„Wo aber der Wein fehlt, stirbt der Reiz des Lebens“, sagte einst der griechische Tragödiendichter Euripides (um 484–406 v. Chr.). Und beschrieb damit nicht nur die weinseligen Momente im antiken Griechenland, sondern auch jene in den Wirtshäusern im Alten Rom, wo gern und gut gezecht wurde. Bereits ab 800 v. Chr. brachten die Griechen ihre Weinsorten und das Wissen um den Anbau nach Süditalien, wo die Reben seither kultiviert wurden.
So entwickelte sich die Kleinstadt Pompeji zu einem Hauptlieferanten für das Machtzentrum des Römischen Reiches. Bis zum verheerenden Vulkanausbruch 79 n. Chr., der die Stadt am Vesuv unter Asche begrub – und mit ihr die Weinberge der Region. Den feuchtfröhlichen Alltag in Pompeji, die Katastrophe und den Wiederaufbau der Region beschreibt der Kultursender Arte am 13. Juni in der Dokumentation „Unsterbliches Pompeji“ von Sabine Bier.
Der fruchtbare Boden südlich des Vesuvs machte das Hinterland von Neapel zu einem wohlhabenden Agrarland. Hier gediehen neben Trauben auch Mandeln, Weizen, Feldbohnen und Pflaumen. Mit diesen gefragten Produkten belieferten die rund 20.000 Einwohner Pompejis über den benachbarten Hafen am Golf von Neapel das gesamte Imperium und erwarben ihrerseits Gewürze, Trockenobst und Keramik aus Griechenland, Spanien, Nordafrika und dem Nahen Osten. Kulinarischen Ausschweifungen stand also nichts im Wege, und so aß man üppig und trank mehrmals am Tag Wein, zwar verdünnt mit Wasser, doch in rauen Mengen.
Wie feuchtfröhlich der Alltag in Pompeji aussah, belegen Tausende Bilder und Inschriften („Seid gegrüßt! Wir sind voll wie die Schläuche“), die dort als Graffiti an Fassaden oder kunstvoll in Wohnungen gemalt und eingeritzt und Jahrtausende später freigelegt wurden: Neben Raufereien in Wirtshäusern, Schankszenen und Gladiatorenkämpfen zeigen die Abbildungen auch erotische Szenen, mal angedeutet, doch meist sehr explizit.
Allenthalben boten Frauen sexuelle Dienste an und schrieben ihren Preis an Häuserwände, andere verewigten sich mit Sätzen wie: „Euplia hic cum hominibus bellis MM“ – Euplia (hat’s) hier mit 2000 netten Männern (getrieben), oder: „Futui coponam“ – Ich hab’s der Wirtin besorgt.
Denn Tavernen offerierten oft genug nicht nur Speisen und Getränke, sondern im Hinterzimmer auch schnellen Sex. Daneben boten mehrere Dutzend Bordelle professionelle Dienste an, die sich in einer Welt ohne großes Unterhaltungsangebot und tödliche Geschlechtskrankheiten über mangelnde Nachfrage nicht beklagen konnten.
Das Rätsel der obszönen Bilder aus Pompeji
Mehr als 200 Tavernen und Schenken legten Archäologen bis heute frei, viele von ihnen liegen dicht an dicht. So fand man eine gemalte Weinkarte, die als teuerste Sorte einen Falerner bot: eine der beliebtesten Trauben im antiken Italien. Gelehrte wie Plinius der Ältere (um 23–79 n. Chr.) und Vergil (70–19 v. Chr.) schwärmten vom „Wein der Cäsaren“. Der Nachfahre, der heute angebaut wird, heißt Falerno del Massico.
Jener Wein, den Wirte einst in der römischen Stadt ausschenkten, ist indes nicht vergleichbar mit dem, den wir heute kennen. Nachdem die Trauben mit Füßen zertreten und mit hölzernen Weinpressen bearbeitet wurden, lagerte der Most in Gefäßen aus Terrakotta, die in den Boden eingelassen waren, damit die Temperatur stetig kühl blieb. Statt edel, raffiniert und facettenreich schmeckte der antike Rebsaft oft vor allem sauer und war stark. Darum mischten ihn die Römer mit allerlei Zusätzen: Honig, Salz, Schwefel, Pinienharz, Oregano oder Kalk. Gegen den Geruch half etwa Zimtrinde, verdünnt wurde er später mit zum Teil salzigem Wasser aus dem Meer.
Nach der Lagerung verschifften die Pompejaner den Wein in Amphoren aus Ton nach Griechenland, Gallien, Spanien, Britannien, Nordafrika. Wer in der Antike wie viel trank, belegen Zeitzeugen wie Sueton (um 70–122 n. Chr.) oder Plinius der Ältere. So wissen wir, dass Novellius Torquatus aus Mailand der größte Säufer aller Zeiten gewesen sein soll: Vor Kaiser Tiberius (42 v. Chr.–37 n. Chr.) trank er angeblich zehn Liter, ohne abzusetzen. Kaiser Augustus (63 v. Chr. – 14 n. Chr.) vertrug nicht viel und soll sich nach dem sechsten Glas übergeben haben.
Schließlich jedoch fand das süffige Treiben ein jähes Ende – mit einer 30 Kilometer hohen Aschewolke des Vesuvs. Dass auch diese Eruption – die nach neuesten Forschungen wohl Ende Oktober stattfand – ziemlich genau dokumentiert ist, verdanken wir dem Gelehrten und Politiker Plinius dem Jüngeren (um 61–115 n. Chr.). Er erlebte den Ausbruch im Haus seines Onkel Plinius dem Älteren aus einiger Entfernung, während dieser als Admiral der in Misenum (bei Neapel) stationierten Flotte bei Rettungsarbeiten den Tod fand.
Sein Neffe schrieb: „Anderswo war schon Tag, dort aber herrschte noch eine Nacht, schwärzer und tiefer als jede andere.“ Tausende Menschen kamen um. Schlamm verschüttete Straßen und den Hafen und verschob die Küstenlinie um zwei Kilometer. Die Weinreben, die einen Teil des Vesuvs bedeckt hatten, wurden zerstört. Unter Kaiser Titus (39–81 n. Chr.) setzte umgehend der Wiederaufbau der Region ein. Doch Pompeji als lebendige Stadt war für immer verloren.
Auf dem fruchtbaren Boden rund um den Vesuv baute man bald wieder Reben an, nach Jahrzehnten erholte sich die Region wirtschaftlich. Neue Trauben lösten die antiken ab, und bis heute ist Kampanien bekannt für seinen guten Wein. Einzig die Familie Mastroberardino baut seit den 1990ern in einem historischen Weingebiet ursprüngliche Rebsorten an. So erhält sie noch ein anderes wichtiges Erbe – denn der Erlös dieses Weines kommt dem Erhalt der Pompeji-Ruinen zugute.
„Unsterbliches Pompeji“, 20.15 Uhr, 13.6.2020, Arte; bis 10.9. in der Mediathek
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