Kraftort: In dieser Grotte fand die Heilerin Emma Kunz mit ihrem Pendel das Steinpulver, das den gelähmten Buben gesund machte.

Der Bastard

Ein Vater von drei Kindern stirbt und hinterlässt ein ausser­gewöhnliches Erbe: das Vermächtnis der weltweit gefeierten Aargauer Künstlerin und Heilerin Emma Kunz. Doch ausgerechnet der Erstgeborene soll leer ausgehen – weil er ein uneheliches Kind ist.

Von Brigitte Hürlimann (Text) und Helmut Wachter (Bilder), 01.07.2021

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Es begann mit einem Wunder.

1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, wird im aargauischen Würenlos ein fünfjähriger Bub von der Kinder­lähmung geheilt. Mit einem Steinpulver, das mit Wasser angerührt und dem Kind in Wickeln aufgelegt wird.

«Nach einigen Wochen schon trat das ‹Wunder› ein: Ich spürte wieder Kraft in meinen Beinen, verlangte nach Krücken, und es gelang mir tatsächlich, ein paar Schritte zu tun. Was für ein wunderbares, unvergessliches Erlebnis», schreibt der Bub Jahrzehnte später in einer Hommage an seine Heilerin Emma Kunz. «Ich übte täglich, bis ich nach wenigen Monaten ohne Hilfsmittel wieder mit den anderen Kindern laufen und springen konnte. Obwohl ich noch oft hinfiel, war ich das glücklichste Kind auf der Welt.»

Als junger, lebenslustiger Mann, Sohn eines vermögenden Steinbruch­besitzers, verliebt sich der Genesene 1954 Hals über Kopf in eine dunkelhaarige, temperament­volle Schönheit. Sie ist die Tochter einer Schweizerin und eines italienischen Gastarbeiters, die Familie lebt in bescheidenen Verhältnissen.

Die junge Frau folgt ihrem Geliebten in die Westschweiz, 1958 kommt ein Sohn auf die Welt. Die Mutter ist nach damaligem Recht noch minderjährig, der knapp volljährige Vater überglücklich über die Geburt seines Buben – was er in überschwänglichen Liebes­briefen festhält.

Das klingt dann etwa so:

Mauvoisin, 31. März 1958: «Empfang unendlich viele Grüsse von Deinem, nur Deinem Dich innigst liebenden Toni. Grüss mir unseren lieben Michael.»

Doch das Paar darf nicht heiraten. Zu gross ist der Standes­unterschied, zu dominant und unnachgiebig der Steinbruch­besitzer, der sich für seinen ältesten Sohn eine andere Partie vorgestellt hat.

Eine standes­gemässe Ehe und ein radikaler Bruch

Anton Meier gibt dem Druck des Patriarchen nach, trennt sich von seiner Jugendliebe Annita Gandola und lässt sich 1964 auf eine standesgemässe Ehe ein. Das Paar hat zwei gemeinsame Kinder, einen Buben und ein Mädchen, nach zehn Jahren wird die Ehe geschieden.

Anfang der 1980er-Jahre entscheidet sich Meier für einen radikalen Bruch. Er gibt seine lukrativen Managerjobs auf, zieht nach Würenlos ins Steinbruch­areal und widmet sich fortan dem Vermächtnis jener Frau, die ihn in Kindstagen auf so wundersame Weise aus dem Rollstuhl befreit hat. Meier erwirbt gut vierhundert Zeichnungen von Emma Kunz. Es ist ein Werk, das damals kaum jemanden interessiert – und das heute rund um den Globus in den bekanntesten Museen und Galerien ausgestellt wird.

«Mein Bildwerk ist für das 21. Jahrhundert bestimmt»: Emma Kunz über ihre Zeichnungen.

