Procycling 02.19
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TONY MARTIN<br />
Fährt er bei Jumbo-Visma<br />
zurück zu alter Stärke?<br />
NICO DENZ<br />
Nur noch ein paar Zentimeter<br />
vom großen Erfolg entfernt.<br />
LISA BRENNAUER<br />
„Ich möchte ein großes<br />
Eintagesrennen gewinnen.“<br />
FEBRUAR 2019<br />
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MIT GAST-REDAKTEUR<br />
MARK CAVENDISH<br />
AUF DEM RAD<br />
MIT CAV<br />
MAILAND–<br />
SAN REMO<br />
MARIANNE<br />
VOS<br />
EXKLUSIV-INTERVIEW<br />
„ICH BIN SÜCHTIG<br />
NACH SIEGEN.<br />
ICH BRAUCHE DAS.“<br />
DER SPRINTSTAR VON DIMENSION DATA<br />
ÜBER SEINE MOTIVATION FÜR 2019<br />
WISSEN<br />
IST MACHT<br />
Wie WorldTour-<br />
Teams Daten nutzen,<br />
um Rennen zu<br />
gewinnen<br />
SPRINTER-<br />
GEHEIMNISSE<br />
OLYMPIA 1992
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PERISCOPE
EDITORIAL<br />
PROMINENTER ZUGANG<br />
Als unsere britischen Kollegen Mark Cavendish fragten, ob er Lust habe, an dieser Ausgabe mitzuwirken,<br />
sagte der Topsprinter ohne zu Zögern zu – allerdings unter der Bedingung, dass er seine<br />
eigenen Ideen umsetzen könne und nicht nur werbewirksam auf dem Cover abgebildet sei. Als<br />
Erstes verwarf er einige der angedachten Artikel und stellte eine eigene Liste zusammen. Er wollte<br />
über die Rennen, Fahrer und Themen sprechen, die ihn ganz besonders interessieren. Hoch oben<br />
auf seiner Agenda stand Marianne Vos, die Cav als „Inbegriff der Emanzipation außerhalb aller<br />
Grenzen“ in den höchsten Tönen lobt. Seine nächste Idee war ein Feature über Mailand–San Remo,<br />
das er von einigen Fans ebenso missverstanden sieht wie sich selbst. Und auch ein prägendes<br />
Rennen für den jungen Mark Cavendish haben wir in dieser Ausgabe aufgegriffen: Chris Boardmans<br />
Olympiasieg 1992 in Barcelona, der der heutigen Radsportgroßmacht England die erste<br />
Goldmedaille seit 72 Jahren (!) bescherte. Gekrönt wurde Marks Mitarbeit von einer gemeinsamen<br />
Ausfahrt, bei der uns auch Toursieger Cadel Evans begleitete. Was uns angeht, können wir diese<br />
Kooperation gerne eines Tages wiederholen.<br />
Auch drei deutsche Athleten haben uns für dieses Heft Frage und Antwort gestanden – sie alle<br />
starten, jeder auf seine Weise, mit großen Hoffnungen in das neue Jahr. Tony Martin fährt 2019 für<br />
Jumbo-Visma und will dort an alte Erfolge anknüpfen – und einen ganz neuen in seinen Palmàres<br />
aufnehmen. Der 24-jährige Nico Denz aus Waldshut-Tiengen könnte nach einem starken Jahr 2018<br />
vor seinem großen Durchbruch stehen. Und auch bei den Damen gibt es größere Umwälzungen:<br />
Nach dem Ende ihres britischen Teams Wiggle High5 kehrt die Allgäuerin Lisa Brennauer in die<br />
Heimat zurück und zählt bei WNT-Rotor fortan zu den Leaderinnen. Was genau sie dort vorhat,<br />
können Sie ab Seite 30 nachlesen.<br />
Auch wenn es angesichts der derzeitigen Schneemassen etwas unpassend und weit entfernt<br />
erscheint, wünsche ich Ihnen einen guten Start in die neue Saison – und viel Spaß bei unserer<br />
aktuellen Ausgabe mit ihrem weltmeisterlichen Anstrich.<br />
Chris Hauke<br />
Redaktion
INHALT<br />
AUSGABE 180 / FEBRUAR 2019<br />
32<br />
MARK CAVENDISH<br />
Wir sprachen mit unserem Gast-Redakteur über seine Planungen<br />
für die Saison 2019 – und so einiges mehr.<br />
RUBRIKEN<br />
© Wayne Reiche<br />
6<br />
SCHNAPP-<br />
SCHUSS<br />
Rennen im Bild<br />
12<br />
PROLOG<br />
Aus dem Herzen<br />
des Pelotons<br />
14<br />
INSIDER<br />
Rick Zabel<br />
& Ralph Denk<br />
18<br />
STRAVA<br />
Die Daten<br />
der Profis<br />
88<br />
WUNSCH-<br />
LISTE<br />
Produkt-Highlights<br />
96<br />
JENS VOIGT<br />
Das letzte<br />
Wort<br />
98<br />
VORSCHAU<br />
Themen der<br />
nächsten Ausgabe<br />
4 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
20<br />
TONY MARTIN<br />
Nach zwei mageren Jahren bei Katusha-Alpecin fährt der Cottbuser<br />
nun für Jumbo-Visma – und will sich dort auf alte Stärken besinnen.<br />
24<br />
NICO DENZ<br />
Vor dem Durchbruch? Der 24-Jährige von AG2R La Mondiale schickt<br />
sich an, eine neue deutsche Hoffnung bei Eintagesrennen zu werden.<br />
30<br />
LISA BRENNAUER<br />
2018 fuhr die Allgäuerin große Erfolge auf Bahn und Straße ein –<br />
bei ihrem neuen Team WNT-Rotor will sie daran anknüpfen.<br />
40<br />
AUSFAHRT MIT ZWEI WELTMEISTERN<br />
Cavendish unterwegs auf den besten Straßen Südafrikas mit anschließendem<br />
Coffee Stop. Mit dabei: Toursieger Cadel Evans.<br />
48<br />
SPRINTER-GEHEIMNISSE<br />
Das Who is Who der aktuellen Sprintszene hat uns die taktischen<br />
Hintergründe einer Massenankunft erklärt – Schritt für Schritt.<br />
54<br />
MAILAND–SAN REMO<br />
Historie, Wetterkapriolen, Überraschungsmomente – das macht<br />
La Classicissima, das erste Monument der Saison, so einzigartig.<br />
62<br />
MARIANNE VOS<br />
Die Niederländerin über den Umgang mit frühem Erfolg, ihre<br />
Siegermentalität und ein Leben nach dem Radsport.<br />
68<br />
RISIKO GEHIRNERSCHÜTTERUNG<br />
Stürze gehören zum Radsport. Wie gewissenhaft gehen die Fahrer<br />
mit dieser verbreiteten Kopfverletzung um?<br />
74<br />
WISSEN IST MACHT<br />
Route, Strategien, Optionen – wie WorldTour-Teams Daten nutzen,<br />
um Rennen zu gewinnen.<br />
80<br />
RETRO<br />
Mensch und Maschine – so fuhr Chris Boardman bei Olympia 1992<br />
in Barcelona zum Sieg in der Einerverfolgung.<br />
© Justin Setterfield/Getty Images, Gruber Images, Velofocus<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 5
SCHNAPPSCHUSS<br />
IMPRESSIONEN DES RADSPORT-JAHRES<br />
6 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
GENT SIX DAYS<br />
Belgien, 17. November 2018<br />
Iljo Keisse fixiert seinen Blick<br />
auf das Geschehen vor ihm,<br />
während Elia Viviani jede Faser<br />
spannt, um ihn beim Madison<br />
am vorletzten Tag optimal auf<br />
die Bahn zu bringen. Das<br />
Quick-Step-Duo wechselt im<br />
Winter regelmäßig von der<br />
Straße aufs Parkett und war die<br />
Toppaarung im historischen<br />
Velodrom ’t Kuipke. Sie wurden<br />
ihrer Favoritenrolle gerecht<br />
und gewannen den 2018er-Titel<br />
im letzten Rennen des Events.<br />
Es war Keisses siebter Sieg in<br />
seiner Heimatstadt und der<br />
erste Erfolg für Olympiasieger<br />
Viviani.<br />
© Kristof Ramon<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 7
SCHNAPPSCHUSS<br />
8 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
SCHNAPPSCHUSS<br />
CROSS WORLD<br />
CUP KOKSIJDE<br />
Belgien, 25. November 2018<br />
Achtung Stau! Mehr als<br />
60 Fahrerinnen treten sich fast<br />
auf die Füße, als sie ihre Räder<br />
den Anstieg herauftragen.<br />
Beobachtet werden sie von<br />
zahlreichen Fans, die das kalte<br />
Novemberwetter wenig beein -<br />
druckt. An der Spitze des Feldes<br />
ist Weltmeisterin Sanne Cant zu<br />
erkennen, doch es sollte nicht ihr<br />
Tag werden. Nach einer frühen<br />
Attacke fiel sie gesundheitlich<br />
angeschlagen zurück und kam<br />
als Siebte ins Ziel. Nutznießerin<br />
war die Niederländerin Denise<br />
Betsema. Die Auf steigerin der<br />
Saison beschleunigte auf der<br />
letzten Runde und holte sich<br />
ihren ersten großen Sieg.<br />
© Kristof Ramon<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 9
SCHNAPPSCHUSS<br />
JAARMARKT-<br />
CROSS NIEL<br />
Belgien, 10. November 2018<br />
Von Matsch bedeckt, spült Tom<br />
Pidcock den Frust am Ende des<br />
Rennens herunter. Herbstregen<br />
machte den Parcours schlammig<br />
und rutschig, und obwohl<br />
der junge Brite – amtierender<br />
U23-Cross-Europameister –<br />
einen guten Start erwischte,<br />
konnte nichts und niemand<br />
Mathieu van der Poel stoppen.<br />
In Abwesenheit seines Erz -<br />
rivalen Wout Van Aert fuhr der<br />
Europa-Champion der Elite<br />
einen nie gefährdeten Sieg ein<br />
– seinen achten im Jahr 2018.<br />
© Kristof Ramon<br />
10 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
SCHNAPPSCHUSS<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 11
PROLOG<br />
AUS DEM HERZEN DES PELOTONS<br />
DI-DATA: UNFALLBERICHT<br />
Nach zahlreichen Verletzungen 2018 benötigt Dimension Data<br />
eine Schicksalswende, um in der WorldTour zu bleiben.<br />
© BettiniPhoto<br />
Das Verletzungspech von Dimension Data<br />
2018 setzte sich auch nach der Rennsaison<br />
fort, als sich Mark Renshaw Anfang<br />
Dezember im Training bei einer Kollision mit einem<br />
Auto das Becken brach. Eines der prägenden<br />
Themen des Jahres war die Reihe von Verletzungen,<br />
die Fahrer wie Mark Cavendish, Steve Cummings,<br />
Ben O’Connor und Bernhard Eisel heimsuchten.<br />
In der ersten Jahreshälfte musste das<br />
Team auch auf eine weitere wichtige Stütze, Reinardt<br />
Janse van Rensburg, verzichten, der sich von<br />
den Folgen einer Leistenoperation erholte.<br />
Leider verfolgte das Pech auch den 36-jährigen<br />
Renshaw, als er mit seinen Vorbereitungen für<br />
2019 begann. „Ich bin mir nicht sicher, ob der<br />
Aufprall mit dem Auto oder dem Boden meine<br />
Verletzungen verursacht hat, aber es war definitiv<br />
ein beängstigender Moment, da<br />
im Nachhinein herauskam, dass es<br />
viel schlimmer hätte kommen können“,<br />
sagte er in der Pressemitteilung<br />
des Teams über den Unfall.<br />
3<br />
MONATE<br />
FÄLLT RENSHAW<br />
VERLETZT AUS<br />
„Es ist großer Mist“, sagte der<br />
Australier <strong>Procycling</strong>, als er sich<br />
ein paar Tage später zu Hause erholte.<br />
Renshaw hatte im vergangenen<br />
Jahr bereits zwei Operationen durchgemacht,<br />
um die chronische Nebenhöhlenentzündung<br />
zu bekämpfen, die Ende der Saison<br />
2017 begann und von der er schätzte, dass sie<br />
seine Leistung um „zehn bis 15 Prozent“ reduziert<br />
hatte. Nach seinem Unfall sagte<br />
er: „Es wird etwa drei Monate dauern,<br />
bis ich zurückkomme und wieder in<br />
der Lage bin, richtig zu trainieren.“<br />
Dieses Jahr sollte es eine leichte<br />
Veränderung für den Fahrer geben,<br />
der Cavendish bei 17 seiner<br />
30 Tour-Siege als Teamkollege unterstützt<br />
hat. 2019 sollte Renshaw<br />
seine Anfahrerqualitäten weiter nutzen<br />
– für den jungen südafrikanischen Sprinter<br />
12 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
Ryan Gibbons bei der Tour Down Under und für<br />
Giacomo Nizzolo bei den Rennen im Nahen Osten<br />
sowie beim Giro d’Italia. „Ich wollte wirklich<br />
einen guten Start ins Jahr hinlegen, denn im letzten<br />
Jahr hatte ich einige Operationen an meinen<br />
Nebenhöhlen und wollte jetzt von der Tour Down<br />
Under bis zum Giro Vollgas geben. Alles zielte auf<br />
das erste Halbjahr ab; nun wird es ein wenig nach<br />
hinten geschoben.“<br />
Er fügte hinzu: „Es war ziemlich motivierend<br />
für mich, mich nach so vielen Jahren zu verändern.<br />
Nicht, dass ich zusätzliche Motivation<br />
bräuchte – aber es ist wirklich sehr motivierend,<br />
wenn neue Leute ins Team kommen.“<br />
Renshaws Pech wirft einen Schatten auf den<br />
Saisonstart des Teams. Im vergangenen Jahr lag<br />
das in Südafrika registrierte Team im Ranking der<br />
WorldTour am Ende. Ben King holte die einzigen<br />
WorldTour-Siege des Teams: zwei Etappen bei der<br />
Vuelta, die ersten Siege seit der Tour 2017 auf<br />
WorldTour-Level.<br />
Bislang war der Kampf um Ergebnisse vor allem<br />
für die Moral der Mannschaft belastend, doch es<br />
könnte fatal sein, wenn diese Phase auch 2019<br />
andauern sollte. Mit der Reform der WorldTour im<br />
Jahr 2020, bei der Teams zwischen WorldTour<br />
und ProConti-Level auf- und absteigen, sieht sich<br />
Teamchef Douglas Ryder vor die Aufgabe gestellt,<br />
das Team in der Rangliste nach oben zu führen.<br />
„Ich will nicht sagen, dass wir 2019 um unser<br />
Überleben kämpfen, aber Tatsache ist, dass wir<br />
um unser Überleben kämpfen müssen“, sagte Ryder<br />
im Vorbereitungscamp in Südafrika.<br />
Das Team hat Schritte unternommen, um die<br />
Mannschaft breiter aufzustellen. Giacomo Nizzolo,<br />
der im Jahr 2018 elf Top-Drei-Platzierungen,<br />
aber nur einen Sieg einfuhr, soll den Druck auf<br />
Cavendish mindern. Enrico Gasparotto (36) und<br />
Roman Kreuziger (32) stoßen zum Team, um<br />
Grand-Tour-Erfahrung und Stärke am Berg zu<br />
bringen. Und der größte Erfolg des Teams war die<br />
Verpflichtung von Michael Valgren, Sieger von<br />
Omloop Het Nieuwsblad und Amstel Gold, der<br />
die Chancen des Teams bei den Klassikern erhöht.<br />
Ryder will mit voller Kraft angreifen. „Wir wollen<br />
wirklich gut mit der Tour Down Under beginnen<br />
und planen, ein wirklich starkes Team dorthin<br />
zu schicken, denn wenn wir das Ding dort<br />
zum Rollen kriegen, dann läuft es hoffentlich das<br />
ganze Jahr über.“<br />
Natürlich sollte Renshaw ein wichtiger Teil dieses<br />
Plans sein. „Der Saisonstart ist jetzt einfach<br />
sehr wichtig“, sagte er. „Wenn du gut in Down<br />
Under startest, kannst du die WorldTour anführen,<br />
also sind die Punkte definitiv sehr wichtig.“<br />
Ein Silberstreif am Horizont, sagt Renshaw,<br />
ist, dass seine Verletzung recht unkompliziert<br />
ist. „Es wird harte Arbeit sein, versteht mich<br />
nicht falsch, aber was die Ärzte mir gesagt haben,<br />
ist, dass, wenn ich mich um mich selbst<br />
kümmere und alles richtig mache, die Verletzung<br />
keine langfristigen Probleme bereiten wird. Ich<br />
sollte ziemlich schnell wieder in Form kommen,<br />
also werde ich den Giro im Moment weiter als<br />
Ziel behalten.“<br />
Renshaw und das gesamte Team hoffen, dass<br />
das Pech der Mannschaft mit seinem Sturz endete,<br />
sonst könnte das Team Schwierigkeiten haben,<br />
2020 in der Spitzengruppe zu bleiben.<br />
Sprinter Giacomo Nizzolo kommt<br />
von Trek-Segafredo dazu, um Siege<br />
für das Team einzufahren.<br />
Renshaws Saisonvorbereitung<br />
startete denkbar schlecht, als er sich<br />
bei einem Unfall das Becken brach.<br />
DIMENSION DATA: DER ARZTBERICHT 2018<br />
Die Fahrer von Dimension Data hatten im vergangenen Jahr ungewöhnlich viel Verletzungspech.<br />
FAHRER VERLETZUNG AUSFALLZEIT RÜCKKEHR<br />
Mark Cavendish Rippenbruch, Mailand–San Remo 7 Wochen Tour de Yorkshire<br />
Bernhard Eisel Hirnblutung, Tirreno–Adriatico 4 Monate RideLondon Classic<br />
Ben O’Connor Schlüsselbeinbruch, Giro d’Italia 2 Monate Tour de Wallonie<br />
Reinardt van Rensburg Leistenbruch-OP, Saisonpause 6 Monate Tour of Norway<br />
Mekseb Debesay Beckenbruch, Tour de Langkawi 3 Monate Eritreische Meisterschaft<br />
Scott Thwaites Wirbelbruch, Training im März 4 Monate Österreich-Rundfahrt<br />
Steve Cummings Gebrochenes Wadenbein, Tour of Austria 3 Wochen Clásica San Sebastián<br />
Julien Vermote Gebrochenes Handgelenk, BinckBank Tour 4 Wochen Tour de l’Eurométropole<br />
Mark Renshaw Beckenbruch, Training im Dezember 3–4 Monate Giro d’Italia (geplant)<br />
© BettiniPhoto<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 13
INSIDER<br />
RICK ZABEL<br />
WIR SIND ALLE TOP MOTIVIERT!<br />
Der Katusha-Alpecin-Profi berichtet von der Teampräsentation und seinem Wintertraining.<br />
Aufgezeichnet von Werner Müller-Schell, © Jojo Harper/Team Katusha-Alpecin (Porträt), Kathrin Schafbauer<br />
Nur noch wenige Tage, dann<br />
fällt der erste Startschuss.<br />
Nach den ruhigen Monaten<br />
der Offseason jucken nicht nur bei<br />
mir, sondern bei jedem Profi im Peloton<br />
die Beine. Endlich wieder Rennluft<br />
schnuppern, endlich das zeigen,<br />
woran man über den Winter gearbeitet<br />
hat. In dieser Kolumne will ich<br />
mit euch gemeinsam auf meinen<br />
Radwinter zurück- und gleichzeitig<br />
auf mein Rennprogramm für das<br />
Frühjahr vorausschauen.<br />
Das Wintertraining 2018/19<br />
begann für mich direkt mit einem<br />
Rückschlag. Allerdings einem, der<br />
nicht so schwerwiegend war, wie<br />
anfangs gedacht: Denn nachdem ich<br />
Anfang November beim Training<br />
gestürzt war und mir einen Schlüsselbeinbruch<br />
zugezogen hatte, saß<br />
ich bereits drei Wochen später wieder<br />
auf dem Rad – genau richtig für<br />
einen enorm trainingsintensiven<br />
Dezember. Dank zweier perfekter<br />
Wochen auf Mallorca und zwei weiterer<br />
guter Wochen in der Heimat<br />
sammelte ich bis zum Jahresende<br />
noch einmal knapp 3.000 Kilometer<br />
– und legte dabei die Basis für eine<br />
hoffentlich erfolgreiche Saison 2019.<br />
2019 soll schließlich wesentlich<br />
besser laufen als das enttäuschende<br />
Jahr 2018 – das geht nicht nur<br />
mir, sondern uns allen im Team<br />
Katu sha-Alpecin so. Letztes Jahr<br />
war sicher nicht das, was wir von<br />
uns allen erwartet haben. Entsprechend<br />
viel Druck macht sich nun<br />
jeder Fahrer, es in den kommenden<br />
zwölf Monaten besser zu machen.<br />
Das konnte man nicht nur bei der<br />
Teampräsentation am 7. Dezember<br />
in Koblenz, sondern auch im Teamtrainingslager<br />
direkt im Anschluss<br />
spüren: Viele Fahrer kamen wesentlich<br />
fitter ins Camp als noch im letzten<br />
Jahr – und auch unsere Neuverpflichtungen<br />
haben sich bereits gut<br />
„LETZTES JAHR WAR SICHER NICHT DAS,<br />
WAS WIR VON UNS ALLEN ERWARTET HABEN.<br />
ENTSPRECHEND VIEL DRUCK MACHT SICH<br />
NUN JEDER FAHRER, ES 2019<br />
BESSER ZU MACHEN.“<br />
eingefügt: Unter anderem sind der<br />
belgische Klassiker-Spezialist Jens<br />
Debusschere, der spanische Bergfahrer<br />
Daniel Navarro und das portugiesische<br />
Talent Ruben Guerreiro<br />
neu im Team. Mit 24 Fahrern ist<br />
unser Kader zwar etwas kleiner als<br />
im vergangenen Jahr – dafür stimmt<br />
aber die Qualität.<br />
Das liegt nicht zuletzt daran, dass<br />
auch im Management bei Katusha-<br />
Alpecin über den Winter einiges verändert<br />
wurde. So stieß unter anderem<br />
der Belgier Dirk Demol neu zur<br />
Sportlichen Leitung hinzu und mein<br />
Vater ergänzt die Sportliche Leitung<br />
als Performance Manager. Letzteres<br />
wird dabei gerade für mich spannend<br />
werden: Auf diesem Level haben<br />
mein Vater und ich im Laufe<br />
meiner Karriere als Radprofi noch<br />
Am 7. Dezember fand die Teampräsentation<br />
von Katusha-Alpecin<br />
statt. Auch 2019 wird Rick Zabel<br />
(Mitte) wieder oft gemeinsam mit<br />
Marcel Kittel (2. v. li. mit Mikrofon)<br />
ins Rennen gehen.<br />
nie zusammengearbeitet und ich<br />
kann sicherlich von seiner sportlichen<br />
Expertise sehr profitieren.<br />
Nichtsdestotrotz weiß ich aber auch<br />
jetzt schon, dass wir nicht immer<br />
einer Meinung sein werden – wie das<br />
eben bei Vater und Sohn so ist.<br />
Mein persönlicher Startschuss<br />
für die Rennsaison 2019 wird am<br />
31. Januar bei der Mallorca Challenge<br />
fallen. Danach werde ich im Februar<br />
mehrere Rennen in Spanien<br />
bestreiten, ehe mit der Abu Dhabi<br />
Tour Ende Februar die WorldTour<br />
für mich beginnt. Im Anschluss<br />
werde ich Paris–Nizza und dann die<br />
gesamten Klassiker – von Mailand–<br />
San Remo bis Paris–Roubaix – fahren.<br />
Es geht also direkt mit Vollgas<br />
los – nach der langen Winterpause<br />
bin ich für den ersten Rennblock<br />
aber hoch motiviert.<br />
Geboren am 7. Dezember 1993,<br />
zog es den Sohn von Erik Zabel<br />
schon früh zum Radsport. Nach<br />
guten Platzierungen bei den<br />
Junioren wechselte er 2012 zum<br />
Rabobank Development Team.<br />
2014 wurde Rick Zabel Profi<br />
bei BMC und fuhr drei Jahre bei<br />
der US-amerikanischen Equipe.<br />
2017 wechselte er zu Katusha-<br />
Alpecin und bestritt erstmals<br />
die Tour de France und die Straßen-WM.<br />
14 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
04/18<br />
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INSIDER<br />
RALPH DENK<br />
WIE IN EINEM GROSSUNTERNEHMEN<br />
Der Teamchef gibt Einblicke in die Vorbereitungen und Ziele der Saison 2019.<br />
Aufgezeichnet von Werner Müller-Schell, © Bora–hansgrohe/VeloImages<br />
Von wegen stille Zeit. Unter<br />
diesem Motto habe ich im<br />
vergangenen Jahr in dieser<br />
Kolumne darüber geschrieben, warum<br />
November und Dezember für<br />
das Teammanagement die stressigsten<br />
Monate sind. In diesem Winter<br />
war es nicht anders: Für 2019 gibt<br />
es neue Fahrzeuge, neue Bekleidung,<br />
neues Material und viele weitere<br />
Neuigkeiten. Diese organisatorischen<br />
Arbeiten gehen entsprechend<br />
ins Detail, denn sogar Kleinigkeiten<br />
wie das Design der neuen Trinkflaschen<br />
sind zu erledigen. Dazu kommen<br />
Fotoshootings, medizinische<br />
Tests und vieles mehr. Und natürlich<br />
muss auch die neue Saison geplant<br />
werden: Der Rennkalender und die<br />
Trainingslager müssen fixiert und<br />
mit den Fahrern muss ein individueller<br />
Plan ausgearbeitet werden,<br />
damit wir am Ende der Saison unsere<br />
Ziele erreichen.<br />
Gerade die Rennplanung muss<br />
man sich dabei wie die klassischen<br />
Zielvereinbarungen in einem Großunternehmen<br />
vorstellen. Zum Saisonende<br />
gibt es mit jedem Fahrer<br />
und der Sportlichen Leitung ein Gespräch,<br />
in dem das vergangene Jahr<br />
analysiert wird. Die zentralen Fragen:<br />
Was ist gut gelaufen? Und was<br />
ist nicht so gut gelaufen? Gleichzeitig<br />
wird aber auch bereits das<br />
nächste Jahr angesprochen – etwa<br />
wo sich ein Sportler am wertvollsten<br />
für die Mannschaft sieht und wel -<br />
che Rennen er gerne fahren möchte.<br />
Natürlich bekommt man von allen<br />
27 Fahrern die Antwort, dass jeder<br />
zur Tour de France will, im Großen<br />
und Ganzen versuchen wir diese<br />
Wünsche aber zu berücksichtigen.<br />
Mir als Teamchef ist es extrem<br />
wichtig, die Rennfahrer miteinzubeziehen.<br />
Ich glaube nicht, dass es<br />
„WIR HABEN MIT PETER DEN BESTEN<br />
KLASSIKER-FAHRER DER WELT UND WOLLEN<br />
MIT IHM IM FRÜHJAHR MINDESTENS EIN<br />
MONUMENT GEWINNEN.“<br />
aus motivationstechnischer Sicht<br />
sinnvoll ist, nur Vorgaben zu geben.<br />
Teammanager Ralph Denk<br />
beim Mannschaftstrainingslager<br />
auf Mallorca.<br />
Unsere Ziele für 2019 sind dabei<br />
klar gesteckt: Wir haben mit Peter<br />
[Sagan; Anm. d. Red.] den besten<br />
Klassiker-Fahrer der Welt und wollen<br />
mit ihm im Frühjahr mindestens<br />
ein Monument gewinnen. Chancen<br />
hat er bei so gut wie jedem Klassiker<br />
– auch bei einem schwereren Rennen<br />
wie Lüttich–Bastogne–Lüttich,<br />
das er in diesem Jahr zum ersten<br />
Mal auf Sieg fahren wird. Dazu wollen<br />
wir bei allen drei großen Rundfahrten<br />
mindestens eine Etappe gewinnen<br />
und bei der Tour de France<br />
auch wieder das Grüne Trikot holen.<br />
Ein weiteres Ziel ist zudem, unsere<br />
Gesamtwertungsbilanz in Frankreich<br />
aufzubessern. 2019 soll es<br />
mindestens ein Fahrer von Bora–<br />
hansgrohe in die Top Ten schaffen<br />
– und mit unseren beiden Kapitänen<br />
Emanuel Buchmann und Patrick<br />
Konrad sehen wir große Chancen,<br />
das zu schaffen.<br />
Die großen Rennen nähern sich<br />
nun mit großen Schritten, denn<br />
wenn diese Ausgabe erscheint, ist<br />
mit der Tour Down Under bereits<br />
das erste WorldTour-Rennen Geschichte.<br />
Wir hatten dort eine star -<br />
ke Truppe mit Gregor Mühlberger,<br />
Jay McCarthy und Peter am Start<br />
– entsprechend hoffe ich nach den<br />
organisationsreichen Wintermonaten,<br />
dass wir sportlich an die vergangene<br />
Saison angeknüpft und direkt<br />
erfolgreich in das Jahr gestartet<br />
sind. Wenn ich beim nächsten Mal<br />
bereits über unseren ersten Saisonsieg<br />
berichten könnte – es wäre ein<br />
gutes Omen für die Saison 2019.<br />
Ralph Denk ist Teammanager der<br />
deutschen WorldTour-Mannschaft<br />
Bora–hansgrohe. Nach jahrelanger<br />
Aufbauarbeit ist die Equipe mit Sitz<br />
im oberbayerischen Raubling seit<br />
2017 in der höchsten Radsportliga<br />
aktiv. In <strong>Procycling</strong> berichtet Denk,<br />
in früheren Jahren selbst aktiver<br />
Rennfahrer, jeden Monat über seinen<br />
Alltag als Teamchef.<br />
16 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
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DAS SIND DIE<br />
KILOMETERFRESSER 2018<br />
Welcher Profi hat 2018 die meisten Jahreskilometer auf Strava gesammelt?<br />
Text Werner Müller-Schell<br />
© Photo Pool NV by Luc Claessen/Getty Images<br />
Stolze 35.492 Kilometer. Diese<br />
Strecke legte der Däne Michael<br />
Valgren in der Saison 2018<br />
auf seinem Arbeitsgerät zurück. Der<br />
26-Jäh rige aus dem Astana-Team,<br />
der im abgelaufenen Jahr unter anderem<br />
das Amstel Gold Race gewinnen<br />
konnte, ist damit der fleißigste Radprofi<br />
2018 – zumindest, wenn es<br />
nach Strava geht. Da inzwischen über<br />
150 Radprofis auf der Online-Platt -<br />
form registriert sind und regelmäßig<br />
ihre Einheiten und GPS-Tracks hochladen,<br />
haben wir, wie in den Vorjahren,<br />
eine Rangliste der fleißigsten<br />
Online-Kilometerfresser erstellt und<br />
deren Fahrten zugleich analysiert.<br />
Hinter Valgren, der bereits 2017<br />
unser Ranking gewonnen hatte (damals<br />
noch mit 33.908 Kilometern),<br />
landeten der Italiener Marco Frapporti<br />
(35.265 Kilometer, Team<br />
Androni Giocattoli) und der Belgier<br />
Oliver Naesen (33.984,8 Kilometer,<br />
AG2R) auf den Rängen zwei und<br />
drei. Auch Naesen hatte sich im<br />
Vorjahr mit 33.687 Kilometern bereits<br />
als Kilometerfresser präsentiert.<br />
Die deutschen Fahrer hatten<br />
in dieser Saison dagegen nichts mit<br />
der Vergabe der Topplätze zu tun.<br />
Marcus Burghardt brachte es als<br />
„Fleißigster“ auf 28.648 Strava-<br />
Kilometer, landete damit aber nicht<br />
einmal unter den besten 15 der internationalen<br />
Elite.<br />
Der Däne Michael Valgren<br />
legte laut Strava 2018 mit<br />
knapp 35.500 Kilometern<br />
die meisten Jahreskilometer<br />
im Peloton zurück.<br />
18 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
PROLOG<br />
DISTANZ VS. HÖHENMETER<br />
Aus sportlicher Sicht sind allerdings<br />
nicht nur die Trainingskilometer<br />
der Profis interessant. Die weiteren<br />
Kenngrößen Trainingsdauer, Höhenmeter<br />
und Anzahl der Einheiten<br />
zeigen, auf welchem Terrain und wie<br />
intensiv die jeweiligen Fahrer unterwegs<br />
waren. So ist der Australier<br />
Jack Haig (Mitchelton-Scott) zwar<br />
nur Zwölfter in Sachen Kilometern<br />
(32.230), aber mit 522.500 Höhenmetern<br />
der Profi, der am meisten<br />
in den Bergen unterwegs war. Der<br />
einzige weitere Topprofi mit über<br />
500.000 Höhenmetern war Astana-Fahrer<br />
Davide Villella (Italien),<br />
der es auf 501.123 Meter brachte.<br />
Villella brauchte dafür aber bereits<br />
33.791 Kilometer. Der „König der<br />
Ebene“ war 2018 der Belgier Iljo<br />
Keisse (Quick-Step). Bei 33.121 Kilometern<br />
kam er gerade einmal auf<br />
220.367 Höhenmeter.<br />
Die mit Abstand meisten Einheiten<br />
fuhr Marco Frapporti, dessen<br />
Kilometer sich auf 430 Radfahrten<br />
aufteilen – ein Schnitt von 82 Kilometern<br />
pro Ausfahrt. Sieger hier ist<br />
der Belgier Thomas De Gendt (Lotto<br />
Soudal): Mit 32.028 Kilometern ist<br />
er zwar nur 14. im Kilometer-Ranking,<br />
allerdings brauchte er dafür<br />
auch nur 279 Einheiten. Damit legt<br />
De Gendt jedes Mal, wenn er sich auf<br />
den Sattel schwingt, durchschnittlich<br />
115 Kilometer zurück.<br />
Der Deutsche Marcus<br />
Burghardt brachte es 2018 auf<br />
rund 28.600 Kilometer.<br />
FAHRER KILOMETER TRAININGSZEIT HÖHENMETER RADFAHRTEN<br />
1 Michael Valgren (Den, Astana) 35.492 km 1.109 h 44 min 480.976 m 377<br />
2 Marco Frapporti (Ita, Androni) 35.265 km 1.116 h 27 min 424.913 m 430<br />
3 Oliver Naesen (Bel, AG2R) 33.984,8 km 974 h 20 min 317.904 m 340<br />
4 Davide Villella (Ita, Astana) 33.791,8 km 1.039 h 48 min 501.123 m 330<br />
5 Niki Terpstra (Ned, Direct Énergie) 33.653,9 km 997 h 42 min 227.694 m 351<br />
6 Iljo Keisse (Bel, Quick-Step) 33.121,2 km 950 h 26 min 220.367 m 366<br />
7 Michal Kwiatkowski (Pol, Sky) 33.068,3 km 1.032 h 36 min 471.662 m 337<br />
8 Michael Woods (Can, EF Education) 32.518,0 km 1.040 h 14 min 447.567 m 320<br />
9 Damiano Caruso (Ita, CCC) 32.508,2 km 1.010h 54min 437.860 m 325<br />
10 Robert Gesink (Ned, LottoNL) 32.489,7 km 1.037 h 37 min 448.655 m 350<br />
11 Marco Marcato (Ita, UAE) 32.321,1 km 982 h 29 min 402.861 m 328<br />
12 Jack Haig (Aus, Mitchelton-Scott) 32.230,2 km 1.034 h 48 min 522.500 m 330<br />
13 Silvan Dillier (Swi, AG2R) 32.209,9 km 1.010 h 1 min 425.741 m 295<br />
14 Thomas De Gendt (Bel, Lotto Soudal) 32.028,3 km 980 h 42 min 407.463 m 279<br />
15 Laurens Ten Dam (Ned, Sunweb) 31.951,8 km 993 h 45 min 293.298 m 330<br />
16 Marcus Burghardt (Ger, Bora) 28.648,7 km 885 h 45 min 350.167 m 276<br />
Unser Strava-Jahreskilometer-Ranking 2018. Gewertet wurden alle Einheiten vom 1. Januar bis 31. Dezember. Zudem zählen nur<br />
GPS-Fahrten. Das Ranking kann unvollständig sein, da viele Profis ihre Schlüsseleinheiten sowie wichtige Rennen oft nicht auf das<br />
Portal hochladen. Hinzu kommt, dass zahlreiche Athleten nur mit Spitznamen auf der Online-Plattform registriert sind und so nicht<br />
aufgefunden werden können. Gewertet wurden nur Sportler aus WorldTour- und ProfessionalContinental-Teams.<br />
© Bora–hansgrohe/VeloImages<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 19
„GENAU SO WILL<br />
ICH ARBEITEN“<br />
Nach zwei mageren Jahren bei Katusha-Alpecin fährt Tony Martin ab<br />
2019 für die niederländische Equipe Jumbo-Visma – und will sich dort<br />
auf alte Stärken besinnen, um große Ziele zu erreichen. Wir sprachen<br />
den mehrfachen Zeitfahrweltmeister kurz vor dem Jahreswechsel,<br />
als er mit seinem neuen Team im spanischen Girona trainierte.<br />
Interview Chris Hauke<br />
Tony, lass uns zu Beginn kurz auf 2018<br />
zurückschauen. Wie würdest du das<br />
Jahr für dich beschreiben? Gab es spezielle<br />
Wende- oder Knackpunkte?<br />
Tony Martin: Ich bin mit sehr viel Motivation gestartet<br />
und hatte gehofft, dass die Fehler aus<br />
2017 erkannt und entsprechend ausgebessert<br />
wurden und dass 2018 besser laufen würde. Aber<br />
der Stein ist nicht wirklich ins Rollen gekommen.<br />
Es gab ein paar Baustellen – meinerseits und auch<br />
seitens des Teams –, die wir einfach nicht beheben<br />
konnten. Das Paket hat am Ende einfach<br />
nicht mehr gestimmt. Irgendwo war der Wurm<br />
drin – ohne jetzt explizit sagen zu können, warum.<br />
Der einzige wirkliche Lichtblick war der<br />
zweite Platz beim langen Giro-Zeitfahren, wo ich<br />
nach längerer Zeit mal wieder in die Weltspitze<br />
reinfahren konnte. Aber der Rest ist ausgeblieben.<br />
Ich denke, dass ich bei der Tour richtig gut in<br />
Form war und sicherlich hinten raus ein bisschen<br />
was hätte zeigen können, aber dort kam dann der<br />
Sturz dazwischen [Tony musste das Rennen nach<br />
