Erik Zabel Foto: dpa

Ex-Sprintstar Erik Zabel über die Faszination der Tour de France, die Chancen der Deutschen und Doping.

Stuttgart - Er ist der erfolgreichste Sprinter der Tour de France, und die Frankreich-Rundfahrt lässt ihn nicht los. Auch 2012 ist Erik Zabel dabei – als Berater des Katjusha-Teams. Er hofft, dass die Tour dem deutschen Radsport einen Schub verpasst: „Die Athleten müssen vorlegen, dann kommen auch die Sponsoren.“


Herr Zabel, sitzen Sie noch regelmäßig auf dem Fahrrad oder nur noch im Auto?
Ich bin schon regelmäßig mit dem Fahrrad unterwegs, aber nur noch hobbymäßig. Ich zähle keine Kilometer mehr.

Es würde also nicht mehr für eine Etappe bei der Tour de France reichen?
Zumindest würde ich sie nicht mehr gewinnen. Aber neulich bin ich an einem freien Vormittag in Berlin vier Stunden mit Jens Voigt gefahren – und ich hatte sogar genügend Luft für eine nette Plauderei.

Sie haben sicher über die Tour de France gesprochen.
Natürlich.

Jens Voigt fährt in diesem Jahr seine 15. Tour, Sie waren 14-mal am Start und sind damit Ihren Rekord los. Ist das schlimm?
Überhaupt nicht, diese Zahl ist mir egal. Und wenn einer diesen Rekord verdient hat, dann Jens Voigt. Er gehört einfach zur Tour, und ich freue mich, dass er wieder dabei ist.

Warum?
Weil er eine Kämpfernatur ist. Und ein Raubein, das sich auch von schweren Stürzen nicht unterkriegen lässt.

Ihnen bleibt ja noch der eine oder andere Rekord. Sie waren zwischen 1996 und 2001 sechsmal der schnellste Sprinter der Tour. Wo hängen denn die ganzen Grünen Trikots?
So viele sind es gar nicht, ich habe nur die Trikots behalten, die ich auf dem Podium in Paris bekommen habe. Die liegen im Schrank, luftdicht verpackt.

Sky wird hauptsächlich für Kapitän Wiggins arbeiten


In den vergangenen vier Jahren hat Mark Cavendish 20 Etappen gewonnen, Sie standen ihm beim Team HTC-Highroad als Berater zur Seite. Nun arbeiten Sie für den russischen Rennstall Katjusha – endet damit die Dominanz von Cavendish?
(lacht) Das weiß ich nicht. Allerdings könnte es diesmal ein bisschen ausgeglichener zugehen. Zwar bewegt sich Mark Cavendish in Richtung des Zenits seines Könnens, aber einiges spricht dafür, dass es trotzdem enger werden wird.

Zum Beispiel?
Cavendish fährt nun bei Sky. Das Team wird hauptsächlich für seinen Kapitän Bradley Wiggins arbeiten müssen. Ich bezweifle, dass dort bei Sprints ein ähnlicher Siegeszug aufgebaut werden wird wie bei HTC-High-road. Dazu kommt: Mark Renshaw und Matthew Goss waren damals seine wichtigsten Anfahrer. Jetzt sind sie nicht mehr in seinem Team, sondern extrem starke Gegner.

Was ist mit Andre Greipel?
Er ist weiter gereift, hat einen tollen Lauf und in dieser Saison auch Rennen gewonnen, in denen er als Kapitän seines Teams Lotto viel Verantwortung zu tragen hatte. Er ist der Hauptrivale von Cavendish. Ich denke nicht, dass Mark auch diesmal bei der Tour vier, fünf oder sechs Etappen holen wird. Unmöglich ist es aber nicht.

Und wer gewinnt die Tour?
Puh, das ist schwierig. Aus meiner Sicht macht derzeit Bradley Wiggins die beste Figur. Er hat Paris–Nizza, die Tour de Romandie und die Dauphiné gewonnen, er ist ein Top-Zeitfahrer und auch in den hohen Bergen stabil. Ja, er steht an erster Stelle.

Und wer folgt danach?
Cadel Evans, der Titelverteidiger. Auch er ist in guter Form. Frank Schleck ist ein exzellenter Bergfahrer, aber er muss angesichts der 108 Zeitfahr-Kilometer, die auf dem Programm stehen und auf denen er vier Minuten verlieren wird, in den Alpen und Pyrenäen eine aggressivere Taktik wählen. Dazu kommen die Spanier Valverde und Sanchez. Es kann ein sehr interessantes Rennen werden.

Die Tour ist ein Monument des Radsports. Was macht die Faszination dieses Rennens aus?
Die Tour ist der unumstrittene Höhepunkt der Saison, und sie wird von Jahr zu Jahr noch größer. Sie ist so viel größer als alle anderen Rennen. Aber . . .

Nirgendwo wird so viel verlangt wie bei der Tour de France


. . . es gibt ein Aber?
Ja. Ich war jetzt als Fahrer, Betreuer und Besucher schon 20-mal bei der Tour, und ich muss sagen: Sie ist nicht nur faszinierend.