Emma Kunz, die mysteriöse Heilerin, Forscherin und Künstlerin, sollte ihren Triumphzug durch die Kunstwelt nicht mehr erleben. Sie starb 1963 im Alter von 70 Jahren an ihrem Alters­wohnsitz in Appenzell Ausserrhoden und wird an ihrem Geburtsort, im aargauischen Brittnau, begraben. Dort, gut 50 Kilometer von Würenlos entfernt, war sie 1942 von Anton Meiers Vater aufgesucht worden, da er sich Hilfe für seinen gelähmten Sohn versprach.

Die Heilerin soll dem Vater gesagt haben: «Herr Meier, ich kann Ihren Buben heilen. Dazu brauche ich ein spezielles Pulver, das ich im unmittelbaren Lebens­bereich Ihres Sohnes finden werde. Ich muss Sie an Ihrem Wohnort aufsuchen.»

Wiedervereint mit seiner Jugendliebe

Emma Kunz fuhr mit Vater und Sohn nach Würenlos und fand mit ihrem Pendel in einer Grotte der historischen Römer­steinbrüche, was sie suchte. Die Fundstätte wird heute als Kraftort bezeichnet und, wenn nicht grad Pandemie herrscht, jährlich von Zehn­tausenden Besuchern aus dem In- und Ausland aufgesucht.

Auf diesem idyllisch gelegenen Grundstück am Waldrand oben verbrachte Anton Meier den Rest seines Lebens. Er wohnte im gelben Herrenhaus – wiedervereint mit seiner Jugend­liebe Annita Gandola. Die Begegnung mit der Mutter seines ältesten Sohns nach Jahrzehnten der Trennung geschah auf wundersame Weise: Meier hatte das Bild seiner früheren Freundin in der Lokal­presse entdeckt.

In diesem Herrenhaus lebte Anton Meier in seinem letzten Lebensabschnitt.
Das Bild der Künstlerin am Emma-Kunz-Zentrum in den Römersteinbrüchen in Würenlos.

Das war 1986, als Annita Gandola mit Champagner und viel Brimborium als langjährige Sekretärin in der Badener Stadtkanzlei verabschiedet wurde. «Miss Cordula» nannte man sie im Städtchen, eine Auszeichnung der Spanischbrödli-Zunft. Das Ereignis war den Journalistinnen eine Bericht­erstattung mit Foto wert. Fortan arbeitete Annita Gandola in der Gemeinde­verwaltung von Küsnacht – und pendelte zwischen der Zürcher Goldküste und den Römerstein­brüchen von Würenlos hin und her.

Annita Gandola und Anton Meier waren wieder ein Paar, und der erstgeborene Sohn lernte endlich seinen Vater kennen; die erste Begegnung habe im Zürcher Kunsthaus stattgefunden, erinnert sich Michael Gandola: «Sie kamen die Treppe herunter zu mir und meiner Frau. Sie fielen auf. Es war ein Glamour-Paar.» Das Glück der Wiedervereinten dauerte gut dreissig Jahre lang – bis Annita Gandola derart schwer an Demenz erkrankte, dass sie in ein Heim gebracht werden musste, wo sie heute noch lebt.

Anton Meier besuchte seine Partnerin regelmässig, bis er selber schwer krank wurde. 2017 starb er an Krebs. Er hinterlässt ein Testament, das er im Spital­bett, nur wenige Tage vor seinem Tod, ein letztes Mal ändern liess.

Neu verlangt er die Gründung einer Stiftung, in die das künstlerische Werk von Emma Kunz eingebracht werden soll. Das rund 130’000 Quadratmeter grosse Grundstück in Würenlos mit der Grotte, den Römer­steinbrüchen und einem Ensemble aus neun Liegenschaften von industrie­historischer Bedeutung sollen die beiden ehelichen Kinder erhalten.

Mit keinem Wort aber erwähnt der Erblasser in seinem Testament die Lebens­partnerin und den erstgeborenen Sohn.

