Rückblick 2023Momente für Genies - Klassiker und Eintagesrennen

Tim Farin

 · 26.12.2023

Radrennen im Frühjahr: Zur Klassikersaison gehört raues Wetter. Bei Lüttich-Bastogne-Lüttich (im Bild) ­radelten die Profis durch die nasskalte Wallonie. Auch bei der Flandern-Rundfahrt drei Wochen zuvor hatte kalter Wind Peloton und Fans am Straßenrand gequält.
Foto: Gruber Images
Viel Action boten die Eintagesrennen und Monumente 2023. Von Tom Pidcocks fulminantem Sieg in Siena bis zu den Meisterstücken der Allergrößten war es ein Jahr der Demonstrationen. Auch ein junger Deutscher siegte.

Es war ein emotionaler Nachmittag für Routinier John Degenkolb. Bei seinem Lieblingsrennen Paris-Roubaix präsentierte er sich überraschend stark. Im Sektor, den die Organisatoren ihm nahe dem Weiler Hornaing gewidmet haben, bejubelten ihn Fans und Familie. „Dege“ blieb bis weit ins Finale in der reduzierten Spitzengruppe – und rang doch im Ziel mit Tränen der Enttäuschung, aufgewühlt vom Applaus der Zuschauer, die einen besonderen Auftritt des besonderen Fahrers würdigten. Acht Jahre nach seinem Sieg in der „Hölle des Nordens“ stürzte Degenkolb im Carrefour de l’Arbre, gut 16 Kilometer vor dem Ziel. Sein Pech: Im Ringen mit Wout van Aert, Mathieu van der ­Poel und Jasper Philipsen um die Spur auf dem schmalen Streifen neben den Pflastersteinen war plötzlich kein Platz mehr für den Deutschen. Er knallte auf die Schulter, sein Rad war nicht mehr fahrtüchtig – Degenkolb musste während der entscheidenden ­Momente des Rennens auf Hilfe warten.

Trost vom Sieger: Geschlagen liegt John Degenkolb auf dem Boden des Radstadions in Roubaix, Mathieu van der Poel (links) und Jasper Philipsen zeigen Mitgefühl.Foto: Getty ImagesTrost vom Sieger: Geschlagen liegt John Degenkolb auf dem Boden des Radstadions in Roubaix, Mathieu van der Poel (links) und Jasper Philipsen zeigen Mitgefühl.

Glück und Pech, ein paar Zentimeter, große Emotionen: In diesen Sekunden zeigte sich auf drastische Weise, was der Radsport Woche für Woche, Renntag für Renntag, zu bieten hat. Wenige Athleten ragen heraus. Wieder einmal duellierten sich van Aert und van der Poel – und der Niederländer fuhr auf dem Weg nach Roubaix hinter einer Rechtskurve davon. Er zeigte enorme Stärke. Aber Wout van Aert hatte auch einen Platten. „Natürlich ist das Pech, aber das ist Teil des Rennens“, sagte van der Poel, der vorher bei einigen Attacken den Widersacher nicht hatte abschütteln können.

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Sind es diese Kleinigkeiten, die die ganz große Geschichten erst ermöglichen? Der Reifen des Konkurrenten, der jede Attacke mitgegangen ist; ein wackeliges Manöver, bei dem sich der spätere Sieger nur mit viel Mühe in der Senkrechten hält, während ein Konkurrent die Balance verliert? Oder setzt sich an einem Tag wie dem 9. April 2023 vor allem das Genie durch, der große Champion, also das, was einen solchen Sportler besser macht als all die anderen wirklich Guten? „Ich hatte einen meiner besten Tage auf dem Fahrrad“, sagte Mathieu van der Poel, als er im Velodrom von Roubaix gewonnen hatte. Und das will etwas heißen. Denn bereits drei Wochen zuvor hatte er sich, mit dem auch noch frischen Ruhm des Cross-Weltmeisters, bei der „Classicissima“ von Mailand nach San Remo durchgesetzt. In der Abfahrt vom Poggio zum Ziel an der ligurischen Küste entkam er den Widersachern. „Ich glaube, es gibt nicht viele Fahrer, die alleine in San Remo ankommen können“, sagte er danach und brachte seine Selbstsicherheit eher zurückhaltend rüber.

Scharfe Attacke: Es ist ein verwegener Antritt, mit dem Mathieu van der Poel sein zweites Monument gewinnt. Auf der Abfahrt vom Poggio bereitet er den Solo-Triumph bei Mailand-San Remo mustergültig vor.Foto: DPA Picture AllianceScharfe Attacke: Es ist ein verwegener Antritt, mit dem Mathieu van der Poel sein zweites Monument gewinnt. Auf der Abfahrt vom Poggio bereitet er den Solo-Triumph bei Mailand-San Remo mustergültig vor.

