Justiz
«Sex kann jedem zum Problem werden»

Er ist Anwalt für Sexualstrafrecht und Fernsehstar. Im Interview erklärt Alexander Stevens, was Gerichtsverhandlungen mit Schauspielerei zu tun haben und warum er lieber Täter als Opfer verteidigt.

Alexandra Fitz
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Alexander Stevens: «Ich bin Single. Mein Beruf schreckt viele ab.»

Alexander Stevens: «Ich bin Single. Mein Beruf schreckt viele ab.»

Julian Hartwig

Entschuldigen Sie, aber die Fälle, die Sie in Ihrem eben erschienenen Buch beschreiben, sind so hart, die sind doch erfunden.

Alexander Stevens: Keine einzige Geschichte hat etwas Erfundenes. Die Fälle sind eins zu eins aus meiner Akte und meiner Erinnerung.

Ist das nicht heikel, alle Fälle so detailreich zu veröffentlichen?

Die Menschen sind alle anonymisiert. Viele Fälle sind – auch wenn man es nicht glaubt – austauschbar, weil sie immer wieder vorkommen.

Warum überhaupt dieses Buch?

Ich will mit diesem Buch aufklären. Das Buch dient nicht, um meine Kasse aufzufüllen. Da verdiene ich als Anwalt mehr. Es dient dazu, die zunehmende Moralisierung aufzuzeigen und im besten Falle einzudämmen. Die Fälle sollen zeigen, dass man sehr schnell voreingenommen ist. Zugegeben es ist vielleicht etwas polarisierend und plakativ, wie ich auf die vielen Probleme im Sexualstrafrecht hinweise.

Wer soll Ihr Buch lesen?

Mir wäre es recht, wenn es jeder liest, der in einem geschlechtsfähigen Alter ist. Mann und Frau. Ich bin der Überzeugung, dass es jeden treffen kann, sei es als Opfer oder als Täter. Es geht hier nicht um eine untere Gesellschaftsschicht wie bei Einbrüchen oder eine obere wie bei Steuersündern. Sex hat jeder und das kann eben schnell zu Problemen führen.

In Ihrem Buch sind die Bösewichte schlussendlich fast immer unschuldig. Aber so ist das doch nicht in Wirklichkeit.

Natürlich könnte ich Bücher füllen mit Tätern. Aber ich will ja genau nicht das anstacheln, was alle denken. Getreu dem Motto: Die gehören alle weggesperrt, sind eh alles schlimme Leute. Sondern zeigen, dass man eine grosse Quote hat von Fällen, in denen sich vieles anders darstellt und subjektives Empfinden und Einstellung oftmals zur Vorverurteilung führen. Ein prominentes Beispiel ist Kachelmann. So einen Fall haben wir ein, zwei Mal die Woche. Es steht Aussage gegen Aussage. Ein Richter muss entscheiden, wem er glaubt.

Sie schreiben von falschen Anschuldigungen. Wie oft kommt so etwas bei Vergewaltigungen vor?

Es gibt eine Statistik, die sagt, dass 50 Prozent aller anzeigten Vergewaltigungen falsch sein sollen. Nur in einem Drittel davon wird bewusst gelogen, um aus verschiedenen Motiven heraus jemandem zu schaden. Ein Drittel erfolgt aus psychischen Krankheiten. Wir haben das überproportional häufig in Behandlungsverhältnissen. Die Patientin zeigt ihren Arzt oder Psychiater an. Das andere Drittel beläuft sich dann auf Suggestiveinflüsse, jemand anderer redet der Frau ein, dass sie vergewaltigt wurde.

Zur Person: Jurist und Schauspieler

Alexander Stevens, geboren 1981 in München, ist einer der wenigen Anwälte in Deutschland für Sexualstrafsachen mit dem Schwerpunkt Missbrauch, Vergewaltigung und Kinderpornografie. Einem breiten Publikum ist er auch durch zahlreiche Fernsehauftritte als Anwalt in verschiedenen TV-Formaten wie «Richter Alexander Hold», «Im Namen der Gerechtigkeit» oder «Galileo» bekannt. Er hat gerade das Buch «Sex vor Gericht», in dem er seine spektakulärsten Fälle schildert, veröffentlicht.