Die neuen Herren sind nicht irgendwer

Seither kämpft Michael Gandola darum, als leiblicher Sohn und damit auch als Erbe anerkannt zu werden. Er fordert auf gerichtlichem Weg seinen Pflichtteil ein. Und durchkreuzt damit die Pläne der Emma-Kunz-Stiftung beziehungs­weise der neuen Verwalter des begehrten künstlerischen Vermächtnisses.

Die neuen Verwalter sind nicht irgendwer. Vizepräsident der Emma-Kunz-Stiftung ist der Zürcher Kunstanwalt Andreas Ritter, zu den weiteren Mitgliedern gehören der Aargauer Rechts­anwalt und Notar Markus Siegrist – sowie der Unternehmer Beat Curti. Die Stiftung beziehungsweise die Stiftungsräte haben inzwischen nicht nur das künstlerische Werk übernommen, sondern bestimmen auch über die Zukunft des Grundstücks in Würenlos sowie über die Heilprodukte AG, die diverse Steinpulver-Artikel unter dem Marken­namen «Aion A» vertreibt.

So hat Emma Kunz ihre Entdeckung genannt; das wundersame Mittel, mit dem sie 1942 das Kind im Rollstuhl heilte. Und so wird es bis heute vermarktet. Unternehmer Beat Curti und Kunstanwalt Andreas Ritter sind sowohl in der Emma-Kunz-Stiftung vertreten als auch Verwaltungsräte in beiden Aktien­gesellschaften; also in jener, die die Heilmittel vertreibt, und jener, der das weitläufige Steinbruch­areal gehört. Die beiden ehelichen Kinder des Verstorbenen hingegen sind aus beiden Verwaltungs­räten ausgeschieden. Mit der Stiftung beziehungs­weise der Kunst­sammlung ihres Vaters hatten sie nie etwas zu tun.

1973, exakt zehn Jahre nach ihrem Tod, wurden die rätselhaften Zeichnungen der Emma Kunz erstmals im Kunsthaus Aarau ausgestellt. Ihr Mentor, Anton Meier, sprach damals von einem «geradezu sensationellen Erfolg». Seither waren die geometrischen, mandalaartigen Werke unter anderem im Pariser Musée d’art moderne, im Tel Aviv Museum of Art, in der Londoner Serpentine Gallery, an der Biennale von Venedig (2013), im Zürcher Kunsthaus oder im Muzeum Susch im Unterengadin zu sehen.

Als Bub durfte Anton Meier der Künstlerin bei der Arbeit zusehen. In seinem Buch über Emma Kunz hält er fest: «Ein Bild entstand in einem Arbeits­gang, meist ohne Unter­brechung, und sie verzichtete dabei sogar auf das Essen. Voll konzentriert arbeitete sie an manchen Bildern über 24 Stunden lang, bis sie völlig erschöpft das Bild vollendet hatte.»

Meier erwähnt eine bemerkenswerte Prophezeiung der Künstlerin: «Mein Bildwerk ist für das 21. Jahrhundert bestimmt.»

Eine Künstlerin mit einer «widerständigen Aura»

Bice Curiger, eine der bekanntesten Kunst­wissenschaftlerinnen und Kuratorinnen der Schweiz, die heute als Direktorin der Fondation Vincent van Gogh in Arles tätig ist, sagt über Emma Kunz: «Ihr Schaffen und ihre Persönlichkeit sind höchst anregend. Sie wird von einer in vielerlei Hinsicht widerständigen Aura umweht. Stark ist nur schon das Bild dieser einsamen Frau in der weissen Schürze, die mit den weichen, fliessenden Farbstiften auf das präzise, rationale Millimeter­papier die von ihr als ‹Antenne› empfangenen Pendel­impulse überträgt; tastend, offen und verbunden mit den Kräften von da draussen, im kosmischen Universum.»