der 8. Etappe aufgrund einer Wirbelkörperkompressionsfraktur<br />
aufgeben und fiel danach lange<br />
aus], dementsprechend war die Saison nach hinten<br />
raus ein bisschen zäh. Aber das soll keine<br />
Ausrede sein. Ich habe mir vorher auf jeden Fall<br />
wesentlich mehr erwartet.<br />
Das ist richtig. Das Schöne dabei war, dass Robert<br />
auf mich zugekommen ist. Und nicht andersrum.<br />
Das Team hatte ihm mitgeteilt,<br />
dass es dich gerne verpflichten würde.<br />
Robert ist ein ganz feiner Kerl, wir kennen uns<br />
schon seit Jahren und sind bereits in der U23 zusammen<br />
gefahren. Er hat gehört, dass das Team<br />
an mir Interesse hat, und mich absolut uneigennützig<br />
kontaktiert, als ich nach dem Tour-Sturz<br />
in der Reha war. Ohne im Namen des Teams zu<br />
sprechen oder mich zu irgendwas zu drängen, hat<br />
er mir zu Jumbo geraten, da er mich als Fahrertyp<br />
kennt und weiß, was ich will – und natürlich<br />
auch, wie das Team arbeitet und was es mir bieten<br />
kann. Wir haben ein sehr langes Gespräch gehabt,<br />
für das ich ihm sehr dankbar bin. Das war wirklich<br />
das Zünglein an der Waage.<br />
Stand Lotto zu diesem Zeitpunkt auf<br />
deiner Liste möglicher Arbeitgeber?<br />
Ich sage es mal so: Ich war immer ein heimlicher<br />
Bewunderer ihrer Performance. Es ist ja bekannt,<br />
dass sie nicht das Team mit dem größten Bud-<br />
get waren oder sind, aber sie haben einfach das<br />
Beste aus den Möglichkeiten gemacht. Und eigentlich<br />
sogar noch mehr. Ja, sie standen auf<br />
meiner Liste – ohne dass der Kontakt direkt von<br />
mir ausging.<br />
Was hat dich abgehalten?<br />
Ich dachte, die Mannschaft ist so gut aufgestellt,<br />
dass vielleicht gar kein Interesse besteht und ich<br />
nicht unbedingt das fehlende Glied bin. Doch das<br />
Team hat mir genau das mitgeteilt – vor allen Dingen<br />
in Richtung Mannschaftszeitfahren, wo die<br />
Klassementfahrer immer wieder Zeit liegen lassen,<br />
die sie dann auch teilweise in den Bergen nicht<br />
mehr einholen können, etwa bei der Tour 2018<br />
[Lotto verlor auf der 3. Etappe eine Minute und<br />
elf Sekunden auf Sky, Primož Roglic fehlte am<br />
Ende knapp eine Minute auf Chris Froome und<br />
damit zum Podium]. Ich habe mich natürlich sehr<br />
gefreut, dass das Team nach einem nicht gerade<br />
optimalen Jahr Interesse an mir zeigt, und war da<br />
sehr schnell auch Feuer und Flamme. Wir sind<br />
uns auch ziemlich schnell einig geworden.<br />
Wann war denn klar, dass du nicht bei<br />
Katusha bleiben wirst? Schon vor der Tour?<br />
[Pause] Nein. Ich wollte die Tour auf jeden Fall<br />
noch abwarten und schauen, wo die Entwicklung<br />
2019 gehst du für Jumbo-Visma, das ehemalige<br />
Team LottoNL–Jumbo, an den Start.<br />
Ausgangspunkt war ein Gespräch mit Robert<br />
Wagner, der sechs Jahre dort gefahren ist.<br />
„ICH HABE MICH SEHR GEFREUT, DASS DAS TEAM NACH<br />
EINEM NICHT GERADE OPTIMALEN JAHR INTERESSE AN MIR<br />
ZEIGTE, UND WAR SEHR SCHNELL FEUER UND FLAMME.“<br />
20 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
© Roth-Foto<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 21
TONY MARTIN<br />
© Luc Claessen/Getty Images<br />
von Katusha während des Rennens hingeht. Die<br />
Story mit Marcel [Sportdirektor Dimitri Konyshew<br />
warf Kittel öffentlich Egoismus vor] hat dann<br />
nicht gerade fürs Team gesprochen.<br />
Und damit stand für dich fest, dass ihr<br />
nicht weiter miteinander arbeiten würdet?<br />
Ich sage es mal so: Die Gespräche sind nie so weit<br />
gekommen, dass mir das Team einen Vertrag hätte<br />
vorlegen können. Das Interesse auf beiden Seiten<br />
war nicht mehr gegeben. So würde ich es mal<br />
beschreiben, ohne eine Wertung zu geben. Ich<br />
denke, das Team hat erkannt, dass ich nicht ins<br />
Team passe. Und auch ich habe erkannt, dass ich<br />
nicht ins Team passe. Es war ein bisschen wie<br />
eine einvernehmliche Trennung.<br />
Schauen wir nach vorne. Jumbo-Visma hat<br />
in den vergangenen Jahren einen großen<br />
Schritt gemacht und mit Steven Kruijswijk,<br />
Dylan Groenewegen oder Primož Roglic echte<br />
Hochkaräter in seinen Reihen. Auch wenn<br />
es hierzulande bislang etwas unter dem Radar<br />
der breiten Öffentlichkeit geblieben ist,<br />
handelt es sich um ein absolutes Topteam.<br />
Das ist richtig. Der Ansatz passt auch ganz gut zu<br />
meiner Persönlichkeit. Ich finde es einfach cool,<br />
wenn man liefert, ohne immer die große Welle zu<br />
machen. Das erlebe ich auch jetzt, wo ich das<br />
Team ein bisschen näher kennenlerne: Es wird<br />
sehr ruhig und konzentriert gearbeitet, ohne dass<br />
man jede Kleinigkeit und Innovation in den Medien<br />
rausbläst. Das kommt mir absolut entgegen. Ich<br />
bin auch eher ein ruhiger Typ, der in sich gekehrt<br />
ist und gerne fokussiert arbeitet, ohne das unbedingt<br />
mit allen teilen zu müssen. Du hast völlig<br />
recht: Das Team ist unauffällig, aber extrem erfolgreich.<br />
Genau so will ich auch arbeiten.<br />
Mit Paul Martens, der seit 2008 dabei ist,<br />
hast du einen weiteren Ansprechpartner. Ihr<br />
kennt euch auch schon ein bisschen länger …<br />
Wir sind bei den Junioren erst gegeneinander gefahren,<br />
dann in der U23-Nationalmannschaft<br />
miteinander und haben uns schließlich gegenseitig<br />
auf dem Weg ins Profilager begleitet. Das hat<br />
natürlich zusammengeschweißt. Dass ich mal<br />
mit ihm zusammen in einem Profiteam fahre, ist<br />
eine sehr coole Wende. Und klar, er ist für mich<br />
auf jeden Fall ein wichtiger Ansprechpartner,<br />
wenn es darum geht, ein bisschen hinter die Kulissen<br />
zu schauen oder Dinge zu verstehen, die<br />
für mich im Moment vielleicht noch ein bisschen<br />
befremdlich sind.<br />
Neben der ruhigen und konzentrierten<br />
Arbeitsweise – was ist dir bei Jumbo-Visma<br />
sonst bislang aufgefallen?<br />
Das klingt jetzt ein bisschen pathetisch, aber es<br />
ist wirklich eine Gruppe. Es gibt natürlich einen<br />
sehr hohen Anteil an Holländern, aber nicht diese<br />
Grüppchenbildung, die ich teilweise aus anderen<br />
Teams gewohnt bin. Teil einer großen Gruppe zu<br />
werden, ist sehr viel einfacher, als sich mit tausend<br />
kleinen Gruppen beschäftigen zu müssen.<br />
Wenn du etwa eine spanische Abteilung hast,<br />
eine italienische und dazu eine deutsche, ist es<br />
natürlich immer schwer, daraus ein Team zu formen.<br />
Das ist ein extremer Unterschied. Ansonsten<br />
muss ich extrem wenig Medien- und Commercial-Arbeit<br />
machen, was für ein Dezember-<br />
Trainingscamp echt unüblich ist. Ich habe immer<br />
ein bisschen Grauen vor diesen Camps gehabt,<br />
weil du das Training dort häufig radikal der ganzen<br />
Medienarbeit unterordnen musst. Hier hingegen<br />
haben wir viel Zeit für Training, die Medienarbeit<br />
wird deutlich reduziert. Ich kann mich<br />
also auf das Sportliche konzentrieren, was mir<br />
wiederum sehr weiterhilft. Ein weiterer großer<br />
Unterschied ist auf jeden Fall der Plan, der hinter<br />
dem Team steht – und das in allen Bereichen,<br />
vom Material über die Ernährung bis hin zur<br />
Rennplanung. Ich war in noch keinem Team,<br />
wo in allen Bereichen so optimiert wird und das<br />
Ganze am Ende dann in einen Plan mündet. Das<br />
ist schon extrem stark. Da ich ebenfalls ein kleiner<br />
Perfektionist bin, gefällt mir das sehr gut.<br />
Und da sieht man wieder, dass man auch in meinem<br />
Alter, nach über zehn Jahren im Profiradsport,<br />
nicht auslernt.<br />
Nachdem du bereits für große Teams wie<br />
HTC oder Quick-Step gefahren bist, ist das<br />
ein ziemlich dickes Kompliment für deine<br />
neuen Kollegen.<br />
Auf jeden Fall, aber ich kann das auch wirklich so<br />
sagen. Ich glaube, hier wird so gearbeitet, wie viele<br />
denken, dass es beim Team Sky abläuft. Allerdings<br />
vielleicht nicht ganz so unter Zwang, wie man es<br />
sich vorstellen mag. Es wird viel zur Verfügung gestellt,<br />
aber es ist jedem selber überlassen, ob er es<br />
annimmt oder nicht. Was ich vom aktuellen Stand<br />
sagen kann, ist: Es ist für mich das optimale Team.<br />
Wie sehen denn deine konkreten Pläne<br />
für die Saison 2019 aus?<br />
Ich werde mich von den Klassikern abwenden und<br />
zu meinem Rennprogramm aus der Zeit vor 2016<br />
zurückgehen, also die WorldTour-Rundfahrten<br />
im Frühjahr mitnehmen, von der Valencia-Rundfahrt<br />
Anfang Februar bis zur Tour de Romandie<br />
im Mai. Dort werde ich mich vor allem bei den<br />
Mannschaftszeitfahren als stützende Kraft für<br />
Primoz zur Verfügung stellen und dazu schauen,<br />
dass ich bei den Einzelzeitfahren vorne mit dabei<br />
bin. Ansonsten habe ich überwiegend eine helfende<br />
Rolle – was mir aber sehr gut gefällt, weil ich<br />
weiß, dass ich trotzdem eine extrem wichtige<br />
Pavé-Klassiker stehen vorerst nicht<br />
mehr auf Tony Martins Rennkalender.<br />
22 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
TONY MARTIN<br />
Kraft bin, vor allem was das Mannschaftszeitfahren<br />
angeht.<br />
Welche deiner Fähigkeiten ist dabei<br />
die wichtigste?<br />
Ich war dreimal Weltmeister in dieser Disziplin,<br />
habe also sehr viel Erfahrung. Dazu merke ich,<br />
dass der Punch immer noch da ist. Aber man<br />
kann so stark sein, wie man will – wenn man<br />
niemanden hat, der die Zügel in die Hand nimmt<br />
und der ganzen Sache einen gewissen roten Faden<br />
gibt, dann nimmt man das Team eher auseinander,<br />
als dass man eine schnelle Zeit abliefert. Das<br />
Team ist in dieser Hinsicht extrem von mir überzeugt,<br />
was mich natürlich sehr freut. Es ist auf<br />
jeden Fall ein großes Ziel von mir, die Mannschaft<br />
dabei nach vorne zu bringen.<br />
Der Cottbuser auf dem<br />
Weg zum vorerst letzten<br />
WM-Titel im Zeitfahren<br />
2016. An solche Erfolge<br />
will Martin anknüpfen<br />
– im Einzel- und im Mannschaftswettkampf.<br />
Gibt es schon erste Resultate oder<br />
Erkenntnisse in dieser Richtung?<br />
Wir haben im Windkanal getestet und sind dabei<br />
zu sehr erfreulichen Ergebnissen gekommen –<br />
jetzt gar nicht mal, was das Material an sich angeht,<br />
sondern vor allem meine Position. Allerdings<br />
bin ich da immer ein bisschen verhalten positiv<br />
gestimmt, weil ich in dieser Hinsicht schon sehr<br />
viel mitgemacht habe. Scherzhaft gesagt: Nach<br />
den ganzen Verbesserungen brauche ich fast gar<br />
nicht mehr zu treten, um 50 Kilometer pro Stunde<br />
zu halten. Ich hoffe natürlich, dass sich diese<br />
Zahlen auf der Straße in guten Ergebnissen widerspiegeln.<br />
Aber die Voraussetzungen erst mal<br />
sind sehr gut.<br />
Du hast zwischen 2011 und 2016 vier<br />
WM-Titel im Einzelzeitfahren gewonnen<br />
– danach lief es allerdings nicht mehr so<br />
gut in dieser Disziplin.<br />
Die Entscheidung, in Belgien [bei den Klassikern]<br />
anzugreifen, kam ja auch aus dieser Dominanzstellung<br />
im Zeitfahren. Bis 2015 habe ich im Zeitfahren<br />
so ziemlich alles gewonnen, was es zu gewinnen<br />
gab. Selbst WorldTour-Etappensiege im<br />
Zeitfahren haben mich, bis vielleicht auf die Tour<br />
de France oder andere Grand Tours, damals nicht<br />
mehr sonderlich motivieren können. Deswegen gab<br />
es die Suche nach einer Alternative. Wenn man<br />
jedoch gar keine Siege mehr einfährt, sehnt man<br />
sich natürlich nach den alten Erfolgen. Ich würde<br />
mich freuen, daran wieder anknüpfen zu können.<br />
Sind die Klassiker für dich damit ein für<br />
alle Mal abgehakt?<br />
Wenn sich alles andere gut entwickelt, können wir<br />
vielleicht schauen, ob Paris–Roubaix nicht doch<br />
noch mal interessant ist. Die anderen Klassiker<br />
sind nicht unbedingt was für mich, höchstens<br />
vielleicht an einem richtig guten Tag und in einer<br />
perfekten Ausgangsposition, aber das ist eher ein<br />
Lotteriespiel. Bei Roubaix denke ich nach wie vor,<br />
dass es auf jeden Fall passt und dass man es vielleicht<br />
doch noch mal irgendwann ins Programm<br />
integrieren könnte. Aber zunächst einmal will ich<br />
den sicheren Weg gehen und versuche, mich wieder<br />
auf altbewährte Weise aufzubauen.<br />
Die Option, deinen Kapitän mit einer guten<br />
Leistung beim Zeitfahren auf das Podium<br />
einer Grand Tour bringen zu können, muss<br />
dabei doch zusätzlich motivieren.<br />
Das ist auch das erklärte Ziel des Teams: Wir wollen<br />
in Frankreich das Gelbe Trikot angreifen. Das<br />
war für mich ein weiterer Grund, zuzusagen – um<br />
an diesem Projekt teilhaben zu können. Ich war<br />
noch nie Teil einer Tour-Mannschaft mit Klassementfahrer.<br />
Das motiviert mich auf jeden Fall und<br />
ich denke, dass es ungeahnte Kräfte freimachen<br />
kann, wenn man für einen Tour-Kapitän fährt, der<br />
eventuell um das Gelbe Trikot mitkämpft.<br />
Hinzu kommt, dass die Karten nach dem<br />
Rückzug von Sky Ende 2019 vielleicht noch<br />
mal komplett neu gemischt werden. Das<br />
könnte mittelfristig eine ganz andere Perspektive<br />
eröffnen.<br />
Warten wir erst mal ab, ob nicht noch ein Nachfolgesponsor<br />
gefunden wird. Viele werden vielleicht<br />
jubeln, aber ich finde es immer traurig, dass<br />
im Radsport solche erfolgreichen Teams eventuell<br />
einfach dicht machen müssen. Auch Quick-Step<br />
musste sehr lange kämpfen, um überhaupt einen<br />
neuen Sponsor zu bekommen. Es ist schon sehr,<br />
sehr traurig, wenn im Sport nicht mehr die Erfolge<br />
zählen. Ich habe das damals bei HTC-Highroad<br />
selber mitgemacht: Wir waren mit das erfolgreichste<br />
Team und mussten [Ende 2011] trotzdem<br />
schließen. Es ist schon ein trauriges Zeugnis<br />
für den Radsport, dass du nicht mehr sagen<br />
kannst: Wir bringen die Erfolge, und dann kommen<br />
die Sponsoren. Das scheint ja nicht mehr in<br />
Relation zu sein, und das ist auf jeden Fall ein<br />
bedenklicher Trend.<br />
Da gebe ich dir völlig recht. Es geht eher<br />
um mögliche Optionen für andere Teams.<br />
Wir wollen nicht die Tour gewinnen, weil Sky<br />
dicht macht. Ich messe mich lieber mit den<br />
Stärksten, als mir im Nachhinein sagen zu<br />
müssen: Du warst ja nur die drittstärkste Kraft.<br />
Das wollte ich damit sagen. Ich liebe unseren<br />
Sport und kann keine Jubelhymnen anstimmen,<br />
wenn Sponsoren aussteigen. Ich wünsche Sky<br />
auf jeden Fall, dass da eine Nachfolgelösung gefunden<br />
wird.<br />
Zum Abschluss noch mal zurück zu deinen<br />
neuen, meist niederländischen Kollegen.<br />
Robert Gesink wohnt unweit der Grenze und<br />
spricht sehr gut deutsch. Wie sieht es mit<br />
dem Rest aus?<br />
Ich spreche mit einigen Fahrern deutsch. Robert<br />
ist darin perfekt, dazu gibt es noch drei, vier<br />
andere, die das sehr gut können. Aber wenn<br />
25 Sportler am Tisch sitzen, wird auf jeden Fall<br />
holländisch gesprochen und nicht permanent<br />
englisch. Das ist dann doch ein Unterschied. Bis<br />
jetzt war ich mehr in internationalen Teams.<br />
Jumbo-Visma hingegen ist stolz auf seine holländische<br />
DNA. Da werde ich mich anpassen müssen<br />
– und auch wollen, denn ich sehe das als<br />
Chance, noch mal eine neue Sprache zu lernen.<br />
Ich werde es sicherlich nicht perfekt lernen, aber<br />
ich möchte schon irgendwann so weit sein, den<br />
Gesprächen folgen zu können.<br />
© Tim De Waele/Getty Images<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 23
VOR DEM<br />
DURCHBRUCH?<br />
2019 startet Nico Denz in seine fünfte Profisaison –<br />
und schickt sich dabei an, eine neue deutsche Hoffnung bei den<br />
Eintagesrennen zu werden. Dass der 24-Jährige aus den Reihen von<br />
AG2R La Mondiale trotz seines Talents bisher nur selten im Rampenlicht stand,<br />
liegt an seinem besonderen Karriereweg.<br />
Text Werner Müller-Schell<br />
24 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
© Luc Claessen/Getty Images<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 25
NICO DENZ<br />
Nur haarscharf schrammt Denz auf der<br />
zehnten Etappe des Giro 2018 an seinem<br />
ersten Grand-Tour-Tagessieg vorbei.<br />
© Tim de Waele/Getty Images (oben), Kei Tsuji/Getty Images<br />
Es sind noch rund 30 Kilometer bis ins Ziel,<br />
als das Finale der zehnten Etappe des Giro<br />
d’Italia 2018 eingeläutet wird. Auf dem<br />
Weg in das kleine Städtchen Gualdo Tadino folgt<br />
eine Attacke auf die nächste, und als wären die<br />
244 Kilometer Gesamtdistanz und die zahlreichen<br />
giftigen, kurzen Anstiege durch die umbrische<br />
Hügellandschaft nicht genug gewesen, hat<br />
es wenige Minuten zuvor stark zu regnen begonnen.<br />
In Führung liegen der Italiener Davide Villella<br />
(Astana) und der Slowene Matej Mohoric, als<br />
sich ein junger Profi aus den Reihen von AG2R La<br />
Mondiale ein Herz fasst und in der kurvigen, regennassen<br />
Abfahrt von Annifo hinunter in Richtung<br />
Tagesziel aus dem Feld heraus attackiert.<br />
Es sind nur 200 Höhenmeter hinab ins Tal, doch<br />
für den erst 24-jährigen Nico Denz werden sie zu<br />
einer Startrampe seiner noch jungen Karriere.<br />
Schnell legt er einige Meter zwischen sich und<br />
das Peloton – und stellt wenige Kilometer später<br />
den Anschluss an die Spitze her. 25 Sekunden<br />
befindet sich das Trio nun vor dem Feld – und das<br />
20 Kilometer vor dem Ziel. Das Tempo ist hoch,<br />
besonders Mohoric, immerhin bereits dekorierter<br />
Vuelta-Etappensieger, attackiert immer wieder.<br />
Villella, Gewinner der Bergwertung der Spanien-<br />
Rundfahrt des Vorjahres, kann den Angriffen des<br />
Slowenen bald nicht mehr folgen – Denz kontert<br />
allerdings jede Attacke. „Ich wollte unbedingt am<br />
Hinterrad bleiben – so nah an einem großen Sieg<br />
war ich schließlich noch nie“, wird er später sagen.<br />
Und tatsächlich: Weder Villella noch das Peloton<br />
können das Duo bis auf die Zielgerade noch einfangen<br />
– es kommt zum Sprint. Denz zieht aus<br />
dem Windschatten von Mohoric, als die Regentropfen<br />
den beiden Profis ins Gesicht und die<br />
Jubelschreie der Zuschauer sie frenetisch nach<br />
vorne peitschen. Ein paar Sekunden spurten sie<br />
direkt nebeneinander – doch am Ende ringt der<br />
Slowene seinen Begleiter nieder. Etappensieg für<br />
Mohoric, Denz bleibt Rang zwei.<br />
„Ich habe auf den letzten Kilometern schon<br />
geahnt, dass er stärker als ich ist. Ich wollte trotzdem<br />
alles versuchen“, erklärt Denz direkt nach<br />
dem Rennen geknickt den Reportern. Für den<br />
jungen Deutschen aus dem unmittelbar an der<br />
Schweizer Grenze liegenden Städtchen Waldshut-Tiengen<br />
ist der zweite Etappenplatz beim Giro<br />
dennoch ein Achtungserfolg, der ihn erstmals in<br />
seiner Profikarriere ins Rampenlicht der internationalen<br />
Radsportpresse befördert. „Man hat gesehen,<br />
dass ich auch auf Sieg fahren kann, wenn ich<br />
die Gelegenheit dazu bekomme. Das war für mich<br />
extrem wichtig“, erzählt er im <strong>Procycling</strong>-Interview<br />
und spielt damit auch auf seine erfolgreiche<br />
zweite Saisonhälfte 2018 an: Bei der Europameisterschaft<br />
in Glasgow im August verpasst er<br />
im ebenfalls verregneten Straßenrennen eine Medaille<br />
nur aufgrund eines unglücklichen Sturzes<br />
im Finale und beim französischen Halbklassiker<br />
Tour de Vendée im Oktober feiert er seinen ersten<br />
Profisieg. „2018 war für mich ein richtig gutes<br />
Jahr“, freut sich Denz.<br />
KARRIERESTART IN FRANKREICH<br />
Seit Sommer 2015 ist Denz Radprofi im Trikot<br />
der französischen Equipe AG2R La Mondiale –<br />
und geht damit in diesem Jahr trotz seines verhältnismäßig<br />
jungen Alters von 24 Jahren bereits<br />
in seine fünfte WorldTour-Saison. Dass vor seinem<br />
Auftritt beim Giro d’Italia dennoch nur ausgewiesene<br />
Radsportexperten sein Potenzial<br />
kannten, liegt an seinem besonderen Karriere -<br />
weg: Während die meisten Profis aus Deutschland<br />
sich über heimische Nachwuchsmannschaften<br />
für größere Aufgaben empfehlen, steht der<br />
Südschwarzwälder seit der U23-Kategorie ausschließlich<br />
in Frankreich, abseits der deutschen<br />
Öffentlichkeit, unter Vertrag: zuerst für die<br />
U23-Division Chambéry Cyclisme Formation,<br />
welche das Nachwuchsteam des Profirennstalls<br />
Nico Denz im Trikot der AG2R-Equipe.<br />
Vor dem Saisonstart blickt der 24-Jährige<br />
auf sein bis dato bestes Profijahr zurück.<br />
AG2R verkörpert, später für die AG2R-Equipe<br />
der Elite. „Frankreich hat mir einfach die besten<br />
Chancen geboten. In meinem Jahrgang versammeln<br />
sich Fahrer wie Pascal Ackermann, Phil<br />
Bauhaus, Maximilian Schachmann oder Max<br />
Walscheid – entsprechend war ich damals in der<br />
U19 kein Überflieger, sondern eher einer aus der<br />
zweiten Reihe. Als ich dann Ende 2012 das An-<br />
26 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
NICO DENZ<br />
BEIM GIRO D’ITALIA IM<br />
LETZTEN JAHR HAT MAN<br />
GESEHEN, DASS ICH AUCH<br />
AUF SIEG FAHREN KANN,<br />
WENN ICH DAZU DIE<br />
GELEGENHEIT BEKOMME.<br />
gebot bekam, nach Chambéry zu wechseln, habe<br />
ich keine Sekunde gezögert, mein Auto vollgeladen<br />
und bin losgefahren“, erinnert sich Denz, der<br />
in den Nachwuchsklassen dennoch zahlreiche<br />
baden-württembergische Meistertitel sowie mehrere<br />
Medaillen bei deutschen Titelkämpfen sammeln<br />
konnte.<br />
Dass er die vielen Erfolge seiner U17- und<br />
U19-Zeiten nur in einem Nebensatz erwähnt,<br />
liegt daran, dass Denz eher ein ruhiger Typ ist,<br />
bodenständig und bescheiden – das fällt im Interview<br />
direkt auf. In seinen ersten Jahren in Frankreich<br />
kommt eine weitere Qualität hinzu, die ihn<br />
auszeichnet: Zielstrebigkeit. Als er 2013, gerade<br />
einmal 19 Jahre jung, in Chambéry sein erstes<br />
Trainingslager absolviert, trifft er auf eine Gruppe<br />
hoch motivierter und bereits am Ende des Winters<br />
austrainierter französischer Nachwuchshoffnungen<br />
wie etwa seinen heutigen Teamkollegen<br />
Pierre Latour. Denz hat Respekt, lässt sich aber<br />
dennoch nicht beirren. Er schreibt sich für ein<br />
Sprachstudium ein, um schnell Anschluss zu<br />
finden, und lernt – auch auf der Rennstrecke. In<br />
Frankreich, schildert Denz, liefen die Rennen auf<br />
einem anderen Niveau als in Deutschland ab. „Die<br />
fahren schon im Februar wie die Irren, 200 Kilometer<br />
Attacke“, lacht er. „Insgesamt ist die Leistungsdichte<br />
deutlich höher und auch die Struktur<br />
ist deutlich breiter aufgestellt als bei uns.“<br />
Der junge Deutsche geht dennoch seinen Weg<br />
– und er steigert sich. Gegen Ende des ersten<br />
U23-Jahres gewinnt er seine ersten Rennen und<br />
in der zweiten Saison in Chambéry folgen auch<br />
die erhofften größeren Siege. Sogar bei einem der<br />
begehrten Coupe-de-France-Rennen darf er jubeln<br />
und mit der Tour de l’Ardèche Méridionale<br />
gewinnt er seine erste Rundfahrt. Denz, der bereits<br />
zu diesem Zeitpunkt fließend französisch<br />
spricht, ist in Frankreich angekommen – und hat<br />
mit seinem Ehrgeiz und seiner zielstrebigen Arbeitsweise<br />
auch das Teammanagement überzeugt:<br />
Ende 2014 bieten ihm die Verantwortlichen<br />
um Vincent Lavenu einen Vorvertrag für die<br />
kommende Saison an. 2015 bestreitet Denz im<br />
Frühjahr noch die Amateurrennen in Frankreich,<br />
im Sommer wechselt er mit gerade einmal 21 Jahren<br />
schließlich endgültig ins Profilager.<br />
START IN DIE HELFERROLLE<br />
Geschenkt wird ihm bei den Profis dennoch<br />
nichts. Während deutsche Jahrgangskollegen wie<br />
Maximilian Schachmann bereits in ihrem ersten<br />
Profijahr als kommende Siegfahrer gelten und von<br />
ihren Teams früh auf ihre heutigen Leaderrollen<br />
vorbereitet werden, muss sich Denz bei AG2R La<br />
Mondiale seine Sporen als Helfer verdienen – eine<br />
Rolle, in der er sich allerdings durchaus wohlfühlt.<br />
„Seit ich Rad fahre, war es mir immer wichtig,<br />
dass der Spaß beim Sport an erster Stelle steht.<br />
Und das kann auch durchaus der Fall sein, wenn<br />
ich ein Rennen vorzeitig beenden muss, zuvor<br />
aber meinen Teil zu einem guten Mannschaftsergebnis<br />
beigetragen habe. Für Kapitäne wie Romain<br />
Bardet oder Oliver Naesen stecke ich gerne<br />
zurück“, meint er. Bei AG2R weiß man diese zuverlässige<br />
Einstellung zu schätzen: Denz, der „am<br />
liebsten lange, harte Rennen mag“, wird bald fester<br />
Bestandteil der Klassiker-Equipe der Franzosen<br />
und steht bereits 2016 unter anderem bei der<br />
Flandern-Rundfahrt und Paris–Roubaix am Start.<br />
Doch gerade als er sich als Helfer zu etablieren<br />
scheint, erlebt Denz 2017 ein „Jahr zum Vergessen“,<br />
wie er rückblickend sagt. Nach einem guten<br />
Start beim französischen Etappenrennen Étoile<br />
de Bessèges wird er krank. Da sein Team allerdings<br />
seine Helferdienste benötigt, unterdrückt er<br />
die Erkältung mit Antibiotika und fährt trotzdem<br />
weiter - ein schwerwiegender Fehler, wie er bald<br />
feststellen muss. „Ich habe die Klassiker zwar bis<br />
zum Ende durchgezogen, aber besser ging es mir<br />
davon natürlich nicht. Es war eher so, dass mich<br />
die Krankheit so zermürbt hat, dass ich das ganze<br />
restliche Jahr nicht mehr in Schwung gekommen<br />
bin.“ Den größten Rückschlag der Saison erlebt<br />
er letztlich bei der Spanien-Rundfahrt: Auf der<br />
15. Etappe wird er dabei erwischt, wie er sich an<br />
einem Begleitfahrzeug festhält und einen An-<br />
Eine Stärke von Denz sind unter anderem<br />
technisch schwierige Abfahrten – das<br />
beweist er beispielsweise beim Giro 2018.<br />
© Tim de Waele/Getty Images<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 27
NICO DENZ<br />
© Vincent Curutchet<br />
28 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
NICO DENZ<br />
Die AG2R-Equipe beim Training. In Frankreich<br />
fühlt sich Denz so wohl, dass er seit<br />
seiner U23-Zeit dort unter Vertrag steht.<br />
Bei der Straßen-EM 2018 in Glasgow<br />
zählt der Deutsche zu den Stärksten im<br />
Feld. Ein Sturz im Finale macht aber alle<br />
Podiumshoffnungen zunichte.<br />
stieg hinaufziehen lässt. Die Folge: Disqualifikation.<br />
„Ein absoluter Tiefpunkt und ein Fehler, der<br />
mir nicht noch mal passiert“, gibt Denz, der sich<br />
von vielen Seiten großer Kritik ausgesetzt sieht,<br />
heute zu. „Es gibt dafür keine Entschuldigung, es<br />
war falsch und völlig unnötig. Am Ende der Etappe,<br />
nach zwei harten Vuelta-Wochen, durch die<br />
ich mich trotz Bronchitis gekämpft habe, habe ich<br />
mich dazu hinreißen lassen. Es war ein Fehler<br />
und ich bereue es.“<br />
WIEDERGUTMACHUNG & TALENTPROBE<br />
Das Team vertraut ihm in dieser schwierigen Zeit<br />
dennoch weiter – und stattet ihn mit einem neuen<br />
Zwei-Jahres-Vertrag aus. 2018 steht für den<br />
AG2R-Profi deshalb vor allem unter einem Stern:<br />
die zweite Chance nutzen und Wiedergutmachung<br />
leisten. „Ich möchte wieder zurückkommen,<br />
um zu zeigen, dass dieses Verhalten nicht<br />
meinen Werten entspricht und ich sportlich fair<br />
meine Leistung bringen kann – so wie ich es zuvor<br />
auch immer getan habe“, erklärt er vor dem Saisonstart.<br />
Und Denz hält Wort: Nach einem frühen<br />
Saisonstart bei der Tour Down Under fährt er<br />
bis Paris–Roubaix alle wichtigen belgischen und<br />
französischen Klassiker – und nimmt seine gute<br />
Form mit in den Giro d’Italia. Dort beweist er sein<br />
Talent nicht nur mit seinem zweiten Tagesrang<br />
auf jener zehnten Etappe von Penne nach Gualdo<br />
Tadino, sondern mit einer rundum starken Vorstellung.<br />
Mehrfach zeigt sich Denz in der Offensive,<br />
auch auf der letzten Etappe nach Rom sieht<br />
man ihn in der Spitzengruppe.<br />
Denz lässt aufhorchen – auch weil seine Leistungen<br />
auf dem Stiefel keine Eintagsfliege sind.<br />
Nach einer langen Sommerpause knüpft er an<br />
die Leistungen beim Giro an und schrammt bei<br />
der Europameisterschaft in Glasgow nur haarscharf<br />
an einer Sensation vorbei: In einem extrem<br />
schweren, von Regen und Kälte gezeichneten<br />
Straßenrennen ist er einer der Initiatoren der finalen<br />
Spitzengruppe: zehn Mann, die um die<br />
Medaillen kämpfen. Doch zehn Kilometer vor<br />
dem Ziel stürzt der vor Denz fahrende Niederländer<br />
Maurits Lammertink auf der rutschigen Fahrbahn<br />
in die Absperrungsgitter – er selbst kann<br />
nicht mehr ausweichen und stürzt ebenfalls. Zwar<br />
steht er schnell wieder auf, doch die anderen Fahrer<br />
warten nicht mehr – am Ende wird Denz nur<br />
Neunter und ist unter Wert geschlagen. „Meine<br />
erste Reaktion war natürlich blanke Enttäuschung.<br />
Ich fühlte mich richtig gut und muss wohl<br />
immer noch ein bisschen auf das ganz große Ding<br />
warten. Dennoch möchte ich auch das Positive<br />
hervorheben: Ich bin endlich dort angekommen,<br />
wo ich immer hin wollte. Ich kann im Finale eines<br />
richtig schweren Rennens mittlerweile auch ein<br />
Wörtchen mitreden und es ist nur noch eine Fra -<br />
ge der Zeit, bis es dann endlich mal klappt“, hofft<br />
er. Ein wahres Wort: Nur sechs Wochen später<br />
gelingt Denz nämlich zumindest ein „kleines<br />
großes Ding“: Beim französischen Halbklassiker<br />
Tour de Vendée prägt er weite Teile des Rennens<br />
und holt am Ende im Sprint aus einer Spitzengruppe<br />
heraus seinen ersten Saisonsieg – es ist<br />
der goldene Abschluss eines Jahres, in dem der<br />
24-Jährige nicht nur Wiedergutmachung für seinen<br />
Fehler bei der Spanien-Rundfahrt betrieben<br />
hat, sondern auch mehr als nur einmal sein Talent<br />
hat aufblitzen lassen.<br />
Die Formkurve zeigt bei Nico Denz also deutlich<br />
nach oben und nicht wenige Experten trauen<br />
dem in Frankreich fahrenden Deutschen aus<br />
Waldshut-Tiengen, der bis dato nur selten im<br />
Rampenlicht der internationalen Radsportszene<br />
gestanden ist, 2019 eine weitere Leistungssteigerung<br />
zu. Denz selbst geht jedenfalls motivierter in<br />
die Saison denn je: Im Vorfeld der Tour Down Under<br />
sammelte er in Spanien und Australien zahlreiche<br />
Grundlagenkilometer. Und nach weiteren<br />
IN DIESEM JAHR WILL ICH<br />
ZUERST BEI DEN KLASSIKERN<br />
EINEN GUTEN JOB FÜR<br />
OLIVER NAESEN MACHEN –<br />
DANN SCHAUEN WIR,<br />
WIE ES WEITERGEHT.<br />
Renneinsätzen sollen in den kommenden Wochen<br />
erneut die Frühjahrsklassiker und, wie im Vorjahr<br />
auch, wieder der Giro d’Italia auf dem Programm<br />
stehen. Nach seiner starken vergangenen Saison<br />
wird AG2R seinem deutschen Nachwuchsfahrer<br />
dabei sicherlich deutlich mehr Gelegenheiten bieten,<br />
auf eigene Kappe zu fahren, als bisher – auch<br />
wenn der sich gewohnt zurückhaltend zeigt: „Zuerst<br />
will ich bei den Klassikern einen guten Job<br />
für meinen Kapitän Oliver Naesen machen – dann<br />
schauen wir, wie es weitergeht“, wiegelt er bescheiden<br />