Sind also Frauen schlimmer als Männer?

In der Regel sind Männer die Täter. Aber Falschanzeigen, das ist klar ein von Frauen dominiertes Täterfeld.

Sie blicken in tiefe Abgründe. Wie kommt man zu so etwas?

Ich habe mich schon vorher auf Strafrecht spezialisiert. Jeder Strafverteidiger hat auch einmal mit Sexualstrafrecht zu tun. Aber es gibt meines Wissens keinen, der nur Sexualstrafrecht so wie ich.

Aber Sie schon?

Ja, ich mache nur sexuellen Missbrauch, Vergewaltigung und Kinderpornografie.

Warum will das niemand machen?

Weil man im Sexualstrafrecht keine Lobby hat. Ein Uli Hoeness würde sich niemals auf denselben Stuhl setzen wie ein Kinderschänder. Selbst die Straftäter unter sich haben eine gewisse Hierarchie. Der Siemens-Manager, der Steuersünden begeht, will auf keinen Fall, dass sein Anwalt auch Sexualstraftäter verteidigt.

Und warum tun Sie das jetzt?

Zu Beginn meiner Karriere hatte ich einen Fall, bei dem ein junger Mann der Vergewaltigung bezichtigt wurde. Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass er unschuldig ist. Aus mangelnder Erfahrung habe ich mich auf einen Deal mit dem Gericht eingelassen und mein Mandant hat ein Zweckgeständnis abgegeben. Er hat alles zugegeben und dafür nur eine Bewährungsstrafe bekommen. Im Nachhinein habe ich mich nur geärgert.

Was braucht man für ein Profil, um Anwalt für Sexualstrafrecht zu werden?

Man muss neutral, darf nicht voreingenommen sein. Bei vielen Kollegen, die Kinder haben, dürfte es schwer sein, bei einem Pädophilen neutral zu bleiben. Man muss gut mit Leuten reden können und darf kein abgehobener Jurist sein. Man muss auch sehr selbstbewusst sein und sexuell sehr aufgeschlossen. Die Mandanten bewegen sich oft fernab der eigenen Sexualvorstellungen und Moral. Man darf nicht gleich pikiert sein, wenn einem Sexualpraktiken geschildert werden.

Was sagt denn Ihre Partnerin zum Ihrem Job?

Ich bin Single. Meine letzte Partnerin, mit der ich auch ein Kind habe, war Staatsanwältin. Das führte täglich zu Differenzen, auch ausserhalb des Gerichts. Und wenn man nur noch streitet und nur über den Beruf redet, trennt man sich besser. Aber ich hätte auch wenig Zeit für eine feste Beziehung. Es wäre auch nicht so einfach. Mein Beruf schreckt viele ab. Lerne ich jemanden kennen, zögere ich zu sagen, was ich mache. Es ist viel Erklärungsbedarf gefordert und ich schliesse nicht aus, dass sich die eine oder andere denkt: ‹Oje, was hat der wohl für sexuelle Fantasien, wenn er so was macht.›

Es ist schon seltsam, dass Sie das Böse so fasziniert.

Ich habe eine Materie gefunden, die ich interessant und spannend finde. Sexualstrafrecht ist deswegen so spannend, weil es nie Geständnisse gibt. Es lautet meistens Aussage gegen Aussage. Die Frage ist: Wem glaubt man mehr, dem Opfer oder dem Täter? Das ist hoch spannend.

Warum gibt es keine Geständnisse?