Und nun kommt also dieser aussereheliche Sohn daher, ein Bastard, wie man ihn in vergangenen Jahrzehnten geringschätzig genannt hätte, und sagt: Er habe Anspruch auf das Erbe seines leiblichen Vaters. Auf die Grundstücke in Würenlos und auf das Vermächtnis der Emma Kunz. Michael Gandola fordert seinen Pflichtteil ein; jenen Teil des väterlichen Nachlasses, der ihm von Gesetzes wegen zusteht. Unabhängig davon, ob er in einem Testament erwähnt wird oder nicht.

Mit seinem Begehren sticht der Erstgeborene in ein Wespennest.

Die Diskriminierung geht weiter

Der Fall des Michael Gandola macht deutlich, dass in der Schweiz die Diskriminierung unehelicher Kinder nicht vollständig ausgemerzt wurde. Leidtragend sind jene Kinder, die vor 1978 geboren wurden – was mehrere zehntausend betrifft. Im Bundesblatt zur Kindesrechts­revision werden für die Zeitspanne zwischen 1963 und 1973, also innert zehn Jahren, knapp 44’000 aussereheliche Kinder gezählt.

Sie haben das Pech, zu einem Zeitpunkt in der Schweiz auf die Welt gekommen zu sein, als ein überholter, heute kaum mehr nach­vollziehbarer Dünkel herrschte. Als man uneheliche Kinder ganz ungeniert und gesetzlich legitimiert als minderwertig behandeln durfte, sie gesellschaftlich und moralisch brandmarkte, rechtlich benachteiligte.

Er kämpft um sein Recht, ein Sohn zu sein: Michael Gandola.

Dies übrigens nicht zuletzt deshalb, um die Ehe und damit das Anständige und Legitime zu stärken. Männer, die ausser­eheliche Beziehungen führten und ausser­eheliche Kinder zeugten, sollten nicht damit rechnen müssen, dass diese «Bastarde» dereinst Ansprüche erheben würden. Geschützt wurde also in erster Linie der ehebrüchige Mann und dessen offizielle Familie – auf dem Buckel der ledigen Frau und des unehelichen Kindes.

Die Rechtsvertreter einigen sich auf eine Zahlvaterschaft

Zur Erinnerung: Michael Gandola wurde 1958 geboren, als Sohn der minderjährigen Annita Gandola und des knapp volljährigen Anton Meier, der unter der Fuchtel seines Vaters stand. Das Paar wohnte damals in der Westschweiz, und die junge Mutter rechnete fest damit, dass ihr Freund sie heiraten werde. Dazu kam es auf Druck des Steinbruch­besitzers nicht. Die Interessen des Neugeborenen und der minderjährigen, unverheirateten Annita Gandola wurden von der Vormundschafts­behörde ihrer Wohn­gemeinde Saint-Maurice geregelt, die Interessen Anton Meiers von den Anwälten seines Vaters.

Die Rechtsvertreter beider Seiten einigten sich auf eine sogenannte Zahlvaterschaft: Der Kindsvater verpflichtete sich zu Unterhalts­zahlungen an sein Kind, trat sonst aber in keinerlei rechtliche Beziehungen zu ihm. Mit anderen Worten: Dem Kind wurde nach dem damaligen Recht entsagt, gegenüber seinem biologischen Vater irgendwelche Forderungen geltend zu machen – die beiden waren kraft Zahlvaterschaft rechtlich nicht miteinander verwandt.

Diese Ungleichbehandlung von unehelichen Kindern wurde in der Schweiz 1978 aufgehoben; das Ende der Diskriminierung kam im Vergleich zu den meisten anderen europäischen Ländern erst spät. Die damalige Kindesrechts­revision hatte zum Ziel, die Rechte aller Kinder zu stärken, unabhängig davon, wie sie geboren wurden. Mit anderen Worten: Die Gesetzes­änderung sollte bewirken, dass alle Kinder gegenüber ihren biologischen Vätern die gleichen Rechte haben; egal, ob sie innerhalb oder ausserhalb einer Ehe auf die Welt kamen. Und egal, wie die Väter zu ihnen stehen: Ein Kind ist ein Kind ist ein Kind. Doch das hehre Ziel wurde verpasst. Die Revision, so gut gemeint sie auch war, hat einen Pferdefuss: Artikel 13a Schlusstitel des Zivilgesetzbuchs.