ab. Dass 2019 die nächsten Siege kommen<br />
werden, ist dem jungen Nico Denz dennoch<br />
durchaus zuzutrauen. Denn dass die großen Erfolge<br />
nur noch ein paar Zentimeter entfernt sind,<br />
hat er im vergangenen Jahr nicht nur auf der verregneten<br />
zehnten Etappe des Giro d’Italia bewiesen<br />
– auf jenem 244 Kilometer langen Teilstück<br />
durch die umbrische Hügellandschaft, als er sich<br />
ein Herz gefasst und trotz seiner angestammten<br />
Helferrolle die Gunst der Stunde für eine Attacke<br />
im Finale genutzt hat.<br />
© Dan Istitene/Getty Images<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 29
ALLESKÖNNERIN<br />
Hinter der Allgäuerin Lisa Brennauer liegt ein turbulentes Jahr: Sowohl auf der<br />
Bahn als auch auf der Straße fuhr sie große Erfolge ein, dennoch stand<br />
die 30-Jährige am Ende fast mit leeren Hände da, als ihr Team Wiggle High5<br />
den Betrieb einstellte. <strong>Procycling</strong> gegenüber hat sie erzählt, was sie dort gelernt<br />
hat und in ihre neue Equipe WNT-Rotor einbringen will.<br />
Interview Chris Hauke<br />
© Luc Claessen/Getty Images<br />
Lisa, bevor wir uns deinem neuen Team<br />
WNT-Rotor widmen, kurz ein Blick<br />
zurück: Du bist 2018 von Canyon-<br />
Sram zu Wiggle High5 gewechselt. Was war<br />
der Auslöser?<br />
Lisa Brennauer: Ich wollte was ändern. Das war<br />
eigentlich der einzige Grund. Mir ging es ja gut,<br />
ich war sechs Jahre lang in den gleichen Strukturen<br />
und bin total dankbar für die Zeit. Aber es ist<br />
auch kein Geheimnis, dass 2016 nicht so lief, wie<br />
ich es mir erträumt hatte. Und dann hinterfragt<br />
man halt vieles. Ich glaubte, mir würde eine Veränderung<br />
guttun. Ich habe den Trainer gewechselt<br />
und alles ein bisschen umgeschmissen. Es<br />
ging mir auch direkt gut. Ich habe schon in der<br />
Pause gespürt, dass ich wieder für die Sache brenne.<br />
Mein Bauchgefühl hat mir gesagt: Da geht was<br />
in die richtige Richtung.<br />
Das Team war in England angesiedelt,<br />
du warst die einzige Deutsche.<br />
Das war für mich natürlich neu und sehr spannend<br />
– mal wieder in einem Team zu sein, wo ich<br />
mit fast niemandem vorher zusammengearbeitet<br />
hatte. Es war ein wichtiger Schritt, um etwas zu<br />
ändern. Bei Wiggle wurde mir einiges an Verantwortung<br />
übertragen. Meine Kolleginnen haben viel<br />
von mir erwartet, wenn es darum ging, die Renntaktik<br />
zu bestimmen und meine Erfahrungen weiterzugeben.<br />
Ich habe schnell gemerkt, wie ich in<br />
dieser Rolle aufblühe, etwa bei der Thüringen<br />
Rundfahrt. Dort waren wir mit vielen jungen Fahrerinnen<br />
am Start, die sich gefreut haben, dass<br />
ihnen mal jemand eine Anleitung gibt, und die<br />
daran gewachsen sind. Wir hatten dort eine ganz<br />
tolle Woche. Am Ende habe ich sogar die Rundfahrt<br />
gewonnen, aber das war am Anfang gar nicht<br />
abzusehen. Ich konnte bei Wiggle andere, neue<br />
Aufgaben übernehmen. Das hat mir gutgetan.<br />
Daneben hast du auch auf der Bahn einige<br />
Akzente gesetzt. Wie kam es dazu?<br />
Ich hatte mich im Sommer 2017 mit den Verantwortlichen<br />
beim BDR zusammengesetzt und mit<br />
ihnen darüber gesprochen, ob ein Weg zurück auf<br />
die Bahn für mich denkbar wäre. Wir haben beschlossen,<br />
dass ich es mal versuche, und zwar bei<br />
den Europameisterschaften in Berlin Ende 2017.<br />
Das hat dann mehr oder weniger gut geklappt,<br />
denn wir sind zwar superschnell gefahren, haben<br />
aber gleich mal einen Sturz zustande gebracht, bei<br />
dem ich mir den Oberarm gebrochen habe. Damit<br />
war das mit der Bahn auch gleich mal wieder vorbei.<br />
Trotzdem hat mir die Zeit viel Spaß gemacht.<br />
Ich bin ja bis 2012 sehr viel Bahn gefahren. Bei<br />
den Olympischen Spielen in London bin ich als<br />
Bahnradsportlerin angetreten und erst dann mehr<br />
oder minder komplett auf die Straße gewechselt.<br />
Es war ja kein Neuanfang. Nach dem Unfall habe<br />
ich den Bundestrainer angerufen und ihm gesagt:<br />
Der erste Versuch ist zwar nach hinten losgegangen,<br />
aber könntet ihr euch vorstellen, dass wir die<br />
WM in Apeldoorn [Februar/März 2018] in Angriff<br />
nehmen? Als wir dort dann so schnell gefahren<br />
sind, gab es weitere Gespräche, ob ich mir vorstellen<br />
könnte, das irgendwie in die Straßensaison<br />
einzubauen. Bei den European Games in Glasgow<br />
bin ich dann tatsächlich Straße und Bahn gefahren<br />
[sie holte sich dort den Sieg in der Einerverfolgung<br />
sowie zwei Bronzemedaillen; Anm. d. Red.].<br />
30 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
„ICH MÖCHTE EIN<br />
GROSSES EINTAGESRENNEN<br />
GEWINNEN. ICH STAND BEI<br />
DEN KLASSIKERN SCHON<br />
MEHRFACH AUF DEM<br />
TREPPCHEN, ABER NOCH<br />
NIE GANZ OBEN.“<br />
und denen mein Wissen weitergeben, darf Teil eines<br />
Prozesses sein, das Team weiterzuentwickeln,<br />
habe aber im gleichen Maße die Freiheit, meine<br />
eigenen Ziele zu verfolgen – dieses Komplettpaket<br />
an Möglichkeiten, und dazu die Nähe zu meinem<br />
Zuhause, spricht mich sehr an. Dort sehe ich meine<br />
Zukunft und das Umfeld, in dem ich mich sportlich<br />
bestmöglich weiterentwickeln kann.<br />
Mit welchen Zielen startest du in die Saison?<br />
Für mich war 2018 ein Jahr, wo ich ganz viele<br />
Treppenstufen wieder nach oben geklettert bin.<br />
Es war wieder ein Schritt dahin, wo ich sein<br />
möchte. Daran möchte ich anknüpfen. Ein ganz<br />
großes Ziel, das ich immer noch habe: Ich möchte<br />
ein großes Eintagesrennen gewinnen. Ich stand<br />
bei den ganzen Frühjahrsklassikern schon mehrfach<br />
auf dem Treppchen, aber noch nie ganz oben.<br />
Eintagesrennen fallen mir ein bisschen schwerer<br />
als Rundfahrten, von denen habe ich schon mehrere<br />
gewonnen. Ich weiß nicht, ob ich mir da<br />
manchmal selber ein bisschen im Weg stehe oder<br />
was es ist, aber auf jeden Fall hat es noch nie geklappt.<br />
Das wäre ein ganz großes Ziel von mir.<br />
Und dann natürlich wie immer die WM.<br />
Bei WNT-Rotor sieht Lisa Brennauer das<br />
Umfeld für eine optimale Entwicklung.<br />
Mittlerweile sehe ich mich wieder in beidem zu<br />
Hause, so wie es früher auch war. Es macht mir<br />
wahnsinnig viel Spaß, und ich werde diesen Weg<br />
jetzt auch erst mal weitergehen.<br />
Mit einem nächsten Halt bei Olympia<br />
2020 in Tokio?<br />
Auf jeden Fall ist Tokio ein Ziel, klar möchte ich<br />
da antreten – am liebsten sowohl auf der Straße<br />
als auch auf der Bahn. Aber man muss erst mal<br />
sehen, wie sich alles entwickelt. Ich denke, dass<br />
2019 ein sehr interessantes Jahr sein wird. Wir<br />
haben superstarke neue junge Leute, zum Beispiel<br />
Liane Lippert [sie ist 2018 mit 20 Jahren deutsche<br />
Meisterin auf der Straße geworden, siehe<br />
<strong>Procycling</strong> 01/2019]. Es ist toll zu sehen, dass da<br />
eine Entwicklung stattfindet. Es werden mit<br />
Sicherheit spannende anderthalb Jahre.<br />
Nach dem Aus von Wiggle bist du bei<br />
WNT-Rotor untergekommen – für dich<br />
quasi ein Heimspiel.<br />
Die Firma WNT hat ihren Sitz in Kempten [Lisas<br />
Heimatstadt; Anm. d. Red.]. Als feststand, dass es<br />
mit Wiggle nicht weitergehen wird, hatten wir öfter<br />
mal Gespräche. Das Team gefiel mir, die Leute, ihre<br />
Einstellung. Dann habe ich erfahren, dass sie in die<br />
Weltspitze wollen, und mir überlegt: Wäre das was,<br />
wo ich mich sehen kann? Ist das eine Struktur, in<br />
der ich meine Ziele erreichen kann und in der ich<br />
mich wohl fühle? Ich bin keine 23 mehr und stehe<br />
wahrscheinlich in den wichtigsten Jahren meiner<br />
Karriere. Bei Wiggle habe ich gelernt, dass es mir<br />
liegt und dass ich sehr aufblühe, wenn es darum<br />
geht, mein Wissen und meine Erfahrung weiterzugeben.<br />
Bei WNT sehe ich viele Dinge, die mir sehr<br />
gefallen: Ich kann mit jungen Fahrerinnen arbeiten<br />
Wirst du wie bei Wiggle wieder<br />
als eine Art Leitfigur fungieren?<br />
Ich bin gespannt, wie meine Rolle innerhalb des<br />
Teams ganz genau aussehen wird – und wie wir<br />
das dann auch zusammen umsetzen können. Auf<br />
jeden Fall sind sehr viele junge Talente dabei. Ich<br />
weiß auch noch nicht genau, wie wir es anpacken<br />
werden und wie sie sich entwickeln. Mit Sicherheit<br />
wird es viele Fragen geben, aber auch viel cooles<br />
Zusammenarbeiten. Ich denke, dass wir da<br />
richtig Schritte nach vorne machen können. Daneben<br />
erhoffe ich mir, dass ich mir von der einen<br />
oder anderen vielleicht auch was abgucken kann<br />
– etwa von Kirsten Wild [36-jährige Niederländerin<br />
mit langer Erfolgsliste, kommt wie Brennauer<br />
von Wiggle; Anm. d. Red.]. Wir sind ein eingespieltes<br />
Team, wenn es um die Massensprints<br />
geht. Mit ihr haben wir ein großes Ass im Ärmel.<br />
Ich hoffe, dass ich viele Einsätze mit ihr zusammen<br />
habe, denn das ist etwas, das man auf jeden<br />
Fall noch perfektionieren kann. Und dann würde<br />
ich mich freuen, wenn es für mich im Zeitfahren<br />
noch mal einen Schritt nach vorne geht. Das ist ja<br />
immer noch meine große Leidenschaft. Und daran<br />
möchte ich auf jeden Fall weiterhin arbeiten.<br />
© WNT-Rotor Pro Cycling<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 31
MARK CAVENDISH<br />
NUR EINE<br />
ZAHL<br />
„Ich habe Ed in unserem Hotel in Kapstadt bei unserem<br />
Teamtreffen im November getroffen und mich ausführlich<br />
mit ihm unterhalten. Und das hier kam dabei heraus.“<br />
Text Edward Pickering<br />
Fotografie Wayne Reiche<br />
32 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 33
DAS GROSSE INTERVIEW<br />
er 21. Mai 2019 ist Mark<br />
DTour Cavendishs 34. Geburtstag.<br />
Die Zahl 34 hängt 2019 in großen chen, den Rekord einzustellen oder zu brechen,<br />
de France gewinnen konnte, und zu versu<br />
Lettern über seinem Leben und seiner Karriere. ist die letzte große Herausforderung in Cavendishs<br />
Karriere.<br />
Vor ein oder zwei Jahrzehnten hätte sie das Karriere<br />
ende bedeutet, aber 34 ist heute für einen Für ihn spricht das Wissen, dass einige der größten<br />
Sprinter der jüngeren Geschichte ihre besten<br />
Rennfahrer nur das Ende seiner Lebensmitte.<br />
Alejan dro Valverde, der amtierende Weltmeister, Ergebnisse jenseits der 30 erzielten. Ma rio Cipollini<br />
ist 38, der Giro-Sieger Chris Froome ist einen Tag gewann als Twen 16 Giro-Etappen, aber 26 mit<br />
älter als Cavendish, und der amtierende Toursieger<br />
Geraint Thomas wird 33 sein, wenn er sein tag). Alessandro Petacchi war bei 16 seiner 22 Gi<br />
über 30 (darunter zwölf nach seinem 34. Geburts<br />
Gelbes Trikot von 2018 verteidigt.<br />
ro-Etappensiege über 30 (wobei ihm fünf weitere<br />
Doch 34 ist auch eine Zahl, die Leben und nach einem positiven Test ab erkannt wurden). Robbie<br />
McEwen gewann drei Grand-Tour-Etappen mit<br />
Laufbahn von Cavendish bestimmt – von heute<br />
bis zu ihrem Ende und weit darüber hin aus. Es über 20 Jahren und 21 mit über 30, darunter vier<br />
ist die Zahl der Etappen, die Eddy Merckx bei der Tour-Etappen mit über 34. Wie André Greipel un<br />
längst bewiesen hat, ist es überhaupt nicht ungewöhnlich,<br />
dass Sprinter jenseits der 30 Etappen bei<br />
großen Rundfahrten gewinnen.<br />
Außerdem werden Cavendishs Ambitionen<br />
nicht von anderen Zielen verwässert. Er hat ein<br />
Regenbogentrikot und ein Mailand–San Remo in<br />
seinem Palmarès. Mehr wäre schön gewesen, und<br />
er schlief wochenlang nicht richtig, nachdem Peter<br />
Sagan ihn bei der Weltmeisterschaft 2016 in<br />
Katar auf der Linie abgefangen hatte, aber seine<br />
Saison wird nicht mehr auf diese Ziele ausgerichtet<br />
sein. Gent–Wevelgem und Paris–Tours, wo<br />
Cavendish früher beste Karten hatte, sind keine<br />
Rennen mehr für Sprinter.<br />
Gegen ihn spricht: Der Zählerstand der Tour-<br />
Etappensiege hängt seit zwei Jahren, in denen<br />
Erkrankungen und Verletzungen seine Chancen<br />
ruinierten, bei 30 fest. Der Trend sieht nicht gut<br />
aus. Cavendish weiß das natürlich. Er ist nicht<br />
blind. Aber ebenso wenig wird sein Ehrgeiz durch<br />
die Enttäuschungen der letzten zwei Jahre getrübt.<br />
„Ich habe in den letzten zwei Jahren zwei<br />
Rennen gewonnen“, sagt er. „Ich kann nicht sagen,<br />
dass ich im Moment der Topsprinter bin,<br />
was Resultate angeht. Ob es mein Fehler ist oder<br />
nicht – ich habe die Resultate nicht.“<br />
So weit, so realistisch. Aber dann das: „Ich<br />
glaube, ich bin der Schnellste. Das glaube ich<br />
wirklich. Ich weiß, dass jeder Sprinter das sagt,<br />
aber ich glaube, ich bin der Schnellste.“<br />
An diesem Punkt verdrehen Cavendish-<br />
Kri tiker normalerweise die Augen und denken:<br />
„Typisch Cav!“ Seine ungefilterte Direktheit und<br />
die Weigerung, beim Äußern seiner Meinung jemals<br />
Kompromisse einzugehen, scheinen angeboren,<br />
und er wird sich nicht ändern. Doch hinter<br />
dieser letzten Äußerung steckt mehr. Als wir darüber<br />
sprachen, wie Cavendish wahrgenommen<br />
wird – im Unterschied zu seiner Selbstwahrneh<br />
KARRIERE-HÖHEPUNKTE MARK CAVENDISHS 12 TOUR-JAHRE<br />
© Yuzuru Sunada<br />
2007<br />
Etappensiege: 0<br />
Cavendish gibt mit 22 Jahren sein<br />
Tour-Debüt für T-Mobile. Er tut sich<br />
schwer, und frühe Stürze durchkreuzen<br />
seine Ambitionen. Er steigt<br />
auf der 8. Etappe aus, mit einem<br />
neunten Platz als bester Platzierung.<br />
2008<br />
Etappensiege: 4<br />
Braucht ein paar Tage, um in Tritt zu<br />
kommen, aber holt vier Etappensiege,<br />
angefangen mit der 5. Etappe. Er kommt<br />
durch die Pyrenäen, steigt jedoch vor<br />
den Alpen aus, um sich auf die Olympischen<br />
Spiele in Peking vorzubereiten.<br />
2009<br />
Etappensiege: 6<br />
Seine beste Tour überhaupt. Fängt auf<br />
der 2. Etappe an zu gewinnen und holt<br />
dann fünf weitere Siege. Das Highlight ist<br />
die Mittelgebirgsetappe nach Aubenas,<br />
das i-Tüpfelchen ein erster und zweiter<br />
Platz mit Mark Renshaw in Paris.<br />
2010<br />
Etappensiege: 5<br />
Nach einem langsamen Start<br />
in die Tour feiert er am<br />
sechsten Tag einen emotionalen<br />
Sieg. Er gewinnt an -<br />
schließend jedes Mal, wenn er<br />
um den ersten Platz sprintet.<br />
34 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
MARK CAVENDISH<br />
„WENN ES ERST<br />
16 RENNEN UND DANN ZEHN<br />
GEWESEN WÄREN, KÖNNTE<br />
MAN SAGEN: ER WIRD<br />
LANGSAMER. ABER EIN SIEG,<br />
DAS HEISST, DASS ETWAS<br />
NICHT STIMMT.“<br />
mung –, war seine Aussage nuancierter, als sie auf<br />
den ersten Blick erscheint. „Auf dem Papier sieht<br />
es arrogant aus. Aber wenn du auf den Ton dessen<br />
achtest, was ich sage, ist es ganz anders. Die Leute<br />
bekommen den Ton nicht mit“, erklärt er. Und<br />
das stimmt. Als er sagte: „Ich bin der Schnellste“,<br />
lachte er, weil er weiß, wie absurd es ist zu behaupten,<br />
der schnellste Sprinter der Welt zu sein,<br />
wenn er zwei Jahre lang ein einziges Rennen pro<br />
Jahr gewonnen hat.<br />
2019 tröstet sich Cavendish sogar mit dem Mangel<br />
an Siegen. Während des Fotoshootings erklärte<br />
er, 2017 und 2018 seien Ausnahmen gewesen,<br />
kein Trend. „Man gewinnt nicht in einem Jahr<br />
16 Rennen und im nächsten Jahr eines“, sagt er.<br />
„Wenn es erst 16 und dann zehn gewesen wären,<br />
könnte man sagen: Er wird langsamer. Aber ein<br />
Sieg, das heißt, dass etwas nicht stimmt.“<br />
Dieses Etwas war Epstein-Barr, auch Mononukleose<br />
oder Drüsenfieber genannt. Die Krankheit<br />
brach Anfang 2017 aus und schwächte ihn<br />
2018 immer noch – und ruinierte damit praktisch<br />
beide Jahre.<br />
Der Ausbruch 2017 kam nach einem glänzenden<br />
Jahr 2016, bei dem nicht viel fehlte, um als<br />
beste Saison zu gelten, die ein Rennfahrer je hatte.<br />
Cav hatte sich Ziele von beispielloser Bandbreite<br />
gesteckt: Weltmeisterschaften auf der Bahn und<br />
der Straße, ein Tag im Gelben Trikot der Tour und<br />
olympisches Gold auf der Bahn. Und er war nahe<br />
dran – mit Bradley Wiggins gewann er das Madison<br />
bei der Bahn-Weltmeisterschaft, holte dann<br />
bei der Tour vier Etappen und schlüpfte ins Gelbe<br />
Trikot. Diese letzte Leistung war historisch – Cavendish<br />
ist einer von nur 22 Fahrern, die die Spitzenreitertrikots<br />
aller drei großen Rundfahrten getragen<br />
haben, und er gehört zu einem Trio von<br />
Fahrern, die das geschafft haben und außerdem<br />
die Punktewertung in Frankreich, Italien und<br />
Spanien gewinnen konnten (Eddy Merckx und<br />
Laurent Jalabert sind die anderen beiden).<br />
Er wurde Zweiter bei seinen zwei anderen Zielen<br />
– er musste sich im Omnium bei den Olympischen<br />
Spielen nur Elia Viviani und bei der Straßen-Weltmeisterschaft<br />
in Katar nur Peter Sagan<br />
geschlagen geben. Dann fuhr er den Winter über<br />
Sechstagerennen, und als die Abu Dhabi Tour<br />
Anfang 2017 losging, war er krank, obwohl er<br />
dort eine Etappe gewann.<br />
2011<br />
Etappensiege: 5<br />
Ein weiteres Quintett von Siegen plus<br />
das Grüne Trikot in Paris. Zum ersten<br />
Mal zieht er bei einem Kopf-an-Kopf-<br />
Sprint um den ersten Platz den Kürzeren<br />
– gegen André Greipel in Carmaux –,<br />
doch ansonsten ist er unschlagbar.<br />
2012<br />
Etappensiege: 3<br />
Fährt im Regenbogentrikot für das<br />
Team Sky, aber aufgrund der Gesamtwertungs-Ambitionen<br />
des Teams haben<br />
seine Sprints keine Priorität. Holt<br />
trotzdem drei Etappensiege, darunter<br />
zwei an den letzten drei Tagen.<br />
2013<br />
Etappensiege: 2<br />
In Gestalt von Marcel Kittel taucht<br />
ein ernsthafter Rivale auf, der vier<br />
Etappen gewinnt. Cavendish<br />
gewinnt zwei – eine bei einem<br />
spektakulären Angriff im Seitenwind<br />
in Saint-Amand-Montrond.<br />
2014<br />
Etappensiege: 0<br />
Geht bei der Tour zum ersten<br />
Mal seit 2007 leer aus. Kein<br />
Wunder, denn er ist nach einem<br />
Sturz auf der 1. Etappe aus dem<br />
Rennen. In seiner Abwesenheit<br />
holt Kittel erneut vier Siege.<br />
© Yuzuru Sunada (Zeitleiste)<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 35
Bei der Tour 2018 litt Cavendish<br />
in den Alpen, doch er weigerte<br />
sich auszusteigen und fuhr die<br />
Etappe zu Ende.<br />
Cavendish war körperlich nicht in Form bei Tir-<br />
reno–Adriatico und fiel bei Mailand–San Remo<br />
an der Cipressa zurück. Da wusste er, dass etwas<br />
nicht stimmte, und eine Blutuntersuchung bestätigte,<br />
dass er Epstein-Barr hatte. Er war rechtzeitig<br />
zur Tour wieder fit, stieß aber zu Beginn des<br />
Rennens mit Sagan zusammen, brach sich die<br />
Schulter und kam dann bis Ende der Saison nicht<br />
mehr richtig in Tritt.<br />
„Die letzten zwei Jahre waren für die Katz“,<br />
erinnert er sich. „Das Schlimmste, was man bei<br />
Epstein-Barr machen kann, ist, sich körperlich<br />
anzustrengen. Das Einzige, was hilft, ist Ruhe.<br />
Ich habe mich selbst fertiggemacht und angetrieben.<br />
Es sieht jetzt aus, als hätte ich kein akutes<br />
Epstein-Barr mehr, aber bei anderen Symptomen<br />
dauert es länger, bis sie abklingen; es muss gemanagt<br />
werden, und das ist das Schwerste.<br />
Ich hatte es als Kind, und es ist nicht ungewöhnlich,<br />
dass es bei Ausdauerathleten wieder<br />
ausbricht, wenn du an deine Grenzen gehst. Er<br />
ist ein Feigling, Epstein-Barr – er fällt dich nur an,<br />
wenn du schwach bist, nie, wenn du stark bist“,<br />
fährt er fort.<br />
„DAS SCHLIMMSTE, WAS MAN<br />
BEI EPSTEIN-BARR MACHEN<br />
KANN, IST, SICH KÖRPERLICH<br />
ANZU STRENGEN. DAS<br />
EINZIGE, WAS HILFT, IST<br />
RUHE. ICH HABE MICH<br />
SELBST FERTIGGEMACHT<br />
UND MICH ANGETRIEBEN.“<br />
„Vor 2016 sagte Rolf Aldag [Performance-Direktor<br />
bei Dimension Data] zu mir: Das alles zu machen,<br />
wird dich ruinieren. Ich sagte: Scheiß drauf.<br />
Weltmeisterschaften auf der Straße und auf der<br />
Bahn. Niemand hat das im selben Jahr geschafft.<br />
Nicht mal Eddy Merckx hat das geschafft. Nicht<br />
viele Leute verstehen, wie unterschiedlich Stra<br />
© Yuzuru Sunada (Zeitleiste), Chris Auld<br />
2015<br />
Etappensiege: 1<br />
Ein weiteres Jahr, ein weiterer<br />
dominanter Deutscher. Dieses<br />
Mal ist Greipel der Beste der Tour<br />
und holt vier Siege. Cavendish<br />
gewinnt einmal, in Fougères am<br />
Ende der ersten Woche.<br />
2016<br />
Etappensiege: 4<br />
Cavendish meldet sich stark zurück,<br />
gewinnt die 1. Etappe und streift sich<br />
zum ersten Mal das Gelbe Trikot<br />
über, bevor er weitere drei Etappen<br />
vor den Alpen gewinnt. Steigt aus,<br />
um sich auf Olympia vorzubereiten.<br />
2017<br />
Etappensiege: 0<br />
Mit Trainingsrückstand wegen<br />
Epstein-Barr hofft Cavendish, sich<br />
während der Tour in Form zu fahren.<br />
Aber er ist auf der 4. Etappe in Vittel<br />
in eine Kollision mit Peter Sagan<br />
verwickelt und aus dem Rennen.<br />
2018<br />
Etappensiege: 0<br />
Cavendish ist nach einem weiteren<br />
von Epstein-Barr beeinträchtigten<br />
Frühjahr nicht in Bestform. Sein<br />
bester Platz ist ein achter auf der<br />
8. Etappe, bevor er wie viele Sprin -<br />
ter in den Alpen eliminiert wird.<br />
36 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
MARK CAVENDISH<br />
ßen- und Bahnradsport sind. Zweieinhalb Wochen<br />
vor Olympia fuhr ich den Mont Ventoux<br />
hoch. Ich habe Glück – ich kann mich umstellen,<br />
aber es verlangt dem Körper viel ab.<br />
Ich habe doppelte Sessions auf der Bahn gemacht<br />
– die anderen Jungs haben sich zwischen<br />
den Sessions erholt, aber ich bin zwischendurch<br />
drei Stunden draußen locker Rad gefahren, dann<br />
war ich wieder drin und wir sind sofort in die hohen<br />
Intensitäten gegangen.<br />
Als ich es bekam, sagte meine Frau zu mir:<br />
‚Wenn jemand dir gesagt hätte, dass du schaffen<br />
würdest, was du 2016 geschafft hast, aber krank<br />
werden und eine ganze Saison verlieren würdest,<br />
hättest du es dann gemacht?‘ Und ich sagte:<br />
Weißt du was? Wahrscheinlich schon.“<br />
Cavendish hält inne und fügt dann hinzu:<br />
„Aber zwei Jahre verlieren und vielleicht mein<br />
Vermächtnis? Wahrscheinlich nicht.“<br />
Mein Eindruck, als ich mir die Tour 2018<br />
anschaute, war, dass sich bei Cavendish<br />
etwas geändert hatte. Nicht nur das<br />
Sprinten, obwohl klar war, dass er nicht annähernd<br />
das Niveau von Fernando Gaviria, Dylan<br />
Groenewegen und den anderen Sprintern hatte.<br />
In seinen täglichen Interviews mit ITV war er<br />
meistens komplett gleichgültig angesichts der<br />
Niederlage. Er war mehr als gedämpft – es sah<br />
aus, als sei das Feuer erloschen.<br />
Cavendish war von 2008 bis 2012 der beste<br />
Sprinter der Welt und erneut 2016. Es ist sehr<br />
plausibel zu argumentieren, dass er der beste<br />
Sprinter aller Zeiten ist. Er war aus einer Reihe<br />
von Gründen besser als die anderen – sein Tempo<br />
und die Fähigkeit, es zu halten, die einmalige Aerodynamik<br />
und die Teamleistung waren Weltspitze<br />
oder nicht weit davon entfernt. Doch seine wichtigsten<br />
Waffen waren seine Hingabe und sein<br />
Wettbewerbstrieb. Das zeichnete ihn in der Vergangenheit<br />
wirklich aus. Ohne sie, dachte ich,<br />
bekommt man den Cavendish der Tour 2018 –<br />
vorne mit dabei, aber unfähig, der allerletzten<br />
Schlussbeschleunigung der jüngeren, frischeren<br />
Beine etwas entgegenzusetzen.<br />
„Nein“, meint Cavendish, als ich ihm das sage.<br />
„Ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Es war<br />
nicht so, dass ich einen Fehler gemacht hätte. Ich<br />
war bei dem Interview nach einer der Etappen ein<br />
bisschen stinkig, nach Groenewegens erstem<br />
Sieg, wo mir das Pedal von Kristoff in die Quere<br />
gekommen ist und ich es verbockt habe. Aber da<br />
konnte ich nichts machen.“<br />
Ich erwähne auch, dass der Cavendish von 2008<br />
oder 2009 nach solchen Niederlagen Feuer gespien<br />
und Helme geworfen hätte, doch auch das sieht er<br />
anders. „Das ist, weil ich damals – außer wenn ich<br />
einen Fehler gemacht habe – nie verloren habe. Damals<br />
habe ich nur verloren, wenn ich einen Fehler<br />
gemacht habe. Nie, weil ich nicht gut genug war.“<br />
Cavendish kann ein sehr plausibles Argument<br />
vorbringen. Seine Siegesquote bei der Tour von<br />
2013 bis 2018 ist nicht ganz das, was sie von<br />
2008 bis 2012 war, aber dafür gibt es gute Gründe.<br />
Er holte in der ersten Hälfte seiner Karriere<br />
im Schnitt über vier im Jahr, und als er das Team<br />
Sky Ende 2012 mit 27 Jahren verließ, hatte er<br />
23 Etappensiege zu Buche stehen. Zu dem Zeitpunkt<br />
schienen 34 eine reine Formalität zu sein.<br />
Aber dann wurde es schwerer. 2013 kam er nur<br />
auf zwei Etappensiege, nachdem er auf einen<br />
Marcel Kittel in Bestform getroffen war, und im<br />
folgenden Jahr war Kittel ebenso dominant, doch<br />
Cavendish hatte keine Chance, ihn herauszufordern,<br />
weil er auf der 1. Etappe in Harrogate nach<br />
einem Sturz ausschied. 2015 war enttäuschend<br />
– er gewann eine Etappe, während Greipel vier abräumte.<br />
Im folgenden Jahr nahm er die Tour das<br />
letzte Mal gesund in Angriff und gewann viermal.<br />
Null bei den letzten beiden Rennen ist eine besorg-<br />
nis erregende Zahl, doch Cavendish glaubt, dass<br />
noch etwas drin ist. Und wenn er noch eine Etappe<br />
gewinnen kann, kann er auch zwei gewinnen …<br />
„Das ist alles, was mir bleibt“, sagt er. „Ich hatte<br />
andere Ziele, aber die Rennen haben sich geändert.<br />
Gent–Wevelgem ist nicht mehr das Rennen,<br />
das Cipollini gewann. Es ist nicht mal ein bisschen<br />
anders – es ist ein anderes Rennen.<br />
Ich habe keine Anzahl von Tour-Etappen, die<br />
ich gewinnen will. Wenn ich nur gut genug bin,<br />
um noch eine weitere zu gewinnen, ist es halt so.<br />
Wenn ich in den nächsten fünf Jahren fünf im<br />
Jahr gewinnen kann, versuche ich das. Ich werde<br />
sehen, was passiert, aber ohne Frage ist meine<br />
ganze Saison auf die Tour ausgerichtet.“<br />
Cavendishs Rivalen bei seinem Streben nach<br />
weiteren Tour-Etappensiegen sind offensichtlich.<br />
Viviani war der erfolgreichste<br />
Sprinter 2018, obwohl Cavendish betont, dass er<br />
den Italiener auf einer Etappe der Dubai Tour zu<br />
Beginn des Jahres schlug. Dann kommen Gaviria<br />
und Groenewegen, die Besten der Tour 2018; auch<br />
ein gut aufgelegter Kittel ist eine Gefahr (obwohl<br />
er seit über einem Jahr nicht gut aufgelegt war).<br />
Das ist eine starke Besetzung, und die Aufgabe<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 37
DAS GROSSE INTERVIEW<br />
„DIE LEUTE HABEN KEINE<br />
AHNUNG, WIE DU DIR ALS<br />
SPRINTER DIE MUSKELN<br />
SCHÄDIGST. WENN DU DIESE<br />
POWER IM ROTEN BEREICH<br />
PRODUZIERST, KOMMST DU<br />
AM NÄCHSTEN TAG NICHT<br />
AUS DEM BETT.“<br />
© Gruber Images<br />
wird nicht leichter dadurch, dass Tour-Organisator<br />
A.S.O. die Anzahl der reinen Sprintetappen in<br />
den letzten zwei Jahren leicht reduziert hat und<br />
die Sprints selbst jedes Jahr härter umkämpft und<br />
komplexer zu sein scheinen.<br />
Das Sprinten hat sich allein in den letzten zehn<br />
Jahren sehr geändert, eine Entwicklung, die erst<br />
von Cavendish eingeführt wurde und dann von<br />
seinen Rivalen, als mehr Fahrer in die Sprintzüge<br />
eingespannt wurden. Cavendish zufolge können<br />
es sich die Sprinter nicht leisten, bis eine Stunde<br />
vor dem eigentlichen Sprint weiter hinten im Feld<br />
zu fahren. Sie müssen hart arbeiten, um ihre Position<br />
zu verteidigen, dann auf den letzten zehn<br />
Kilometern ihren Anfahrern folgen, und wenn der<br />
Sprint dann eröffnet wird, sind die endschnellen<br />
Fahrer bereits im roten Bereich. Das alleine heißt,<br />
dass die Fähigkeit, hohe Wattzahlen zu treten, nur<br />
ein kleiner Teil einer sehr komplexen Rechnung ist.<br />
Es gab einige Jahre, in denen Cavendish es<br />
leicht aussehen ließ – sein Sprintzug, besonders<br />
bei HTC-Highroad, funktionierte wie eine gut geölte<br />
Maschine und eskortierte ihn an die Spitze,<br />
und er war so schnell, dass er seine Rivalen um<br />
Längen schlug. Aber wenn etwas leicht aussieht,<br />
ist die Wahrheit oft komplizierter.<br />
„Es ist nie einfach. Nur weil es leicht aussieht,<br />
heißt das nicht, dass es leicht ist. Das ist das Problem,<br />
das ich hatte. Weil es einfach aussah, nahm<br />
man an, es wäre einfach, aber das war es nicht.<br />
Die Leute haben das Training vorher nicht gesehen<br />
und wie ich in den Anstiegen kotzen musste.<br />
Und die Leute haben keine Ahnung, wie du dir als<br />
Sprinter die Muskeln schädigst. Wenn du diese<br />
Power im roten Bereich produzierst, kommst du<br />
am nächsten Tag nicht aus dem Bett. Die Muskeln<br />
der Kletterer mit langen Fasern werden nie so geschädigt.<br />
Andererseits werde ich mich nie so kaputtfahren<br />
können wie Chris Hoy im 1.000-Meter-Zeitfahren.“<br />
Fürs Erste managt Cavendish die Regeneration<br />
von Epstein-Barr und peilt die Tour 2019 an, welche<br />
den Sprintern sieben echte Chancen bietet.<br />
38 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
MARK CAVENDISH<br />
Besonders interessant ist, dass vier davon in der<br />
Auftaktwoche kommen – bevor es in die ersten<br />
Berge geht, dürfte klar geworden sein, ob Merckx’<br />
Bestmarke sicher ist oder ob Cavendish das Undenkbare<br />
schafft und den Rekord einstellt. Und<br />
wenn seine Form und seine Gesundheit gut sind,<br />
wird es ihm nicht an jenem Wettbewerbstrieb<br />
fehlen, der ihn zur Unsterblichkeit treibt. „Ich bin<br />
süchtig nach Siegen, ich brauche das“, sagt er. „Es<br />
ist alles, was zählt. Ich will nicht nur so gut wie<br />
möglich sein, sondern der Beste von allen.“ Sogar<br />
einschließlich Eddy Merckx.<br />
Im letzten Februar bewies<br />
Cavendish in Dubai, dass er seine<br />
großen Rivalen noch schlagen konnte.<br />
© Getty Images<br />
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40 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
A U S F A H R T D E R<br />
C H A M P I O N S<br />
„Als wir zum Training fuhren, liefen wir Cadel Evans<br />
über den Weg. Er arbeitet bei BMC, die uns ein paar<br />
schnelle Räder gebaut haben. Ed sollte mich beim<br />
Kaffee-Stopp interviewen – nicht über Radrennen,<br />
sondern übers Radfahren. Und ich habe Cadel<br />
eingeladen, sich zu uns zu setzen.“<br />
Text Edward Pickering<br />
Fotografie Wayne Reiche<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 41
AUSFAHRT DER CHAMPIONS<br />
WAS GEFÄLLT DIR<br />
AM RADFAHREN?<br />
Mark Cavendish: Ich glaube, es ist die Freiheit.<br />
Du kannst hinfahren, wo du willst, von deiner<br />
Haustür aus, mit wem du willst, so schnell du<br />
willst, so weit du willst und so lange du willst.<br />
Cadel Evans: Ist Radfahren heute anders für dich<br />
