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Neue Truppenbewegungen Putin kreist Ukraine weiter ein: Für einen Angriff müsste sein Militär nicht einmal die Grenze überqueren

Russland: Wladimir Putin verlegt russische Truppen weiter an die ukrainische Grenze
Wladimir Putin verlegt russische Truppen weiter an die ukrainische Grenze. Würde Russland einen Angriff planen, wäre es jetzt bereit. 
© Alexei Nikolsky / Picture Alliance
Russland zieht den Kreis um die Ukraine immer enger zusammen. Nur noch wenige Kilometer trennen die russischen Truppen von der Grenze. Die ukrainische Millionenstadt Charkiw könne jederzeit unter Beschuss genommen werden, sagen Militärbeobachter. Ein perfektes Täuschungsmanöver?

Die Beharrlichkeit, mit der Washington einen unmittelbar bevorstehenden Angriff Wladimir Putins auf die Ukraine vorhersagt, alarmiert ganz Europa. Während die westlichen Staatenlenker einer nach dem anderen zum Kreml pilgern, um den russischen Präsidenten von seinen vermeintlichen Angriffsplänen abzubringen, zieht er – aller Sanktions-Rhetorik ungeachtet – offenbar weiter Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammen. 

In sozialen Netzwerken tauchten am vergangenen Wochenende mehrere Aufnahmen auf, welche die Verlegung russischer Truppen zeigen sollen. Die Militärbeobachter des Projekts Conflict Intelligence Team (CIT) erklärten, dass auf den Videos die Verlegung der 1. Gardepanzerarmee von ihrem Trainingsgelände in der Nähe von Woronesch zu sehen sei. Das Conflict Intelligence Team ist eine Gruppe unabhängiger russischer Blogger, die bewaffnete Konflikte unter Verwendung offener Quellen analysieren und bereits zahlreiche russische Truppenbewegungen nachvollziehbar machten.

Den Erkenntnissen des CIT zufolge befinden sich russische Truppen nur noch 15 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Die Verhandlungen zwischen den Nato-Staaten und Russland würden keinen Effekt hinsichtlich der Verlegungen der Militärkräfte zeigen, erklärte der Begründer des CIT Ruslan Liwiew im Gespräch mit dem unabhängigen russischen TV-Sender Dozhd. "Die Entwicklung der letzten zwei Tage ist erschreckend", sagte er. "Die Militärtechnik, die sich bis dato 100 bis 200 Kilometer von der ukrainischen Grenze befand, etwa bei Kursk oder Woronesch, ist eilends auf Züge verladen und auf den Transportweg gebracht worden."

"Besonders alarmierend ist, dass alle Truppen, die in den Grenzregionen zusammengezogen wurden, jetzt nur noch 15 bis 20 Kilometer von der ukrainische Grenze entfernt sind", erklärte Liwiew die Tragweite der neusten Truppenbewegungen. In der Region Belgorod stünden jetzt die russischen Truppen in der unmittelbaren Nähe der ukrainischen Millionenstadt Charkiw. "Unter der Technik dieser Einheiten befindet sich auch Artillerie mit großer Reichweite. Und diese Geschütze können nun jederzeit Charkiw unter Beschuss nehmen, ohne überhaupt die ukrainische Grenze zu überqueren – so nah sind sie jetzt positioniert." 

Russland verlegt Buk-Luftabwehrsystemen

Was die Situation noch verschärfe, sei die Verlegung von Buk-Luftabwehsystemen des Typs M3 in die Region Belogorod. Diese seien in den vergangenen Tagen auf dem Weg zur ukrainischen Grenze gefilmt worden. "Ich denke, nicht zuletzt wegen dieser Videoaufnahmen haben zahlreiche Airlines Flüge über diesem Gebiet gestrichen", erläuterte Liwiew und erinnerte daran, dass 2014 ebensolche Einheiten in genau dieselbe Position gebracht worden waren. Ein ebensolches System war für den Abschuss der holländischen MH17-Passagiermaschine verantwortlich. Bei dem Absturz kamen 298 Menschen ums Leben. Bis heute ist unklar, von wo die Rakete abgeschossen wurde.