Jede Gesetzesänderung braucht Übergangs­bestimmungen, damit geregelt wird, was für jene Verhältnisse gelten soll, die zwar unter dem alten Recht geschaffen wurden – aber andauern, ins neue Rechts­regime hinein. Was also geschieht mit einem ausser­ehelichen Kind, für das 1958 eine Zahlvaterschaft eingerichtet worden ist?

Lässt sich die Norm mit dem Völker­recht vereinbaren?

Geht man vom Wortlaut der Übergangs­bestimmung aus, hatte Michael Gandola keine Chance, die Diskriminierung auf dem Rechtsweg zu beenden. Die Norm legt nämlich fest, dass ein Zahlvater-Kind nur bis zwei Jahre nach Inkrafttreten des neuen Rechts Klage erheben darf – und nur dann, wenn es 1978 noch nicht zehnjährig war. Gandola war damals zwanzig Jahre alt.

Also Ende Feuer? Nein, denn fraglich bleibt, ob sich eine solche Übergangs­bestimmung, die uneheliche Kinder in der Schweiz bis heute diskriminiert, mit dem Völker­recht vereinbaren lässt.

Der Zürcher Rechtsanwalt Philip Stolkin, der Michael Gandola in diesem Rechts­streit vertritt, ist gewillt, die Frage notfalls dem Europäischen Gerichtshof für Menschen­rechte in Strassburg zu unterbreiten. Nicht zuletzt deshalb, weil der Gerichtshof schon früher Klagen diskriminierter ausser­ehelicher Kinder zu behandeln hatte – und zu deren Gunsten entschied.

Ein Notar mit sehr vielen Hüten

Der Fall ist derzeit in verschiedenen Verfahren am Bezirks­gericht Baden hängig. Gandolas Prozess­gegner sind einerseits seine beiden Halb­geschwister, die ihr Erbe längst angetreten haben; die drei Nachkommen sind sich letztmals 2017 an der Beerdigung des Vaters begegnet, an der auch die kranke Annita Gandola teilnahm.

Andererseits richten sich die Begehren des Erstgeborenen aber auch an die Emma-Kunz-Stiftung und an jene zwei Aktien­gesellschaften, denen das Grundstück in Würenlos gehört und deren eine die Heilprodukte vertreibt. Was ins Auge springt: Sämtliche Prozess­gegner werden vom gleichen Anwalt und Notar vertreten, von Markus Siegrist. Der zudem auch noch Stiftungsrats­mitglied der beklagten Emma-Kunz-Stiftung sowie Willens­vollstrecker des verstorbenen Anton Meier ist. Der die letzten Testaments­änderungen des Sterbenden notariell beglaubigte und ihn zu Lebzeiten anwaltlich vertrat. Das sind ungewöhnlich viele Hüte auf einem einzigen Kopf.

Auf Anfrage der Republik lässt Siegrist mitteilen, er dürfe aufgrund seines Berufs­geheimnisses keinerlei Auskünfte zu den hängigen Verfahren geben.

Auch die beiden Halbgeschwister von Michael Gandola wollen sich nicht zum Erbschafts­streit äussern. Gerne hätte die Republik von ihnen erfahren, warum sie den Halbbruder und dessen Mutter in der Todes­anzeige für den gemeinsamen Vater zwar erwähnen – aber gleichzeitig billigen, dass er vom Erbe komplett ausgeschlossen werden soll.