als mit fünf Jahren?<br />
MC: Nicht das Radfahren, aber alles drum herum.<br />
Hast du das Buch von André Agassi gelesen?<br />
Darin schreibt er, dass er Tennis am Ende gehasst<br />
hat. Manchmal denke ich, dass es mir reicht, aber<br />
es ist nicht der Radsport, der mir reicht. Es ist das<br />
ganze Drumherum, das mit dem Erfolg einhergeht.<br />
Das kann zu viel werden. Aber der Radsport,<br />
wenn du ihn auf das Wesentliche reduzierst … Ich<br />
glaube, wenn du es darauf beschränken könntest,<br />
würde Agassi Tennis noch lieben, aber es ist das<br />
ganze Drumherum.<br />
CE: Wenn alle Erwartungen an dich wegen dem,<br />
was du bist und was du erreicht hast, nicht da wären,<br />
würde es dir dann mehr Spaß machen?<br />
MC: Es würde mir wahrscheinlich mehr Spaß machen.<br />
Es wäre anders, aber es ist schwer zu sagen.<br />
CE: Die Leute fragen mich immer, ob mir der<br />
Radsport fehlt. Mir fehlen die Radrennen schon,<br />
aber es gab Erwartungen, denen ich gerecht werden<br />
musste. Ob mir das Radfahren jetzt Spaß<br />
macht? Es macht mir mehr Spaß. Ich muss keine<br />
Erwartungen erfüllen. Ich habe kein Wattmessgerät,<br />
das Daten an meinen Trainer mailt, die sagen,<br />
dass ich keine sechs-Komma-noch-was Watt<br />
pro Kilo trete. Cav kann bei keinem Rennen auftauchen,<br />
ohne dass alle wissen, dass er 30 Etappen<br />
der Tour gewonnen hat.<br />
FÄHRST DU VIEL,<br />
CADEL?<br />
CE: Ich versuche es.<br />
MC: Schau ihn dir an!<br />
CE: Ich fahre einfach genug, um auszusehen, als<br />
wäre ich fit. Ich bin nicht so fit, wie ich aussehe!<br />
Aber ich liebe es. Cav und ich sind unterschiedliche<br />
Fahrertypen und wir sind auch ziemlich unterschiedliche<br />
Persönlichkeiten. Aber angefangen<br />
mit dem Radsport haben wir aus Liebe zu dieser<br />
Freiheit, die wir spüren. Wenn die Zeit für Cav<br />
kommt, seine aktive Laufbahn zu beenden, wird<br />
er eine neue Motivation haben, wieder Rad zu<br />
fahren. Deswegen habe ich nach Erwartungen<br />
gefragt, denn wenn du es so nimmst, ist es befreiend.<br />
Es ist die Befreiung vom Stress, denn wenn<br />
du mit Erwartungen fährst, kann es belastend<br />
sein, aber plötzlich musst du keine Erwartungen<br />
mehr erfüllen, wenn du einen durchschnittlichen<br />
Tag hast. Du bist nicht mehr jeden Tag die Nummer<br />
eins in der Welt.<br />
42 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
AUSFAHRT DER CHAMPIONS<br />
WORAN DENKST DU,<br />
WENN DU RAD FÄHRST?<br />
MC: Ich fahre gerne mit anderen Leuten und unterhalte<br />
mich gern. Wenn ich allein bin, hängt es<br />
von meinem Fokus ab. Gerade in der Vorbereitung<br />
auf die Tour de France verändert es meine Einstellung,<br />
und alles dreht sich wirklich nur um die<br />
Leistung. Aber meistens … weiß ich nicht. Alles.<br />
Es ist viel los. Vielleicht denke ich auch gar nicht.<br />
Es ist so viel los, dass ich von allem Abstand gewinne,<br />
wenn ich nur rauskomme und fahren kann.<br />
FINDEST DU DAS<br />
AUCH, CADEL?<br />
CE: Total. Ich sage meiner Freundin: Ich gehe mal<br />
raus zu einer therapeutischen Fahrt. Ich verstehe,<br />
was Mark sagt – dass in seinem Leben so viel los<br />
ist. Wenn du ein Favorit für die Tour de France<br />
bist, für das Grüne Trikot oder das Gelbe Trikot,<br />
wollen praktisch alle Journalisten mit dir sprechen.<br />
Ein Fahrer, 1.500 Journalisten. Die Tour<br />
de France zu fahren ist physisch oder mental oder<br />
emotional nicht leicht. Wir haben viel im Kopf,<br />
und ich habe in schweren Phasen bei der Tour<br />
festgestellt, dass ich einen Seufzer der Erleichterung<br />
ausgestoßen habe, wenn die Etappe losging.<br />
In diesen stressigen Momenten kannst du leicht<br />
den Spaß daran verlieren.<br />
WIE FINDEST DU<br />
DEN WIEDER?<br />
CE: Da muss man den Leuten helfen, mit der Belastung<br />
umzugehen. Er ist der einzige Typ, der<br />
fahren kann, Cav ist der einzige Typ im Team, der<br />
das Grüne Trikot gewinnen kann, ich war der einzige,<br />
der das Gelbe anpeilen konnte. Das können<br />
wir nicht outsourcen. Aber alles andere, was outgesourct<br />
oder gemanagt werden kann, um die Belastung<br />
zu verringern … Verglichen mit den Belastungen,<br />
die ich in meinem Leben erlebt habe, ist<br />
die Tour weit oben angesiedelt.<br />
MC: Mir fällt es schwer, das zu tun. Ich bin ein<br />
Kontrollfreak. Ich will alles wissen und es nicht<br />
outsourcen. Dann weiß ich, dass ich alles gemacht<br />
habe. Ich will niemandem die Schuld für<br />
etwas geben müssen, was ich hätte kontrollieren<br />
können. Wenn ich es mache, ist es meine Verantwortung<br />
und es geht auf meine Kappe, wenn es<br />
nicht funktioniert.<br />
CE: Ich musste die Belastung reduzieren. Ich hatte<br />
jemanden, der meine Medienanfragen managte.<br />
„IN SCHWEREN PHASEN<br />
BEI DER TOUR HABE ICH<br />
EINEN SEUFZER DER<br />
ERLEICHTERUNG AUS-<br />
GESTOSSEN, WENN DIE<br />
ETAPPE LOSGING.“<br />
CADEL EVANS<br />
Bei den Rennen hatte ich George Hincapie, der auf<br />
mich aufpasste, und ich konnte ihm komplett vertrauen<br />
und meine Tour de France in seine Hände<br />
legen. Er war so gut und erfahren.<br />
MC: Er ist der beste Teamkollege in der Geschichte.<br />
CE: So musste ich nicht ständig auf alles achten<br />
– welche Teams wo angreifen, wo Seitenwind sein<br />
würde. Ich hatte jemanden, der das tat, sodass ich<br />
mental weniger Stress hatte.<br />
MC: Du brauchst Leute, für die Radsport nicht<br />
nur ein Job ist, sondern die wirklich füreinander<br />
fahren. Das spürst du. Du kannst es nicht erklären,<br />
aber es ist mehr, als du mit den Augen sehen<br />
kannst, wenn es eine solche Verbindung gibt.<br />
HAST DU EINE<br />
LIEBLINGSSTRECKE?<br />
MC: Ich liebe es, auf der Isle of Man zu fahren. Es<br />
ist verdammt hart. Es ist windig und regnerisch.<br />
Schwere Straßen. Nie flach.<br />
IST DAS DER REIZ?<br />
MC: Nicht auf diese Art, wo es „dich hart macht“.<br />
Es härtet dich zwar ab, aber das ist nicht der<br />
Punkt. Da sind gute Leute dort. Es gibt einen<br />
Treffpunkt um 9:15 Uhr. Und egal, welches Wetter,<br />
was für ein Tag – sogar an Weihnachten ist<br />
dort eine Gruppe Fahrer. Es können Junioren,<br />
Veteranen, Frauen, Profis sein, ganz egal – es ist<br />
immer eine Gruppe da. Es leben eine Handvoll<br />
Profis da – ich, Pete Kennaugh, Stannard ist da,<br />
Ben Swift, Mark Christian. Eine gute alte Gruppe,<br />
und wir fahren einfach raus und los.<br />
CE: Das ist das Schöne am Radsport. Er bringt<br />
Fahrer zusammen, die das Grüne Trikot gewonnen<br />
haben, Sky-Profis, Veteranen, Frauen und Junioren,<br />
und sie können kommen und zusammen<br />
sein. Als ich aktiver Fahrer war, habe ich mich da-<br />
r auf konzentriert, mich auf Rennen vorzuberei<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 43
AUSFAHRT DER CHAMPIONS<br />
ten, aber jetzt, wo ich mehr Abstand vom Renngeschehen<br />
habe, sehe ich den Reichtum des<br />
Radsports. Als Tour-Fahrer wusste ich, dass Leute<br />
am Straßenrand stehen, aber ich habe nie erkannt,<br />
wie viel Spaß die Leute dort haben. Jetzt<br />
genieße ich es, am Straßenrand in einem Weingarten<br />
zu sitzen und Champagner zu trinken und<br />
ein Picknick mit Freunden zu machen.<br />
MC: Ich schaue nicht viel Radsport. Ich schaue<br />
mir lieber die Junioren, U23-Fahrer oder Frauen<br />
bei der Weltmeisterschaft an. Es gibt im Peloton<br />
viele Leute, die ich nicht mag, und viele Leute,<br />
die mich nicht mögen. Ich will es mir nicht anschauen.<br />
Es wäre, wie die Videoüberwachung<br />
deines Büros anzuschauen. Frauenrennen sind<br />
unvorhersehbarer. Es macht Spaß, sie anzuschauen.<br />
Bei Junioren und U23 ist es dasselbe und ich<br />
schaue mir lieber das an als mir anzuschauen, wie<br />
… irgendein Idiot gewinnt.<br />
CE: Hast du ein Rennen, das du jedes Jahr auf<br />
jeden Fall anschaust? Es gibt eins, das ich immer<br />
schauen muss.<br />
MC: Welches?<br />
CE: Roubaix. Das muss ich schauen, komme, was<br />
da wolle. Ich bin es nie gefahren, aber ich liebe es.<br />
MC: Du bist Roubaix nie gefahren?<br />
CE: Nie.<br />
MC: Ich bin es zu Ende gefahren und habe gesagt:<br />
Das ist verdammt noch mal das Krasseste, was<br />
ich je gemacht habe. Ich mache es nie wieder.<br />
CE: Darum liebe ich es. Ich habe viele Lieblingsstrecken<br />
– weil es für mich etwas Besonderes ist,<br />
die Great Ocean Road; es hat mich gereizt, weil es<br />
eine so schöne Strecke ist. Außerdem ist mein<br />
Rennen dort. Die Dolomiten sind die landschaftlich<br />
schönsten und spektakulärsten Berge zum<br />
Radfahren. Die Schweizer Alpen gehören zu meinen<br />
Lieblingsbergen. Colorado ebenfalls.<br />
ACHTET IHR AUF<br />
DIE LANDSCHAFT,<br />
WENN IHR FAHRT?<br />
MC:Du siehst nicht viel davon, wenn du Rennen<br />
fährst. Du nimmt es wahr, schaust es dir aber<br />
nicht an.<br />
CE: Ich habe die Strecken der Tour und des Giro<br />
vorher inspiziert, und ehrlich gesagt habe ich es<br />
genossen. Du bist in diesen schönen Bergen, und<br />
da konnte ich die Landschaft genießen und in<br />
mich aufnehmen und darüber nachdenken. Das<br />
war die therapeutische Seite. Ich habe trainiert<br />
und meinen Job gemacht, aber ich habe es wirklich<br />
genossen.<br />
MC: Warst du je auf Elba? Verdammt, es war eine<br />
der schönsten Fahrten, die ich je gemacht habe.<br />
Ich war da, nachdem Sagan mich aus der Tour<br />
[2017] befördert hat. Es ist nicht weit von mir –<br />
du kannst fahren und mit der Fähre übersetzen.<br />
Ich und Steve Cummings reden seit Jahren da-<br />
r über, mit der Lambretta rüberzufahren. Es ist<br />
verdammt schön. Du hast Küsten und ziemlich<br />
hohe Berge. Ich liebe Inseln. Ich bin ein Inseljunge.<br />
WENN IHR RAUSFAHRT,<br />
LEGT IHR VORHER EINE<br />
ROUTE FEST ODER<br />
IMPROVISIERT IHR?<br />
MC: Ich lege fast nie eine Route fest. Wenn ich<br />
mich nicht gut fühle, versuche ich eine kleeblattförmige<br />
Strecke zu fahren, dann bin ich nie weit<br />
von zu Hause entfernt. Aber normalerweise entscheide<br />
ich einfach spontan.<br />
CE: Wenn ich spezielles Training machen musste,<br />
habe ich entsprechend geplant. Aber abgesehen<br />
von strukturiertem Training war meine Streckenplanung<br />
sehr aus dem Stegreif, wie bei Mark. Ich<br />
schaue mir manchmal Landkarten an, um mich<br />
inspirieren zu lassen, aber nicht, um zu planen.<br />
MC: Steve Cummings hat einen Wochenplan. Er<br />
macht jeden Tag eine andere Fahrt oder Session<br />
und fährt an jedem einzelnen Tag eine bestimmte<br />
Strecke. Wir leben im selben Ort, aber wir trainieren<br />
nie zusammen. Nie.<br />
MACHT EUCH DAS<br />
FAHREN AUCH MAL<br />
KEINEN SPASS?<br />
MC: Ich würde lügen, wenn ich nein sagen würde.<br />
Es gibt Phasen, wo es dir keinen Spaß macht, aber<br />
es ging nie nur ums Fahren. Ich liebe das Fahren.<br />
Ich liebe es, verdammt noch mal. Die Leute sagen<br />
manchmal, dass ich Glück habe zu tun, was ich<br />
tue. Wir haben kein verdammtes Glück – was wir<br />
alles opfern und wie viel Schufterei das ist, die<br />
Leute werden es nie verstehen. Ich habe das<br />
Glück, tun zu können, was ich liebe, aber was ich<br />
geleistet habe, ist kein Glück.<br />
CE: Es ist nie so, dass mir das Fahren keinen<br />
44 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
AUSFAHRT DER CHAMPIONS<br />
Spaß macht, aber es gab Augenblicke in meiner<br />
Karriere, wo ich dachte: Warum zum Teufel mache<br />
ich das? Wenn es schneit, du fährst den Gavia<br />
runter und deine Hände sind so kalt, dass<br />
du nicht mal bremsen kannst. Ob ich morgens<br />
wach werde und nicht fahren will? Nun ja, ich<br />
werde morgens wach und will meine Shorts nicht<br />
anziehen oder mein Rad nicht putzen. Ich will<br />
das Rad nicht einpacken und zum Flughafen fahren.<br />
Aber wenn ich einmal unterwegs bin, habe<br />
ich selten ein Problem.<br />
WELCHES IST DER<br />
HÄRTESTE RITT, DEN<br />
DU JE AUSSERHALB<br />
EINES RENNENS<br />
ABSOLVIERT HAST?<br />
MC: Ich war Ende 2015 auf dem Teide. Ich hatte<br />
mir bei der Tour of Britain die Schulter verletzt<br />
und war sechs oder sieben Wochen ausgefallen<br />
und mit der Nationalmannschaft da. Das war<br />
hart. Aber das ist eine gute Frage, das bin ich noch<br />
nie gefragt worden.<br />
CE: Ich bin viele harte Strecken gefahren, aber<br />
das wird gewesen sein, wenn ich irgendwo unterwegs<br />
war und drei Stunden mit einem Hungerast<br />
gefahren bin.<br />
WIE ARBEITET IHR<br />
MIT DEM TEAM<br />
ZUSAMMEN?<br />
MC: Cadel versteht es. Er versteht mich. Und<br />
er drückt sich klar aus. Es ist nicht leicht, mit<br />
mir zu arbeiten. Wenn du mich verstehst, ist<br />
es leicht, mit mir zu arbeiten. Ich bin geradlinig.<br />
Ich erzähle dir keinen Mist und ich will nicht,<br />
dass du mir Mist erzählst. Das versteht er, und<br />
wir arbeiten gut zusammen. Er versteht, was<br />
ich sage.<br />
CE: Als Cav vor zwei Jahren zu meinem Rennen<br />
kam, habe ich ihn außerhalb des Radsports<br />
kennengelernt. Ich kannte den „Boy Racer“,<br />
aber wir sind zusammen ausgegangen, waren<br />
mit Andy Murray unterwegs. Ich habe seine<br />
Wurzeln gesehen und Ähnlichkeiten mit meiner<br />
eigenen Erfahrung und Karriere. Es gab<br />
Momente in meiner Karriere, wo die Leute den<br />
Glauben an mich verloren haben. Ich habe an<br />
einem Tag in meiner Karriere mit einem Teamchef<br />
gesprochen, der mir in die Augen schaute<br />
und sagte: ‚Alles, was du brauchst, sind ein<br />
paar Leute, die an dich glauben.‘ Und ich sagte:<br />
‚Genau das will ich.‘ Das war der Tag vor der<br />
Weltmeisterschaft 2009. Und da BMC Partner<br />
von Dimension Data ist, wollen wir Mark<br />
nach Kräften unterstützen, damit er wieder<br />
der Alte ist.
AUSFAHRT DER CHAMPIONS<br />
Diagnose gefahren. Ich war Siebter der Tour<br />
2012, aber habe es erst zwei Wochen nach Olympia<br />
in London festgestellt. Der Arzt rief mich an<br />
und verordnete mir, nach Hause zu gehen und<br />
mich zwei Monate auf die Couch zu setzen.<br />
WAS IST DEINE JOB<br />
BEZEICHNUNG, CADEL?<br />
CE: Ich bin globaler Botschafter für BMC. Wir<br />
sind ein Partner von Dimension Data und innerhalb<br />
des Teams bin ich eine Art Mentor – wir legen<br />
noch fest, wie das genau aussieht. Ich kann<br />
eingreifen und dies und jenes sagen, und ich kann<br />
die Dinge auf vielen verschiedenen Ebenen sehen<br />
und helfen. Wir wollen, dass Cav das bestmögliche<br />
Material hat. Wir haben ein neues Aero<br />
Rennrad entwickelt, von dem ich glaube, dass es<br />
fantastisch für ihn sein wird. Wir können einige<br />
Feinjustierungen für ihn und seine Bedürfnisse<br />
vornehmen. Kleine Dinge, die einen großen Effekt<br />
haben können.<br />
MC: Ich sehe nicht wie ein Rennfahrer aus. Und<br />
Cadel sah nicht wie ein Rundfahrtsieger aus. Er<br />
fährt anders. Ich bin kein großer, starker Sprinter.<br />
Rennräder sind darauf ausgelegt, Kraft zu übertragen<br />
und auf die Straße zu bringen, aber so fahre<br />
ich nicht.<br />
CE: So, wie er sprintet, wird der Lenker, den wir<br />
für ihn konstruieren müssen, uns vor eine Herausforderung<br />
stellen. Wir müssen die Art, wie wir ihn<br />
gebaut haben, umkehren, weil er anders fährt.<br />
MC: Es sind nicht die Rennräder, die falsch für<br />
mich sind – ich bin es, der falsch für die Rennräder<br />
ist.<br />
WAS LERNST DU<br />
VON MARK, CADEL?<br />
CE: Vieles. Vor allem, dass Hunger dich sehr weit<br />
bringen kann. Wir sind unterschiedliche Fahrer<br />
„NIEMAND VERSTEHT<br />
DIESEN VIRUS. ICH WÜRDE<br />
MIR LIEBER JEDEN KNOCHEN<br />
IM LEIB BRECHEN, ALS<br />
DIESEN VERDAMMTEN<br />
VIRUS ZU HABEN.“<br />
MARK CAVENDISH<br />
– er ist Sprinter und er ist so gut in dem, was er<br />
macht, dass ich ihn nie infrage stellen werde. Es<br />
ist faszinierend, wie viele verschiedene Herangehensweisen<br />
zu Erfolg führen können. Er ist kein<br />
normaler Rennfahrer. Schau dir seine Schuhgröße,<br />
Beinlänge, seine Größe, seinen Körperbau an.<br />
Aber schau dir die Resultate an!<br />
UND WAS BEKOMMST<br />
DU VON CADEL, MARK?<br />
MC: Wir haben viel darüber gesprochen, wie man<br />
Leute managt. In meiner ganzen Karriere war ich<br />
Teamkapitän. Das war immer mein Job. Er erklärt<br />
mir, wie ich das Beste aus dem Team heraushole.<br />
Das habe ich gemacht, und es ist mir leichtgefallen.<br />
Er hat es mir aus psychologischer Sicht erklärt.<br />
Und Epstein-Barr hatten wir beide.<br />
CE: Das war der Auslöser für den Anfang vom<br />
Ende meiner Karriere. Ich bin sieben Monate ohne<br />
DU WURDEST MIT<br />
EPSTEIN-BARR SIEBTER<br />
DER TOUR 2012?<br />
CE: Ich bin dort angetreten, ohne zu wissen, dass<br />
ich es hatte. Es gab in meiner ganzen Karriere keinen<br />
so harten Ritt wie diesen, glaub’ mir.<br />
MC: Niemand versteht diesen Virus. Ich würde<br />
mir lieber jeden Knochen im Leib brechen, als<br />
diesen verdammten Virus zu haben.<br />
CE: Als Ausdauerathlet oder Rennfahrer lernst<br />
du als Erstes: Zu sagen, dass du erschöpft bist, ist<br />
die schwächste Ausrede, also benutze sie nicht.<br />
Und was ist das Hauptsymptom dieses Virus’?<br />
Du bist erschöpft. Okay, das kannst du nicht sagen<br />
und dich nicht darüber beschweren. Also weitermachen.<br />
Du nimmst dir vielleicht zwei Tage<br />
frei. Aber damit brauchst du zwei Monate frei.<br />
MC: Deine natürliche Reaktion, wenn du erschöpft<br />
bist, ist, dass du härter trainierst, weil<br />
du glaubst, dass du nicht gut unterwegs bist. In<br />
diesem Jahr war ich in so guter Form, aber es sah<br />
aus, als wäre ich total schlecht drauf. Die Mentalität<br />
ist, dass du dich härter antreibst, wenn du<br />
dich nicht gut fühlst. Cadel hat mich letztes Jahr<br />
überraschend angerufen und gesagt: ‚Überstürze<br />
es nicht.‘<br />
CE: Ich erinnere mich, dass ich in der schlimmsten<br />
Phase wach wurde. Ich schlafe nicht viel, aber<br />
ich wurde nach zehn oder elf Stunden wach,<br />
schaute in den Spiegel und sah aus, als wäre ich<br />
zehn Jahre gealtert. Vier oder fünf Kaffee zum<br />
Frühstück, ich fuhr drei Kilometer die Straße runter.<br />
Es war früh in der Saison, ich sah ein bisschen<br />
Gras im Schnee und hätte mich am liebsten dort<br />
schlafen gelegt. Trotzdem habe ich das Training<br />
absolviert, vier Stunden in den Bergen.<br />
MC: Es ist fürchterlich. Du kannst nichts machen.<br />
Wenn du die Treppen hochläufst, musst du dich<br />
ins Bett legen. Du kannst echt nichts machen. Du<br />
kannst keine Zeit mit deinen Kindern verbringen.<br />
CE: Du wirst reizbar und frustriert. Die Erschöpfung<br />
war schwer genug, aber dann verliert auch<br />
noch dein Team den Glauben an dich.<br />
MC: Das ist, weil die Leute es nicht verstehen. Ich<br />
habe mich bei Mark Renshaw entschuldigt, weil er<br />
es hatte. Erst dachte ich, das ist schwach, Renshaw.<br />
Jetzt erkenne ich, dass die meisten Leute so denken;<br />
also musste ich mich entschuldigen.<br />
46 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
AUSFAHRT DER CHAMPIONS<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 47
DAS<br />
WETTRÜSTEN<br />
DER SPRINTER<br />
48 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
„Das Sprinten hat sich in den letzten Jahren sehr<br />
geändert. Du hast es jetzt nicht nur mit Sprintern<br />
zu tun, sondern mit einer Menge Sprintzüge.<br />
Sie sind schwer vorherzusagen und die<br />
Variablen sind größer geworden.“<br />
Text Sam Dansie & Sophie Hurcom<br />
Fotografie Jared Gruber<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 49
DAS WETTRÜSTEN DER SPRINTER<br />
DER SIEG<br />
0 METER<br />
DER SPRINT<br />
200 METER<br />
© Getty Images (oben)<br />
ELIA VIVIANI: Wenn auf den letzten zehn<br />
Metern niemand neben dir ist oder die Geschwindigkeit<br />
so hoch ist, dass niemand an dir vorbeikommt,<br />
ist das der beste Moment. Es ist ein<br />
Sekundenbruchteil, aber du genießt es. Und dann<br />
kommt das Adrenalin. Du hast während des ganzen<br />
Sprints einen sehr hohen Adrenalinspiegel,<br />
aber wenn du es über die Ziellinie schaffst, explodieren<br />
all diese Emotionen.<br />
Ein euphorischer Schrei, als Cavendish<br />
einen weiteren Sieg holt.<br />
SPRINTZUG<br />
1 KM–250 M<br />
CAVENDISH: Vorher hattest du einen Fahrer, der<br />
dein Pilotfisch war. Daher kommt der Sprintzug.<br />
In den Jahren 2007 und 2008 habe ich neun von<br />
zehn Sprints gewonnen, die ich gefahren bin. Ich<br />
dachte, wenn ich einen Sprintzug habe, kann ich<br />
zehn von zehn Sprints gewinnen. Das haben wir<br />
einfach gemacht, und das hat die Siege garantiert.<br />
KITTEL: Die Zeit der großen Sprintzüge endete<br />
2013/14. Wenn ich an die Tour in diesen Jahren<br />
zurückdenke, so hatte mein Team immer einen<br />
Kampf mit Lotto Soudal, und es kamen mehr<br />
Sprinter mit starken Teams.<br />
BENNETT: Wenn nicht so viele Topfahrer bei einem<br />
Rennen sind, spielt der Sprintzug eine größere<br />
MARK CAVENDISH: Die Leute glauben, beim<br />
Sprinten legt man 150 Meter vor dem Ziel los.<br />
Aber 150 Meter sind kurz. Es sind eher 200 Meter<br />
oder 250 Meter, und du warst vorher schon<br />
fünf Minuten im roten Bereich. Jeder kann eine<br />
hohe Wattzahl treten. Es geht darum, wie hart<br />
du sprinten kannst, wenn du schon im roten Bereich<br />
bist.<br />
ANDRÉ GREIPEL: Es gibt immer noch ein bisschen<br />
Power, die du aus den Beinen holen kannst.<br />
Manchmal bist du, bevor du<br />
den Sprint eröffnest, tot – wirklich<br />
tot –, aber du hast noch<br />
eine Leistungsspitze. Manchmal<br />
überraschst du dich selbst,<br />
was du aus dir herausquetschen<br />
kannst. Es ist das Ziellinienfieber.<br />
MARCEL KITTEL: Die Ziellinie<br />
ist meine rote Linie. Wenn ich<br />
in guter Form bin und die Ziellinie<br />
überquere und gewinne,<br />
erinnere ich mich nicht, wie sehr<br />
ich mich auf den letzten fünf<br />
Kilometern verausgabt habe.<br />
SAM BENNETT: Es ist schwer,<br />
in diese Blase der Topsprinter<br />
einzudringen, denn niemand<br />
will, dass du mit um den Sieg<br />
sprintest.<br />
Rolle, weil du sonst einfach weggeschwemmt wirst.<br />
So viele Leute wollen Sprintzüge. Ich glaube fast, es<br />
sind zu viele und du musst es alleine machen.<br />
VIVIANI: Die beste Position ist immer, wenn deine<br />
Anfahrer einen Kilometer vor der Linie loslegen<br />
und du zwei Leute hast und weißt, dass sie dich<br />
200 Meter vor die Linie bringen. Wenn dir niemand<br />
den Sprint anfährt, ist die beste Position<br />
am Hinterrad des Sprinters, der Anfahrer hat. Du<br />
musst wissen, wer am besten organisiert ist.<br />
GREIPEL: Es gibt keinen vollen Sprintzug mehr.<br />
Der Platz auf der Straße ist begrenzt. Es läuft darauf<br />
hinaus, dass die letzten zwei Fahrer vor dem<br />
Sprinter alles richtig machen. Heutzutage versuchen<br />
viele Teams, den perfekten Sprintzug aufzubauen,<br />
deswegen ist es wie ein Beschleunigungsrennen.<br />
Um zu gewinnen, musst du förm-<br />
lich fliegen, aber das ist schwer, weil viele andere<br />
Teams viel Betonung und Aufmerksamkeit auf<br />
einen Sprintzug legen.<br />
Die letzten Phasen eines Sprintfinales<br />
sind immer chaotisch.<br />
CHAOS<br />
3 KM–1 KM<br />
BENNETT: Sprints fühlen sich unbarmherziger<br />
an. Es gibt heute so viele gute Sprinter und es gibt<br />
eigentlich keinen, der herausragt. Jeder ist schlagbar.<br />
Ich glaube, das macht es chaotischer: Jeder<br />
weiß, dass er gewinnen kann.<br />
CAVENDISH: Bei Highroad wollten andere<br />
Teams bei uns dazwischenfunken wie Liquigas<br />
und Lotto, aber das haben sie nicht geschafft.<br />
Selbst 2011 kamen mal ein oder zwei an uns<br />
vorbei – Greipel, Tyler Farrar –, aber wir haben<br />
es geschnallt und waren immer noch ziemlich<br />
dominant.<br />
GREIPEL: Sprintgeschwindigkeiten und das<br />
Chaos sind größer denn je, glaube ich. Das sind<br />
Radrennen. Jeder muss selber wissen, welches<br />
Risiko er eingehen will.<br />
VIVIANI: Der chaotischste Moment ist zwischen<br />
zwei Kilometern und einem Kilometer vor dem<br />
Ziel. In dem Moment weißt du, ob du in einer guten<br />
Position bist, um zu gewinnen, oder nicht –<br />
das ist der chaotischste Moment, weil jeder in der<br />
Position sein will, um zu gewinnen.<br />
TOM STEELS: Für Fahrer wie Viviani, die von der<br />
Bahn kommen, ist das Chaos ihre zweite Natur.<br />
Es ist die natürliche Herangehensweise an den<br />
Sprint. Du kannst so stark sein wie ein Pferd, aber<br />
wenn du nicht das Gespür hast, die Position zu<br />
finden, kannst du nicht schnell sein – und in dieser<br />
Phase kommt es auf Erfahrung an.<br />
KITTEL: Letztendlich wird es immer ein dominantes<br />
Team geben, das sich in dem Chaos behauptet<br />
und einen Sprintzug bildet. In diesem<br />
Jahr war es Quick-Step. Es kommt auf Erfahrung<br />
und Kraft an, und es kann sich von Rennen zu<br />
Rennen ändern.<br />
50 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
DAS WETTRÜSTEN DER SPRINTER<br />
STURZ-<br />
BOMBER<br />
5 KM–1 KM<br />
CAVENDISH: Anders als man glaubt, kann es<br />
sein, dass ich gelegentlich ein Risiko eingehe, aber<br />
ich gefährde nicht absichtlich einen anderen Fahrer.<br />
Dich selbst einem Risiko auszusetzen, ist eine<br />
Sache, einen anderen einem Risiko auszusetzen,<br />
ist etwas anderes, aber das ist heute ein Problem<br />
geworden.<br />
BENNETT: Wenn du genug Sprints gefahren bist,<br />
kannst du Muster erkennen, zum Beispiel, wer<br />
wem folgt. Deswegen trage ich keine Brille mit<br />
Fassung unten, weil ich unter dem Arm durchschaue.<br />
Die letzten fünf Kilometer … muss ich<br />
sehen, was los ist, und am Funk sein oder dem<br />
ersten Typ zuschreien, dass er die Straße dichtmachen<br />
soll. Wenn du spürst, dass du auf einer<br />
Seite bist, und spürst, dass sie auf der linken Seite<br />
nach vorne drängen … da würden wir schon das<br />
ganze Peloton auf die andere Seite der Straße<br />
bringen. Nicht mit Gewalt, aber wir kontrollieren<br />
die Spitze und können fahren, wo wir wollen.<br />
DIE VORBEREITUNG<br />
80 KM–5 KM<br />
CAVENDISH: Die Tour ist verdammtes Chaos.<br />
Du musst auf den letzten 50 Kilometern unter<br />
den ersten 30 Fahrern sein.<br />
BENNETT: Nach dem,<br />
was ich gesehen habe,<br />
beginnt das<br />
Tour-de-France-<br />
Finale 80 bis<br />
50 Kilometer vor<br />
dem Ziel. Bei<br />
kleineren Rennen<br />
kannst du<br />
zehn bis fünf<br />
Kilometer vorher<br />
anfangen.<br />
Beim Giro sind<br />
es vielleicht 20 bis<br />
15 Kilometer vor der<br />
Linie. Wenn wir sagen,<br />
wir wollen an einem<br />
bestimmten<br />
Punkt zusammen<br />
sein, müssen wir zusammen<br />
sein.<br />
VIVIANI: Jeder Angriff auf den letzten zwei, drei<br />
Kilometern kommt, weil die Geschwindigkeit der<br />
Gruppe nicht super hoch ist und jemand versucht,<br />
im letzten Moment zu entwischen. Aber wenn<br />
vorne ein richtiger Sprintzug unterwegs ist, ist<br />
eine solche Aktion nicht leicht.<br />
KITTEL: Ich glaube, dass gefährliche Vorstöße in<br />
der letzten Minute zum Spiel gehören, und ich<br />
glaube nicht, dass die Leute es absichtlich machen.<br />
Sie sind vielleicht nervös, sie wollen nach<br />
vorne kommen und vielleicht haben sie manchmal<br />
eine gefährliche Fahrweise. Aber es gibt Respekt<br />
zwischen den Sprintern.<br />
„WENN DU GENUG<br />
SPRINTS GEFAHREN BIST,<br />
ERKENNST DU MUSTER, ZUM<br />
BEISPIEL, WER WEM FOLGT.<br />
DESWEGEN TRAGE ICH KEINE<br />
BRILLE MIT FASSUNG UNTEN,<br />
WEIL ICH UNTERM ARM<br />
DURCHSCHAUE.“<br />
SAM BENNETT<br />
GREIPEL: Bei der Tour ist es in der letzten Stunde<br />
unmöglich, Positionen gutzumachen. Wenn<br />
du die ganze Unterstützung des Teams willst,<br />
musst du unter den ersten 30 sein.<br />
STEELS: Du schaust dir immer den Start an –<br />
die gefährlichen Stellen, eine Chance, wo sich<br />
die Ausreißer absetzen können. Dann schaust<br />
du dir die letzten 50 Kilometer ganz genau an –<br />
ob es die Gefahr einer Windstaffel gibt oder ob<br />
es die Möglichkeit einer Windstaffel gibt, das<br />
kann man so oder so sehen. Dann schaust du dir<br />
die letzten zehn Kilometer besonders genau an,<br />
dann die letzten fünf Kilometer supergenau. Wir<br />
versuchen, die Funkinformationen an die Fahrer<br />
in Grenzen zu halten, aber je nach Strecke oder<br />
vo rausfahrendem Wagen gibst du ihnen zusätzliche<br />
Informationen. Du musst fähig sein, die<br />
Informationen an Fahrer zu geben, die einen Puls<br />
von 170 haben.<br />
Viviani passt immer genau<br />
darauf auf, wo seine Rivalen sind.<br />
KENNE<br />
DEINE<br />
RIVALEN<br />
BENNETT: Ich schaue mir Sprints an. Es sind<br />
nicht mal Hausaufgaben, es macht mir Spaß,<br />
glaube ich. Jeder hat seinen eigenen Sprintstil<br />
und seine eigene Persönlichkeit auf den letzten<br />
Metern und du musst das Ganze im Griff behalten,<br />
ohne zu besessen davon zu sein. Du musst<br />
dich auf dich selbst konzentrieren – es geht einfach<br />
darum, deine Gegner zu kennen.<br />
VIVIANI: Wenn wir bei einem Rennen starten,<br />
analysieren wir, wer daran teilnimmt: welche anderen<br />
Sprinter; welche Teams sind so organisiert<br />
wie wir; wer kann letzter Mann sein oder mit uns<br />
konkurrieren. Einfach um zu verstehen, wer unsere<br />
Rivalen in dem Moment sind. Wir planen die<br />
ersten Sprints so gut wie möglich. Wenn wirklich<br />
gefährliche Konkurrenten auftauchen wie Bennett<br />
beim Giro, versuchen wir zu verstehen, wie er uns<br />
schlug. So haben wir zum Beispiel in Praia a Mare<br />
verloren und verstanden, dass er an mir vorbeikommt,<br />
wenn er die letzten 50 Meter an meinem<br />
Hinterrad ist, daher müssen wir etwas ändern.<br />
Wenn Kittel bei einem Rennen ist, wissen wir,<br />
dass er wahrscheinlich stärker ist als ich. Es ist<br />
schwer für mich, an ihm vorbeizukommen, weil<br />
er 300 Watt mehr hat.<br />
CAVENDISH: Du schaust dir an, welche Fahrer<br />
von welchen Teams dabei sind. Wo sie sich normalerweise<br />
positionieren. Und du weißt, wo sie<br />
den Sprint eröffnen, wie lang ihr Sprint ist und ob<br />
sie nervös sind und sich einschüchtern lassen.<br />
KITTEL: Ich konzentriere mich nur auf mich<br />
selbst und mein Team und unseren Plan – das<br />
ist immer das Wichtigste und wird es auch in<br />
Zukunft bleiben.<br />
© Getty Images, Yuzuru Sunada (Viviani)<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 51
DAS WETTRÜSTEN DER SPRINTER<br />
MARK CAVENDISH<br />
Siege: 146<br />
Dimension Data<br />
Der dominanteste Sprinter seiner Generation mit<br />
30 Tour-Etappensiegen, einem Sieg bei Mailand–San<br />
Remo und einem Weltmeistertitel auf der Straße.<br />
ELIA VIVIANI<br />
Siege: 67<br />
Deceuninck–Quick-Step Floors<br />
Der Italiener fährt auf Bahn und Straße, holte Gold im<br />
Omnium bei den Olympischen Spielen in Rio und<br />
gewann 2018 sieben Etappen bei großen Rundfahrten.<br />
