Was ist, wenn ein Zilpzalp aus dem Schwarm plötzlich andere Ideen hat? Wenn er nicht dem Rat des Leitvogels folgen will? Wenn er gerne singt, anstatt sein eintöniges «Zilpzalp» vorzutragen? Wenn er lieber in seinem Wald bleibt, anstatt mit allen anderen im Herbst wegzuziehen? Wenn er seinen eigenen Intuitionen folgt, als dem, was allgemein gesagt wird?

Er wird es nicht überleben. Er ist ein Träumer. Er ist nicht zu gebrauchen, war schon immer komisch. Das ist die einhellige Meinung vieler Schwarmmitglieder. Doch da sind auch andere, die sich gut verstehen mit dem kleinen Zilpzalp Zio, die es eigentlich gut mit ihm meinen, die sich aber nicht wagen, zu ihm zu stehen.  

Zio, der Zilpzalp

Das Buch «Hundert Himmel» der deutschen Autorin Astrid Ruppert handelt von der Geschichte von Zio, dem kleinen Zilpzalp, der im Wald aufwächst, den Frühling und Sommer geniesst und nicht so ist wie seine Artgenossen. Es ist eine Erzählung über den Mut, anders zu sein.

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Buchtipp
Astrid Ruppert: «Hundert Himmel – Eine Erzählung über den Mut, anders zu sein»
144 Seiten, Diederichs Verlag

Zio weiss, dass nur die stärksten und geübtesten Vögel den grossen Flug über das Mittelmeer und die Sahara überstehen. Im heimischen Wald zu überwintern ist hingegen noch keinem Zilpzalp gelungen. Zio weiss nicht, wie der Winter ist, ist er doch im Frühjahr erst geschlüpft. Doch Zio will seinem Traum folgen. Was ist stärker, der Wunsch dazuzugehören und den anderen zu folgen, oder den Traum zu leben, der ihn beschäftigt, das zu machen, was er persönlich möchte?

Naturpoesie und Mutmacher

Was diese Geschichte auszeichnet, ist die Kombination von wunderbarer und faktenreicher Naturbeschreibung mit einer Handlung aus menschlicher Sicht. Einerseits ist es ein Märchen. Tiere lassen sich kaum von individuellen Entscheidungen leiten, sondern folgen Instinkten, wie sie seit Jahrtausenden in den Arten angelegt sind. Andererseits gibt es auch in der Realität immer wieder Individuen, die sich anders verhalten.

Warum beispielsweise überwintern plötzlich manche Mönchsgrasmücken in Grossbritannien und nicht mehr an mediterranen Gestaden? Immer mehr kommt es auch vor, dass Vogelarten im Herbst nicht mehr ziehen. Sie bleiben einfach in ihren angestammten Gebieten. So gesehen ist die Geschichte gar nicht abwegig. Und überhaupt: Die Natur ist in vielen Bereichen unerklärlich, ein Mysterium.

Die Geschichte «Hundert Himmel» ist ein grosses Lesevergnügen. Sie berührt und stimmt nachdenklich. Problemlos lässt sie sich auf menschliches Verhalten übertragen. Bestimmt ist das ein Zweck dieser Neuerscheinung. Sie lässt den Leser und die Leserin aber auch in die Natur eintauchen und in die Gedanken- und Lebenswelt von Vögeln, so wie sie sein könnte.

Der Zilpzalp

Der Zilpzalp (Phylloscopus collybita) gehört zu den Laubsängern. Es handelt sich um einen unscheinbar bräunlich gefärbten häufigen Brutvogel der Schweiz. Wenn auch manche Vögel schwierig aufgrund des Gesangs zu bestimmen sind, beim Zilpzalp ist das anders. Alle können diesen Vogel anhand seines typischen Rufs identifizieren. Er ruft stetig, wie sein Name lautet «Zilpzalp!» aus einem Gebüsch. Nur bei genauem Suchen ist er zu sehen.

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Der dünne, längliche Schnabel verrät, dass der Zilpzalp meist Insekten frisst. Im Herbst zieht der Zilpzalp wieder weg, meist in den Persischen Golf, in den Mittelmeerraum aber oft auch südlich der Sahara. Manche Schwärme überwintern gar in Oasen mitten in der Sahara und hüpfen dann in den Kronen von Dattelpalmen. Bis sie im Frühjahr wieder in den Schweizer Laubwäldern auftauchen und ihre Nester gut versteckt wenig über dem Waldboden bauen, so zum Beispiel im dichten Brombeergestrüpp.