Rechtsanwalt Stolkin will dies verhindern. Er argumentiert folgender­massen: Die biologische Vaterschaft des verstorbenen Anton Meier zu seinem Sohn Michael werde mehrfach bestätigt; durch die Briefe Meiers an seine Geliebte Annita Gandola und nicht zuletzt durch die Errichtung der Zahlvaterschaft. Falls die Abstammung dennoch bestritten werden sollte, so Stolkin, dann sei ein DNA-Test durchzuführen.

Viel mehr als ein profaner Erbschaftsstreit

Für den Menschenrechts­spezialisten steht fest, dass die Übergangs­bestimmung im Schweizer Zivil­gesetzbuch mehrfach völker­rechtliche Verpflichtungen verletzt und deshalb nicht angewendet werden darf. Stolkin erwähnt Artikel 8 der Europäischen Menschenrechts­konvention, der das Recht auf ein Familien­leben regelt. Der Gerichtshof, sagt Stolkin, gehe davon aus, dass ab der Geburt des Kindes ein Rechts­verhältnis zum Vater bestehe – und zwar mit vollen Rechten. Verletzt werde zudem das Diskriminierungs­verbot der Europäischen Menschenrechts­konvention.

Der Eingang in die mysteriöse Grotte.

«Mit der Übergangs­bestimmung wird letztlich eine aus dem Mittelalter stammende Diskriminierung, die vor allem den Adel schützen sollte, in die heutige Zeit übertragen», sagt Stolkin. «Michael Gandola ist jedoch gemäss Recht­sprechung des Gerichtshofs für Menschen­rechte kraft seiner Geburt Erbe seines Vaters geworden. Dass er nicht ins Zivilstands­register eingetragen wurde, als Folge der damaligen Zahlvaterschaft, ändert nichts daran.»

Die Gerichte werden also nicht nur über einen profanen Erbschafts­streit zu befinden haben, sondern über die Völkerrechts­konformität einer Norm im Schweizerischen Zivilgesetzbuch, die Zehntausende von Menschen betrifft.

Was sind die Pläne der neuen Eigentümer?

Anton Meier starb im Juli 2017. Im März 2019 reichte Michael Gandola seine Klage ein – nachdem Versuche einer einvernehmlichen Lösung gescheitert waren. Seither ist der Erbschafts­streit hängig. Rund um das Erbe kam es dennoch zu diversen Änderungen und Verschiebungen. Seit dem Januar 2020 bestimmen die neuen Köpfe über das Vermächtnis der Emma Kunz; unter anderem eben die genannten Herren Ritter, Curti und Siegrist. Sie haben Einsitz in den Stiftungsrat der Emma-Kunz-Stiftung genommen und verwalten die rund vierhundert Bilder der Künstlerin.

Es ist ihnen inzwischen vom Gericht super­provisorisch verboten worden, während des hängigen Rechts­streits Bilder zu verkaufen. Die beiden ehelichen Kinder des verstorbenen Anton Meier sind in der Stiftung nicht vertreten. Und entgegen dem testamentarischen Wunsch Meiers heisst die Stiftung nicht «Anton C. Meier Stiftung», sondern «Emma Kunz Stiftung».

Doch was ist die Motivation des Unternehmers, Investors und Kunst­sammlers Beat Curti, was plant er mit dem Schatz? Geht es ihm in erster Linie um die vierhundert Bilder oder aber ums Grundstück in Würenlos? Ums Gebäude­ensemble, die Römer­steinbrüche mit dem Muschel­sandstein (aus dem die Fassade der Schweizerischen Nationalbank in Zürich gebaut wurde), um die sagenumwobene Grotte – gehts ihm um den Kraftort? Um Emma Kunz? Oder ums Potenzial des Ganzen?

Beat Curti beantwortet die Fragen der Republik nicht und lässt an seiner Stelle den Zürcher Kunst­anwalt Andreas Ritter anrufen. Dieser sagt, er äussere sich nicht zum Erbschafts­streit, dafür sei Kollege Siegrist zuständig. Doch auch Siegrist sagt nichts.