SAM BENNETT<br />
Siege: 29<br />
Bora–hansgrohe<br />
Der Ire war 2018 erstmals bei einer großen Rundfahrt<br />
erfolgreich und gewann drei Giro-Etappen.<br />
MARCEL KITTEL<br />
Siege: 88<br />
Katusha-Alpecin<br />
Als Neuprofi sorgte er 2011 mit 17 Siegen für Aufsehen.<br />
Er hat 14 Tour-Etappen gewonnen, dazu vier Etappen<br />
beim Giro und eine bei der Vuelta.<br />
EINSATZ FÜR DIE<br />
SACHE<br />
STEELS: Wenn wir aus dem Bus steigen,<br />
haben wir zu 80 Prozent einen Plan, wie<br />
wir an das Finale herangehen. Wenn wir<br />
einen Sprinter an Bord haben, kontrollieren<br />
wir immer das Rennen, und das gibt den<br />
Fahrern einen psychologischen Vorteil. Es<br />
ist gut für diese Generation – sie wollen,<br />
dass wir das Rennen kontrollieren, daher<br />
ist es kein zusätzlicher Druck. Sie sagen<br />
einfach: Okay, lass es uns versuchen.<br />
CAVENDISH: Bei Highroad war es mehr<br />
als ein Job. Es war eine Gruppe von Fahrern.<br />
Wir trainierten zwar nicht zusammen,<br />
wir trainierten nie den Sprintzug,<br />
aber wir standen füreinander ein. Jeder<br />
fühlte sich als ein Teil des Sieges. Und du<br />
hattest niemanden, der versuchte, in die<br />
Top 20 zu kommen und sich zu schonen.<br />
In diesem Jahr, 2019, wird unser Team<br />
nach Persönlichkeit und Talent zusammengestellt.<br />
GREIPEL: Das Team hat mir immer mit<br />
einem perfekten Sprintzug geholfen, und<br />
deswegen war ich ziemlich erfolgreich.<br />
Wenn etwas schief ging, haben wir an<br />
schließend das Rennen analysiert. Als<br />
Sprintzug haben wir versucht, uns aufeinander<br />
einzustellen, weil wir zusammen<br />
gewinnen und zusammen verlieren.<br />
BENNETT: Das Wichtigste ist, dass du bei<br />
einem Rennen dieselben Leute vor dir hast.<br />
Mein letzter Mann lernt, was ich brauche,<br />
und ich weiß schon, was er denkt – aber er<br />
muss dieselbe Beziehung zu dem Mann vor<br />
ihm haben. Das sind Entscheidungen in<br />
Sekundenbruchteilen, und du musst die<br />
anderen sehr gut kennen.<br />
VIVIANI: Wenn du in die Saison startest,<br />
willst du, dass die letzten zwei Fahrer im<br />
Sprintzug immer dieselben sind, denn das<br />
Gefühl in diesem Augenblick des Rennens<br />
ist wirklich entscheidend. Du musst alles<br />
über den Sprinter wissen, und je mehr Rennen<br />
sie mit dir fahren, umso besser.<br />
Ein starker Zusammenhalt im Team zahlt<br />
sich aus, soll der Sprintzug funktionieren.<br />
ANDRÉ GREIPEL<br />
Siege: 155<br />
Arkea-Samsic<br />
Mit seinem muskulösen Körperbau als „Gorilla“ bekannt,<br />
ist Greipel einer der beständigsten Sprinter seiner Zeit.<br />
Er gewann elf Tour-Etappen, sieben beim<br />
Giro und vier bei der Vuelta.<br />
TOM STEELS<br />
Tour-Etappensiege: 9<br />
Deceuninck–Quick-Step Floors<br />
© Getty Images, Yuzuru Sunada (Steels)<br />
Der erfolgreiche Sprinter und Klassiker-Jäger aus<br />
Belgien arbeitet seit dem Ende seiner Karriere als<br />
Sportlicher Leiter bei Quick-Step.<br />
SEBASTIAN WEBER<br />
Sportwissenschaftler<br />
Der frühere HTC-Trainer arbeitete bei Lotto mit<br />
André Greipel. Derzeit berät er Sportler aus<br />
unterschiedlichen Disziplinen.<br />
52 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
DAS WETTRÜSTEN DER SPRINTER<br />
In dem Maße, wie<br />
sich die Rennen<br />
geändert haben,<br />
hat sich auch das<br />
Training für die<br />
Sprints entwickelt.<br />
FEINSCHLIFF FÜR TRAINING<br />
UND PRAXIS<br />
SEBASTIAN WEBER: Sprinter sind spezialisiertere<br />
Sprinter geworden und haben etwas von<br />
ihrer Ausdauer geopfert. Zum Beispiel haben<br />
Andrés Wattzahlen in den letzten zehn Jahren<br />
um 15 Prozent zugenommen – so viel brauchst<br />
du, um mitzuhalten. Als er zu Lotto kam, haben<br />
wir zwei Gruppen aufgemacht, die bei Trainingslagern<br />
gegeneinander fuhren. Eine war der Sprintzug<br />
und die andere war dazu da, ihre Taktik<br />
durcheinanderzubringen und dazwischenzufunken.<br />
Die Maßgabe war: Je weniger Energie André<br />
bis zu diesem Punkt aufwendet, umso besser.<br />
Es war ein extrem gutes Training.<br />
KITTEL: Ich glaube, ein Fahrer muss generell im<br />
Laufe der Jahre herausfinden, was gut für ihn ist.<br />
Ich habe immer spezielles Sprinttraining gemacht,<br />
aber keine hoch geheimen Sachen. Ich<br />
habe einfach Sprints in meine Fahrten eingebaut,<br />
bin ins Fitnessstudio gegangen … Am Ende geht<br />
es einfach darum, in Bestform zu sein, sodass du<br />
deine Kraft und Power zeigen kannst. Ich habe<br />
die Trainer gewechselt und verschiedene Trai<br />
ningsmethoden ausprobiert, aber das Ergebnis ist<br />
immer dasselbe. Wenn ich gut trainiere, gut<br />
schlafe und gut esse, bin ich sehr schnell.<br />
BENNETT: Sprinter müssen heutzutage einen<br />
viel größeren Motor haben. So viele Sprinter können<br />
auch klettern, daher musst du nicht nur den<br />
Sprint lesen können und schnell und clever, sondern<br />
auch wirklich stark sein.<br />
VIVIANI: Ich baue immer die Bahn in meine<br />
Vorbereitung ein – es ist kurz, aber es ist sehr<br />
effektive Arbeit. Ich mache viele stehende Starts.<br />
Es ist leichter, Motorpacing ohne einen supergroßen<br />
Gang zu machen. Du fährst 100, 110 Umdrehungen,<br />
machst dann alle fünf Minuten einen<br />
guten Sprint, gehst in einer Runde von 100 Umdrehungen<br />
wirklich voll auf 130, dann wieder zurück<br />
zum Motorpacing. Es ist wie ein richtiges<br />
Motorpacing auf der Straße, aber … Der starre<br />
Gang ist die Hauptsache, denn wenn du 100 Umdrehungen<br />
fährst, fährst du eine Stunde lang<br />
100 Umdrehungen, du kannst nicht von 50, 60,<br />
80 auf 100 wechseln; du fährst mit dieser Geschwin<br />
digkeit und diesen Umdrehungen. Wenn<br />
ich auf der Straße auf den letzten Kilometer komme,<br />
muss ich alles in einem Moment analysieren:<br />
Wer fährt vor mir den Sprint an, bin ich in einer<br />
guten Position; die Kurve, die gleich kommt; von<br />
wo der Wind weht; ob ein Sprinter von hinten<br />
kommt, den ich als Anfahrer benutzen könnte.<br />
Diese Dinge musst du in zwei Sekunden analysieren<br />
und reagieren. Die Bahn hat mir mental dabei<br />
geholfen, immer bereit zu sein, die Entscheidung<br />
im richtigen Moment zu treffen.<br />
DIE BAHN HAT MIR MENTAL<br />
DABEI GEHOLFEN, BEREIT<br />
ZU SEIN, DIE ENTSCHEIDUNG<br />
IM RICHTIGEN MOMENT<br />
ZU TREFFEN.<br />
ELIA VIVIANI<br />
© Getty Images<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 53
54 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
DAS<br />
DRAMA<br />
VON SAN<br />
REMO<br />
„Dieses Rennen ist wie eine Oper.<br />
Du startest in Mailand und es ist kalt und<br />
grau, dann kommst du an die Küste und die<br />
Sonne scheint. Du weißt nicht, was passieren<br />
wird. Es gibt so viele Szenarien – es ist episch.“<br />
Text Daniel Friebe Fotografie Jered Gruber<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 55
SAN REMO<br />
© Yuzuru Sunada<br />
Dass Mark Cavendish sich noch darauf<br />
konzentriert, neues Material zu schreiben,<br />
statt seine größten Hits zusammenzustellen<br />
und zu bewundern, kann man seinem<br />
Vorschlag entnehmen, dass diese <strong>Procycling</strong>-<br />
Ausgabe, in der er als Gastredakteur mitwirkte,<br />
eine Hommage an Mailand–San Remo beinhalten<br />
sollte. Oder vielmehr kann man es aus der Einschränkung<br />
folgern, die Cavendish sofort vorbrachte:<br />
„Es soll nur nicht über mein San Remo<br />
sein. Ich möchte nicht, dass alles über mich ist.“<br />
Einige Leser mag eine solche Zurückhaltung<br />
verblüffen. Immerhin ist dies ein Fahrer, dem zu<br />
Beginn seiner Karriere immer vorgeworfen wurde,<br />
arrogant zu sein, die Agressivität eines Boxers<br />
in einen Sport zu tragen, dessen Protagonisten<br />
traditionell für ihre Bescheidenheit gelobt würden.<br />
„Ich nenne Ihnen nur die Fakten: Ich bin der<br />
beste Sprinter der Welt“, argumentierte Cavendish<br />
üblicherweise, nicht bereit, sich den prüden<br />
Traditionen des Radsports zu unterwerfen. Dann<br />
hatte er seine Freude daran, seine Kritiker zum<br />
Schweigen zu bringen – vor seiner nächsten großen<br />
Absichtserklärung, der nächsten Runde zungenschnalzender<br />
Missbilligung und dem sich<br />
wiederholenden Zyklus.<br />
Dieses Problem beim Übertünchen seines Debütsiegs<br />
2009 bei der Classicissima ist nicht – wie wir<br />
ihm erklären werden –, dass es diese Facette seiner<br />
frühen Karriere illustrierte. Tatsächlich war<br />
San Remo 2009 ungewöhnlich insofern, als Cavendish<br />
Experten und Rivalen aktiv davon abgehalten<br />
hatte, ihn als potenziellen Sieger zu sehen,<br />
und sich freute, als sie seinem Rat weitgehend<br />
folgten. „Das hat mir sehr geholfen“, gibt er jetzt<br />
zu. „Niemand hatte einen Plan oder fuhr nach<br />
einem Plan, um mich loszuwerden. Ich habe vorher<br />
gesagt, dass ich nicht gewinnen kann, und alle<br />
sind darauf reingefallen.“<br />
Es mag untypisch gewesen sein, aber Cavendishs<br />
San Remo ist unmöglich zu ignorieren, weil<br />
es auf den Umschlag oder eine Doppelseite seines<br />
persönlichen Kanons, aber auch des Rennens<br />
selbst gehört – ein Band, der sich über 111 Jahre<br />
erstreckt. Weit davon entfernt, „ein weiterer<br />
Massensprint zu sein“, verkörperten die atemberaubenden<br />
Momente, in denen er von hinten<br />
ange stie felt kam, sich an Heinrich Haussler heransaugte<br />
und schließlich an ihm vorbeizog, die<br />
mittlerweile zentrale These des ersten Monuments<br />
des Jahres: „Es ist ein Rennen, wo alles,<br />
aber auch alles, was du von der Sekunde an<br />
machst, wo du Mailand verlässt, zählt. Über einen<br />
Gullideckel auf der linken Seite zu fahren<br />
statt auf dem glatten Asphalt in der Mitte der<br />
Straße, kann über Sieg oder Niederlage entscheiden“,<br />
bemerkt Cavendish.<br />
Heute von den Ketzern als „langweiligster<br />
Klassiker“ verschrien, vereinte San Remo einst<br />
alle Kommentatoren zumindest in der Wertschätzung<br />
der Brutalität des Rennens. Bei der vierten<br />
Auflage anno 1910 brauchte der Sieger Eugène<br />
Christophe zwölf Stunden, um das Rennen zu<br />
beenden – und nur fünf weitere der 63 Starter sahen<br />
überhaupt die Ziellinie. Zwölf Monate zuvor<br />
als erster italienischer Meister gefeiert – und auch<br />
als erster Sieger des Giro d’Italia 1909 –, wurde<br />
Luigi Ganna Zweiter hinter Christophe und erzählte<br />
den Reportern, nachdem er sich durch<br />
Schneestürme am Turchino und einen Wolkenbruch<br />
an der Riviera del Ponente gekämpft hatte,<br />
prompt, dass er nie wieder an einem Radrennen<br />
Denkbar knapp gewinnt Cavendish<br />
vor Haussler bei San Remo 2009.<br />
56 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
SAN REMO<br />
„ES IST SO ITALIENISCH. ES<br />
GIBT KEINEN GUTEN GRUND,<br />
DIESE DISTANZ ZU FAHREN,<br />
AUSSER DASS ES NICHT SAN<br />
REMO WÄRE, WENN DU SIE<br />
NICHT FAHREN WÜRDEST.“<br />
teilnehmen würde. Aber eine Stunde später war<br />
er aus der Ergebnisliste gestrichen. Der Grund:<br />
Gannas eigenes Team hatte ihn angezeigt, weil er<br />
einen großen Teil der Strecke in ihrem Auto zurückgelegt<br />
hatte.<br />
In diesen frühen Jahren und sogar noch in den<br />
ersten Jahrzehnten der Existenz des Rennens<br />
zeichneten sich verschiedene Themen ab. Einige<br />
sind heute noch zentral für das Narrativ von San<br />
Remo, wie die Besessenheit der Italiener von „einheimischen“<br />
Siegern, veranschaulicht etwa dadurch,<br />
dass Vittorio Varale, der erste große italienische<br />
Radsportjournalist, schrieb, seine „traurige<br />
Vorahnung“ sei, dass 1910 schon wieder „einer<br />
von denen“, also ein Franzose, gewinnen würde.<br />
Heutzutage bleibt immer noch ein gewisser Chauvinismus,<br />
aber er wird – glücklicherweise – etwas<br />
leichter genommen. Die Telegramme von diesen<br />
Auflagen der Classicissima vor dem Ersten Weltkrieg,<br />
abgesetzt von Korrespondenten, die an verschiedenen<br />
Stellen der Strecke postiert waren, und<br />
verteilt an die bis zu 3.000 Menschen, die sich<br />
vor den Redaktionsräumen der Gazzetta dello<br />
Sport in Mailand versammelt hatten, zeigen ein<br />
anderes Muster, das bleiben sollte: eine seltsam<br />
befangene Fixierung auf den inhärenten Wert<br />
des Rennens als Spektakel. Die Analyse anderer<br />
großer Rennen beinhaltet eine Besprechung der<br />
Taktik und der Protagonisten. Bei San Remo gibt<br />
es, aus welchen Gründen auch immer, einen neurotischen<br />
Zwang, der immer wieder Fragen nach<br />
der eigentlichen Essenz des Rennens aufwirft,<br />
seinem Grundrecht auf Existenz. Und das, obwohl<br />
es unter allen Monumenten vielleicht dasjenige<br />
ist, dessen Seele am reinsten geblieben ist,<br />
das, das sich radikalen Reformen besonders<br />
stoisch widersetzt hat.<br />
Was dennoch nicht heißt, dass San Remo im<br />
21. Jahrhundert von allen geliebt wird, wie wir<br />
festgestellt haben. Im Zeitalter von komplett<br />
übertragenden Tour-de-France-Etappen und Anstiegen<br />
wie Skihängen klingt eine siebenstündige<br />
Prozession auf dem großen Kettenblatt wie ein<br />
unzulässiger Anachronismus. Aber wie unser<br />
Gastredakteur uns erinnert, wohnt der Unausweichlichkeit<br />
von San Remo seine böse Lüge, sein<br />
essenzielles Paradox inne: das Vorhersehbarste<br />
an der Classicissima ist, dass ihre Bestimmung,<br />
ihr Urteil und ihr Sieger unsicher bleiben, bis zu<br />
ihren letzten Sekunden, seinen letzten Atemzügen,<br />
unserem letzten Schrei.<br />
„Es ist das einzige Rennen, das immer durch<br />
Sekundenbruchteile entschieden wird – nicht,<br />
weil das der Vorsprung des Siegers ist, obwohl das<br />
oft der Fall ist, sondern nur, weil jedes Zeitfragment,<br />
jede winzige Bewegung eine Auswirkung<br />
hat“, erklärt Cavendish. „Du hast keine Zeit, um<br />
Fehler zu korrigieren. Vielleicht ist es eine Illusion,<br />
aber ich glaube nicht, dass es bei anderen Rennen<br />
auch so ist. Es ist, als ob das Bild von jedem anderen<br />
Rennen 100 Pixel hätte und das von San<br />
Remo 10 Millionen.“ Er sagt weiter: „Es ist so italienisch.<br />
Ich meine, es gibt keinen guten Grund,<br />
diese Distanz zu fahren, außer dass es nicht San<br />
Remo wäre, wenn du sie nicht fahren würdest. Es<br />
entwickelt sich wie eine Oper, was nahelegt, dass<br />
es eine Logik hat, aber es gibt auch Dinge, die keinen<br />
Grund haben außer Tradition. Zum Beispiel:<br />
Warum geben wir am Turchino jedes Jahr so viel<br />
Gas? Es ist auch ein Rennen, das du auf den ersten<br />
100 Kilometern verlieren kannst. Es scheint<br />
zu Beginn so leicht zu sein, dass du vergisst, dass<br />
du Energie sparen musst; viele Fahrer sind im<br />
Wind und denken, es macht nichts aus, weil das<br />
Rennen zu dem Zeitpunkt so unkompliziert zu<br />
sein scheint. Sie vergessen, dass im Finale jedes<br />
einzelne Watt wichtig ist.“<br />
Es liegt auch an der konzentrierten Natur des<br />
Dramas, der Entscheidungen und der entscheidenden<br />
Angriffe, dass – wie Cavendish oft gesagt<br />
hat – Mailand–San Remo von allen Klassikern am<br />
leichtesten zu Ende zu fahren und am schwersten<br />
zu gewinnen ist. Als er bei seinem ersten Anlauf<br />
2009 gewann und die Gazzetta dello Sport es als<br />
„Sieg, der eine Ära prägen würde“ pries, schien es<br />
praktisch unvorstellbar oder zumindest sehr unwahrscheinlich,<br />
dass ein Jahrzehnt vergehen wür<br />
Der siebenmalige Sieger Merckx gehört<br />
zu den wenigen, die sich der Dramaturgie<br />
von San Remo widersetzt haben.<br />
Am Poggio haben Puncheure noch<br />
eine Chance, den Sprint auf der Via Roma<br />
abzuwenden.<br />
© Offside Sports Photography (s/w)<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 57
SAN REMO<br />
© Getty Images<br />
BEI DIESEM RENNEN,<br />
WIE FREIRE UND ZABEL<br />
VERAN SCHAULICHTEN,<br />
IST WIRTSCHAFTLICHKEIT<br />
EIN EBENSO WERTVOLLES<br />
GUT WIE TALENT.<br />
de, ohne dass Cavendish einen zweiten Klauenabdruck<br />
hinterlassen würde. Er weiß nicht genau,<br />
warum es keine Wiederholung und keine Dynastie<br />
gab wie die, die Erik Zabel, der ihn 2009 vom<br />
Highroad-Mannschaftswagen aus führte, in den<br />
späten 1990ern aufbauen konnte. „Ich dachte<br />
definitiv, dass ich es nach 2009 noch einmal gewinnen<br />
würde. Es hätte ein paar Mal nicht viel<br />
gefehlt, aber aus unterschiedlichen Gründen hat<br />
es nicht geklappt …“<br />
Darin sehen wir einen weiteren Widerspruch<br />
der Classicissima – dass auf jeden Merckx oder<br />
Zabel oder Freire, der eine funktionierende Formel<br />
entwickelte, ein großer Fahrer kommt, der den<br />
Code nicht knacken konnte. Michele Bartoli versuchte<br />
es ein paar Jahre am Poggio, ein paar Jahre<br />
an der Cipressa. Er kam in Massensprints in die<br />
Top Five, doch er beendete seine Karriere mit einem<br />
San-Remo-förmigen Loch in seinem ansonsten<br />
makellosen Klassikerjäger-Palmarès. Tom<br />
Boonen erging es ähnlich. In der heutigen Generation<br />
ist Peter Sagan das beste Beispiel für einen<br />
Athleten mit allen erforderlichen Qualitäten, aber<br />
bisher keinem Siegerstrauß – vielleicht, weil der<br />
Slowake noch nicht ganz begriffen hat, dass bei<br />
diesem Rennen, wie Cavendish uns sagte und<br />
Freire und Zabel veranschaulichten, Wirtschaftlichkeit<br />
ein ebenso wertvolles Gut ist wie Talent.<br />
Während es für einen Fahrer eine Karriere definieren<br />
kann, schätzt das normale Volk von San<br />
Remo sein Rennen als eine der Konstanten des Lebens<br />
und das zweitwichtigste Ereignis des Jahres<br />
nach dem Musikfestival im Februar – in Wirklichkeit<br />
nur ein kitschiger Song-Wettbewerb. Letzterer<br />
ist auch das Einzige, was die meisten Radsportler,<br />
außer vielleicht die Italiener, mit San Remo verbinden.<br />
Bei Cavendish ist es nicht anders. „Da gibt es<br />
doch dieses Musikfestival, oder? Nach dem Rennen<br />
packen wir unsere Sachen und reisen ab. Ich<br />
habe dort einmal nach dem Rennen zu Abend gegessen,<br />
und es war nicht besonders gut. Das war<br />
buchstäblich das einzige Mal, dass ich überhaupt<br />
ein paar Stunden dort verbracht habe.“<br />
Wie viele Hafenstädte zwischen der französischen<br />
Grenze und Genua, wird die Stadt selbst oft<br />
als „verblichen“ bezeichnet – wobei viele Besucher<br />
immer noch die „gut situierte Kolonie der nouvelle<br />
richesse“ erkennen würden, die in Guido Piovenes<br />
berühmtem Reisetagebuch Viaggio in Italia vor<br />
einem halben Jahrhundert beschrieben wurde.<br />
Konkurrenz insbesondere aus den Niederlanden<br />
mag den Blumenanbau beeinträchtigt haben, dem<br />
San Remo den stolzen Beinamen „Stadt der Blumen”<br />
verdankt, aber die großen Gewächshäuser,<br />
die wie gigantische Klaviertasten auf den terrassierten<br />
Hängen des Poggio liegen, sorgen immer<br />
noch für einen unverwechselbaren Hintergrund.<br />
Unterdessen wurde die Strandpromenade aufgewertet<br />
durch den Bau eines Radweges, der 2011<br />
zum schönsten in Europa gewählt wurde – und<br />
der vier Jahr später Schauplatz der 1. Etappe des<br />
Giro war, einem Mannschaftszeitfahren. Wenn<br />
er von Osten in den Hafen von San Remo hineinführt,<br />
führt der Weg an der Villa vorbei, in die<br />
Alfred Nobel Ende des 19. Jahrhundert aus Paris<br />
floh, nachdem er beschuldigt worden war, den<br />
Hochverrat begangen zu haben, das explosive<br />
Ballistit, das auch seine Erfindung war, nach<br />
Italien zu verkaufen. Nach seinem Tod in San<br />
Remo 1896 floss Nobels Nachlass in die Schaffung<br />
von Preisen für Chemie, Literatur, Frieden,<br />
Physik und Medizin, wie er es in seinem Testament<br />
festgelegt hatte.<br />
Ein Preis für herausragende Errungenschaften<br />
im Radsport sollte erst 1907 nach San Remo<br />
kommen. 109 Mal ist in den Jahren seitdem dieselbe<br />
unaufhaltsame Welle am Turchino angeschwollen<br />
und dann auf die Küste in Frankreich<br />
geschwappt, ihre Gezeiten gewaltig und unlesbar,<br />
ihre Spannung spürbar und unwiderstehlich.<br />
Mark Cavendish sieht es vielleicht anders, aber<br />
für mich war und ist sein Sieg immer das Rennen<br />
seiner Karriere, der Ritt seines Lebens. An dem<br />
Tag selbst war er froh, dass bis gegen halb fünf<br />
nachmittags niemand seinen Namen erwähnt<br />
hatte. Ob es ihm gefällt oder nicht: Jetzt wird er<br />
einfach akzeptieren müssen, dass wir so lange<br />
über Mark Cavendish und jenes Rennen reden, wie<br />
die erhabene und archaische Anomalie, die wir als<br />
Mailand–San Remo kennen, existieren darf.<br />
2010 gewann Freire zum dritten Mal<br />
auf der Lungomare Italo Calvino – sechs<br />
Jahre nach seinem ersten Sieg 2004.<br />
58 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
SAN REMO<br />
Ins winterliche<br />
Tal des Po bringt<br />
das Peloton einen<br />
frühlingshaften<br />
Farbklecks.<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 59
SAN REMO<br />
ZEHNMAL VON MAILAND<br />
NACH SAN REMO<br />
Mark Cavendish gab 2009 ein sensationelles Debüt bei Mailand–San Remo. Es ist<br />
eine Eigentümlichkeit seiner Karriere, dass seine Loyalität zu dem Rennen nie zu<br />
einem zweiten Sieg führte. Hier erzählt er von seinen San-Remo-Teilnahmen.<br />
12009<br />
SIEGER: MARK CAVENDISH<br />
CAV: 1. MIT 6:42:31 STD.<br />
Am Fuß der Cipressa brillant an die Spitze des<br />
Pelotons eskortiert, erreichte Cavendish die Kuppe<br />
mit nur wenigen Sekunden Rückstand, schloss<br />
die Lücke und wirkte am Poggio nie gefährdet.<br />
Sein Sprint hat seinen Platz in den Jahrbüchern –<br />
eine atemberaubende Aufholjagd, um Haussler<br />
abzufangen und mit dem kleinsten Vorsprung in<br />
der Geschichte des Rennens zu gewinnen: elf<br />
Zentimeter oder „die Länge eines Mobiltelefons“<br />
wie Luca Gialanella in der Gazzetta dello Sport<br />
schrieb.<br />
Cavendish sagt: Wenn ich einen entscheidenden<br />
Faktor herauspicken müsste, nur einen, wäre es<br />
George Hincapie. Niemand lässt sich in der Abfahrt<br />
vom Poggio zurückfallen, um einen Teamkollegen<br />
zu finden und in Position zu bringen,<br />
aber das hat er gemacht. Dann hat er mir den<br />
Sprint perfekt angefahren. Aber das ganze Team<br />
hat an dem Tag fehlerfrei gearbeitet. Jeder hatte<br />
eine Aufgabe und sie perfekt umgesetzt – ob es<br />
darum ging, mich zum Fuß von La Manie zu bringen,<br />
oder mich über die Cipressa zu bekommen.<br />
22010<br />
SIEGER: ÓSCAR FREIRE<br />
CAV: 89. MIT + 6:12 MIN.<br />
Aufgrund einer Zahnentzündung im Januar war<br />
Cavendish im Vorfeld des Rennens nicht in Form.<br />
Dass er überhaupt in San Remo am Start stand,<br />
war eine Leistung. Aber jede Hoffnung, dass er<br />
seinen Titel verteidigten könnte, zerschellte, als<br />
ein Sturz in der Abfahrt von Le Manie das Feld<br />
teilte und er zurückfiel.<br />
Cavendish sagt: Ich hatte nach den Zahnproblemen<br />
nicht die nötige Form, um zu gewinnen. Ich<br />
bin trotzdem gestartet, weil es das eine Rennen<br />
ist, bei dem du durchkommen kannst, selbst<br />
wenn du nicht in Form bist, gerade wenn du älter<br />
wirst und eine gute Ausdauergrundlage hast. Du<br />
kannst improvisieren und das Rennen zu Ende<br />
fahren oder sogar im Finale mitmischen, aber leider<br />
kannst du das Ding nicht mit Improvisation<br />
gewinnen.<br />
3<br />
2011<br />
SIEGER: MATT GOSS<br />
CAV: 52. MIT + 5:23 MIN.<br />
Körper purzelten und mit ihnen die Chancen einiger<br />
Favoriten, darunter Cavendish, in der hektischen<br />
Anfahrt nach Le Manie. Ein Pluspunkt zumindest<br />
war der Teamkollege der „Manx Missile“,<br />
Matt Goss, der später einer prominent besetzten<br />
Spitzengruppe ein Schnippchen schlug und den<br />
Sprint vor Fabian Cancellara gewann.<br />
PASSO DEL<br />
TURCHINO<br />
5<br />
Cavendish sagt: Es gab einen Sturz im Tunnel<br />
oben auf dem Turchino, und Acqua e Sapone attackierte.<br />
Ich war auf der falschen Seite des zerlegten<br />
Feldes, aber wir hatten Gossy vorn, sodass<br />
es ein perfektes Szenario war. Ich hatte mir am<br />
Fuß des Anstiegs ein Laufrad gebrochen, war mit<br />
einer Aufholjagd wieder rangekommen, aber<br />
dann passierte der Sturz genau in der Einfahrt<br />
zum Tunnel, der unbeleuchtet war. Glücklicherweise<br />
konnte Gossy es durchziehen. Ich habe<br />
mich so für ihn gefreut!<br />
42012<br />
SIEGER: SIMON GERRANS<br />
CAV: DNF<br />
Nach einer anscheinend perfekten Vorbereitung<br />
wirkte Cavendish absolut fit und selbstbewusst.<br />
Niemand hätte vorhergesagt, dass er vor Le Manie<br />
zurückfallen würde, aber das war ein San Remo<br />
der vielen Überraschungen, darunter Simon Gerrans’<br />
Sieg vor Fabian Cancellara.<br />
Cavendish sagt: Absolut schockierend. Ich war<br />
Weltmeister und hatte diesen Traum, dass ich<br />
San Remo im Regenbogentrikot gewinnen würde.<br />
Ich hatte vorher diese spezielle Diät gehalten, um<br />
Gewicht zu verlieren, war in guter Form, hatte bei<br />
der Katar-Rundfahrt und Tirreno–Adriatico gewonnen,<br />
aber an dem Tag war ich unterirdisch.<br />
Ich hatte keine Kraft.<br />
100 110 120 130 140 150 160 170 180<br />
60 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
SAN REMO<br />
52013<br />
SIEGER: GERALD CIOLEK<br />
CAV: 9. MIT + 0:14 MIN.<br />
Eine von zwei Niederlagen in seiner Zeit bei<br />
Quick-Step, die ihn noch schmerzen. Die Temperaturen<br />
waren so eisig, als sich das Peloton der<br />
Riviera näherte, dass die Fahrer in die Busse gewinkt<br />
und die Küste runtergefahren wurden und<br />
das Rennen zwei Stunden später auf der anderen<br />
Seite des Turchino wieder aufnahmen. Vier Quick-<br />
Step-Fahrer, unter ihnen Tom Boonen, stiegen<br />
nicht mehr aus dem Bus aus. Die Entscheidung<br />
von Sportdirektor Wilfried Peeters, in der Gruppe,<br />
die das Rennen später entscheiden sollte, auf Sylvain<br />
Chavanel zu setzen, vergrößerte Cavendishs<br />
Mangel an Manpower bei den Verfolgern.<br />
Cavendish sagt: Das halbe Team hat das Rennen<br />
wegen der Kälte nicht fortgesetzt … Der Plan war,<br />
dass Chavanel bei den Angriffen in der Cipressa<br />
mitgeht und kein Tempo macht, aber dann höre<br />
ich Wilfried Peeters und Brama [Davide Bramati]<br />
über Funk rufen: „Geh, Chava, geh!“ Er fing an,<br />
Tempo zu machen, und ich saß in der Gruppe<br />
fest, obwohl ich mich super fühlte. Chava wurde<br />
schließlich Vierter und ich Zweiter im Massensprint.<br />
62014<br />
SIEGER: ALEXANDER KRISTOFF<br />
CAV: 5. ZEITGLEICH<br />
In den Monaten vor dem Rennen schien selbst<br />
dieses letztlich frustrierende Ergebnis außer Cavendishs<br />
Reichweite, als die Organisatorin RCS<br />
einen Kurs mit dem steilen Pompeiana-Anstieg<br />
zwischen der Cipressa und dem Poggio präsentierte.<br />
Erdrutsche vereitelten den Plan, und nachdem<br />
sie versichert hatte, den Anstieg 2015 einzuweihen,<br />
änderte die RCS ihre Meinung und hält<br />
seitdem am traditionellen Finale fest.<br />
Cavendish sagt: Ich bekam Krämpfe. Ich dachte,<br />
ich würde gewinnen. Ich habe meinen Sprint früh<br />
eröffnet und es war das erste Mal überhaupt, dass<br />
ich Krämpfe bekam. Ich musste mich hinsetzen.<br />
Vorher hatte ich Leute, die sagten, sie hätten einen<br />
Krampf bekommen, immer ausgelacht, weil<br />
ich es für eine Ausrede hielt. Es war frustrierend.<br />
Ich dachte, ich hätte es.<br />
72015<br />
SIEGER: JOHN DEGENKOLB<br />
CAV: 46. MIT + 0:23 MIN.<br />
Das Rennen wurde nicht auf der Via Roma oder<br />
weiter oben an der Riviera verloren, sondern für Cavendish<br />
zwei Wochen vor der Classicissima bei einer<br />
Reise nach Südafrika, um einen Teamsponsor<br />
zu besuchen. Nachdem er das Management des<br />
Teams gewarnt hatte, dass eine Reise in die südliche<br />
Hemisphäre und zurück nicht die ideale Vorbereitung<br />
sei, erkrankte Cavendish bei seiner Rückkehr<br />
und verlor wichtige Trainingstage. Ein Defekt<br />
an der Cipressa, dann weitere Probleme am Poggio<br />
machten seine aufopferungsvolle Arbeit zunichte.<br />
Cavendish sagt: Tom Boonen hätte nach Südafrika<br />
fliegen sollen, aber für ihn war es zu kurz vor Roubaix.<br />
Mein großes Ziel war San Remo; ich habe<br />
Patrick Lefevere nur gesagt, dass ich hoffe, dass er<br />
das berücksichtigt, als wir über meinen Vertrag<br />
sprachen, falls die Reise nach Südafrika mein San<br />
Remo beeinträchtigt. Und natürlich wurde ich<br />
richtig krank. Das Rennen lief unter diesen Umständen<br />
besser als erwartet. Leider musste Reiney<br />
[Reinardt Janse van Rensburg] in der letzten Haarnadelkurve<br />
am Poggio abreißen lassen, ich steckte<br />
hinter ihm und das war es für mich.<br />
82016<br />
SIEGER: ARNAUD DÉMARE<br />
CAV: 110. MIT + 4:25 MIN.<br />
Nachdem er sich im Winter und frühen Frühjahr auf<br />
die Bahn konzentriert hatte und zwei Wochen vor<br />
San Remo mit einer Goldmedaille in der Madison-<br />
Weltmeisterschaft belohnt worden war, war Cavendish<br />
fit, aber nicht unbedingt für einen 300-Kilometer-Gewaltmarsch.<br />
Sein Pessimismus bei Interviews<br />
vor dem Rennen wirkte gerechtfertigt, als das Peloton<br />
an der Cipressa am Horizont verschwand.<br />
Cavendish sagt: Ich hatte zwei Reifenschäden und<br />
habe zu viel Zeit und Energie verschwendet, mich<br />
zum Mannschaftswagen zurückfallen zu lassen.<br />
Es geht darum, Energie zu sparen, und ich habe<br />
zu viel verloren. Es hätte alles richtig laufen müssen,<br />
und das tat es nicht.<br />
92017<br />
SIEGER: MICHAŁ KWIATKOWSKI<br />
CAV: 101. MIT + 5:24 MIN.<br />
Krankheit und ein mysteriöser Schmerz im Fußknöchel<br />
hatten eine Woche zuvor bei Tirreno–Adriatico<br />
zugeschlagen und Cavendish den Schwung<br />
geraubt, den er mit einem Etappensieg bei der Abu<br />
Dhabi Tour Ende Februar aufzunehmen schien.<br />
Später wurde bekannt, dass es Cavendish eine<br />
Weile nicht gut ging und nicht gut gehen würde,<br />
weil er unter dem Epstein-Barr-Virus litt.<br />
Cavendish sagt: Ich bin in der Rechtskurve nach<br />
zwei Dritteln des Anstiegs zur Cipressa zurückgefallen.<br />
Abends im Bus war ich so verwirrt, dass<br />
ich beschloss, einen Bluttest machen zu lassen.<br />
Am nächsten Tag bin ich hin und habe die Diagnose<br />
Epstein-Barr bekommen.<br />
10<br />
2018<br />
SIEGER: VINCENZO NIBALI<br />
CAV: DNF<br />
Auf eine Aufgabe nach einem Sturz bei der Abu Dhabi<br />
Tour folgten ein weiterer Sturz und eine Rippenfraktur<br />
bei Tirreno–Adriatico. Es war daher ein kleines<br />
Wunder, dass Cavendish überhaupt bei San Remo<br />
starten konnte – ein großes, dass er „schwerelos rollte“,<br />
als das Glück ihn hinter der Cipressa abermals<br />
verließ. Die Kollision mit einem Verkehrspoller und<br />
den Purzelbaum in der Luft überstand der Protagonist<br />
glücklicherweise ohne ernsthafte Verletzungen.<br />
Cavendish sagt: Ich weiß jetzt, dass ich wieder mit<br />
Epstein-Barr fuhr. Nach zwei Stürzen und zwei<br />
