Jonas Vingegaard, Tadej Pogacar

Tour de France Vingegaard gegen Pogacar - der große Zweikampf

Stand: 26.06.2023 11:05 Uhr

Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar - das sind die ganz großen Favoriten bei der Tour de France 2023. Dabei könnte alles auch ganz anders kommen.

Als Tadej Pogacar Mitte April beim Amstel Gold Race im Alleingang über die Ziellinie fuhr und mit scheinbarer Leichtigkeit seinen schon elften Saisonsieg eingeheimst hatte, schien die Sache irgendwie klar: Der Slowene präsentierte sich schon im Frühjahr in einer derart bestechenden Form, war seinen Konkurrenten überlegen, wie man es zuvor womöglich noch nie gesehen hatte. Die Frage nach dem kommenden Sieger bei der Tour de France schien bereits beantwortet zu sein. Es konnte nur Pogacar sein, der zweifelsohne stärkste Fahrer im Profiradsport 2023.

Rund acht Wochen später sieht die Sache ein klein wenig anders aus. Es ist einiges passiert. Zuallererst: Pogacar ist eine Woche nach seinem Valkenburger Triumph beim nächsten Klassiker, Lüttich-Bastogne-Lüttich, gestürzt und hat sich einen Kahnbeinbruch im linken Handgelenk zugezogen. Über sechs Wochen musste er pausieren, konnte das Gelenk nicht hart belasten. Und entsprechend natürlich keine Rennen fahren.

Gleichzeitig ist sein mutmaßlich größter Rivale Jonas Vingegaard enorm stark in Form gekommen. Verlor der Däne das Duell mit Pogacar beim Etappenrennen Paris-Nizza Anfang März noch um Längen, brillierte Vingegaard im Juni bei einem der wichtigsten Tour-Vorbereitungsrennen. Scheinbar spielerisch leicht gewann der Tour-Sieger von 2022 die beiden schwersten Etappen der Dauphiné Libéré und holte sich ganz locker den Gesamtsieg.

Tadej Pogacar saß derweil daheim - und hielt sich mit Treppenläufen und langen Wanderungen fit. Wird er rechtzeitig wieder in Form sein, um dem Dänen den erwarteten Zweikampf liefern zu können? Gibt es womöglich noch einen Geheimfavoriten im Feld, der den beiden Dominatoren gefährlich werden könnte? Wir schauen mal - und wagen einen Blick auf die Favoriten:

"Deine Tour", Folge 4 - Die Tourgiganten

Sportschau, 26.06.2023 13:24 Uhr

Tadej Pogacar (24, UAE Emirates)

18 Saisonstarts, elf Siege - Tadej Pogacars Bilanz im Frühjahr 2023 war atemberaubend. Der Slowene, den man mit seinen exzellenten Klettereigenschaften schon lange als herausragenden Rundfahrer-Typen einsortiert hatte, glänzte plötzlich auch auf ganz anderem Terrain: den für manche Profis furchteinflößenden Frühjahrs-Klassikern. Pogacar gewann unter anderem die Flandern-Rundfahrt, das Amstel Gold Race und drei Tage später auch noch den Fleche Wallonne.

Tadej Pogacar hat sich bei einem Sturz die linke Hand gebrochen.

Tadej Pogacar hat sich bei einem Sturz die linke Hand gebrochen.

Das Beeindruckendste an den Vorstellungen des 24-Jährigen: Er holte sich die Siege quasi mit Ansage. Sämtliche Konkurrenten wussten, an welchen Anstiegen der Tour-Sieger von 2020 und 2021 bei den hammerharten Eintagesrennen attackieren würde - dennoch konnte ihm keiner Paroli bieten.

Mitte April schien klar: Pogacar - der Jonas Vingegaard im März bei Paris-Nizza klar distanziert hatte - ist auf allen wichtigen Terrains so stark, dass er auch bei der Tour de France eigentlich unschlagbar sein müsste.

