Zum Inhalt springen
Fotostrecke

Mont Ventoux: Der einsame Berg

Foto: BAS CZERWINSKI/ AP

Tour-Mythos Mont Ventoux Kampf dem Riesen

Darauf haben sie alle gewartet, Fahrer wie Zuschauer: An diesem Sonntag geht es bei der 100. Tour de France auf den legendären Mont Ventoux. Wohl jeder Fahrer hat seine eigene Beziehung zum Berg der Berge, einer ließ dort sogar sein Leben.

Ah, mon dieu, wenigstens am Sonntag muss es doch einmal klappen mit einem französischen Sieg, wenigstens am 'Quatorze Juillet', dem Nationalfeiertag, sagt Pascal Luthringer, und leise schiebt er hinterher: "Wenigstens am Mont Ventoux."

Mit seiner Frau Anne führt Luthringer eine kleine Pension in Lapalisse, direkt an der Strecke der Tour. Darauf ist er stolz, wie all die Franzosen stolz sind, die irgendwo auf den knapp 3500 Kilometern durch Frankreich ihren Campingstuhl aufgestellt haben, und warten, dass die Fahrer an ihnen vorbeirauschen. Zwei Minuten dauert das Spektakel vielleicht, zu schnell ist es vorbei, doch es ist so wichtig für die französische Seele wie ein guter Rotwein.

Ein sehnlicher Wunsch der Grande Nation ist es deshalb, dass wieder einmal ein Franzose auf dem Treppchen steht, ein Traum wäre es, dürfte er oben auf dem Mont Ventoux jubeln, auf diesem Berg der Berge. Die Chancen sind, das muss auch Pascal Luthringer zugeben, eher gering, "vielleicht der Pierre Rolland", sagt er. Der 26-Jährige trägt dieser Tage immerhin das gepunktete Trikot des besten Bergfahrers.

Landschaft wie auf dem Mond

Dabei ist es eigentlich gar nicht so wichtig, wer tatsächlich der Schnellste auf dem Mont Ventoux ist. Wichtig ist, dass dieser einschüchternde Klotz - beinahe 2000 Meter ragt er aus der Ebene der Vaucluse in den Himmel - überhaupt Schauplatz der 100. Tour-Ausgabe ist. Man hätte es auch gar nicht anders denken können. Zu viel Tour de France steckt in diesem einen Berg.

Zum ersten Mal quälten sich die Fahrer im Jahr 1951 die schmale Straße zum Gipfel hoch, erst durch Grün, dann durch diese Geröllwüste, von der manch einer sagt, sie sehe aus wie die Landschaft auf dem Mond. 13 weitere Male galt es den Mont Ventoux seitdem zu überwinden, an diesem Sonntag ist er das Ziel der 15. Tour-Etappe.

Die Strecke führt die Fahrer über 21 Kilometer von Bédoin im Südwesten aus mehr als 1600 Meter in die Höhe, die durchschnittliche Steigung beträgt auf dieser Route etwa 7,6 Prozent, kurz vor dem Gipfel sind es gar zehn Prozent. Schatten gibt es dann schon lange nicht mehr, der gefürchtete Mistral kann ungehindert über den Kegel fegen.

Der Mont Ventoux ist eine Bastion, die einzunehmen für jeden Radsportler eine der größten Herausforderungen ist. 1967 scheiterte der Engländer Tom Simpson an dem Versuch, er hatte sich mit Alkohol und Amphetaminen stärker als der Berg machen wollen. Simpson bezahlte seine Leichtsinnigkeit mit dem Leben, sein Herz blieb auf dem Mont Ventoux stehen, an der Stelle, wo heute ein Denkmal an ihn erinnert. Drei Jahre später gewann der spätere Tour-Sieger Eddie Merckx auf dem Gipfel, musste dort aber wegen eines Schwächeanfalls mit Sauerstoff versorgt werden.

"Er hatte vergessen, die Handbremse anzuziehen"

Wohl jeder Fahrer, der den Mont Ventoux bezwungen hat, besitzt seine eigene Geschichte mit dem Berg. Brian Holm, heute sportlicher Leiter von Omega Pharma Quick-Step, erinnert sich: "1987 hatte ich einen Defekt beim Zeitfahren auf dem Mont Ventoux. Mein Mechaniker kam, wechselte das Rad - und plötzlich war sein Auto weg! Er hatte vergessen, die Handbremse anzuziehen. Doch in dem Moment hatte ich Wichtigeres zu tun, als mich um das Auto zu kümmern. Ich habe zugesehen, dass ich meinen fetten Körper noch innerhalb des Zeitlimits auf den Berg bringe."

Auch Tony Martin hat seine Erfahrungen mit dem Unbarmherzigen gemacht. 2009 wurde er dort Etappenzweiter, für den ersten Platz hatte es nur deshalb nicht gereicht, weil Martin nicht wusste, wann der letzte Kilometer begann. "Einer von uns sportlichen Leitern hätte zu ihm vorfahren sollen und ihm das sagen. Wir haben ihm bis heute nicht erzählt, wie schuldig wir uns damals wirklich fühlten", gesteht Brian Holm vier Jahre später. Das schlechte Gewissen quält ihn, er weiß, dass der Mont Ventoux nichts verzeiht.

Holm glaubt, dass der Berg auch deshalb für jeden Profi eine ganz spezielle Herausforderung darstelle, weil der Gedanke an den Tod Simpsons mitfahre: "Jedes Mal, wenn du als Radprofi einen Berg rauf fährst, bist du so erschöpft und ermüdet, dass du denkst, du stirbst gleich. Wenn du dann an einem Ort vorbeikommst, an dem tatsächlich einer gestorben ist, erzeugt das eine Gänsehaut", sagt Holm.

Auch in diesem Jahr gibt es Radfahrer, die von der Tour de France das erste Mal in ihrem Leben auf den Mont Ventoux geschickt werden. Den jungen John Degenkolb etwa, der aber keine Angst hat: "Es ist schön, dass die Organisatoren auch an uns Sprinter gedacht haben", sagt der 24-Jährige. "Wir werden wohl keine Probleme mit dem Zeitlimit haben, weil es zuvor keinen weiteren Berg gibt." Für ihn zählen an diesem Sonntag vor allem das Erlebnis Mont Ventoux, die Landschaft und die Anfeuerungsrufe der Menschen am Straßenrand.

Falls der Berg ihm die Chance auf einen Blick nach rechts oder links gewähren will. Denn nicht selten gewinnt dort oben eben doch ein Franzose: der kahle Riese der Provence.