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Kultur Kinderbuch-Verfilmung

Spike Jonze weiß, wo die wilden Kerle wohnen

Die Vorlage zu "Wo die wilden Kerle wohnen" ist ein Kinderbuch von Maurice Sendak, das aus gerade einmal 333 Wörtern besteht. Daraus schuf Regisseur Spike Jonze einen Abenteuerfilm à la "Zauberer von Oz", der weniger ein Kinderfilm ist, sondern ein Film über die Kindheit.

Max tobt mit dem Hund durchs Haus, Max baut sich einen Iglu, Max langweilt sich. Er will mit seiner älteren Schwester spielen, doch die spielt lieber mit älteren Jungs. Als die Jungs die Schwester besuchen, beginnt Max eine Schneeballschlacht. Einer der Jungen zerstört seinen Iglu, die Schwester schaut zu, Max weint - es ist nicht leicht, ein kleiner Junge zu sein.

Auch die Mutter kann ihm gerade nicht helfen, sie muss arbeiten. Als die Mutter abends einen Freund zu Hause hat, ist Max eifersüchtig. Es kommt zum Streit, Max rennt davon, setzt sich in ein Boot und segelt fort. Seine Familie wird schon sehen, was sie davon hat.

Maurice Sendak veröffentlichte "Wo die wilden Kerle wohnen" bereits 1963, ein Kinderbuch von rund 40 Seiten und insgesamt 333 Wörtern in der deutschen Übersetzung. Der Welterfolg legte zwar eine Verfilmung nahe, doch wie verfilmt man eine Geschichte, die sich in nur neun Sätzen erzählt? Die eigentlich keine Dramaturgie hat? Und die mit den Kindheitserinnerungen ungezählter Leute eng verknüpft ist und vielen viel bedeutet - wobei die Bedeutung aufgrund der Offenheit des Buchs recht unterschiedlich ausfallen dürfte?

Man versucht im Geiste der Vorlage etwas hinzuzuerfinden und nimmt tapfer all die wütenden Reaktionen derer in Kauf, die sich wahlweise eine werktreue, kinderfreundliche oder zumindest versöhnliche Verfilmung gewünscht hätten. Regisseur Spike Jonze hat es jedenfalls so gemacht.

Erst gab er Max eine Familie - aus der Vorlage erfährt man nur, dass er wegen schlechten Betragens ohne Abendbrot ins Bett muss - und verpasste anschließend den wilden Kerlen jeweils einen Namen, gab ihnen unterschiedliche Charaktere und auch die Fähigkeit zu sprechen. In der Gestaltung der zotteligen, gefiederten, struppigen und haarigen Kerle hielt Jonze sich allerdings streng an die Vorlage. Als Max sie nach längerer Bootsfahrt zum ersten Mal trifft, haut Carol, der wildeste Kerl unter den wilden Kerlen, gerade aus Kummer ihre Behausungen kaputt.

Max, der dem Impuls der Zerstörungswut grundsätzlich positiv gegenübersteht, geht ihm dabei helfend zur Hand, was Carol wiederum imponiert. Als Max den Kerlen dann erzählt, dass er eigentlich ein König ist, darf er auch ihr Anführer sein, und seine erste wahrhaft königliche Anweisung lautet: toben! Dann: rennen! Hinterher: kuscheln! König sein macht Spaß.

Weil Max eine besonders herrliche Regentschaft plant, lässt er eine Festung bauen, in der alle glücklich werden sollen. Werden sie aber nicht. Carol ist enttäuscht, seine Herzensdame KW will nicht mehr mit ihm zusammen sein. Offenbar hat Max doch nicht die Macht, das Glück anzuordnen. Erste Zweifel werden laut, ob Max wirklich ein König ist oder vielleicht nur ein Junge, der vorgibt, König zu sein. KW sagt: "Es ist nicht leicht, eine Familie zu sein."

Von all dem ist nichts im Buch zu finden. Es ist, als hätten Spike Jonze und sein Drehbuchautor, der Schriftsteller Dave Eggers, die Vorlage von Sendak nicht adaptiert, sondern interpretiert und die Interpretation fürs Kino aufbereitet. Es ist eine Art "Zauberer von Oz" für das Zeitalter der dysfunktionalen Familien. Auch Max muss erkennen, dass Bindungen flüchtig sind, dass das Leben mitunter ungerecht ist, dass Momente des Glücks sich nicht festhalten lassen.

All das mag für einen Kinderfilm schwere Kost sein, doch mit dem ausdrücklichen Segen von Maurice Sendak hat Spike Jonze "Wo die wilden Kerle wohnen" auch nicht als Kinderfilm gedreht, sondern als Film über Kindheit. Allerdings kostete dieser Umstand alle Beteiligten wohl allerhand Nerven.

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Das verantwortliche Studio verlangte einen kompletten Neudreh, weil Kinder bei Testvorführungen entweder vor Langeweile oder vor Schreck aus dem Kino stürmten, weil der mit Handkamera gedrehte Film mit seinen recht spröden Schauplätzen Wald, Kiesgrube, Wüste und Strand so gar nicht dem entsprach, was man in Hollywood gemeinhin unter einem Kinderfilm versteht und weil Spike Jonze einen konsequent düsteren Ton anschlägt und sogar die Frechheit besitzt, auf eine nachvollziehbare, irgendwie eindeutige Dramaturgie zu verzichten.

Aber die Kindheit ist vage, sie hat keine klar erkennbare Handlung, sie ist im Rückblick die Aneinanderreihung verschiedener Situationen. Die Erwachsenen, die in den USA in Massen in Spike Jonzes Film strömten, verstanden das sofort. Und bekamen mit dem zwölfjährigen Max-Darsteller Max Records den besten Kinderschauspieler zu sehen, den es derzeit gibt. Glaubwürdiger hat noch kein Junge einen kleinen Jungen gespielt.

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