Bühne für die Besten – und Überraschungen

Die Tage der Monumente, der traditionsreichen klassi­schen Eintagesrennen, sind Tage der großen Favoritinnen und Favoriten – Ausnahmen bestätigen die Regel. Das ­belgische Männer-Klassiker-Team Soudal - Quick Step verlor in der Saison seine bekannte Stärke. Nach Verletzungen von Julian Alaphilippe und Kasper ­Asgreen hatte die sonst so dominante Truppe auf den Kopfsteinparcours nicht viel zu bestellen. Ihre Ehre rettete Remco Evenepoel, der wie im Vorjahr in Lüttich als Erster ins Ziel kam.

Standesgemäß: Remco Evenepoel verteidigt im Weltmeistertrikot seinen Status als Sieger bei Lüttich-Bastogne-­Lüttich.Foto: Gruber ImagesStandesgemäß: Remco Evenepoel verteidigt im Weltmeistertrikot seinen Status als Sieger bei Lüttich-Bastogne-­Lüttich.

Wieder ein Sieg für den Fahrer, um den es ständig neue Wechselgerüchte gibt, trotz laufenden Vierjahresvertrags. Für Teamboss Lefevere eine heikle Sache. Es heißt: Sollte der Patron der belgischen Equipe seinen herausragenden Fahrer ziehen lassen, stünden Lefevere postwendend Klagen der Sponsoren ins Haus. Für Furore sorgte das Team am Ende der Saison, als das Management eine Fusion mit den Kollegen von Jumbo-Visma in Aussicht stellte. Der Deal platzte, bei Soudal - Quick Step wird man auf eine bessere Klassikersaison 2024 hoffen.

Wo es wehtut: Jahr für Jahr stellen die Pflastersteine in der hügeligen Landschaft Nordbelgiens Profis vor die Frage, ob sie das Zeug für einen Tag in der Fluchtgruppe haben.Foto: Gruber ImagesWo es wehtut: Jahr für Jahr stellen die Pflastersteine in der hügeligen Landschaft Nordbelgiens Profis vor die Frage, ob sie das Zeug für einen Tag in der Fluchtgruppe haben.

Eine ganz andere, klar positive Überraschung gelang der Kanadierin Alison Jackson im Velodrom von Paris. „Als wir vor dem Rennen eine Runde auf dieser Radbahn drehten, träumte ich vom Sieg. Aber oft bleiben Träume nur Träume“, sagte Jackson, die sich mit einer frühen Fluchtgruppe abgesetzt und den Sprint für sich entschieden hatte. „Es fühlt sich unwirklich an, es im echten Leben wirklich zu machen“, sagte die krasse Außenseiterin. Ihre Freude war so gewaltig, dass sie hinterm Ziel vom Rad stieg und ein Tänzchen im Stile der Social-Media-­Plattform TikTok aufführte.

Stein am Herzen: Ein hochemotionaler Sieg für die Außenseiterin: Alison Jackson hält nach ihrem Erfolg bei Paris-Roubaix die begehrte Trophäe fest umklammert.Foto: DPA Picture AllianceStein am Herzen: Ein hochemotionaler Sieg für die Außenseiterin: Alison Jackson hält nach ihrem Erfolg bei Paris-Roubaix die begehrte Trophäe fest umklammert.

Daneben gab es viele Festspieltage der Großen. Bei den Frauen war das die Niederländerin Demi Vollering. Sie fuhr beim Amstel Gold Race allein ins Ziel, an der Mauer von Huy dis­tanzierte sie die sehr starke Deutsche Liane Lippert – und dann schlug sie auf dem Zielstrich bei Lüttich-Bastogne-Lüttich Elisa Longo Borghini. „Die Chance, drei Rennen nacheinander zu gewinnen, hat man nicht oft“, sagte die Niederländerin, als sie in Lüttich den dritten Sieg geschafft hatte.

Ein anderer Dreifach-Triumph gelang jenem Fahrer, der an vielen Tagen immer noch wie eine Erscheinung wirkt. Tadej Pogacar siegte bei der Lombardei-Rundfahrt zum dritten Mal in Folge. Ein halbes Jahr zuvor hatte er sich die Aufmerksamkeit des Publikums noch mit einer Frau aus Belgien geteilt. Lotte Kopecky, auch eine Fahrerin aus dem niederländischen Team SD Worx, rettete bei der Flandern-Rundfahrt die Ehre ihres Heimatlandes. Sie triumphierte im Alleingang, setzte sich wie zuvor Pogacar am Oude Kwaremont mit purer Kraft ab. Bei Pogacar war es umso bemerkenswerter, als er Mathieu van der Poel keine Chance ließ. „Pogi“ zeigte sich auch 2023 als Fahrer, wie es ihn eigentlich nicht mehr gibt. Einer, der bei den Klassikern immer zu den Favoriten zählt, aber auch jede Rundfahrt gewinnen kann. Oder etwa nicht?

Flanderns Sieg: Die Belgierin Lotte ­Kopecky setzt sich bei der Flandern-Rundfahrt vom Feld ab und brettert alleine dem Ziel in Oudenaarde entgegen.Foto: Gruber ImagesFlanderns Sieg: Die Belgierin Lotte ­Kopecky setzt sich bei der Flandern-Rundfahrt vom Feld ab und brettert alleine dem Ziel in Oudenaarde entgegen.

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