Gehirnerschütterungen zu Beginn des Jahres und<br />
mit dem Virus war es ein Wunder, dass ich so gut<br />
fuhr. Glücklicherweise war der Sturz nicht so<br />
schlimm, wie er im Fernsehen ausgesehen hatte.<br />
LE MANIE<br />
2 3 4<br />
CAPO MELE<br />
CAPO CERVO<br />
CAPO BERTA<br />
CIPRESSA<br />
8 9 10<br />
POGGIO DI<br />
SAN REMO<br />
1 6 7<br />
210 220 230 240 250 260 270 280 290<br />
© Yuzuru Sunada<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 61
RENN-<br />
INSTINKT<br />
„Als Marianne Vos anfing zu radeln, brachte das noch kein Geld ein.<br />
Sie fuhr aus ihrer Begeisterung heraus und gewann alles,<br />
egal ob Cross, Bahn oder auf der Straße. Doch finanziell entlohnt<br />
wurde sie nicht. Sie ging nur an den Start, um zu gewinnen.<br />
Was war dabei ihr Antrieb? Lag es daran, dass sie einfach<br />
eine leidenschaftliche Rennfahrerin ist? Das ist es,<br />
was ich herausfinden will.“<br />
Text Sophie Hurcom<br />
Fotografie Getty Images<br />
62 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
© Kramon<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 63
3<br />
MARIANNE VOS<br />
Marianne Vos braucht nicht lange zu überlegen.<br />
„Es war nur aus Liebe zum Sport“,<br />
antwortet sie sofort, als <strong>Procycling</strong> anruft<br />
und nach ihrer Motivation fragt, bei Rennen<br />
an den Start zu gehen, wie unser Gastredakteur<br />
Cav bereits schrieb. „Als Kind fing ich an zu radeln;<br />
mein Vater war aktiv im Radsport, und mein<br />
großer Bruder und ich führten das fort. Als Juniorenfahrerin<br />
stellte sich heraus, dass ich ziemlich<br />
talentiert war, wahrscheinlich sogar überdurchschnittlich<br />
talentiert – also wollte ich das Beste<br />
daraus machen. Ich wollte einfach Spaß bei den<br />
Rennen haben und Gas geben. Es gab nie die Motivation<br />
oder das Ziel, es zu meinem Beruf zu machen<br />
oder Geld damit zu verdienen. Natürlich kam<br />
das später und war auch ein großer Bonus.<br />
Die Herausforderung hab’ ich immer gemocht“,<br />
fährt sie fort. „Ich habe immer versucht, mich<br />
selbst mehr zu fordern und verschiedene Dinge<br />
auszuprobieren.<br />
Ich probierte auch Mountainbiking aus. Aber<br />
meistens ging es mir darum ... ja, Spaß auf dem<br />
Fahrrad zu haben. Ich denke, das ist auch der<br />
Grund, warum die Leute fragen, warum ich mit<br />
31 Jahren noch fahre. Ich halte mich nicht für alt,<br />
Juniorinnen-WM 2004 in Verona:<br />
Die 17-jährige Marianne greift an und<br />
wird Weltmeisterin.<br />
und wenn sie fragen, ist meine Antwort, dass es<br />
mir einfach gefällt.“<br />
Vos könnte sagen, dass diese Frage einfach<br />
zu beantworten ist. Man bedenke nur die end -<br />
lose Liste ihrer Leistungen: sieben Cyclocross-<br />
Weltmeisterschaften, drei Regenbogen-Trikots<br />
auf der Straße, Olympische Goldmedaillen auf<br />
Straße und Bahn, drei Giro-Rosa-Titel und über<br />
200 UCI-Rankingsiege. Dazu kommt ihr seit<br />
Langem gefestigter Status als die größte und vielseitigste<br />
Persönlichkeit im Radsport seit Merckx<br />
und die damit verbundene Verantwortung, eine<br />
Botschafterin für den Frauenradsport zu sein. Bei<br />
all dem vergisst man leicht, dass Vos einfach gerne<br />
Fahrrad fährt. Trotz der Auszeichnungen und<br />
Ergebnisse hat sich dieser Teil von ihr nicht verändert<br />
– und wird sich auch nie ändern.<br />
Sie hatte die gleiche Einstellung, als sie mit<br />
dem Radsport begann. Bereits bei den Juniorinnen<br />
erfolgreich, war sie erstmals 2006 in Zedam auf<br />
der großen Bühne des Radsports erfolgreich, wo<br />
die weitgehend unbekannte 18-Jährige die Titelver<br />
teidigerin Hanka Kupfernagel schlug und Querfeldein-Weltmeisterin<br />
wurde. Dieser erste große<br />
WM-Titel, der alles für Vos veränderte, kam, als<br />
sie noch auf dem Gymnasium war. Vos stand ein<br />
paar Wochen vor ihrer Abiturprüfung, nutzte aber<br />
immer noch ihren 15 Kilometer langen Schulweg<br />
vom Zuhause im Dorf Babyloniënbroek, um zusätzlich<br />
zu den abendlichen Sessions zu trainie-<br />
2<br />
4<br />
2<br />
GROSSE<br />
SIEGE AUF DER<br />
STRASSE<br />
3<br />
2<br />
1<br />
3<br />
RENNEN<br />
SIEGE<br />
Straßenweltmeisterschaft 3<br />
Olympisches Straßenrennen 1<br />
Niederländische Straßenmeisterschaft 4<br />
Europäische Straßenmeisterschaft 1<br />
Flandern-Rundfahrt 1<br />
Flèche Wallonne 5<br />
Giro Rosa 3<br />
Trofeo Alfredo Binda 3<br />
Ronde van Drenthe 4<br />
Emakumeen Bira 2<br />
GP Plouay 2<br />
Ladies Tour of Norway 2<br />
Women’s Tour 1<br />
Crescent Vårgårda 3<br />
3<br />
1<br />
5<br />
4<br />
1<br />
1<br />
ren. Jeder in der Schule wusste, dass sie Rennrad<br />
fährt. Während ihre Freunde und Mitschüler am<br />
Samstag arbeiteten, um etwas Geld zu verdienen,<br />
fuhr Vos oft zu Rennen. Die Lehrer zeigten sich<br />
nach sichtig, wenn sie freitags früher gehen musste<br />
oder aufgrund von Reisen montags zu spät kam –<br />
ein Privileg, das sie nie ausnutzte. Aber dieses erste<br />
Regenbogentrikot verwandelte Vos vom einfachen<br />
Schulmädchen, das Rennrad fuhr, in einen Radstar.<br />
Plötzlich war sie im Fernsehen, ihr Gesicht war<br />
in den Zeitungen. Der schüchterne Teenager, der nur<br />
gerne mit seinem Fahrrad unterwegs war, stand<br />
im Rampenlicht und fühlte sich fehl am Platz.<br />
„Ich habe nicht wirklich viel über das Radfahren<br />
gesprochen, weil ich es wirklich mochte, einfach<br />
nur so zu sein wie alle anderen“, erinnert sich<br />
Vos. „Es wurde in der Schule irgendwie bekannt,<br />
und im Gymnasium ist das nicht cool. Es ist nicht<br />
cool, anders zu sein als die anderen, und es gefiel<br />
mir nicht wirklich. Aber ja, natürlich war es auch<br />
toll, Champion zu sein.“<br />
64 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
MARIANNE VOS<br />
Bei den Olympischen<br />
Spielen in London<br />
2012 konnte Vos<br />
auch der strömende<br />
Regen nicht von<br />
Gold abhalten.<br />
Sechs Monate später, mit dem Abitur und dem<br />
Titel der niederländischen Straßenmeisterin in<br />
der Tasche, gewann Vos in Salzburg ihren ersten<br />
Straßenweltmeister-Titel der Elite. Die Schlagzeilen<br />
über das niederländische Wunderkind<br />
häuften sich.<br />
„Ich wurde in Holland bekannter und die Leute<br />
hatten ihre Meinung über mich und teilten sie. Ich<br />
wurde irgendwie ein wenig berühmt, und das hat<br />
mir eigentlich nicht wirklich gefallen“, sagt Vos<br />
über diese Zeit ihrer frühen Karriere.<br />
„Es gab eine Seite, die erfolgreich sein wollte<br />
und mit den Resultaten sehr zufrieden war, und<br />
es gab einen Teil, der meinte: Okay, ich habe nie<br />
darum gebeten, berühmt zu werden, ich will einfach<br />
nur Rennen fahren. Diese Zeit war ein wichtiger<br />
Lernprozess, und ich denke, ja, es … eigentlich<br />
habe ich viel daraus mitgenommen. In nur<br />
wenigen Jahren hatte ich persönlich einen großen<br />
Schritt gemacht, der sonst vielleicht 20 Jahre gedauert<br />
hätte.“<br />
Die meisten Gewinner, die meisten Siegertypen<br />
wie Vos hassen es zu verlieren. Der zweite Platz<br />
liegt nicht in ihrer Natur und bedeutet ihnen normalerweise<br />
nichts – man frage nur Mark Caven-<br />
dish. Als sechsjähriges Kind, als Vos zum ersten<br />
Mal auf einem Fahrrad saß, war sie genauso. Und<br />
2018 war dieser Siegeswillen so stark wie nie zuvor.<br />
Als sie auf der 2. Etappe der Women’s Tour<br />
einen Sprint an Coryn Rivera verlor, war der Anblick<br />
der weinenden Vos, auf dem Bürgersteig vor<br />
ihrem WaowDeals-Teambus neben einem Mülleimer<br />
sitzend, die Knie am Kinn und das Gesicht<br />
in den Händen vergraben, wirklich herzzerreißend.<br />
Ist ein weiterer Sieg inmitten all der anderen<br />
Auszeichnungen und Erfolge wirklich so wichtig?<br />
„Ich war schon immer sehr ehrgeizig bei allem,<br />
was ich tue, besonders im Sport, sobald es um ein<br />
Rennen ging“, gibt sie zu. „Ich musste lernen zu<br />
verlieren und das als Motivation für das nächste<br />
Mal zu sehen. Besonders als Kind konnte ich nach<br />
einem enttäuschenden Rennen sehr wütend sein.“<br />
Ihre Liebe zum Rennenfahren ist eine Sache,<br />
doch woher kommt dieser Antrieb, siegen zu müssen?<br />
„Es ist wahrscheinlich eine Kombination<br />
meiner Eltern“, sagt Vos. „Meine Mutter ist eine<br />
Perfektionistin. Sie will immer alles gut machen<br />
und erträgt es nicht, wenn etwas nicht klappt,<br />
und mein Vater ist immer auf der Suche nach Herausforderungen.<br />
Er sah noch nie die Probleme,<br />
ES GAB EINE SEITE, DIE<br />
ERFOLGREICH SEIN WOLLTE,<br />
UND ES GAB EINEN TEIL, DER<br />
MEINTE: OKAY, ICH HABE NIE<br />
DARUM GEBETEN, BERÜHMT ZU<br />
WERDEN, ICH WILL EINFACH<br />
NUR RENNEN FAHREN.<br />
sondern suchte immer nach den Möglichkeiten<br />
– wahrscheinlich treibt mich die Kombination aus<br />
beidem dazu, immer das Bestmögliche zu geben.<br />
Dann gibt es da noch die Region, in der ich aufgewachsen<br />
bin. Die Leute reden nicht darüber: Sie<br />
tun es einfach und arbeiten sich den Arsch ab. Ich<br />
glaube, das hat mich so weit gebracht.“<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 65
MARIANNE VOS<br />
Vos’ langer Sprint beim<br />
Crescent Vårgårda<br />
zeigte, warum sie<br />
immer noch zu den<br />
Besten gehört.<br />
© Velofocus<br />
Vos’ größter Vorteil war schon immer ihre<br />
Fähigkeit, schnell zu beschleunigen und<br />
anzugreifen. So hat sie im Laufe der Jahre<br />
einige ihrer größten Titel eingefahren wie etwa den<br />
besagten Cyclocross-Weltmeistertitel 2006. Es half<br />
ihr, Lizzie Armitstead auf der Mall in London zu<br />
schlagen, als sie 2012 Olympiasiegerin wurde, und<br />
sie hängte ihre Konkurrenten ab, um die Straßenweltmeistertitel<br />
2012 und 2013 zu gewinnen.<br />
Sprinten, sagt sie, war für sie immer selbstverständlich.<br />
Als sie jung war und zu Hause auf den<br />
flachen, windigen Straßen trainierte, lag ihr Talent<br />
in ihrer Fähigkeit zu sprinten.<br />
„Wo ich herkomme, sind wir Christen und Protestanten,<br />
und jeder, der ein Talent hat, sieht das<br />
als Geschenk an. Man versucht einfach, es so gut<br />
wie möglich zu nutzen“, sagt sie. „Wenn man sich<br />
das Training ansieht und was mir von der Natur<br />
mitgegeben wurde, war ich eher ruhig … meine<br />
Explosivität ist ganz okay, mein Sprint … Das<br />
braucht man immer, auf der Straße, aber auch im<br />
Cyclocross. Es ist einfacher, Rennen zu gewinnen,<br />
wenn man sprinten kann. Was ich nicht hatte, war<br />
die Kraft, und was mir fehlte, war der große Motor.<br />
Das war schon immer mein größtes Problem,<br />
also musste ich im Laufe der Jahre an Leistung<br />
zulegen. Natürlich hat es sich verbessert, aber mir<br />
liegen eher die kurzen und intensiven Intervalle.“<br />
Nach 2015 kehrte Vos zu dem zurück, was sie<br />
am besten kann. Diese schwierige Saison beendete<br />
fast die Karriere der Niederländerin. Sie fuhr<br />
in jenem Jahr nur zwei Straßenrennen durch; einziger<br />
Sieg war die niederländische Cross-Meisterschaft.<br />
Burnout und Übertraining von den vielen<br />
Wettkämpfen, verbunden mit Knie- und Kniesehnenverletzungen,<br />
holten sie komplett vom<br />
Rad. Viele Leute dachten, Vos sei erledigt, und<br />
es gab Zeiten, da dachte sie das Gleiche.<br />
Die größte Herausforderung ihrer Karriere sei<br />
gewesen, sagt sie, in den letzten drei Jahren zu<br />
dem zurückzukehren, was Vos „ihr Bestes“<br />
nennt. Aber 2018 bestätigte, dass sie sich noch<br />
nicht verabschieden wird. Sie gewann acht Rennen<br />
und war damit nicht mehr so dominierend<br />
wie in ihren unbesiegbaren Jahren von 2011 bis<br />
2014, als sie durchschnittlich 23 Siege pro Saison<br />
erzielte. Doch ihre sechs WorldTour-Siege<br />
in diesem Jahr enthielten eine Etappe beim Giro<br />
Rosa und einen lupenreinen Sieg bei der Ladies<br />
Tour of Norway Mitte August.<br />
Wenn es eine Vorstellung gab, die zeigte, dass<br />
Vos immer noch die beste Sprinterin im Feld ist,<br />
war es ihr Sieg beim Crescent Vårgårda im August<br />
dieses Jahres. Als das Feld auf einen Massensprint<br />
zusteuerte, flog Vos in der letzten Rechtskurve<br />
außen an der Gruppe vorbei, 300 Meter vor<br />
dem Ziel, und beschleunigte. Sie riss eine Lücke<br />
66 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
MARIANNE VOS<br />
auf und sprintete durch bis zur Ziellinie. Niemand<br />
sonst konnte ihr folgen.<br />
„Das war eines der Rennen, bei denen ich dachte:<br />
Okay, so will ich fahren. Rennen fahren nach<br />
Intuition. Wenn ich darüber nachgedacht hätte,<br />
hätte ich gesagt: Nein, du bist verrückt, du startest<br />
keinen Sprint 300 Meter vor der Linie, mit<br />
den besten Sprintern der Welt am Hinterrad. Es<br />
kam aus dem Bauch heraus“, sagt Vos.<br />
„Das war der größte Sieg; nicht der Sieg selbst,<br />
sondern mehr das Gefühl, im Rennen wieder ich<br />
selbst zu sein.“<br />
Die Stärke im Peloton der Frauen hat während<br />
der Ära Vos im Radsport zugenommen. Es ist<br />
nicht so einfach für eine Fahrerin, alles zu dominieren,<br />
von Sprints über Kopfstein-Klassiker bis<br />
hin zu bergigen Etappenrennen, wie sie es früher<br />
tat. Aber Vos hat aufgehört zu versuchen, jedes<br />
Rennen zu fahren und alles zu gewinnen. Etappenrennen<br />
sind nicht unbedingt ihr Ziel, da sie<br />
nicht genug Regenerationszeit bieten, die sie<br />
braucht, auch wenn der Siegertyp in Vos immer<br />
noch alles fahren und gewinnen will, was geht.<br />
„Ich konzentrierte mich auf die Eintagesrennen<br />
und versuchte, darin gut zu sein. Wie ich bereits<br />
sagte, bin ich natürlich eher ein Sprintertyp, sodass<br />
ich bei den Klassikern gut abschneiden kann,<br />
aber nicht bei den spezifischen Kletterrennen.<br />
Also haben mein Team und mein Trainer beschlossen,<br />
uns zuerst auf das zu konzentrieren,<br />
SIEGE<br />
9<br />
’06<br />
’08<br />
23<br />
’10<br />
18<br />
’11<br />
31<br />
was mir liegt, darauf zu trainieren und von dort<br />
aus weiter aufzubauen“, sagt sie.<br />
„Es gibt auch einen Teil von mir, der in allen<br />
Bereichen besser werden will, also musste ich von<br />
dem Punkt an, an dem ich war, sagen: Okay, ich<br />
muss mich zuerst auf die Sprints oder auf die hügeligen<br />
Klassiker konzentrieren, anstatt auf die<br />
Berge. Aber es gibt immer einen Teil von mir, der<br />
mehr will. Doch ich habe in den letzten Jahren<br />
gelernt, wie man sich besser ausbalanciert.“<br />
SIEGE PRO JAHR<br />
Marianne Vos’ 209 UCI-Rennsiege während der 13 Jahre ihrer bisherigen Karriere,<br />
Saison für Saison. 2011 ragt mit ganzen 31 Erfolgen heraus.<br />
’07<br />
21<br />
’09<br />
18<br />
’12<br />
20<br />
’13<br />
22<br />
’14<br />
21<br />
0<br />
’15<br />
’16<br />
9<br />
’17<br />
9<br />
’18<br />
8<br />
ES IST MIR WICHTIG, AUF DEM<br />
BODEN ZU BLEIBEN. JEDER HAT<br />
EIN TALENT UND ALLE WOLLEN<br />
ES IM LEBEN GUT MACHEN,<br />
ABER ICH GLAUBE NICHT, DASS<br />
ES MEDAILLEN ODER<br />
ERGEBNISSE SIND, DIE IM LEBEN<br />
SO SEHR ZÄHLEN.<br />
Es wäre bei ihrem Palmarès für Vos ein<br />
Leichtes, eingebildet, arrogant oder unnahbar<br />
zu sein. Aber das ist einfach nicht ihr<br />
Stil. Selbst auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs<br />
wirkte Vos immer geerdet. Das ist sie immer<br />
noch. Sie mag eine Weltklasse-Athletin sein, aber<br />
sie wirkt ein wenig wie alle anderen. Bekannterweise<br />
reist sie im Wohnmobil samt Familie und<br />
Katze zu Rennen. Wenn sie nicht gerade an einem<br />
der 200 Tage des Jahres arbeitet, teilt sie ihre Zeit<br />
zwischen ihrem Elternhaus und ihrem Freund<br />
auf. Selbst als wir sprechen, fragt sie, ob wir das<br />
Interview auf den Mittag verschieben könnten,<br />
damit sie früher zu Bett komme, da es ihr nicht<br />
gut ginge. Fast so, als würden wir nicht erwarten,<br />
dass Vos jemals krank wird.<br />
Ihre wenige Freizeit verbringt sie damit, die<br />
einfachen Dinge des Lebens zu genießen: lesen,<br />
Musik hören, mit ihrer kleinen, aber engen Gruppe<br />
von Freunden zu Abend essen. Draußen zu<br />
sein ist ihr wichtig, sei es auf dem Fahrrad oder<br />
bei einer Wanderung im Wald oder den Bergen.<br />
„Es ist mir sehr wichtig, auf dem Boden zu<br />
bleiben. Jeder hat ein Talent und alle wollen es im<br />
Leben gut machen, aber ich glaube nicht, dass es<br />
Medaillen und Goldmedaillen oder Ergebnisse<br />
sind, die im Leben so sehr zählen. Es geht darum,<br />
wer man ist und was man tut. Für mich ist das<br />
also wichtiger als die Resultate im Radrennsport,<br />
obwohl ich gut sein will; und ja, meine Familie<br />
war wirklich wichtig“, sagt sie.<br />
Was ihre alternative Art des Reisens betrifft:<br />
„Die Leute sagen immer: ‚Du bleibst so normal,<br />
du reist mit deiner Katze.‘ Aber für mich ist es<br />
eben einfach nichts Besonderes. Es ist nicht seltsam,<br />
normal zu sein, so ist mein Leben. So mag<br />
ich es. Ich denke, es wirkt manchmal ein bisschen<br />
komisch für die Leute. Ja natürlich, ich hätte in<br />
Monaco leben können und wahrscheinlich zu den<br />
Galas und so weiter gehen können, aber das gefällt<br />
mir nicht. Ich liebe es, wo ich herkomme, und<br />
ich mag die Menschen um mich herum. Für mich<br />
zählt das mehr als Glitzer und Glamour.“<br />
Die Saison 2015 zwang Vos auch, über die<br />
Zukunft nachzudenken, das „Jenseits“. Sie hat<br />
sich in der Kommentatoren- und Medienarbeit<br />
versucht, aber vor allem will sie einen Weg finden,<br />
ihre Erfahrungen aus dem Radsport in irgendeiner<br />
Weise weiterzugeben, sei es im Sport oder in einem<br />
anderen Bereich. Letztlich liebt Marianne<br />
Vos es aber einfach, Fahrrad zu fahren, und das<br />
wird sich wahrscheinlich nie ändern.<br />
„Es ist keine Wahl, es ist eine Lebensweise,<br />
du bist kein Athlet von neun bis fünf, du bist ein<br />
Athlet rund um die Uhr. Aber ich habe es noch<br />
nie als großes Opfer gesehen, denn es gibt mir<br />
auch viel“, sagt sie. „Wenn ich zu meiner inneren<br />
Motivation zurückkehre, auf meinem Fahrrad an<br />
einigen schönen Orten durch die ganze Welt fahre<br />
und dann das tue, was ich am meisten liebe –<br />
dann ist das eigentlich kein großes Opfer.“<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 67
NICHT OHNE<br />
FOLGEN<br />
„Ich habe Gehirnerschütterungen nicht ernstgenommen,<br />
bis ich im vergangenen Februar eine schwere hatte.<br />
Es ist ein Thema, dessen sich alle Sportarten bewusst<br />
sein sollten. Unser Mannschaftsarzt hat ein Verfahren<br />
entwickelt, das mithilfe von virtueller Realität erkennt,<br />
ob ein gestürzter Fahrer gefährdet ist.“<br />
Text Richard Abraham<br />
Illustration Tim Marrs<br />
68 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 69
GEHIRNERSCHÜTTERUNGEN<br />
Fußballprofi Christoph Kramer kann sich<br />
an 14 Minuten des größten Spiels seines<br />
Lebens nicht erinnern. Er bekam einen<br />
Schlag gegen den Kopf, als er zu Beginn des<br />
WM-Endspiels 2014 mit einem argentinischen<br />
Gegner zusammenprallte, durfte aber weiterspielen.<br />
Dann wandte er sich an den Schiedsrichter<br />
und fragte: „Schiri, ist das das Finale? Der verblüffte<br />
Offizielle informierte den deutschen Kapitän,<br />
aber Kramer durfte 14 weitere Minuten spielen,<br />
an die er keine Erinnerung hat. Dann brach er<br />
zusammen und wurde vom Platz geführt.<br />
So etwas wird jedem bekannt vorkommen, der<br />
den Profiradsport verfolgt. Man erinnere sich, wie<br />
Chris Horner die Ziellinie der 7. Etappe der Tour<br />
de France 2011 überquerte und unzusammenhängend<br />
brabbelte oder wie Toms Skujinš bei der<br />
Kalifornien-Rundfahrt 2017 benommen dem<br />
näher kommenden Peloton auswich, als er seinen<br />
Fahrradcomputer von der Straßenmitte aufheben<br />
wollte, bevor er mit gebrochenem Schlüsselbein<br />
wieder aufs Rad stieg.<br />
Mit einer Gehirnerschütterung weiterzuspielen,<br />
ist offensichtlich nicht gut. Im Fußball,<br />
Boxen, Rugby, American Football – nach einer<br />
großen Sammelklage ehemaliger Spieler, die argumentierten,<br />
dass die NFL sie absichtlich über<br />
die Gesundheitsrisiken wiederholter Gehirnerschütterungen<br />
im Unklaren gelassen habe – und<br />
im Eishockey will man dieses grundlegende Problem<br />
jetzt in Angriff nehmen. Aber laut dem<br />
Hamburger Sportarzt Helge Riepenhof, der sich<br />
auf Traumatologie spezialisiert und für eine Reihe<br />
von Fußballclubs und Radsportteams, darunter<br />
Dimension Data, gearbeitet hat, tut der Radsport<br />
nichts.<br />
„Es ist wirklich schlecht, wie es immer noch<br />
gehandhabt wird“, stellt er fest. „Sie tun nichts,<br />
um bei einem Sturz eines Fahrers direkt eine objektive<br />
Entscheidung zu treffen, ob er das Rennen<br />
fortsetzen kann oder nicht. Und aus meiner Sicht<br />
ist das eine unhaltbare Situation.“<br />
Er fügt hinzu: „Wir wissen, dass er [Christoph<br />
Kramer] bei einem zweiten Zusammenprall hätte<br />
sterben können. In England und im englischen<br />
Fußball entwickelt es sich sehr gut, ebenso im<br />
Boxen, aber in Sportarten wie dem Radsport ist<br />
nicht viel passiert.“<br />
Hintern“, sagt Cavendish zu <strong>Procycling</strong>. „Ich weiß<br />
nicht, was da vorne passierte, aber mein Laufrad<br />
hatte sich in seinem Schnellspanner verhakt. Ich<br />
bin irgendwie gefallen und wir fuhren total langsam.<br />
Aber ich landete auf dem Laufrad des Typen<br />
neben mir, bums. Und ich habe mir nicht einmal<br />
den Kopf gestoßen. Ich bin mit dem Hals auf dem<br />
Laufrad aufgekommen.“<br />
Er sagt weiter: „Ich hatte keinen Kratzer. Ich<br />
stand auf und war … war … aus dem Spiel. Als<br />
wäre ich betrunken. Wie wenn man so betrunken<br />
ist, dass alles ein Dunstschleier ist. Ich konnte<br />
alles sehen, aber … es war jenseitig. Als wäre ich<br />
gar nicht da.“<br />
Cavendish stieg sofort wieder aufs Rad und<br />
setzte das Rennen fort, eine Situation, die im<br />
Radsport so verbreitet ist, dass sie fast nie infrage<br />
gestellt wird. „Setzt mich wieder aufs Rad“, heißt<br />
es, und wieder aufs Rad zu steigen ist absolut<br />
üblich.<br />
„Ich dachte, auweia, ich fühle mich gar nicht<br />
gut, Mann. Ich kam zurück, das Rennen ging los<br />
und ich erinnere mich, dass die Leute mit mir redeten.<br />
Ich erinnere mich an alles, aber es war seltsam.<br />
Du weißt, was sie sagen, aber … Ich konnte<br />
nicht auf sie reagieren. Ich habe mich nach einem<br />
Kilometer zum Teamarzt zurückfallen lassen und<br />
gesagt: Mit mir stimmt etwas nicht, Mann. Er war<br />
ein guter Teamarzt und hat sofort gesagt: ‚Steig’<br />
vom Rad.‘“<br />
Es gibt Tausende von Gründen, warum es im<br />
Radsport immer noch diese selbstzerstörerische<br />
Durchhaltemoral gibt. Der Sport bleibt chronisch<br />
unsicher – die Fahrer brauchen Resultate und<br />
scheuen Ausfallzeiten –, und die Unterschiede<br />
sind geringer denn je. Vor allem aber wird das Leiden<br />
im Radsport glorifiziert. Seine Struktur ermutigt<br />
dazu. Bei den großen Rundfahrten hören die<br />
Fahrer, sie müssten weiterkämpfen und am zweiten<br />
Ruhetag werde es besser, das Team könne<br />
nicht noch einen Fahrer verlieren und außerdem<br />
sei dies die Tour de France! Bei Eintagesrennen<br />
heißt es: Beiß’ die Zähne zusammen und mach’<br />
weiter, du musst ein Jahr auf die nächste Chance<br />
warten, es ist Paris–Roubaix, es muss schwer sein!<br />
Aber bei dieser Gelegenheit und vielleicht bei<br />
Dutzenden anderen zuvor hätte Cavendish nicht<br />
wieder aufs Rad steigen sollen. Er hatte Glück,<br />
dass er und sein Arzt die Symptome bemerkten,<br />
bevor es zu spät war.<br />
Eines ist klar: Ein benommener Fahrer ist eine<br />
Gefahr für sich selbst und den Rest des Pelotons.<br />
In anderen Fällen können die Symptome lange<br />
Bei der Tour 2011 zog sich Chris<br />
Horner eine Gehirnerschütterung<br />
zu und konnte sich kaum erinnern,<br />
wie er ins Ziel gekommen war.<br />
© Getty Images<br />
Mark Cavendish ist einer der Fahrer, der<br />
die Folgen einer Gehirnerschütterung<br />
sehr gut kennt. Nachdem er bei T-Mobile,<br />
Highroad und Quick-Step immer wieder mit<br />
Riepenhof zu tun hatte, holte sich Cavendish nach<br />
einer Reihe von Stürzen 2018 bei ihm Hilfe. Es<br />
begann mit einem harmlosen Sturz auf der Auftaktetappe<br />
der Abu Dhabi Tour am 21. Februar.<br />
„Ich war in der zweiten oder dritten Reihe in<br />
der neutralisierten Zone hinter dem Wagen. Da<br />
bremst der Typ vor mir und ich sitze ihm auf dem<br />
70 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
GEHIRNERSCHÜTTERUNGEN<br />
Bei der Tour of California<br />
stürzte Toms Skujinš<br />
schwer, doch er fuhr<br />
weiter.<br />
nach dem eigentlichen Trauma auftreten. „Aus<br />
meiner Sicht passieren Dinge bei den Rennen, und<br />
du kannst sie nicht erklären“, sagt Riepenhof.<br />
„Wenn etwas [wie ein Sturz] ohne Grund passiert,<br />
würde ich mich fragen, ob vorher etwas passiert<br />
ist, einen Tag vorher, und ob es das Resultat einer<br />
Gehirnerschütterung sein könnte. Und deswegen<br />
müssen wir es ernster nehmen.“<br />
Nachdem er vom Rad gestiegen war, ging Cavendish<br />
in Abu Dhabi ins Krankenhaus, um sich<br />
auf Schädelfrakturen und Blutungen untersuchen<br />
zu lassen. Dann verbrachte er sechs Tage in einem<br />
dunklen Raum – die beste Behandlung einer Gehirnerschütterung<br />
ist, dem Denkorgan Ruhe zu<br />
gönnen, so wie man einen gebrochenen Knochen<br />
oder einen Bänderriss ruhig stellt –, bevor er anfing<br />
sich zu langweilen, nach Hause flog und auf<br />
der Rolle trainierte. Zwei Wochen nach seinem<br />
Sturz stürzte er beim Mannschaftszeitfahren bei<br />
Tirreno–Adriatico wieder, dieses Mal, weil sein<br />
Sattel brach. Er landete auf dem Gesicht und<br />
brach sich eine Rippe, hatte aber nicht dieselben<br />
Symptome wie in Abu Dhabi. Er stieg wieder auf,<br />
verpasste das Zeitlimit und flog nach Hause. Zehn<br />
Tage später startete er bei Mailand–San Remo<br />
und stürzte wieder – er flog bei hoher Geschwindigkeit<br />
durch die Luft, nachdem er kurz vor dem<br />
Poggio gegen einen Poller geprallt war.<br />
„SETZT MICH WIEDER AUFS<br />
RAD“, HEISST ES, UND WIE-<br />
DER AUFS RAD ZU STEIGEN<br />
IST ABSOLUT ÜBLICH.<br />
„Ich bin bei San Remo angetreten und meine Frau<br />
sagt heute noch, dass ich das nicht hätte tun sollen“,<br />
sagt Cavendish. „Sie glaubt, dass das [die<br />
Gehirnerschütterung] der Grund war, warum ich<br />
bei San Remo gestürzt bin, aber ich sage nein.“<br />
Athleten, die eine Gehirnerschütterung<br />
erlitten hatten, berichten von Stimmungsschwankungen,<br />
Erschöpfung, Konzentrationsschwierigkeiten<br />
und anhaltenden Kopfschmer<br />
zen. Die Genesungszeiten können zwischen<br />
Tagen und Monaten schwanken. Wiederholte Gehirnerschütterungen<br />
bringen tiefere und schwerwiegendere<br />
Veränderungen mit sich. Der frühere<br />
englische Nationalspieler Alan Shearer ging dem<br />
Zusammenhang zwischen Kopfbällen und langfristigen<br />
Hirnschäden in seiner Dokumentation<br />
Dementia, Football and Me nach.<br />
„Niemand hat das ernst genommen, aber ich sage,<br />
es gibt viele Depressionen, die von wiederholten Gehirnerschütterungen<br />
stammen“, meint Cavendish.<br />
Zur Verteidigung des Sports: Die Diagnose fällt<br />
nicht so einfach wie bei einem Knochenbruch.<br />
Es ist schwer, jedes Kopftrauma in einem großen<br />
Peloton zu bemerken, und es ist fast unmöglich,<br />
bestimmte Symptome einem Zwischenfall zuzuordnen.<br />
Einige Verletzungen zeigen keine unmittel<br />
baren Symptome. Später in der Saison 2018<br />
ließ Cavendish einen Gehirnscan machen; er<br />
zeigte kleine weißen Flecken im Gehirn, die jeweils<br />
eine kleine Narbe darstellten.<br />
„Ich habe Gehirnerschütterungen nicht ernstgenommen.<br />
Es hat sich herausgestellt, dass ich massenweise<br />
davon hatte“, sagt er. „Ich habe mich untersuchen<br />
lassen, und es sind jede Menge Flecken<br />
in meinem Kopf. Massive Zeichen für viele Schläge<br />
gegen den Kopf, und es macht dich verrückt.“<br />
„Wir wissen, dass sie wahrscheinlich mit Gehirnerschütterungen<br />
zusammenhängen, aber es<br />
kann auch andere Gründe geben, warum sie da<br />
sind“, erklärt Mediziner Riepenhof. „Deswegen<br />
kann man nicht einfach Ex-Radsportler durchleuchten<br />
und sehen, wie viele weiße Flecken da<br />
sind, weil es an Dingen wie Blutdruck oder einfach<br />
Veränderungen an den Proteinen im Körper<br />
liegen könnte, was genau so aussieht. Es wird<br />
© Getty Images<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 71
GEHIRNERSCHÜTTERUNGEN<br />
Bei Mailand–San<br />
Remo fuhr Cavendish<br />
gegen einen Poller,<br />
flog durch die Luft<br />
und schlug hart auf.<br />
© BettiniPhoto<br />
könnte. Er schlägt auch vor, dass sich ein in einen<br />
Sturz verwickelter Fahrer in einem dem Peloton<br />
folgenden Wagen untersuchen lassen könnte –<br />
eine mobile Variante der „concussion bins“, die in<br />
der Premier League gefordert werden; eine zehnminütige<br />
Auszeit, in der Spieler an der Seitenlinie<br />
auf Kopfverletzungen untersucht werden können.<br />
„Ein Arzt entscheidet, ob er das Rennen fortsetzen<br />
darf oder nicht. Wenn er sich nicht sofort<br />
sicher ist, muss es etwas geben, um zu sagen:<br />
‚Okay, er ist für heute draußen, hat wahrscheinlich<br />
nichts mehr mit der Gesamtwertung zu tun,<br />
aber wir brauchen 24 Stunden, um eine Entdefinitiv<br />
auch Fälle von langfristigen Erkrankungen<br />
geben, aber auch das ist schwer und kompliziert<br />
zu beweisen.“<br />
Cavendishs Team Dimension Data hat jetzt<br />
ein Regelwerk bei Gehirnerschütterung. Zu Beginn<br />
der Saison machen die Fahrer einen 30- bis<br />
40-minütigen Test der kognitiven Funktion; wenn<br />
sie eine Kopfverletzung erleiden, müssen sie diesen<br />
Test wiederholen und die Ergebnisse vergleichen.<br />
Jedes Nachlassen der Leistung gilt als Hinweis<br />
auf eine Gehirnerschütterung.<br />
Es ist ein Anfang, aber bei Weitem nicht unfehlbar.<br />
Es hängt davon ab, dass der Fahrer sich<br />
selbst meldet oder jemand anders die Symptome<br />
wahrnimmt. Profiathleten, so Riepenhof, haben<br />
wahrscheinlich auch eine höhere kognitive Funktion<br />
als die Durchschnittsperson, für die der Test<br />
gemacht wurde, was ihnen praktisch hilft, ihn<br />
auszutricksen. „Für einen Fußball- oder Rugbyspieler,<br />
der viele Gehirnerschütterungen hatte, ist<br />
der Test ein Witz“, sagt er. „Sogar wenn sie mehr<br />
als eine leichte traumatische Hirnverletzung hatten,<br />
können sie die Aufgaben bewältigen.“<br />
Es wurde auch berichtet, dass Athleten in der<br />
NFL, die ein ähnliches Regelwerk hat, bei ihrem<br />
Ausgangstest absichtlich schwach abschnitten,<br />
um zu bestehen und weiterspielen zu dürfen,<br />
wenn sie Anzeichen einer Gehirnerschütterung<br />