Bereits im vergangenen Dezember war die Verlegung von Buk-Systemen beobachtet worden. Damals wertete der Militärexperte Konrad Muzyka, Analyst des unabhängigen Beratungsunternehmens für Luft- und Raumfahrt und Verteidigung Rohan Consulting, diese Entwicklung als Warnsignal aus: "Buk-Systeme sind ein Mittel der Luftverteidigung, die auf der Ebene einer ganzen Armee zum Einsatz kommen. Sie dienen dazu, ihre Einheiten vor Bedrohungen aus der Luft zu schützen", erklärte Muzyka vor zwei Monaten in einem Gespräch mit "Radio Swoboda". Er vermutete damals, dass die gesamte 1. Gardepanzerarmee in die Nähe von Woronesch verlegt wird — mit Buk-Systemen zu ihrem Schutz. Er sollte Recht bekommen. Nun ist diese Gardepanzerarmee sogar noch dichter an die ukrainische Grenze gerückt.

Ukraine fordert Luftabwehrsysteme 

Vor diesem Hintergrund intensiviert die Ukraine die Forderung nach Luftabwehrsystemen. Der Botschafter des Landes in Deutschland, Andrij Melnyk, erklärte Sonntag in einem Gespräch mit Bild TV Kiew brauche 12.000 Panzerabwehrraketen sowie tausend Luftabwehrraketen, um sich gegen einen russischen Angriff verteidigen zu können. Sollte tatsächlich ein russischer Angriff erfolgen, wird der erste Schlag aus der Luft geführt, sagen Militärexperten. Davon gehen auch die USA aus. "Sollte es zu einem militärischen Einmarsch Russlands in die Ukraine kommen, so wird dieser wahrscheinlich mit einem massiven Einsatz von Raketen und Bomben beginnen", erklärte am Sonntag der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan. Moderne Luftabwehrsysteme wären also das einzige Mittel, um dieser erster Angriffswelle etwas entgegensetzen zu können.  

Viele Polit-Analysten und Militär-Experten gehen jedoch nach wie vor davon aus, dass Putin das Szenario einer drohenden Invasion in die Ukraine inszeniert, um einerseits die Nato zu Zugeständnissen zu zwingen und andererseits, um innenpolitischen Profit daraus zu schlagen. Betrachte man jedoch nur den faktischen Aufmarsch an der Grenze, sei es unmöglich zu sagen, "ob es sich um einen Bluff handelt oder hier die Vorbereitungen für einen großen Angriff im Gange sind", erklärte nun der CIT-Gründer Liwiew. "Denn wir sehen alle Elemente, die für einen großflächigen Krieg notwendig wären, vollständig versammelt". 

Die Kommunikationsstrategie der USA 

Diese grundlegende Bereitschaft des russischen Militärs und die technische Möglichkeit einer Invasion ist auch einer der Gründe, warum die USA mit zunehmender Dramatik vor einer drohenden Invasion warnen. In den vergangenen zehn Tagen habe sich der russische Truppenaufbau beschleunigt, und russische Kräfte seien näher an die Grenze zur Ukraine vorgerückt, von wo aus sie sehr schnell eine Militäraktion starten könnten, erklärte Sullivan und wehrte sich damit gegen die Vorwürfe, die USA schürten Panik. Es sei sehr wahrscheinlich, "dass es sehr bald zu einer größeren militärischen Aktion kommen wird", warnte er erneut. 

Die lauten Warnrufe aus Washington seien Teil einer Strategie, sagt Nina Chruschtschowa, Professorin für Internationale Politik an der New School in New York. "Hier wird ein schreckliches Nervenspiel getrieben, das von beiden Seiten gespielt wird", erklärte die Politologin im Interview mit dem TV-Sender Dozhd. Während Putin sich als Meister der Provokation zeige, reagierten die USA mit der Verschärfung ihrer Rhetorik. "Ich denke, dass die Amerikaner mit Absicht den 16. (Februar) als das Datum eines Angriffs benannt haben", sagt die russisch-US-amerikanische Professorin. Wenn am 16. nichts geschieht, dann kann die Biden-Regierung sagen: Wir haben mit Putin gesprochen und ihn gestoppt." Sollte es aber wirklich zu einem Angriff kommen, dann behalten die USA mit ihrer Warnung Recht. "So oder so schlagen die USA Dividende aus der Situation", so die Urenkelin des sowjetischen Politikers Nikita Chruschtschow.

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