LüBaLü: Sturz, Bruch, wochenlange Zwangspause

Doch dann kam Lüttich-Bastogne-Lüttich: Der Sturz, der Bruch des Handgelenks, die Operation, die Rückreise nach Slowenien, wo Pogacar ein paar Wochen kaum noch etwas machen konnte. Er postete Bilder von Treppenläufen und langen Wanderungen - doch im Radsport war er wochenlang nicht mehr zu sehen.

Noch nicht einmal die angestrebte Slowenien-Rundfahrt konnte er Mitte Juni bestreiten. Seither ist es die ganz große Frage: Wird Pogacar trotz der Pause rechtzeitig wieder in jene Form kommen, um bei der Tour '23 ganz vorn zu sein? Oder reicht's einfach nicht mit der doch arg eingeschränkten Vorbereitung?

Tadej Pogacar
Alter 24
Erfolge 2023 Gesamtsieg und drei Etappen Andalusien-Rundfahrt
Gesamtsieg und drei Etappen Paris-Nizza
Flandern-Rundfahrt
Amstel Gold Race
Fleche Wallonne
Wichtigste Helfer Adam Yates
Rafal Majka
Marc Soler

Jonas Vingegaard (26, Team Jumbo-Visma)

Er war die große Überraschung bei der Tour de France 2022: Jonas Vingegaard. Klar - man hatte den smarten Dänen nach seiner starken Vorstellung im Vorjahr auf dem Zettel. Als der Shooting-Star Tadej Pogacar im Gebirge dann aber tatsächlich abhängte, waren die Augen der Experten groß. Letztlich gewann das Leichtgewicht mit seinem enorm starken Team im Rücken die Tour sogar recht deutlich. Was ihn - neben Pogacar - natürlich automatisch auch zum Top-Favoriten auf den Gesamtsieg 2023 macht.

Favoriten der Tour de France: Jonas Vingegaard

Jonas Vingegaard

Vingegaard ging die Saison 2023 vergleichweise ruhig an. Ließ sich von Pogacar Anfang März bei Paris-Nizza recht deutlich distanzieren, bei den Frühjahrs-Klassikern war er nicht zu sehen. Diese Eintagesrennen, bei denen man an den vielen ruppigen Anstiegen viel Schnellkraft, Power und Kälteresistenz benötigt, liegen dem schmalen Kletterer einfach nicht.

Dafür zeigte Vingegaard anschließend beim Critérium du Dauphiné - einem der wichtigsten Vorbereitungsrennen auf die Tour im Juni - eine überragende Vorstellung. Von Beginn der Etappenfahrt an hatten ihn die Konkurrenten im Visier. Dennoch zog der 26-Jährige auf den beiden schwersten Bergetappen der Konkurrenz scheinbar spielerisch davon und holte sich Tagessiege und den Gesamterfolg.

Es scheint klar: Im Hochgebirge - bei den langen, kräftezehrenden Anstiegen - wird Vingegaard mit seinen starken Helfern mindestens auf Augenhöhe mit Pogacar sein. Zu schlagen sein dürfte er allenfalls bei den vielen hügeligen Tagesabschnitten. Dann, wenn es auf Schnellkraft ankommt. Die harten Antritte von Pogacar zu kontern - das wird Jonas Vingegaards Herausforderung der Tour 2023 sein.

Jonas Vingegaard
Alter 26
Erfolge 2023 Gesamtwertung und drei Etappen Gran Camino
Gesamtsieg und drei Etapen Baskenland-Rundfahrt
Gesamtsieg und zwei Etappen Criterium Dauphiné
Wichtigste Helfer Sepp Kuss
Christophe Laporte
Tiesj Benoot
Wout van Aert

David Gaudu (26, Groupama FDJ)

Er ist der ganz große Hoffnungsträger der Franzosen: David Gaudu, der 26-Jährige aus der Bretagne. Gaudu ist ein reiner Kletterer, im Hochgebirge wird er sich so richtig wohlfühlen. Gut möglich, dass die Tour-Verantwortlichen die diesjährige Rundfahrt auch deshalb so stark berglastig gestalteten, weil sie einem Fahrer seines Schlages eine echte Siegchance basteln wollten.

