindruck. Wobei unter anderem mit Andreas Linger, Robert Manzenreiter, Veronika Halder, René Friedl oder Markus Kleinheinz weitere ehemalige Weltklasseathleten im Trainerund Betreuerteam des ÖRV aktiv sind.
„Die, die bei uns arbeiten, haben früher eigentlich alle etwas gewonnen“, sagt Prock – und erzählt voll Stolz, dass in den vergangenen Jahren „viel gemeinsam aufgebaut“und ein Budget aufgestellt wurde, um Athleten nach deren Karriereende im Verband zu halten bzw. den Zukauf von Know-how – wie etwa in Person von Hackl – leistbar zu machen. 19 Mitarbeiter sind derzeit hauptberuflich angestellt, viel Geld fließt ins Technologiezentrum und in die Nachwuchsarbeit.
»Wenn diese gewaltigen G-Kräfte auf dich einwirken, dann ist das eine Adrenalingeschichte.« MARKUS PROCK ÖRV-Präsident
Das Herzstück der österreichischen Rodelidentität ist weiterhin die Bahn in Innsbruck-Igls.
Dass Forschung und Nachwuchsarbeit zur Basis für die Verbandszukunft auserkoren wurden und dafür Ressourcen aufgewendet werden, zeugt von Weitsicht. So sucht etwa ein ScoutingTeam in Schulen nach den Siegern von morgen. Den Kindern werde von Anfang an ein professionelles Umfeld geboten. „Wichtig ist uns, dass wir schon auf dieser Ebene genug investieren. Das ist besser, als noch zig Trainer für die Weltcupmannschaft zu holen, das ist ein guter Weg“, befindet Prock. Nicht zuletzt fünf Medaillen bei den Olympischen Jugendspielen in Gangwon dieser Tage bestätigen das, ebenso die Medaillenflut bei der WM in Altenberg (u. a. Sprint-Gold für David Gleirscher).
ÖSV als Partner. In Innsbruck steht ein Technologiezentrum, in dem der ÖRV gemeinsam mit dem Österreichischen Skiverband (ÖSV) forscht, in Bludenz wird seit 2021 im neuen Eiskanal trainiert. Nun steht eine künstlich vereiste, mit diversen Messtechniken ausgestattete Startanlage ganz oben auf Procks Wunschliste. Das wahre Herzstück der Rodelidentität bleibt die Bahn in Innsbruck-Igls – und diese soll in den kommenden Jahren weitere Impulse liefern, um Sparte und Stars des Eiskanals vor den Vorhang zu holen. Immer noch fristen Nico und David Gleirscher, Jonas Müller, Madeleine Egle und Co. trotz aller Medaillen ein Schattendasein neben Skifahrern und Skispringern. Events wie die Heim-WM 2027 oder eventuell Olympia 2026 (Cortina d’Ampezzo will zeitnah bekannt geben, welche Wettkampfstätten genutzt werden) sieht Prock als Riesenchance. „Dann sind wir medial im Fokus. Das gilt es zu nützen.“
Erneut spricht er die Bedeutung für den Nachwuchs an. Immerhin weiß der ÖRV-Coach aus eigener Erfahrung: „Wenn du dich einmal ins Rodeln verliebt hast, dann bist du gefangen.“