Der Grund liegt meines Erachtens darin: Auch wenn sie verurteilt werden und ihre Schuld offensichtlich ist, wollen sie nicht, dass ihre Familie und ihre Freunde sich von ihnen abwenden, sonst haben sie niemanden mehr. Sexualstraftaten haben ja überhaupt keine Lobby. Bei uns herrscht Zero Tolerance. Wenn jemand einer solchen Tat überführt ist, wenden sich sogar die eigenen Knastbrüder von einem ab. Selbst im Gefängnis gehört man zu den Aussätzigen dieser Welt. Das versuchen Sexualstraftäter zu vermeiden, indem sie alles abstreiten. Wenn Geständnisse, dann nur Zweckgeständnisse, um das Gericht zu überzeugen, dass man eine mildere Strafe bekommt.

Ich weiss, diese Frage nervt Sie. Trotzdem: Wie kann man jemanden verteidigen, der Frauen vergewaltigt oder Kinder missbraucht hat?

Ich bin da sehr neutral und sehe mich als Organ der Rechtspflege. Ich mache keine Unterschiede, wen ich verteidige. Selbst wenn ich weiss, dass diese Tat begangen wurde und die Beweise dafür sprechen, ist es nicht meine Aufgabe, für einen Freispruch zu sorgen – der ja ohnehin utopisch ist – sondern für eine gerechte Strafe. Bei Pädophilen muss man einem Gericht vor Augen führen, dass das kein Straftäter ist, sondern dass er eine Krankheit hat, die behandelt werden muss. Dass keine Gefängnisstrafe, sondern eine Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt wichtig ist.

Verteidigen Sie mehr Opfer oder Täter?

Anfänglich war es ausgewogen. Mittlerweile vertrete ich fast ausschliesslich Täter. Auch weil es mich juristisch nicht mehr gefordert hat, Opfer zu vertreten. Das ist eine relativ einfache Materie, es geht überwiegend «nur» darum, dem Opfer die Hand zu halten und für das Opfer da zu sein.

Welche Fälle lehnen Sie ab?

Ich habe bisher noch keinen einzigen Fall abgelehnt. Das wäre mit meinem Verständnis Strafverteidiger zu sein nicht vereinbar. Ich weiss, dass viele Kollegen denken: Kinderschänder würde ich nicht vertreten. Ich bin ja auch nicht der, der einen Täter auf Biegen und Brechen vor dem Gefängnis bewahrt. Ich sorge für ein gerechtes Urteil, für einen fairen Strafprozess und dafür, dass Richter nicht voreingenommen oder befangen sind.

Haben Sie schon einmal einen Fall abgegeben?

Ja, dieser Fall ist auch im Buch beschrieben (Der Maler und sein Pinsel). Der Fall mit diesem grenzdebilen Mann ist mir selber so nahe gegangen, weil er definitiv sexuell nichts Arges im Schilde geführt hat. Ich habe mich dermassen über die Justiz echauffiert, dass ich den Fall abgegeben habe.

Herr Stevens, kommen wir noch zur Schauspielerei. Sie sind Anwalt und Schauspieler, das ist eine sehr spezielle Mischung. Wie kommt das?

Ich war von Anfang an musikalisch. War schon mit acht im Knabenchor, habe eine klassische Gesangsausbildung und sehr viel Musical gemacht. Wenn man im Gerichtssaal steht und ein Plädoyer hält, ist da sicher auch ein wenig Schauspielerei dabei. Als ich Anwalt wurde, kamen die Medien relativ schnell auf mich zu und meinten: ‹Sie sehen ganz gut aus, können Sie sich vorstellen für uns kleine Sendungen zu moderieren.› Ich wurde dann auch als Rechtsexperte für Boulevard-Medien angefragt.

Sie haben auch bei Richtersendungen wie Alexander Hold mitgespielt. Macht das Spass? Das ist doch alles nur gespielt?

Alles gespielt, alles gestellte Fälle. Wenn Leute zu mir sagen: Mensch da habt ihr ja wieder ein an den Haaren herbeigezogenen Fall gebracht. Kann ich nur antworten: Ja mag sein, aber die Fälle in der Realität sind noch viel schlimmer.

Alexander Stevens: «Sex vor Gericht: Ein Anwalt und seine härtesten Fälle», Knaur
Verlag, 272 Seiten, Fr. 11.60.