Kamil Stoch lächelte. Fast schon stoisch winkte der 30-Jährige in die Kameras und hob zaghaft die riesigen Ski in die Höhe. Auf den Rängen im österreichischen Bischofshofen tobten Tausende, schwenkten Fahnen, bliesen in die Hörner, womöglich ist Skispringen die einzige Sportart, in der die Vuvuzela überlebt hat. Doch der drahtige Pole war im Moment seines größten Erfolgs die Antithese zum Rausch um ihn herum. Wie verloren stand er nach seinem vierten Sieg im vierten Springen der Vierschanzentournee im Auslauf der Paul-Außerleitner-Schanze von Bischofshofen.

Gleicher Ort, 16 Jahre vorher: Sven Hannawald schreit sich die Seele aus dem Leib. Euphorisch reißt er immer wieder die Fäuste in die Höhe. Um ihn toben Tausende. Der magere Mann badet in der Menge. Bilder, die sich ins Wintersportgedächtnis der Deutschen eingebrannt haben. Womöglich fremdeln viele bis heute mit dem Skisprung, bei dem dürre Männlein sich mit fast 100 Stundenkilometern von den Hügeln dieser Welt stürzen. Doch Hannawald und seinen ewigen Rekord kennen fast alle.

Nun muss er ihn sich teilen. Kamil Stoch wiederholte am Samstag Hannawalds Rekordserie: Alle vier Springen der Vierschanzentournee zu gewinnen. Den Grand Slam des Skispungs. Innerhalb von neun Tagen auf den Schanzen in Oberstdorf, Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen keinen anderen aufs Siegertreppchen zu lassen.

Ein Mythos

Die Größten des Sprungsports hatten sich vorher ein halbes Jahrhundert lang die Zähne ausgebissen. Kein Nykänen, kein Weißflog, kein Ahonen hatte es je geschafft. Der Norweger Bjørn Wirkola, der Japaner Kazuyoshi Funaki oder der Finne Janne Ahonen mussten sich nach drei Siegen in Serie im letzten Wettkampf geschlagen geben.

Die Anekdote um den Japaner Yukio Kasaya heizte dem Mythos der Tournee zusätzlich an. Dieser reiste 1972 nach drei Siegen vor dem Finale einfach ab. Er wollte sich auf die Olympischen Spiele in seiner Heimat vorbereiten.

Alle vier Springen zu gewinnen schaukelte sich allmählich zum Mythos hoch. Zu unterschiedlich seien die Charakteristika der Schanzen. Zu stark würde sich der extrem flache und lange Schanzentisch in Bischofshofen vom kurzen und steilen Tisch der Bergiselschanze in Innsbruck unterscheiden. Alle vier Wettkämpfe gewinnen? Vielleicht auf mehrere Jahre verteilt, aber nicht in einer Saison, nicht innerhalb von neun Tagen – so der einhellige Tenor der Szene. Bis Hannawald kam.

Hannawald zerbrach am Erfolg

Am Dreikönigstag des Jahres 2002 zerstörte er den Mythos und damit beinahe auch sich selbst. Der Skisprung befand sich am Zenit seiner Popularität. Die Einschaltquoten der Fernsehsender gingen durch die Decke. Sie formten aus der Traditionsveranstaltung für Kenner ein massentaugliches TV-Happening. Werbebanner und Schlagermusik zogen in die Sprungstadien ein. Sven Hannawald und Martin Schmitt, der zweite deutsche Erfolgsspringer der damaligen Zeit, waren Talkshowgäste, Werbefiguren und auf der Bild-Titelseite. Günther Jauch interviewte die hageren Männer, Deutschland sah ihnen dabei zu. Für Hannawald war es der Anfang vom Ende seiner Karriere. Er zerbrach an Erfolg und Ruhm, wurde magersüchtig, brannte aus. 2005 gab er schließlich seinen Rücktritt bekannt.

Unterschiedlicher könnten zwei Menschen kaum sein. Hannawald genoss jede Sekunde seines Triumphs, man konnte ihm dabei zusehen. Stoch hingegen ist besonnen, fast schon ein Tiefstapler. Was bei Hannawald noch eine der größten Sportleistungen des angehenden Jahrtausends war, schien bei Stoch fast schon wie ein erwartbarer Triumph zu sein. Ihm gelang eine Traumtournee.