Zum Werk von Emma Kunz sagt Ritter: Es handle sich bei der Künstlerin um eine eigenständige, sperrige, aber auch sehr faszinierende Persönlichkeit. Sie nehme eine Pionier­rolle ein, habe sich selber nie als Künstlerin verstanden, (sondern als Heilerin) und geahnt, dass ihr Werk für eine spätere Epoche bestimmt sein wird. Ihre Zeichnungen, so Ritter, stellten eine Schnittstelle zwischen Kunst und Spiritualität dar, was aber keinesfalls mit Esoterik gleichzusetzen sei: «Emma Kunz lässt sich in keine Kategorie einordnen.»

Von Saint-Etienne nach Kathmandu

Die Emma-Kunz-Stiftung hat das Werk der Künstlerin inzwischen digitalisieren lassen und plant weitere Ausstellungen. Geschäfts­führerin Bettina Kaufmann sagt, diesen Oktober sollen einzelne Werke im Musée d’art moderne et contemporain im französischen Saint-Etienne sowie an der Kathmandu Triennale in Nepal gezeigt werden: «Weitere Anfragen sind in Bearbeitung, jedoch noch nicht spruchreif.»

Die geometrischen, ausgependelten Zeichnungen auf dem Millimeter­papier werden also weiterhin um die Welt reisen. Und was den Kraftort in Würenlos betrifft: Das Areal wurde bereits 1993 von der Gemeinde umgezont und befindet sich seither in einer Sonderzone – mit einer deutlich vergrösserten Ausnutzbarkeit. Paragraf 18 der Würenloser Bau- und Nutzungsordnung regelt ausschliesslich das Steinbruch­areal. Als Zweck wird genannt:

  • die Erhaltung und Sanierung der schützens­werten Steinbruch­anlagen und deren Umgebung;

  • der Ausbau eines Bildungs- und Kurzentrums in Zusammenhang mit dem Wirken von Emma Kunz. Ermöglicht werden unter anderem Bauten für Kuraufenthalte oder für kulturelle Zwecke.

Wird es dereinst bei den Römer­steinbrüchen ein Kurhotel geben? Eine Klinik? Oder gar beides? Neu sind solche Ideen nicht. Schon Anton Meier hat das Potenzial des Würenloser Grund­stücks erkannt und den Tessiner Stararchitekten Mario Botta um eine Vorstudie gebeten. Diese Studie liegt seit vielen Jahren vor. Doch die Vision eines der berühmtesten Architekten der Schweiz sehen zu dürfen – das wird der Republik von der Emma-Kunz-Stiftung und vor allem vom Aargauer Notar und Rechts­anwalt Siegrist verwehrt. Mit auffallend unfreundlichen Worten. Und einmal mehr unter Berufung aufs Amtsgeheimnis.

Früher war das noch anders: Wer das Gelände zu Lebzeiten von Anton Meier besucht hat, kann sich daran erinnern, dass Bottas Projekt in der Teestube ausgestellt war.

Der Stolz der Gemeinde

Was immer mit dem Würenloser Kraftort geschehen soll, mit oder ohne Stararchitekt: Die Gemeinde wird ein strenges Auge darauf halten. Sie hatte vor rund zwanzig Jahren verhindert, dass das Grundstück unter den Hammer kommt, als Anton Meier in akuten finanziellen Nöten steckte. Würenlos kaufte Meier das Grundstück ab und verkaufte es ihm später wieder zurück, als er die monetäre Krise überwunden hatte.

«Es ist ein traumhaft schöner und dank Emma Kunz auch ein weltweit bekannter Flecken», sagt Gemeinde­ammann Anton Möckel. «Wir wollen, dass er erhalten wird, jedoch nicht als Partymeile oder als esoterisches Zentrum. Das Gebiet rund um die Römer­steinbrüche gehört zu unserer Geschichte. Wir sind stolz darauf.»

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