David Gaudu vor der "Kleinen Meerjungfrau" in Kopenhagen

Der Tour-Vierte von 2022 hat bereits bewiesen, dass er ein Team gut anführen kann. Er wird mit viel Selbstvertrauen in die Tour 2023 gehen, wo er zu Beginn vor allem im Baskenland allerdings aufpassen muss, dass er keinem Überraschungsangriff der Konkurrenz zum Opfer fällt. Denn eines ist klar: Gaudu kann sich bei weitem nicht so starker Team-Unterstützung erfreuen, wie beispielsweise Pogacar und Vingegaard.

Aber auch als Einzelkämpfer wird Gaudu zu beobachten sein. Er ist gut in Form, war schon bei Paris-Nizza Zweiter hinter Pogacar. Und seine Schwächen im Zeitfahren werden diesmal nicht so ins Kontor schlagen. Es gibt ja diesmal nur das eine, 22 Kilometer lange. Und auch das ist mit seinem bergigen Profil fast schon perfekt auf Gaudu zugeschnitten.

David Gaudu
Alter 26
Erfolge 2023 Gesamt-Zweiter Paris-Nizza
Wichtigste Helfer Thibaut Pinot
Stefan Küng
Valentin Madouas

Enric Mas (28, Movistar)

Der 28-Jährige ist das ganz große spanische Rundfahrttalent dieser Tage. Mas ist ein begnadeter Kletterer, fühlt sich im Hochgebirge wohl und hat schon häufig erstklassiges Durchhaltevermögen gezeigt. An den richtig schweren Bergen wird er von Vingegaard und Pogacar kaum abgehängt werden.

Enric Mas

Es gibt jedoch ein "aber" bei Mas: Er hat noch niemals wirklich ein großes Rennen gewonnen. Dreimal war er bei der Vuelta Zweiter - aber außerhalb Spaniens konnte er bislang noch nicht wirklich überzeugen. Oftmals wirkt er regelrecht gehemmt, wenn er jenseits seiner Landesgrenzen auftritt.

Problematisch war in den vergangenen Jahren sein Auftreten bei Abfahrten im Gebirge, wo er nach diversen Stürzen das nötige Risiko vermied und teils viel Zeit verlor.

Seine beste Leistung bei der Tour war ein fünfter Platz 2020. Als er anschließend mit größeren Ambitionen in die Frankreich-Rundfahrt ging, konnte er diesen nicht gerecht werden. Im vergangenen Jahr stieg er kurz vor Schluss mit einer Corona-Infektion aus - seinerzeit lag er im Gesamtklassement auf einem enttäuschenden elften Rang.

Enric Mas
Alter 28
Erfolge 2023 Fünfter Andalusien-Rundfahrt
Sechster Trreno Adriatico
Wichtigste Helfer Gregor Mühlberger
Ruben Guerreiro

Richard Carapaz (30, EF Education-Easypost)

Vor Jahren galt Carapaz als DER Herausforderer für die ganz großen Rundfahrten. Nun - so ganz konnte der mittlerweile 30-jährige Ecuadorianer diesen Vorschusslorbeeren nicht gerecht werden. Aber zu einem gestandenen Profi mit Siegchancen in bergigem Gelände hat er sich inmitten des Pelotons stark platziert.

Richard Carapaz aus Ecuador vom Team Ineos Grenadiers jubelt über seinen Etappensieg

Carapaz war 2022 Zweiter beim Giro, hat am Saisonende aber sein Team Ineos Grenadiers verlassen, um bei EF Education die alleinige Chefposition übernehmen zu können. Das Problem: In seinem neuen Team hat er nicht einmal annähernd so starke Teamkollegen wie zuvor.

Carapaz zeigte in den vergangenen Jahren gerade im Hochgebirge immer mal wieder punktuell seine überragenden Fähigkeiten, er hatte aber auch schwarze Tage, an denen er viel Zeit verlor. Oftmals war er bei großen Rundfahrten nicht beständig genug.