aufweisen. Wenn es um die Gesundheit geht,<br />
kann ein Sportler manchmal selbst sein ärgster<br />
Feind sein.<br />
Vor allem bietet der Test keine Lösung für den<br />
unmittelbaren Drang, Fahrer wieder aufs Rad zu<br />
setzen, aber Riepenhof glaubt, eine Antwort zu<br />
haben. Während seiner Arbeit beim Brighton &<br />
Hove Albion FC entwickelte er – aufgrund von<br />
Forschungsergebnissen der Stanford University<br />
und in Zusammenarbeit mit einer deutschen Firma<br />
– eine Virtual-Reality-Brille, die die Augenbewegung<br />
erfasst. Der Träger muss VR-Aufgaben<br />
mit den Augen lösen – einen Ball verfolgen oder<br />
einen Gegenstand finden –, und die Brille zeichnet<br />
die Reaktion der Augen auf.<br />
„Bei Patienten mit einem Kopftrauma sehen<br />
wir, dass alles davon beeinträchtigt wird. Die Anzahl<br />
von Sakkaden [schnelle Augenbewegungen,<br />
wenn die Augen zwischen Punkten hin und her<br />
springen] nimmt zunächst deutlich zu und lässt<br />
dann stark nach. Die Reaktion auf Licht – also wie<br />
weit sich die Linse öffnet und schließt – ist ganz<br />
anders.“<br />
Riepenhof glaubt, dass dies ein objektiver Test<br />
auf Gehirnerschütterung sein könnte, der mitten<br />
im Rennen viel schneller durchgeführt werden<br />
BEI DIESER GELEGENHEIT<br />
HÄTTE CAVENDISH NICHT<br />
WIEDER AUFS RAD STEIGEN<br />
SOLLEN. ER HATTE GLÜCK,<br />
DASS ER UND SEIN ARZT DIE<br />
SYMPTOME BEMERKTEN.<br />
72 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
GEHIRNERSCHÜTTERUNGEN<br />
scheidung zu treffen.‘ Es ist so einfach im Radsport,<br />
aber wir müssen offener oder flexibler mit<br />
unseren Regeln sein. Bei jeder Regel gibt es die<br />
Chance, sie zu missbrauchen oder auf eine Art<br />
anzuwenden, die nicht richtig ist für den Sport,<br />
aber in einer solchen Situation hat die Gesundheit<br />
der Fahrer Priorität.“<br />
Die Fahrer sind nicht mehr das Hindernis,<br />
wenn es um die Reform des Radsports geht; mit<br />
einem stärkeren Bewusstsein ist ein stärkerer<br />
Wille im Peloton entstanden, den Radsport sicherer<br />
zu machen. Vielmehr stehen die Struktur und<br />
die Kultur des Radsports im Wege. „Was ist die<br />
Kultur im Radsport nach einem Sturz? Setz’ ihn<br />
wieder aufs Rad und schau, wie es ihm geht“, sagt<br />
Cavendish. „Bei Tirreno bin ich aufs Gesicht gefallen,<br />
weil mein Rad brach. Roger Hammond<br />
hielt im Mannschaftswagen an und wollte mich<br />
Die NFL untersucht, ob Virtual-Reality-<br />
Brillen bei der Erkennnung von Gehirnerschütterungen<br />
helfen können.<br />
erst wieder aufs Rad lassen, als ich alles spüren<br />
konnte. Ich stand auf und er schaute nach, ob mit<br />
mir alles in Ordnung war. Ich fahre ins Ziel und<br />
verpasse das Zeitlimit. Das ist ein fundamentales<br />
Problem“, sagt er weiter.<br />
Es wird nicht leicht, die Kultur der harten Kerle<br />
zu bekämpfen. Aber Riepenhof, der in der nächsten<br />
Saison als Arzt bei Dimension Data anfängt,<br />
ist optimistisch. „Vor Jahren hätte ich gelacht und<br />
gesagt, es ist unmöglich. Heute glaube ich, dass<br />
es realistisch ist. Sie begreifen es langsam.“<br />
Drei böse Stürze machten<br />
Cavendish das Leben im<br />
letzten Frühjahr schwer,<br />
dar unter einer bei Tirreno.<br />
© Bettini.Photo (groß), Getty Images<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 73
W I S S E N<br />
IST MACHT<br />
In der Vergangenheit drehte sich alles um Rennräder<br />
und Zubehör, aber heute versuchen Radsportteams,<br />
mit Technologie, Daten und Kommunikation zu punkten.<br />
Es ist Teil der Stärke von Dimension Data.<br />
Text Fran Reyes<br />
Fotografie Gruber Images<br />
Salamanca. An der Startlinie einer Etappe<br />
der Vuelta a España rutscht Cristián Rodríguez<br />
hin und her, während er den Computer<br />
an seinem Rad einzustellen versucht. „Oh Mann,<br />
ich kann auf diesem Display nichts sehen“, murmelt<br />
der Fahrer von Caja Rural-Seguros RGA. Rodríguez<br />
ist ein hoch gehandelter junger Fahrer aus<br />
Spanien, ein vielversprechender Allrounder, den<br />
manche für einen künftigen Rundfahrtsieger halten.<br />
Er trainiert seit seiner Zeit als Junior nach<br />
Wattzahlen, dem Rat des Ex-Profis Michele Bartoli<br />
folgend.<br />
Verwenden Fahrer Wattmessgeräte im Training<br />
so häufig, dass sie bei den Rennen davon abhängig<br />
sind? „Es geht nicht nur um Wattzahlen“, sagt<br />
Rodríguez. „Ich schaue während der Etappe gerne<br />
auf das Profil, um zu sehen, wann die Anstiege<br />
kommen. Und außerdem: Weißt du, was für Vorteile<br />
es hat, wenn du in der Abfahrt die Strecke auf<br />
einer Landkarte sehen kannst? Wer sein Rad gut<br />
beherrscht, kann so viel schneller fahren.“ Was<br />
für eine Leistung: mit 70 km/h den Berg runter<br />
mit einem Auge auf der Straße und dem anderem<br />
auf einem winzigen Bildschirm am Lenker. Was<br />
für eine Zeit, um Rennfahrer zu sein!<br />
Fangen wir mit dem Einmaleins der Radsportplanung<br />
an, einem Stück Information, das normalerweise<br />
in der ersten Klasse jedes Teammanagement-Kurses<br />
ausgegeben wird: dem Unterschied<br />
zwischen Strategie und Taktik. Die Strategie ist<br />
der breitere Plan: die Ressourcen, die bei einem<br />
Rennen verwendet werden, und wie sie eingesetzt<br />
werden, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen.<br />
Die Taktik sind die notwendigen Entscheidungen,<br />
um die Mission zu erfüllen. Es sind große Entscheidungen<br />
– wer angreift und wo – und kleine<br />
wie etwa, welche Straßenseite an einem bestimmten<br />
Punkt vorzuziehen ist. Die Taktik wird<br />
in der Hitze des Gefechts oft improvisiert; die<br />
Strategie wird vorher im Bus festgelegt.<br />
„SELBST WENN SIE MINUTEN<br />
VOR DEM START KOMMU<br />
NIZIERT WIRD, WIRD DIE<br />
STRATEGIE WOCHEN<br />
VORHER AUSGEARBEITET.“<br />
LUCA GUERCILENA, MANAGER<br />
TREK-SEGAFREDO<br />
„Selbst wenn sie Minuten vor dem Start kommuniziert<br />
wird, wird die Strategie Wochen vorher<br />
ausgearbeitet“, sagt Luca Guercilena, der Trek-<br />
Segafredo-Manager.<br />
Wie und wann diese Vorbereitung stattfindet,<br />
variiert von Team zu Team, obwohl es einen Maßstab<br />
gibt, den uns Bingen Fernández, Sportdirektor<br />
von Dimension Data, erklärt: „Erst legen wir<br />
eine GPX-Datei von der Strecke an, was das Kartenformat<br />
ist, was von den meisten Geräten und<br />
Apps gelesen wird. Wenn wir uns das anschauen,<br />
können wir uns vorstellen, wie das Rennen verlaufen<br />
wird. Dann telefonieren wir mit den Fahrern,<br />
die wir aufbieten wollen, und ihrem jeweiligen<br />
Trainer, um zu hören, in welcher Form sie<br />
sind und um ein Feedback von ihnen zu bekommen,<br />
wie sie an das Rennen herangehen wollen.“<br />
Diese Telefonate sind besonders wichtig im<br />
Radsport, der eine der wenigen Mannschaftssportarten<br />
ist, wo die Athleten zu weit in der Welt<br />
verteilt sind, um sich regelmäßig zu treffen, und<br />
deswegen allein zu Hause trainieren. Aber sie berichten<br />
immer ihrem Trainer, sowohl telefonisch<br />
als auch über Apps wie Training Peaks. Damit<br />
können Trainer ihren Athleten die geplanten Trainingssessions<br />
bis ins kleinste Detail präsentieren.<br />
Später signalisiert die App mit einem sehr ein-<br />
74 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
179BPM<br />
HRV 73<br />
179BPM<br />
22kph<br />
HRV 73<br />
22kp<br />
11%<br />
11%<br />
87RPM<br />
87RPM<br />
574 WATTS<br />
574 WATT<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 75
WISSEN IST MACHT<br />
Teamchef Doug Ryder bei einer<br />
Besprechung im Dimension-Data-Bus.<br />
DAS ANALYSTEN-TEAM<br />
IM RADSPORT<br />
Team Dimension Data hat vielleicht deswegen einen Vorteil gegenüber anderen<br />
WorldTour-Teams, als ihr Titelsponsor in Bereich Datenanalyse und digitale Technologie<br />
arbeitet. Doug Scott, der bei Dimension Data den Bereich digitale Business-Lösungen<br />
verantwortet und im Vorstand des Radsportteams sitzt, sagte <strong>Procycling</strong>, dass sie sich<br />
als Sponsoren nicht nur Publicity wünschen, sondern dem Team gerne dabei helfen<br />
würden, besser zu fahren. Das wiederum diene dem Marketing des Unternehmens,<br />
was schließlich Hauptzweck des Sponsorings sei.<br />
„Es ist noch früh, aber wir sagen: Wir wollen herausbekommen, wie wir Technologie<br />
für das Team anwenden können“, sagte er. „Wir fügen nach und nach neue Dinge hinzu.“<br />
Ein erster Nutzen ist, dass eine App für die Fahrer entwickelt wurde, in die die Fahrer<br />
unterschiedliches Feedback über ihre körperliche Verfassung eingeben können. Als das<br />
Ärzteteam sich Bernhard Eisels Angaben für 2018 angeschaut hatte, wurde erkannt, dass<br />
möglicherweise etwas nicht stimmt. „Er klagte über Unwohlsein und Kopfschmerzen. Das<br />
hat die Ärzte alarmiert, die eine Untersuchung veranlassten, bei der dann festgestellt<br />
wurde, dass er ein Hämatom im Gehirn hatte und dringend operiert werden musste.“<br />
Das Team nutzt heute schon Datenanalyse, um seine Personalentscheidungen zu treffen.<br />
Nachdem es 18. der WorldTour 2018 wurde, stellte man neun neue Fahrer ein. „Wir haben<br />
eine Analyse für unser Team durchgeführt. Mit dem aktuellen Punktesystem ist unsere<br />
Mannschaft 2018 auf dem 18. Platz der WorldTour gelandet. Wenn du dir die Ergebnisse<br />
unserer Equipe von 2018 für 2019 anschaust und die Punkte addierst, wären wir 13. der<br />
WorldTour geworden. Wenn du den Durchschnitt der Resultate unserer Fahrer für 2019<br />
anschaust, wären wir Sechster der WorldTour. Und wenn jeder Fahrer sein bestesResultat<br />
der letzten fünf Jahre bei diesen Rennen 2018 erzielt hätte, wären wir Erste.“<br />
Doug Scott weiter: „Die Jungs sind keine Maschinen, und es kann alles Mögliche passieren,<br />
die Fahrer stürzen usw. Du kannst es nicht genau quantifizieren, aber wir sind überzeugt,<br />
dass man bessere Personalentscheidungen treffen kann. Und dann arbeiten wir noch<br />
an einem Untersystem, wo wir den Wert eines Domestiken bestimmen können – dafür<br />
gibt es keine Punkte, aber es ist wie eine Torvorlage im Fußball. Wenn wir Fahrer für<br />
2020 einstellen, verfeinern wir diese Methode, um zu sehen,<br />
welche Fahrer Punkte für das Team bringen.“<br />
fachen Farbsystem, inwieweit sich der Fahrer an<br />
den Plan gehalten hat.<br />
„Das ist das einzige Feedback, das wir bekommen“,<br />
sagt Fernández. „In anderen Sportarten ist<br />
es wahrscheinlich leichter, wo die Mitarbeiter täglich<br />
beim Training der Athleten anwesend sind.<br />
Aber es ist trotzdem besser als früher, wo wir alleine<br />
trainierten und zu den Rennen fuhren, ohne<br />
unseren Sportlichen Leitern Informationen über<br />
unsere Form geben zu können, abgesehen von unserem<br />
groben Gefühl.“<br />
Wie die Rennen analysiert und die Aufstellungen<br />
entschieden werden, kann ein sehr komplexer<br />
Prozess sein. „Wir quantifizieren und berücksichtigen<br />
alles“, erklärt Xabier Artetxe, Coach für das<br />
Team Sky. „Bei einem Etappenrennen sortieren<br />
wir erst die Etappen nach Typ des Rennens, das<br />
auf uns zukommt: wie viele Sprintetappen, ob es<br />
Bergankünfte gibt oder nicht, wie viele Höhenmeter<br />
es insgesamt gibt …“<br />
Er sagt weiter: „Wenn wir die Charakteristika<br />
des Rennens aufgeschlüsselt haben, wählen wir<br />
die Fahrer, die daran teilnehmen können, entsprechend<br />
ihren Qualitäten, ihrer Form und ihren<br />
Zielen in der Saison aus. Einen Sprinter zu einem<br />
hügeligen Etappenrennen wie der Baskenland-<br />
Rundfahrt zu schicken, um Resultate zu holen,<br />
wäre zum Beispiel sinnlos, aber ein solches Rennen<br />
kann ein guter Trainingsblock für seine<br />
nächsten Ziele sein. Dann besprechen Trainer<br />
und Sportliche Leiter zusammen alle anderen Aspekte,<br />
um eine Mannschaft zusammenzustellen,<br />
die zu den Zielen bei den Rennen und den allgemeinen<br />
Zielen des Teams passt.“<br />
Wenn das Aufgebot feststeht, ist es Zeit, es zu<br />
kommunizieren und anzufangen, das Rennen mit<br />
den Fahrern selbst vorzubereiten. „Wenn wir die<br />
Fahrer ausgesucht haben, sprechen wir mindestens<br />
eine Woche vor dem Rennen mit ihnen“, erklärt<br />
Artetxe die Methoden von Sky. „Die Sportlichen<br />
Leiter schicken ihnen Briefings, in denen<br />
jede Etappe bis ins Detail aufgeschlüsselt ist, Ziele<br />
für jeden Fahrer an jedem Tag definiert werden<br />
und der Gesamtplan für das Team dargelegt wird:<br />
Wer ist der Kapitän, wer hat welche Rolle.“<br />
Diese gründliche Definition der Rollen mag<br />
überflüssig erscheinen, aber die Fahrer legen viel<br />
Wert darauf. Sie empfanden es als eine der größten<br />
Verbesserungen, die Merijn Zeeman einführte,<br />
als er 2013 von Giant-Alpecin zu LottoNL–<br />
Jumbo kam.<br />
„Merijn leitet das Team im Training“, sagt<br />
Steven Kruijswijk, der 2018 Fünfter der Tour de<br />
France für das niederländische Team wurde. „Jeder<br />
Fahrer hat bei jedem Rennen ein Ziel – nicht<br />
76 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
WISSEN IST MACHT<br />
nur die Kapitäne. Merijn beherrscht den Prozess,<br />
das Team zusammenzusetzen, ein gemeinsames<br />
Ziel zu setzen und allen das Gefühl zu geben,<br />
dass seine Aufgabe wichtig ist.“<br />
„WIR SKIZZIEREN DEN KURS,<br />
DAS WETTER, DIE STRATEGIE<br />
UND MÖGLICHE SZENARIOS<br />
IM RENNEN, DIE ANDERE<br />
TEAMS HERBEIFÜHREN<br />
KÖNNEN.“<br />
LUCA GUERCILENA, MANAGER<br />
TREK-SEGAFREDO<br />
Artetxe erklärt, dass man bei Sky die Fahrer<br />
mit Informationen über die wichtigsten Abschnitte<br />
des Rennens versorge und die Trainingssessions<br />
darauf einstelle. „Wir bauen Herausforderungen<br />
in die Trainingsfahrten ein, die<br />
denen im Rennen ähneln.“<br />
Das Team schickt auch Videos von der Strecke.<br />
„Wenn die Straßen noch nie in einem Rennen genutzt<br />
wurden, nimmt einer der Mitarbeiter sie auf.<br />
Und wenn sie schon einmal vorkamen, können<br />
wir auf YouTube und andere Quellen zurückgreifen,<br />
um ein Video zu produzieren, das zeigt, wie<br />
der Kurs beschaffen ist und wie sich das Rennen<br />
entwickeln könnte.“ Aber schauen sich die Fahrer<br />
diese Videos auch wirklich an? „Natürlich. Auch<br />
wenn es jeder macht, wann es ihm passt. Egan<br />
Bernal zum Beispiel kam bei der Tour de France<br />
an, ohne den Kurs zu kennen oder sich vorher irgendein<br />
Video angeschaut zu haben, weil er dachte,<br />
er könne sich die vielen Details bis zum Tag<br />
des Rennens nicht merken. Daher schaute er sich<br />
die Videos der nächsten Etappe am Abend vorher<br />
an, nachdem er seine Massage bekommen hatte.“<br />
Wie die Fahrer all diese Informationen erhalten,<br />
ist unterschiedlich. Direkte Kommunikation<br />
mit den Trainern und Sportlichen Leitern ist der<br />
bevorzugte Kanal. Teams wie UAE Emirates haben<br />
private Apps entwickelt, diese liefern für jedes<br />
Rennen relevante Videos, Links zum Herunterladen<br />
von GPX-Dateien über die Strecken, Wettervorhersagen<br />
und Tools wie MyWindSock (um die<br />
Windrichtung und -stärke an jedem Punkt des<br />
Rennens zu signalisieren) oder Wikiloc (um so<br />
viele Details wie möglich über die Strecke zu bekommen).<br />
Andere wie Movistar gründen Telegram-Gruppen<br />
für jedes Rennen, in denen sie<br />
Links zum Download von Informationen zur Verfügung<br />
stellen. Kleinere Teams begnügen sich<br />
mit einer E-Mail mit der Strecke auf Strava und<br />
einem PDF des Roadbooks.<br />
Sky musste sich<br />
oft anhören, dass<br />
das Fahren nach<br />
Wattzahlen zu<br />
lang weiligen Rennverläufen<br />
führt.<br />
© Getty Images<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 77
WISSEN IST MACHT<br />
© Getty Images<br />
„Ich für meinen Teil finde, dass es nicht nötig ist,<br />
die Fahrer an den Tagen vor dem Rennen mit Informationen<br />
zu überladen“, sagt Fernández, von dem<br />
sein früherer Fahrer Igor Antón sagt, er sei „einer,<br />
der bei der Rennplanung zur Avantgarde gehört<br />
und weiß, welche Hilfe wir Fahrer brauchen. Ich<br />
ziehe es vor, mir am Abend vor dem Rennen die<br />
Details genauer anzuschauen oder auch noch<br />
bei der Teambesprechung im Bus am Morgen.<br />
Bei der Teambesprechung im Bus gibt es normalerweise<br />
eine PowerPoint-Präsentation“, so<br />
Fer nán dez weiter. „Wir skizzieren den Kurs, das<br />
Wetter, die Strategie und mögliche Szenarios im<br />
Rennen, die andere Teams herbeiführen können“,<br />
sagt Guercilena.<br />
„Wir versuchen, so viele Informationen wie<br />
möglich in eine Besprechung zu packen, die maximal<br />
15 Minuten dauern sollte“, sagt Groupama-<br />
FDJ-Coach Julien Pinot. „Wir besprechen auch die<br />
Straßenbreite in wichtigen Abschnitten und wie<br />
die darauf zuführenden Straßen aussehen – mit<br />
Videos oder zumindest mit Screenshots von Google<br />
Street View.“<br />
Außerdem, so Fernández, gibt es spezielle Vorgaben<br />
für Flachetappen für Sprinter: „Bei Sprintern<br />
geht es darum, dass sie sich die Straßenkarte<br />
ansehen und sich Kurven und Kreisverkehre einprägen“,<br />
sagt er. „Die meisten haben eine beneidenswerte<br />
Fähigkeit, die letzten Kilometer zu<br />
visua lisieren und im Kopf abzuspeichern. Und<br />
dann ist da der Wind. Die Geschwindigkeit des<br />
Sprints schwankt stark, je nach Windrichtung.<br />
Daher ist die Taktik des Sprintzugs sehr stark darauf<br />
ausgerichtet.“<br />
Nach all dieser Strategie kommt die Taktik. Obwohl<br />
die Taktik oft improvisiert wird, wollen die<br />
Fahrer das Gefühl haben, dass ein kühler Kopf auf<br />
dem Fahrersitz ist, der nicht von einer Herzfrequenz<br />
von 170 Schlägen pro Minute beeinflusst<br />
wird – sie wollen eine Stimme, auf die sie sich verlassen<br />
können.<br />
„Ich mag Patxi Vila, weil er im Mannschaftswagen<br />
alles ausrechnet“, sagt Bora–hansgrohe-<br />
Fahrer Lukas Pöstlberger. „Sich darauf verlassen<br />
zu können, dass der Sportdirektor alles unter<br />
„ICH FÜR MEINEN TEIL<br />
FINDE, DASS ES NICHT NÖTIG<br />
IST, DIE FAHRER AN DEN<br />
TAGEN VOR DEM RENNEN<br />
MIT INFORMATIONEN ZU<br />
ÜBERLADEN.“<br />
BINGEN FERNÁNDEZ, SPORT-<br />
DIREKTOR DIMENSION DATA<br />
Pinot nutzte sein Wattmessgerät<br />
sehr effektiv<br />
auf der 15. Etappe der<br />
Vuelta, wo er am<br />
Covadonga siegte.<br />
Kontrolle und für alles eine Lösung hat, ist ein<br />
gutes Gefühl.“<br />
Fahrer und Sportliche Leiter müssen während<br />
des Rennens über das aktuelle Geschehen auf<br />
dem Laufenden gehalten werden, um ihre Taktik<br />
darauf einzustellen. „Während des Rennens folgen<br />
zwei Sportdirektoren dem Rennen, während<br />
ein Coach ein paar Minuten vor der Karawane den<br />
Kurs abfährt“, sagt Pinot. „Der Coach hat die Aufgabe,<br />
jedes relevante Detail zu entdecken, das in<br />
der Vorbereitung übersehen wurde, wie etwa<br />
Kreisverkehre, die nur auf einer Seite befahrbar<br />
sind, oder große Zuschauermengen an einem bestimmten<br />
Abschnitt der Straße oder nasses Kopfsteinpflaster<br />
in einem Ortskern. Er sammelt diese<br />
Infos und gibt sie an den Sportlichen Leiter weiter,<br />
der sie an die Fahrer weitergibt.“<br />
Die Teams müssen auch auf das reagieren, was<br />
ihre Rivalen machen, obwohl Allan Peiper, der<br />
2019 als Sportlicher Leiter von BMC zu UAE<br />
Emirates wechselt, sagt: „Deine eigene Taktik zu<br />
definieren ist wichtiger als versuchen zu raten,<br />
was deine Rivalen zu tun versuchen könnten.“<br />
„Um die Ausreißer in Schach zu halten, musst<br />
du wissen, wer stark ist und wer nicht“, sagt<br />
CCC-Kletterer Simon Geschke. „Bei großen Rundfahrten<br />
fährst du drei Wochen lang gegen dasselbe<br />
Peloton, sodass du jeden Fahrer kennst. Bei kleineren<br />
Rennen musst du ein paar Hausaufgaben<br />
machen. Es gibt Fahrer – wie Vasil Kiryienka oder<br />
Alexis Gougeard –, wo du niemals zulassen darfst,<br />
dass sie es in eine Ausreißergruppe schaffen,<br />
wenn du willst, dass es zu einem Sprint kommt.“<br />
„Die starken Fahrer zu kennen, ist bei großen<br />
Rennen natürlich leichter, da wir lange im Voraus<br />
wissen, gegen wen wir fahren“, sagt Guercilena.<br />
„Aber bei kleineren Rennen bekommst du am<br />
Vorabend die Startliste, und sie könnte voller<br />
Conti- und ProConti-Teams sein, auf die du nicht<br />
so häufig triffst. Wir hatten Situationen, in denen<br />
einer unserer Fahrer in einer Ausreißergruppe mit<br />
fünf anderen Fahrern war, die er noch nie in seinem<br />
Leben gesehen hatte. Deswegen stellen die<br />
Mitarbeiter am Vorabend des Rennens einige Recherchen<br />
an, um jeden Fahrer im Rennen einschätzen<br />
zu können.“<br />
Strategie und Taktik basieren oft auf der Verwendung<br />
von Wattmessgeräten. Figuren wie Alberto<br />
Contador und Nairo Quintana haben sich<br />
gegen die Geräte ausgesprochen – nach Wattzahlen<br />
zu fahren, habe das Team Sky in die Lage<br />
versetzt, einige Rennen völlig unter Kontrolle zu<br />
haben, insbesondere Bergetappen bei großen<br />
Rundfahrten, argumentierten sie.<br />
„Ja, wir sagen einigen Fahrern, wie viel Watt<br />
sie in jedem Abschnitt eines entscheidenden Anstiegs<br />
schätzungsweise treten können und müssen“,<br />
gibt Artetxe zu.<br />
Aber es ist nicht unbedingt so einfach, dass ein<br />
Fahrer einfach seinem Wattmessgerät folgt. Der<br />
78 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
WISSEN IST MACHT<br />
Apps sind heute beim Training<br />
und der taktischen Planung nicht<br />
mehr wegzudenken.<br />
„ES GIBT ETWAS ANDERES<br />
IM RADSPORT, DAS NICHT<br />
WISSENSCHAFTLICH IST“,<br />
SAGT PEIPER. „ES GEHT<br />
UM GEFÜHL, WILLENSKRAFT,<br />
INTELLIGENZ UND<br />
INTUITION … ALL DIESE<br />
DINGE SIND VERÄNDERLICH<br />
UND SCHWER ZU MESSEN.“<br />
ALLAN PEIPER,<br />
SPORT-DIREKTOR<br />
TEAM UAE EMIRATES<br />
ehemalige Sky-Fahrer Leopold König sagt: „Du<br />
kannst vorhersagen, wie viel Watt du im Schnitt<br />
treten willst. Aber wenn sich die Temperatur ändert,<br />
kannst du dich nicht darauf verlassen, weil<br />
es sich auf deinen Körper auswirkt. Es gibt viele<br />
Faktoren, die einen Einfluss darauf haben, wie viel<br />
Watt du produzierst: gut geschlafen zu haben, gut<br />
im Windschatten fahren zu können …“<br />
Auch die Charakteristika der Strecke kommen<br />
ins Spiel. Julien Pinot erklärt das anhand der Leistung<br />
seines Bruders Thibaut bei der Bergankunft<br />
in Lagos de Covadonga bei der Vuelta 2018 – eine<br />
Etappe, die der Franzose als Solist gewann. „Das<br />
Wattmessgerät war zu Beginn des Anstiegs nützlich<br />
für ihn, weil das Tempo zu hoch war und er<br />
sich entschied, die Favoriten ein bisschen ziehen<br />
zu lassen, weil er wusste, dass er einbrechen würde,<br />
wenn er so früh in den roten Bereich gehen<br />
würde. Später kam er zu der Gruppe zurück, griff<br />
an und setzte sich als Solist ab. An dem Punkt<br />
konnte er dem Wattmessgerät wirklich trauen,<br />
weil die Steigung sehr unregelmäßig war. Aber an<br />
einem regelmäßigen Anstieg ist das leichter.“<br />
„So sehr ich an Daten und Zahlen glaube, es<br />
gibt etwas anderes im Radsport, das nicht wissenschaftlich<br />
ist“, sagt Peiper. „Es geht um Gefühl,<br />
Willenskraft, Intelligenz und Intuition …<br />
All diese Dinge sind veränderlich und schwer oder<br />
unmöglich zu messen. Wenn du einen beeindruckenden<br />
VO2 max hast und dein Rad nicht beherrscht,<br />
kommst du nicht weit. Andererseits haben<br />
Fahrer mit normalen Parametern Klassiker<br />
gewonnen, weil sie clever sind. Je mehr Daten wir<br />
haben und analysieren, umso besser werden wir<br />
Radrennen verstehen. Aber in diesem Sport läuft<br />
es nicht komplett auf Daten hinaus. Seine Taktik<br />
ist unvorhersehbar.“<br />
Zurück nach Salamanca und zur Vuelta. Josemi<br />
Fernández, Sportdirektor bei Caja Rural, spricht<br />
mit Cristian Rodríguez und hört sich seine Klagen<br />
über sein ausgeschaltetes Wattmessgerät an. „Du<br />
denkst nur an die Zahlen und konzentrierst dich<br />
so sehr auf die Details, dass du manchmal vergisst,<br />
dass es bei Radrennen um Leidenschaft<br />
geht“, ermahnt er seinen Fahrer.<br />
Und Bingen Fernández sagt: „Wir können einem<br />
Fahrer so viele Informationen geben, wie wir<br />
wollen, aber er muss das Rennen fühlen und an<br />
Ort und Stelle selbst Entscheidungen treffen. Das<br />
ist kein Videospiel. Ich kann die Fahrer nicht mit<br />
einem Joystick bewegen. Gott sei Dank!“<br />
© fotopress (Peiper)<br />
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80 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
RETRO<br />
1992<br />
MENSCH UND<br />
SUPERMASCHINE<br />
„Dass Chris Boardman 1992 die olympische Verfolgung<br />
gewann, ist die erste Erinnerung, die ich an den Radsport<br />
habe. Ich hatte noch gar nichts damit zu tun, aber ich<br />
wusste, dass ich Rad fahren und so einen Helm tragen<br />
wollte. Ich ging mit meinen Freunden in den Park und wir<br />
fuhren eine Verfolgung auf dem Fußweg – wir sind<br />
gefahren, bis wir die anderen hatten.“<br />
Text Edward Pickering Fotografie Shutterstock<br />
Die Geschichte begann und endete im<br />
Velòdrom d’Horta in Barcelona in dem<br />
Moment eines frühen Mittsommerabends,<br />
an dem das Licht weicher wird und alles<br />
nach dem harten, hellen Licht des Tages in ein<br />
warmes Glühen taucht. Die Hitze strahlte von<br />
allen Oberflächen ab, sodass die ganze Nacht<br />
T-Shirt- und Shorts-Wetter war.<br />
Auf der Bahn: zwei Männer, einer auf jeder Seite.<br />
Der Brite Chris Boardman gegen den Deutschen<br />
Jens Lehmann im Finale der Einerverfolgung<br />
der Olympischen Spiele 1992. Boardman<br />
strebte – haltet euch fest, jüngere Fans mit wenig<br />
Wissen über den Radsport vor den 2000ern – die<br />
erste Radsport-Goldmedaille für Großbritannien<br />
seit 72 Jahren an, Lehmann war amtierender<br />
Weltmeister. Am Tag des Finales, dem 29. Juli,<br />
musste Großbritannien erst noch eine Goldmedaille<br />
gewinnen. Das öffentliche und mediale<br />
Interesse war enorm.<br />
Auch die britische Öffentlichkeit versprach<br />
sich viel von Boardman. Die Fans auf der Insel, in<br />
Sachen olympische Erfolge nicht verwöhnt, hatten<br />
mitbekommen, dass es ein arbeitsloser Möbelschreiner<br />
aus der Nähe von Liverpool ins Finale<br />
der Verfolgung geschafft hatte. Aber noch mehr<br />
interessierte sie, womit er fuhr.<br />
Jedes Olympia hat seinen Star oder seine prägende<br />
Geschichte. In Rio de Janeiro 2016 war es<br />
die Turnerin Simone Biles. Vier Jahre zuvor in<br />
London war es Bradley Wiggins. Peking: Usain<br />
Bolt. Aber 1992 war der größte Star – zumindest<br />
für die britischen Sportfans – ein Rad. Oder besser<br />
DAS Rad. Das Lotus Sport 108, auf dem<br />
Boardman auf der Gegengeraden des Velodroms<br />
saß, sah futuristisch aus und wirkt selbst aus der<br />
Perspektive von 2018 modern. 1992 hatten die<br />
wenigsten Radsportfans je so etwas gesehen. Es<br />
war ein geschwungener Carbonrahmen aus einem<br />
Guss mit einem einzigen Gabelbein und einem<br />
ebenfalls nur an einer Seite befestigten Hinterrad.<br />
Es war schön, stilvoll und stromlinienförmig, lackiert<br />
im legendären Schwarz und Gelb des Lotus-F1-Teams<br />
und mit organischen, schnell aussehenden<br />
Formen gesegnet.<br />
Wenn man einen Moment auswählen müsste,<br />
in dem Rennräder aufhörten, traditionell auszusehen,<br />
und anfingen, modern zu sein, könnte es<br />
der frühe Abend des 28. Juli 1992 sein. Boardman<br />
vervollständigte den futuristischen Look mit<br />
einer flachen und gestreckten Haltung und einem<br />
tropfenförmigen Helm, dessen spitzes Ende bis<br />
zwischen die Schultern reichte. Ebenso viel Aufmerksamkeit<br />
wie dem Mann, der es fuhr, wurde<br />
dem Rad geschenkt.<br />
Boardman, der einige Wochen später 24 wurde,<br />
war der Favorit, obwohl chronische Nervosität,<br />
geringes Selbstwertgefühl, einige schlechte Erfahrungen<br />
bei vorausgegangenen Weltmeisterschaften<br />
und eine trübselig-pessimistische Weltanschauung<br />
dazu führten, dass er einen Teil der<br />
Vorbereitung auf das Finale damit verbrachte, sich<br />
in die Position des Underdogs hineinzureden. Er<br />
war im Halbfinale in einer langsameren Zeit zu<br />
einem lockeren Sieg gefahren als Lehmann in seinem,<br />
sodass er auf der hinteren Geraden startete<br />
und der Deutsche auf der vorderen.<br />
Während die Augen der Sportöffentlichkeit<br />
auf Boardman gerichtet waren, hatte der Fahrer<br />
selbst versucht, alle äußeren Reize und Ablenkungen<br />
aus der Stille vor dem Rennen auszuschließen.<br />
Nur das mechanische Ticken und<br />
Klappen der Zahlen an der Countdown-Uhr vor<br />
ihm auf dem Innenfeld der Radrennbahn drang in<br />
sein Bewusstsein.<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 81
RETRO<br />
1992<br />
© Offside Sports Photography<br />
Vordergründig war das Finale in der Einerverfolgung<br />
der olympischen Spiele 1992 ein Kampf<br />
Mann gegen Mann. Viel einzelsportlicher als bei<br />
der Verfolgung geht es nicht – zwei Fahrer allein<br />
auf der Bahn. Aber Boardmans Vormarsch ins<br />
Finale war das Ergebnis einer bemerkenswerten<br />
Mannschaftsleistung gewesen. Ein Aspekt war<br />
seine Zusammenarbeit mit Lotus, die eine perfekt<br />
getimte einmalige Sache war; ein anderer die ungewöhnlich<br />
enge Beziehung zu seinem Trainer<br />
Peter Keen, einem innovativen und kreativen<br />
Wissenschaftler, der nur ein paar Jahre älter als<br />
Boardman war. Es heißt, Radsport ist ein Mannschaftssport<br />
für Einzelgänger. Aber die olympische<br />
Verfolgung 1992 war eine Einzelsportart für<br />
ein Team.<br />
SELBSTVERBESSERUNG<br />
Das Berühmteste, was Chris Boardman je sagte,<br />
war in einem Interview Anfang 1992 der Satz:<br />
„Radfahren macht mir keinen besonderen Spaß.“<br />
Die britische Radsport-Öffentlichkeit brauchte<br />
Jahre, um ihm zu vergeben oder vielmehr zu verstehen,<br />
was er eigentlich gesagt hatte.<br />
Boardman war in seiner Karriere ein von Natur<br />
aus ernster Mensch, äußerlich emotionslos,<br />
nüchtern und lakonisch, mit einem knochentrockenen<br />
Sinn für Humor. Auch heute ist er immer<br />
noch ein bisschen so, als Fernsehpersönlichkeit<br />
und Lobby ist für Radsport-Infrastruktur, obwohl<br />
er versichert, inzwischen viel entspannter zu<br />
sein. Als Teenager nannten ihn seine Vereinskameraden<br />
„Onkel Chris“, weil er für sein Alter sehr<br />
ernst wirkte.<br />
ALS TEENAGER NANNTEN IHN<br />
SEINE VEREINSKAMERADEN<br />
„ONKEL CHRIS“, WEIL ER FÜR<br />
SEIN ALTER SEHR ERNST<br />
WIRKTE.<br />
Sein Weg nach Barcelona und weiter zum Stundenweltrekord<br />
und ins Gelben Trikot verlief auf<br />
Umwegen, die auf den windumtosten Schnellstraßen<br />
der britischen Zeitfahrszene begannen.<br />
Er hatte sich seine Eltern gut ausgesucht – er<br />