Sondern?
Sie ist auch Anstrengung auf allerhöchstem Niveau. Für Fahrer, Mitarbeiter der Rennställe, Organisatoren und Journalisten sind es die längsten Arbeitstage des Jahres. Nirgendwo wird so viel verlangt, nirgendwo ist der Druck größer, nirgendwo haben die Fahrer so wenig Zeit für sich, nirgendwo dauern die Transfers länger.

Und trotzdem will jeder hin.
Klar, weil die Tour etwas ganz Besonderes ist. Aber glauben Sie mir: So groß die Vorfreude ist, nach drei Wochen freut sich in Paris jeder, dass es wieder nach Hause geht.

Ihr Chef bei Katjusha ist Hans Holczer. Bisher waren Sie bei der Tour immer Konkurrenten. Wie klappt die Zusammenarbeit?
Gut.

Sie galten bisher nicht gerade als die besten Freunde.
Das müssen wir doch auch nicht sein. Wir waren in der Vergangenheit als Fahrer und Sportlicher Leiter in konkurrierenden Teams, da war es schwierig, eine Freundschaft zu entwickeln. Jetzt haben wir in einigen Punkten dieselben Vorstellungen, und wir haben ein gemeinsames Ziel.

Das wie lautet?
Wir wollen den russischen Radsport entwickeln, und wir wollen Erfolg haben. Sportlich läuft es ja viel besser als erwartet. Joaquin Rodriguez führt die Weltrangliste an, das Team liegt auf Rang zwei. Ich denke, Hans Holczer kann mit unserer Arbeit ganz zufrieden sein.

Marcel Kittel als Nachwuchshoffnung


Was ist Ihre Aufgabe bei Katjusha?
Ich bin Berater für die jungen russischen Fahrer bei uns im Team, insbesondere für die Sprinter – ich gebe meine Erfahrung aus 16 Jahren Profiradsport weiter. Ich unterstütze unseren Top-Sprinter Oscar Freire. Und ich bin für das Scouting zuständig.

Früher waren Sie bei den Teams Telekom und T-Mobile sowie Milram, Hans Holczer bei Gerolsteiner. Heute gibt es keinen großen deutschen Rennstall mehr. Wo steht der deutsche Radsport?
Aktuell auf Rang 19 der Nationenwertung. Aber das spiegelt nicht die wahre Leistungsstärke wider.

Sind die Deutschen in Wirklichkeit besser oder schlechter?
Ich bitte Sie! Niemand muss Angst haben, dass deutsche Fahrer in Zukunft im Radsport keine Rolle mehr spielen.

Woher kommt dieser Optimismus?
Es gibt Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin, der auch Olympiasieger werden kann. Es gibt Andreas Klöden, der lediglich ein etwas schwächeres Frühjahr hatte. Es gibt Andre Greipel, den zweitbesten Sprinter der Welt. Und es gibt viele junge Talente.

Zum Beispiel?
Marcel Kittel, der 2011 in seiner ersten Saison als Profi so viele Siege eingefahren hat, wie es seit Eddy Merckx kein Neuling mehr geschafft hat.

Es ist also gar nicht schlimm, dass es keinen erstklassigen deutschen Rennstall gibt?
Doch, denn das Ansehen des deutschen Radsports steht und fällt mit einem Pro-Tour-Team. Und eine solche Mannschaft hätte auch einen Sogeffekt auf deutsche Rennen, von denen es viel zu wenige gibt. Die Tour ist eine sehr große Chance, etwas in dieser Richtung zu bewegen.

Der Anti-Doping-Kampf wird ernsthaft geführt


Das müssen Sie uns erklären.
Nehmen wir mal an, es läuft ganz optimal. Dann gewinnt Tony Martin am Samstag den Prolog in Lüttich und fährt danach vier, fünf Tage oder vielleicht sogar eine Woche im Gelben Trikot. Die öffentliche Wahrnehmung wäre enorm. Für Tony Martin, aber auch für den deutschen Radsport.

Und das würde helfen?
Nichts anderes hilft. Die Athleten müssen vorlegen, dann kommen auch die Sponsoren. Der Sport in Deutschland funktioniert nur über Stars. Das haben die Beispiele Graf, Becker und Stich im Tennis oder Ullrich und Zabel im Radsport gezeigt. Das bedeutet aber auch, dass jede Sportart dieselben Chancen hat.

Ist das wirklich so? Das Dopingproblem im Radsport schreckte in der Vergangenheit mögliche Geldgeber immer wieder ab.
Grundsätzlich gilt für mich beim Thema Doping: Keine Generation ist besser oder schlechter als andere Generationen. Und trotzdem gibt es spürbare Veränderungen.

Welche?
Die Radprofis heute haben durch die sportwissenschaftlich fundierte Trainingsmethodik und die technischen Entwicklungen der Ausrüster ganz andere Rahmenbedingungen. Der Anti-Doping-Kampf wird ernsthaft geführt, und es gibt im Radsport – zum Beispiel mit dem Blutpass – auch noch ganz besondere Maßnahmen. Zudem haben die Fahrer Doping gegenüber eine ganz andere Sensibilität entwickelt.

Glauben Sie tatsächlich, dass heute im Radsport weniger gedopt wird als früher?
Erstens finde ich, dass man dieses Thema versachlichen sollte. Und zweitens: Ja, nach meiner Wahrnehmung wird das Problem Doping kleiner.