Richard Carapaz
Alter 30
Erfolge 2023 Sieg Mercan Tour Classics (Eintagesrennen)
Sieg ecuadorianische Meisterschaften
Wichtigste Helfer Mikkel Honoré
Rigoberto Uran

Romain Bardet (32, Team DSM)

Das große Plus des kletterstarken Franzosen: seine Erfahrung. Der 32-Jährige, der 2016 und 2017 die Tour de France auf dem Podium beendete, fährt in diesem Jahr bereits seine zehnte Frankreich-Rundfahrt.

Romain Bardet

Er weiß ganz genau um seine Stärken und Schwächen und kann mit einer guten Portion Zuversicht ins Rennen gehen. Denn diesmal gibt es nur dieses eine, übersichtliche Zeitfahren, das ihm mit seinem bergigen Profil zudem liegt. Damit kommt seine größte Schwäche - lange Kämpfe gegen die Uhr - nicht so zum Tragen.

Die größte Stärke des Franzosen liegt in den ganz großen Höhen: Im Hochgebirge fühlt er sich so richtig wohl. Dort wird er mit den Besten seiner Zunft mithalten und um Tagessiege kämpfen können. Aber wird er auch gut genug für die Gesamtwertung sein?

Romain Bardet
Alter 32
Erfolge 2023 Siebter Paris-Nizza
Siebter Tour de Romandie
Wichtigste Helfer Nils Eekhoff
Matthew Dinham

Daniel Martinez (26, Ineos)

Ganz schwer einzuschätzen ist in diesem Jahr das britische Team Ineos. Eigentlich ein echtes Schwergewicht im Peloton, haben die Briten in diesem Jahr auf den ersten Blick keinen Fahrer, der ernsthaft um den Kampf um den Gesamtsieg wird eingreifen können.

Am ehesten erscheint noch der Kolumbianer Daniel Martinez als ein Kandidat, der zumindest im Hochgebirge gut wird mithalten können. Er gewann 2022 die schwere Baskenland-Rundfahrt - aber trotzdem fehlen dem 26-Jährigen klar noch die Top-Resultate, die ihn wirklich zu einem Podiums-Anwärter machen. Aber eventuell gelingt Ineos ja doch eine Überraschung. Sie haben mit Tom Pidcock und Carlos Rodriguez noch zwei weitere Fahrer im Kader, die unter die Top-Ten fahren könnten.

Anderthalb Jahre nach seinem schweren Unfall geht Egan Bernal wieder bei der Frankreich-Rundfahrt an den Start. Der Kolumbianer, der die Große Schleife 2019 gewonnen hatte, war Anfang 2022 bei einer Trainingsfahrt gegen einen stehenden Bus geprallt. Der 26-Jährige erlitt zahlreiche Brüche sowie Verletzungen an der Wirbelsäule.

Daniel Martinez
Alter 26
Erfolge 2023 Gesamtsieg Algarve-Rundfahrt
2. Platz kolumbianische Meisterschaft
Wichtigste Helfer Tom Pidcock
Carlos Rodriguez

Jai Hindley (27, Bora-hansgrohe)

Jetzt ist es soweit: Jai Hindley wird sich erstmals im Feld der ganz großen Rundfahrt-Spezialisten bewegen dürfen. Mit 27 Jahren feierte der Australier sein Debüt bei der Tour de France, was von vielen Beobachtern ganz genau betrachtet wird. Denn der forsche Überraschungsmann vom Giro 2020, als er wie ein Komet im Radsport-Profizirkus einschlug, gilt seither als einer derjenigen, der einmal einen ganz großen Coup landen könnte.

All diese Vorschusslorbeeren bestätigte Hindley 2022 beim Giro, den er vor Richard Carapaz gewinnen konnte. Damals ließ Bora-hansgrohe ihn noch nicht zur Tour - diesmal ist es soweit. Wird der so locker daherkommende Australier dem Druck und den Erwartungen des deutschen Teams standhalten können? Er wird sich im Hochgebirge mit den Besten messen müssen. Passiert ihm ein einziger schwacher Tag, ist er raus aus dem Rennen um die ganz vorderen Plätze.

Jai Hindley
Alter 27
Erfolge 2023 Gesamt-Vierter Dauphiné Libéré
Wichtigste Helfer Emanuel Buchmann
Bob Jungels