wurde als Kind eines Zeitfahrer-Vaters (der in die<br />
engere Auswahl für die britischen Mannschaftsverfolger<br />
für Olympia in Tokio 1964 kam) und<br />
einer radfahrbegeisterten Mutter geboren. Da sie<br />
ihren Sohn anfangs nicht zu ihrer Leidenschaft<br />
drängen wollten, zögerten sie, den jungen Chris<br />
auf ein Rad zu setzen, und ließen ihn den Sport<br />
selbst entdecken.<br />
Boardman mag das Radfahren keinen besonderen<br />
Spaß gemacht haben, wie er später zugab.<br />
Doch er war extrem gut darin und es war ein Ventil<br />
für seine größte Liebe, das, was ihn wirklich<br />
motivierte: Verbesserung. Mit 13 Jahren nötigte<br />
er seine Eltern, ihn an seinem ersten Zehn-Meilen-Zeitfahren<br />
teilnehmen zu lassen, und fuhr<br />
29:43 Minuten. Eine Woche später trat er wieder<br />
an, nachdem er ein bisschen über Krafteinteilung<br />
und Effizienz nachgedacht hatte, und fuhr 28<br />
und ein paar Zerquetschte. Jetzt hatte es ihn gepackt.<br />
Bis zum Jahresende hatte er sich um vier<br />
Minuten verbessert. Bis zum Ende des folgenden<br />
Jahres, 1983, war er runter auf 21 Minuten und<br />
unter einer Stunde für 25 Meilen (ohne Zeitfahrlenker).<br />
1984 stellte er noch in der Jugend-Kategorie<br />
mit 52:09 Minuten einen nationalen Juniorenrekord<br />
über 25 Meilen auf.<br />
Es klingt, als wäre Boardman immer zum Großem<br />
bestimmt gewesen, doch obwohl er klar der<br />
beste junge Fahrer des Landes war, verbrachte er<br />
viel Zeit damit, nationale Meisterschaften nicht zu<br />
gewinnen. Zwei Wochen, nachdem er den britischen<br />
25-Meilen-Rekord der Junioren aufgestellt<br />
hatte, wurde er nur Fünfter der nationalen 25-Mei -<br />
len-Meisterschaft seiner Altersklasse, da er sich<br />
vor Nervosität nicht konzentrieren konnte. Auch<br />
seine Ambitionen auf der Bahn wurden vereitelt<br />
– gerade als er sich als bester Junioren-Verfolger<br />
Großbritanniens hervorzutun schien, tauchte Colin<br />
Sturgess aus Südafrika auf, ein noch frühreiferes<br />
Talent, und schlug Boardman von 1985 bis<br />
1987 locker. Erst 1988 gewann Boardman einen<br />
wichtigen nationalen Einzeltitel, den National Hill<br />
Climb, und als Sturgess 1989 Profi wurde, war<br />
der Weg für Boardman etwas freier.<br />
ZWEI SCHLAUE KÖPFE<br />
Als Peter Keen Chris Boardman das erste Mal<br />
traf, war er enttäuscht. Der Fahrer war im Winter<br />
1986/87 unfit zu einem physiologischen Test in<br />
seinem Labor am University College Chichester<br />
erschienen und lieferte vergleichsweise mittelmäßige<br />
Zahlen ab.<br />
Keen machte sich damals gerade einen Namen<br />
– erst Anfang 20, war er Dozent in Sportphysiologie<br />
geworden und hatte einschlägige Erfahrung als<br />
Trainer, da er mit dem zweifachen Profi-Weltmeister<br />
in der Verfolgung, Tony Doyle, gearbeitet hatte.<br />
Der frühere Zeitfahr-Champion der Schüler war<br />
Anfang der 1980er ins nationale Radsportprogramm<br />
gekommen und erkrankt, übertrainiert<br />
und ausgebrannt daraus hervorgegangen. Nachdem<br />
er mittelmäßige Abiturnoten (ausreichend in<br />
Mathe, mangelhaft in Physik und ungenügend in<br />
Biologie) bekommen hatte, schrieb er sich für ein<br />
Sportstudium in Chichester ein, wo er das Glück<br />
hatte, einen der innovativsten Sportwissenschaftler<br />
des Landes, Professor Tudor Hale, als Lehrer zu<br />
haben. „Als ich mit einem hervorragenden Lehrer<br />
Boardman hat’s geschafft und kassiert<br />
Lehmann im Finale der Einerverfolgung.<br />
82 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
ins Labor ging, war ich ein ganz anderer Mensch“,<br />
sagt er über sein Grundstudium. Ein Jahr später<br />
gewann er die vom Sports Council vergebene Auszeichnung<br />
„Dissertation des Jahres“. Er verbrachte<br />
lange Abende in der Universitätsbibliothek und las<br />
die Werke des Wissenschaftsphilosophen Karl<br />
Popper – der erhellende Moment kam, als er erkannte,<br />
dass es bei der Wissenschaft in ihrer<br />
reinsten Form nicht darum geht, im Klassenzimmer<br />
zu sitzen und Fakten aufzusaugen, sondern<br />
vielmehr um Wahrscheinlichkeit und Methode.<br />
„Es ging darum, Fragen zu stellen“, sagte er.<br />
Keen testete Boardman und entließ ihn mit einem<br />
Trainingsplan, den er in den folgenden drei<br />
Monaten befolgen sollte. Als er zurückkam, beschrieb<br />
Keen die Verbesserung als „verblüffend“:<br />
Der Fahrer war vier Kilo leichter und trat 50 Watt<br />
mehr. Auch da war er noch nicht überzeugt, dass<br />
Boardman ein künftiger Champion war, aber er<br />
hielt sich nur an die Zahlen (an sich damals eine<br />
revolutionäre Methode). Keen maß Puls und<br />
Wattzahlen und stellte die Werte neben die subjektive<br />
Wahrnehmung der Anstrengung, was<br />
Boardman das gab, was ihn motivierte – die Möglichkeit,<br />
seine Fortschritte aufzuzeichnen.<br />
Das Timing ihres Zusammentreffens war<br />
glücklich. Boardmans früherer Coach, Eddie<br />
Soens, war der typische feurige Motivator gewesen.<br />
Er hatte Boardmans Klasse erkannt und der<br />
zwanghaften Natur des Fahrers einen kämpferischen<br />
Antrieb hinzugefügt. Aber Keen brachte<br />
etwas anderes. Er versuchte, mit den wissenschaftlichen<br />
Methoden an das Coaching heranzugehen,<br />
die er an der Universität gelernt hatte, und<br />
fing lieber mit einem unbeschriebenen Blatt an,<br />
statt sich auf überliefertes Wissen zu verlassen.<br />
Und mit Boardman hatte er das perfekte Versuchskaninchen.<br />
Dank Boardmans angeborener Ehrlichkeit<br />
und Geradlinigkeit war die Qualität seines<br />
Feedbacks hoch. „Ich habe mit ihm schneller gelernt<br />
als mit jedem anderem, mit dem ich gearbeitet<br />
habe, weil er ein so außergewöhnlich guter<br />
und ehrlicher Kommunikator war“, sagte Keen.<br />
Keen hatte aber immer noch nicht begriffen,<br />
dass Boardman ein künftiger Champion war. Die<br />
Zahlen bei diesem zweiten Test waren beeindruckend,<br />
aber Boardmans Power war nie seine<br />
stärkste Waffe. Was ihn außergewöhnlich machte,<br />
war seine Steigerungsrate, seine Lungenfunktion,<br />
die ungewöhnlich effizient war, und die Tatsache,<br />
dass er auf dem Rad eine sehr kleine Stirnfläche<br />
hatte – er konnte effizient fahren, während<br />
er eine aerodynamische Position beibehalten<br />
konnte, die deutlich über dem Durchschnitt lag.<br />
1989 begann Boardman auf nationaler Ebene<br />
zu dominieren – er gewann die britische 25-Meilen-Meisterschaft<br />
mit einer Minute Vorsprung.<br />
Aber er und Keen hatten auch einen möglichen<br />
Weg zur ultimativen Ambition gefunden: eine<br />
Goldmedaille in der Verfolgung bei Olympia<br />
1992. 1989 war Boardman Zehnter der Weltmeisterschaft<br />
geworden. Die grob gesteckten Ziele<br />
waren: 1990 Top Sechs, 1991 Top Drei und im<br />
folgenden Jahr in Barcelona Gold.<br />
Mit niedriger Sitzhaltung und kleiner Stirnfläche<br />
war Boardman sehr aerodynamisch.<br />
Boardman fuhr bei der WM 1990 in der Qualifikation<br />
die siebtschnellste Zeit, und obwohl<br />
er im Viertelfinale ausschied, war er auf gutem<br />
Wege. Aber 1991 kam das böse Erwachen: Er<br />
fuhr in der Qualifikation der Verfolgungs-Weltmeisterschaft<br />
4:31, war aber trotzdem nur Fünfter,<br />
und seine finale Position war Neunter, obwohl<br />
er schneller als je zuvor gefahren war. Auch<br />
die Lücke zur Goldmedaille war größer geworden<br />
– er lag neun Sekunden hinter dem neuen Weltrekord<br />
von 4:22 von Jens Lehmann, der die Goldmedaille<br />
gewann.<br />
Lehmanns Leistung war atemberaubend. Er<br />
war über 4.000 Meter schneller gefahren als das<br />
Team der britischen Mannschaftsverfolger und<br />
hatte sich binnen eines Jahres um ganze 14 Sekunden<br />
gesteigert. Kein Wunder, dass Boardmans<br />
Moral am Boden war. Keen wusste, dass<br />
sein Fahrer kein Mitgefühl brauchte, sondern<br />
Beweise, dass er sich noch ausreichend steigern<br />
konnte, um in Barcelona Gold zu gewinnen. Er<br />
schaute sich Lehmanns Zeit sowie seine Größe,<br />
sein Gewicht und seine Stirnfläche an, rechnete<br />
aus, wie viel Watt Boardman würde treten müssen,<br />
um ihn zu schlagen, und arbeitete aus, was<br />
sie in den verbleibenden zwölf Monaten tun<br />
mussten.<br />
© Getty Images<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 83
Zwischen den Läufen<br />
war Boardman nervös,<br />
unso mehr genoss er<br />
seinen Titel.<br />
© Hennes Roth (D) PhotoSport<br />
ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT<br />
Wie Chris Boardman selbst wurde das Lotus<br />
Sport 108 auf den Schnellstraßen und Rundkursen<br />
der britischen Zeitfahrszene geboren. Mike<br />
Burrows, ein Ingenieur aus East Anglia, der hauptberuflich<br />
Verpackungsmaschinen entwickelte und<br />
herstellte, sich aber nebenher in der Fahrradkonstruktion<br />
betätigte, hatte Anfang der 1980er ein<br />
originelles Aero-Rad mit einem aus einem Stück<br />
gefertigten Carbonrahmen entworfen, dass er<br />
WindCheetah nannte. Burrows, der dem Klischee<br />
des exzentrischen Erfinders entsprach, wollte<br />
nicht trainieren müssen, um bei Zeitfahren schnell<br />
zu sein, und er erkannte genau, dass er dasselbe<br />
Ergebnis erzielen konnte, wenn er sein Rad aerodynamischer<br />
machte. Durch seine Erfahrung im<br />
Modellflugzeugbau und in der Fliegerei verstand er<br />
mehr von Aerodynamik als jeder Radhersteller zu<br />
der Zeit, und dies fiel damit zusammen, dass er<br />
begann, mit Carbon zu arbeiten. Jahre, nachdem<br />
er das neue Material in der Hand gehabt hatte, war<br />
seine Erinnerung ein fröhliches: „Oh, was für ein<br />
Zeug! Was können wir damit machen?“<br />
RESULTATE AUF DER BAHN<br />
Chris Boardmans größte Erfolge im Velodrom<br />
1.<br />
Landesmeisterschaft Einerverfolgung<br />
1989, 1991, 1992<br />
Olympische Einerverfolgung 1992<br />
Stundenweltrekord 1993, 1996, 2000<br />
Weltmeisterschaft Einerverfolgung 1994, 1996<br />
2.<br />
Landesmeisterschaft Einerverfolgung<br />
1987, 1988, 1990<br />
Weltmeisterschaft Einerverfolgung 1993<br />
3.<br />
Landesmeisterschaft Einerverfolgung 1987<br />
1.<br />
2.<br />
3.<br />
RESULTATE<br />
PRO JAHR<br />
84 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
RETRO<br />
1992<br />
DAS RAD FING AN, DIE<br />
AUFMERKSAMKEIT<br />
RIVALISIERENDER TEAMS<br />
ZU ERREGEN, UND DIE BCF-<br />
MITARBEITER MUSSTEN ES<br />
MIT DECKEN VERHÜLLEN.<br />
Burrows’ Inspiration für den einteiligen Monocoque-Rahmen<br />
war nicht nur Raumfahrt-Technologie<br />
und moderne Aerodynamik. Er kannte<br />
ein Rad namens Invincible, das in den 1890ern<br />
von der Surrey Machinist Company hergestellt<br />
worden war und von dem er ein Modell im Verkehrsmuseum<br />
in Coventry gesehen hatte. Das<br />
Invincible hatte nur eine Gabelscheide, und wie<br />
Burrows später sagen sollte, „ist nichts aerodynamischer<br />
als keine Gabel“.<br />
Burrows klapperte mit dem WindCheetah,<br />
das ein eckigeres Profil als das LotusSport hatte,<br />
aber erkennbar ähnlich war, die Radhersteller<br />
Großbritanniens ab, doch die waren verwirrt.<br />
Sie fragten ihn, warum er den Rahmen abdecken<br />
würde, und Burrows’ ungläubige Erwiderung<br />
war, dass dies nicht der Fall sei – die Abdeckung<br />
WAR der Rahmen. Es wurde nicht besser dadurch,<br />
dass die UCI Rahmen aus einem Stück<br />
Mitte der 1980er verbot (obwohl sie bei Zeitfahren<br />
in Großbritan nien genutzt werden konnten).<br />
Das hätte das Ende der Geschichte sein können,<br />
doch dann sah Rudy Thomann, ein ehemaliger<br />
Formel-2-Pilot und Testfahrer für den örtlichen<br />
Lotus-Autohersteller, das WindCheetah<br />
in Burrows’ Büro hängen und fragte ihn, ob er es<br />
mitnehmen und den Lotus-Konstrukteuren zeigen<br />
dürfe. Der Vorstand bei Lotus sah eine Möglichkeit,<br />
seinen Ruf als High-End-Hersteller zu<br />
nutzen und exklusive handgefertigte Räder zu<br />
bauen und zu verkaufen, und das WindCheetah<br />
war innovativ und revolutionär genug, um damit<br />
zu arbeiten.<br />
Lotus besaß das Know-how, um das Wind-<br />
Cheetah noch aerodynamischer zu machen, da<br />
man Zugang zum Windtunnel des Motoring Institute<br />
Research Association (MIRA) bei Birmingham<br />
hatte. Das Projekt fiel damit zusammen,<br />
dass die UCI ihre Vorschriften zu Monocoque-<br />
Rahmen lockerte. Jetzt fehlte nur noch eine Marketingstrategie.<br />
Thomann, ein begeisterter Radfahrer und kreativer<br />
Denker, setzte sich mit Boardman in Verbindung,<br />
wobei er die Idee bereits im Kopf hatte.<br />
Gab es ein besseres Marketing als einen britischen<br />
Fahrer, der auf einem britischen Rad zu<br />
olympischem Gold fährt? Er lud Boardman zur<br />
MIRA ein und sie verbrachten einen Tag damit,<br />
herauszufinden, wie viel aerodynamischer das<br />
WindCheetah ihn machen konnte.<br />
Anfangs lautete die Antwort: überhaupt nicht.<br />
Aber beim ersten Test hatte Boardman auf einem<br />
Rad gesessen, das für Burrows, einen viel größeren<br />
Mann, gebaut war. Man band Boardmans<br />
Arme mit Klebeband an der Unterseite des Lenkers<br />
fest und bekamen bessere Ergebnisse. Der<br />
Lotus-Aerodynamiker Richard Hill bat ihn, noch<br />
etwas tiefer zu gehen, und Boardman wurde in<br />
eine extreme Position bugsiert. Es war ein sehr<br />
strapaziöser Tag. Da im Februar im nicht beheizten<br />
Windkanal getestet wurde, war es so kalt,<br />
dass die Luftwiderstandsprofile zeigten, wie<br />
Boardman zitterte, aber die Resultate waren so<br />
gut, dass Boardman überzeugt war.<br />
Lotus kaufte die Rechte an dem Entwurf<br />
von Burrows und arbeitete 1992 an einer Rei -<br />
he von Modellen. Die neuen UCI-Regeln sahen<br />
vor, dass Räder vor Olympia bei internationalen<br />
Wettbewerben eingesetzt werden mussten, also<br />
schickte der britische Radsportverband (BCF)<br />
schlauerweise Bryan Steel, einen guten, aber<br />
nicht großartigen Verfolger, zu einem Weltcup-<br />
Durchgang ins französische Hyères, um mit<br />
dem Lotus Sport anzutreten. Die Offiziellen<br />
warfen einen Blick auf das Rad, aber es war<br />
ziemlich schwer und Steels Resultate waren<br />
nicht brillant, und so bekam der BCF es durch.<br />
Das Lotus Sport war zugelassen.<br />
Das Rad fing an, die Aufmerksamkeit rivalisierender<br />
Teams zu erregen, und die BCF-Mitarbeiter<br />
mussten es mit Decken verhüllen. Es gab einige<br />
komische Momente, als die F1-geschulten<br />
Inge nieure von Lotus zwischen den Rennen unablässig<br />
an dem Rad herumfriemelten – durchaus<br />
üblich im Motorsport, wo das Auto nach jedem<br />
Rennen auseinandergenommen wird, aber weniger<br />
verbreitet im Radsport. Der britische Mechaniker<br />
stolperte nach einer Wiederzusammenbauaktion<br />
über das Lotus Sport und stellte fest, dass<br />
die Kurbeln im 90-Grad-Winkel zueinander<br />
standen, nachdem Lotus für jede Seite einen anderen<br />
Techniker eingesetzt hatte. Doch die BCF-<br />
Mitarbeiter bekamen einen Einblick in eine andere<br />
Welt, als Hill eine Version in einem nagelneuen Lotus<br />
S4-Sportwagen nach Südfrankreich lieferte.<br />
Die finale Version, Prototyp vier, war von Fertigungsproblemen<br />
heimgesucht. Aufgrund einer Hitzewelle<br />
in Südengland härtete das Epoxidharz nicht<br />
aus, und die Ingenieure mussten nachts arbeiten,<br />
damit der Rahmen fest wurde. Aber er wurde fertig.<br />
Genau wie Boardman. Sechs Wochen vor<br />
Olympia machte er die letzten Tests auf einem<br />
Kingcycle vor einem Amstrad-Computer im Haus<br />
des Nationaltrainers Doug Dailey. Dailey war in<br />
der Küche und kochte Tee, als Keen in die Küche<br />
kam. Dieses Mal waren Boardmans Zahlen alles<br />
andere als enttäuschend. „Die Goldmedaille<br />
kommt“, sagte Keen zu Dailey.<br />
Der Juliabend im Velodròm d’Horta<br />
von Barcelona war hell und warm.<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 85
86 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
RETRO<br />
1992<br />
DIE LOTUS-POSITION<br />
Boardmans Form war hervorragend und er hatte<br />
den mentalen Vorteil, das neue Rad zu fahren.<br />
Lotus’ Behauptung, es spare zwölf Sekunden, war<br />
eine Marketing-Übertreibung, und einige Experten<br />
vermuteten, dass Boardmans neue geduckte<br />
Haltung, nicht das Rad selbst, das meiste brachte.<br />
Aber die Kombination war furchteinflößend.<br />
Bei einer Trainingssession im Velòdrom d’Horta<br />
fuhr Boardman drei Kilometer in 3:18 Minuten.<br />
Sollte er diese Geschwindigkeit einen weiteren<br />
Kilometer lang halten, wäre er im niedrigen<br />
4:20er-Bereich, vergleichbar mit Lehmann bei der<br />
Weltmeisterschaft im Vorjahr, aber auf einer Outdoor-Bahn<br />
gegenüber Lehmanns Indoor-Zeit.<br />
Es gab vier Rennen: Qualifikation, Viertelfinale,<br />
Halbfinale und Finale. Boardman gewann in der<br />
Qualifikation. Mit 4:27 war er langsamer, als er<br />
und Keen gehofft hatten, aber das waren bei der<br />
großen Hitze auch alle anderen. Er war drei Sekunden<br />
schneller als der nächste Fahrer, ein riesiger<br />
Vorsprung auf einer so kurzen Distanz. Im<br />
Viertelfinale holte Boardman den dänischen Fahrer<br />
Jan Bo Petersen ein und legte eine Zeit von<br />
4:24 hin, richtete sich in der letzten Runde aber<br />
auch sichtbar auf, um seinen Rivalen zu zeigen,<br />
dass er schneller fahren konnte.<br />
Die britische Presse hatte Wind von den Leistungen<br />
bekommen und spürte, dass sich die Geschichte<br />
der Spiele entfaltete. Boardman für seinen<br />
Teil bekam Panikattacken, und er schrieb<br />
seine Leistung später dem BCF-Psychologen John<br />
Syer zu. Abseits der Bahn fühlte sich Boardman<br />
nervös, doch im Rennen war er meisterhaft, fuhr<br />
im Halbfinale gegen den Mann statt gegen die<br />
Uhr, um frisch ins Finale zu gehen. Keen und<br />
Boardman hatten sich für das Finale 4:26 vorgenommen,<br />
um gegen Ende noch zulegen zu können,<br />
sollte Lehmann auch nur annähernd herankommen.<br />
Als die Uhr zum Start heruntertickte,<br />
war Boardman bereit.<br />
Es war nach einer Runde vorbei – Keen sagte<br />
später, dass er nach einer Runde im Velodrom<br />
wusste, dass Boardman gewinnen würde. Er war<br />
nach einem Viertel der Distanz eine Sekunde<br />
schneller und lag nach 2.000 Metern drei Sekunden<br />
vorne. Als die volle Distanz fast zurückgelegt<br />
war, näherte sich Boardman dem Deutschen und<br />
holte ihn dann ein. Die deutschen Zeitungen titelten<br />
am nächsten Tag: „Ihr F1 hat unseren Trabant<br />
geschlagen.“<br />
Die Geschichte, der Lotus überhaupt nicht widersprach,<br />
war, dass das Rad die Goldmedaille<br />
gewonnen hatte, dabei war es natürlich nicht ganz<br />
so einfach. Das Rad hatte einen klaren aerodyna-<br />
Boardman freut sich mit Gattin Sally-Anne<br />
über die soeben gewonnene Goldmedaille.<br />
mischen Vorteil, aber Lehmann<br />
fuhr ein FES-Rad aus<br />
Carbon, daher war der relative<br />
Vorteil nicht überragend.<br />
Shaun Wallace, als Radsportler<br />
ein Zeitgenosse von<br />
Boardman, der bei der Weltmeisterschaft<br />
1991 in der<br />
Verfolgung auf seinem normalen<br />
Rennrad Silber holte,<br />
fuhr bei den Titelkämpfen<br />
1992 auf dem Lotus. Das<br />
Ergebnis: noch eine Silbermedaille.<br />
Vielleicht machte<br />
das Rad gar nicht so viel<br />
aus. Das Lotus war auch<br />
schwer, und interessanterweise<br />
bildeten die Laufräder<br />
keine Linie – sie waren versetzt,<br />
weil die Bauweise es<br />
so erforderte.<br />
Man könnte argumentieren,<br />
dass eine direkte Linie<br />
von Boardmans Goldmedaille<br />
zu dem Erfolg führt,<br />
den der britische Radsport<br />
in den 2000ern genossen hat. Keens Meinung<br />
war, dass die Methode, mit der er bei Boardman<br />
arbeitete, auf jeden anwendbar sei, und das bewies<br />
er, indem er Yvonne MacGregor bei der Weltmeisterschaft<br />
2000 zu einer Goldmedaille in der<br />
Verfolgung führte. Als das Lotterie-Geld in den<br />
späten 1990ern in den Radsport floss, gründete<br />
er das World Class Performance Programme, das<br />
die Leistungen auf der Bahn bei Olympia von<br />
SIEGE<br />
Etappensiege<br />
Klassementsiege / Eintagesrennen<br />
JAHR<br />
Rad, Sitzposition und Zubehör<br />
machten Boardman 1992 schneller.<br />
SIEGE AUF DER STRASSE PRO JAHR<br />
In den Jahren nach den Olympischen Spielen war Chris Boardman auch auf der Straße erfolgreich.<br />
1<br />
0<br />
2000 an stetig verbesserte. Dave Brailsford löste<br />
ihn 2003 als Performance Director ab, und es<br />
folgten Olympiasiege, das Team Sky und sechs<br />
Tour-de-France-Titel. Die Geschichte, die 1992<br />
endete, war der Beginn einer anderen.<br />
8<br />
1 1 1 1<br />
1989 1991 1993 1995<br />
1997<br />
1999<br />
0<br />
2<br />
4<br />
5<br />
3<br />
© Hennes Roth (D) PhotoSport<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 87
WUNSCHLISTE<br />
DIE PRODUKT-HIGHLIGHTS DES MONATS<br />
88 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
ROSE<br />
BACKROAD<br />
ULTEGRA DI2<br />
3.199 €<br />
www.rosebikes.de<br />
Wer sich so viele Möglichkeiten<br />
offen halten wollte, wie sie das<br />
Backroad bietet, musste sich noch<br />
vor ein paar Jahren mindestens<br />
zwei Räder kaufen. Nun jedoch<br />
genügt der Bocholter Alleskönner<br />
mit dem großen Durchlauf den<br />
Ansprüchen an einen Straßenrenner<br />
wie an ein Offroad-Bike: Die<br />
Geometrie ist ausgewogen-sportlich,<br />
die Front nicht zu hoch;<br />
dennoch lassen sich 42er-Reifen<br />
montieren, Schutzbleche natürlich<br />
auch. Komfort bieten Flex-Stütze<br />
und Flare-Lenker, und bei einem<br />
Gewicht von 8,73 Kilo ist das Rose<br />
auch keineswegs schwerfällig.<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 89
WUNSCHLISTE<br />
DIE REGELN<br />
14,80 €<br />
www.covadonga.de<br />
Schon mal kollektiv mit Minipumpen<br />
verdroschen worden? Dies scheint allen<br />
zu drohen, die eine der zahlreichen<br />
Regeln der „Velominati“ gebrochen<br />
haben. Und das ist nicht schwer, denn<br />
den REGELN zufolge darf der Eingeweihte<br />
beim Radfahren weder nichtweiße Socken<br />
tragen noch eine Radmütze, wenn er nicht<br />
Rad fährt; auf die richtige Position des<br />
Sattels ist ebenso zu achten wie auf die<br />
Ausrichtung der Schnellspanner. Dazu<br />
kommen zahlreiche sinnvolle Benimmregeln<br />
(kein Half-wheeling, sich am<br />
Treffpunkt vorstellen), sodass man, wenn<br />
man das ganze Buch durch hat, auch als<br />
Einsteiger eine recht klare Vorstellung<br />
davon hat, wie der Hase läuft. Und<br />
irgenwann kann man dann stolz sagen:<br />
„Wir sind Radsportler. Der Rest der Welt<br />
fährt einfach bloß Rad.“<br />
90 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
WUNSCHLISTE<br />
CONTI<br />
SCHLAUCH<br />
TASCHE RACE<br />
9,90 €<br />
www.continental-reifen.de<br />
Die Conti-Tasche ist so klassisch,<br />
dass selbst die Velominati nichts<br />
dagegen einwenden können.<br />
Drinnen stecken ein Race-28-<br />
Schlauch sowie zwei flache, etwas<br />
elastische Reifenheber, die auch<br />
einer Carbonfelge nichts anhaben<br />
dürften. Also sehr praktisch, das<br />
Ganze – aber bitte so montieren,<br />
dass das Logo gut lesbar ist.<br />
ACROS ROAD<br />
DISC RACE<br />
CARBON<br />
1.350 €<br />
www.acros.de<br />
Genau 1,006 Euro pro Gramm kostet<br />
der Acros-Radsatz mit hochwertigen,<br />
in Deutschland gefertigten Naben und<br />
45 Millimeter tiefen Felgen, eingespeicht<br />
mit jeweils 24 Sapin CX-Ray.<br />
19 Millimeter Maul weite sorgen dafür,<br />
dass Cross- wie Gravel-Reifen optimale<br />
Bedingungen vorfinden. Natürlich<br />
sind diverse Achsoptionen möglich,<br />
und wer’s genau wissen will:<br />
Das Vorderrad wiegt 619,2 Gramm,<br />
das Hinderrad 724,9 Gramm.<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 91
WUNSCHLISTE<br />
ACROS<br />
GRAVEL BAR<br />
74,95 €<br />
www.acros.de<br />
Bikepacker freuen sich über Lenker wie<br />
diesen: Acros’ Alumodell (283 Gramm)<br />
ist optimal auf große Lenkertaschen<br />
zugeschnitten und mit 25 Grad „Flare“<br />
unten rund zehn Zentimeter breiter als<br />
am Oberlenker. Die Lenkerenden sind<br />
zusätzlich leicht nach außen abgewinkelt.<br />
Eine passende Umhüllung stellt<br />
das „Silicone Wrap“-Lenkerband aus,<br />
– natürlich – Silikon dar. Das geschmeidige,<br />
drei Millimeter starke Band kommt<br />
ohne Klebeschicht aus, kann also<br />
mehrmals gewickelt werden; außerdem<br />
ist es abwaschbar. Neben Schwarz und<br />
Weiß werden noch fünf weitere Farben<br />
angeboten. Zwei Rollen mit Stopfen<br />
wiegen 164 Gramm.<br />
92 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
WUNSCHLISTE<br />
TUNE<br />
LEICHTES STÜCK /<br />
KOMM VOR<br />
217 / 239 €<br />
www.tune.de<br />
Viel Komfort verspricht die Kombination<br />
aus superleichter Alustütze (176 Gramm<br />
bei 420 Millimeter Länge) mit Flex-fördernder<br />
Fachwerkstruktur und dem mi -<br />
ni malistischen Carbonsattel (94 Gramm),<br />
der auch auf langen Strecken „tauben<br />
Gliedern“ vorbeugen soll. Hört, hört!<br />
TUNE<br />
SPEEDNEEDLE<br />
20 TWENTY<br />
299 €<br />
www.tune.de<br />
Zum 20. Geburtstag des Leichtbausattels<br />
(112 Gramm) hat Tune<br />
diesem 130 Millimeter breiten<br />
Modell eine neue Schale und eine<br />
neue Polsterung gegönnt. Das<br />
Komfortwunder mit der Längsrille<br />
kann mit Leder- oder Alcantarabezügen<br />
in unterschiedlichen Farben<br />
geordert werden und dürfte die<br />
Rennmaschine lange Jahre leichter,<br />
schöner und bequemer machen.<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 93
-Schaufenster<br />
PLZ 20000 PLZ 10000<br />
PLZ 00000<br />
Max-Brauer-Allee 36<br />
PLZ 20000<br />
PLZ 30000<br />
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Werther Straße 44, 46395 Bocholt<br />
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2014<br />
DIANA<br />
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1984<br />
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DAS LETZTE WORT<br />
JENS VOIGT<br />
Wie sich Mark Cavendish während der Tour 2010 Jens gegenüber einmal sehr kameradschaftlich verhielt.<br />
„SIE HOLTEN MICH ZIEMLICH GENAU ZU<br />
BEGINN DER ABFAHRT EIN, UND HIER<br />
BEGINNT DIE SCHÖNE GESCHICHTE:<br />
SIE WURDEN SOFORT LANGSAMER UND<br />
WARTETEN NACH JEDER KEHRE AUF MICH,<br />
UM ZU SEHEN, OB ES MIR NOCH GUT GING.“<br />
Vielleicht erinnern sich einige<br />
von euch an die alte Geschichte<br />
von mir auf dem<br />
kleinen gelben Rennrad während der<br />
Tour 2010 auf der wirklich harten<br />
Bergprüfung in den Pyrenäen. Ich<br />
hatte einen ziemlich heftigen Crash,<br />
mein Fahrrad war kaputt, Ich war<br />
schwer angeschlagen und es gab<br />
keinen Teamsupport. Also lieh ich<br />
mir ein kleines gelbes Fahrrad, um<br />
einen Teil des Anstiegs zu fahren,<br />
bis mir der Teamwagen ein Ersatzrad<br />
brachte. Wenn ihr denkt, dass<br />
das eine gute Geschichte ist, dann<br />
lasst mich weitererzählen, denn eine<br />
noch viel bessere Geschichte entwickelte<br />
sich direkt danach.<br />
Während ich versuchte, noch<br />
innerhalb des Zeitlimits ins Ziel<br />
zu kommen, holte ich Mark Cavendish<br />
ein. Es gibt zwei Dinge an<br />
Mark. Er ist super-, superschnell,<br />
und er hasst die Berge. Damals fuhr<br />
er für HTC und wurde von seinen<br />
Teamkollegen Mark Renshaw, Bernie<br />
Eisel und Bert Grabsch begleitet.<br />
Bernie sah mich zuerst, und ich<br />
werde nie vergessen, was er sagte.<br />
„Heiliger Strohsack, du siehst beschissen<br />
aus, Jens!"<br />
Bernie sagte mir, ich solle im Aufstieg<br />
weiter vorfahren und dass sie<br />
mich in der Abfahrt einholen würden.<br />
Das ist es, was Sprinter in den<br />
Bergen tun. Sie geben in den Anstiegen<br />
nicht alles, sondern fahren ihr<br />
eigenes Tempo. Aber auf der anderen<br />
Seite gibt es kein Zurückhalten – sie<br />
geben in der Abfahrt Vollgas, um<br />
wieder Zeit auf das Gruppetto wettzumachen.<br />
Bernie sagte, dass ich<br />
ihnen in der Abfahrt wahrscheinlich<br />
nicht folgen könne, also war der<br />
Plan, dass sie mich im Anstieg gehen<br />
lassen, die Zeit beim Runterfahren<br />
aufholen und wir gemeinsam im<br />
Tal fahren würden.<br />
Das Problem war, dass ich ziemlich<br />
fertig war, und ich hatte nur<br />
etwa zwei Kehren Vorsprung am<br />
Gipfel des Anstiegs. Sie holten mich<br />
ziemlich genau zu Beginn der Abfahrt<br />
ein, und hier beginnt die schöne<br />
Geschichte: Sie wurden sofort<br />
langsamer und warteten nach jeder<br />
Kehre auf mich, um zu sehen, ob es<br />
mir noch gut ging.<br />
Da kommt ein Millionen-Euro-<br />
Fahrer wie Mark Cavendish, der in<br />
diesem Jahr bereits einige Etappen<br />
gewonnen hatte, vier Tage vor Paris,<br />
wo er wieder gewinnen wollte, mit<br />
drei seiner Teamkollegen, deren einziger<br />
Grund für ihre Anwesenheit<br />
darin bestand, dafür zu sorgen, dass<br />
Mark das Etappenziel sicher und<br />
gesund erreicht und so wenig Energie<br />
wie möglich verbraucht. Und alle<br />
wurden für mich langsamer, obwohl<br />
sie wussten, dass jede Sekunde, die<br />
sie warteten, bedeutete, dass sie im<br />
Tal härter arbeiten mussten, um das<br />
Gruppetto wieder einzuholen. Stellen<br />
Sie sich ihren Teammanager vor<br />
– er würde ihnen durch den Kopfhörer<br />
sagen, sie sollen weitermachen<br />
und nicht wegen mir, einem Fahrer<br />
aus einem anderen Team, ein Risiko<br />
eingehen. Aber ohne zu zögern zeigten<br />
sie Solidarität und Loyalität mit<br />
diesem alten und geschundenen<br />
Fahrer und retteten mir den Tag.<br />
Sie haben mich im Tal nie gebeten,<br />
durchzuziehen, und haben die ganze<br />
Arbeit selbst gemacht. Sie taten<br />
es aus den richtigen Gründen: weil<br />
sie dachten, es sei das Richtige.<br />
Manchmal ist Karma großartig,<br />
weil Mark am Ende einige Tage später<br />
diese prestigeträchtige Etappe in<br />
Paris gewann. Er hat mir den Tag in<br />
den Bergen gerettet und ich stehe in<br />
seiner Schuld dafür. Seit diesem Tag<br />
liebe und respektiere ich Mark - er<br />
ist ein harter Kerl und sein Herz ist<br />
am rechten Fleck. Bis heute war es<br />
eines der größten Beispiele für Fairness<br />
und Sportlichkeit, die ich je gesehen<br />
habe.<br />
Jens Voigt beendete seine Profi -<br />
karriere 2014 nach 18 Jahren.<br />
Der Berliner war einer der angriffslustigsten<br />
und beliebtesten Fahrer<br />
im Peloton. Unter anderem hielt er<br />
für 42 Tage den Stundenweltrekord.<br />
Jens und Cavendish wurden<br />
Freunde, als sie gemeinsam<br />
versuchten, es durch die<br />
Berge zu schaffen.<br />
96 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
© Getty Images<br />
FEBRUAR 2019 | PROCYCLING 97
NÄCHSTE<br />
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Übersetzungen Esther Kriegel<br />
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98 PROCYCLING | FEBRUAR 2019
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