Bedrohung durch Extremismus
Linksextreme sind gewalttätiger als Rechtsextreme – die Wahrnehmung ist dennoch eine andere

Ein Aufgebot von rund 2000 Berner Kantonspolizisten stand am Freitagabend in der Bundesstadt, um eine unbewilligte Demonstration von Linksautonomen zu verhindern. Die Sicherheitsbehörden haben die Einschätzung der Bedrohungslage in den vergangenen zehn Jahren revidiert: Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) hält den Linksextremismus für gefährlicher als den Rechtsextremismus.

Andreas Maurer
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Die Polizei riegelte die Hauptstadt am Freitagabend mit einem Grossaufgebot ab, um eine unbewilligte Demonstration zu verhindern. Peter Klaunzer/Keystone

Die Polizei riegelte die Hauptstadt am Freitagabend mit einem Grossaufgebot ab, um eine unbewilligte Demonstration zu verhindern. Peter Klaunzer/Keystone

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Die Berner Kantonspolizei hat am Freitag und Samstag fast alle Polizeiwachen geschlossen. Nur fünf von sechzig sind besetzt. Alle verfügbaren Beamten standen am Freitagabend in der Hauptstadt im Einsatz.

Ein Aufgebot von rund 2000 Polizisten hatte den Auftrag, eine unbewilligte Demonstration zu verhindern. Linksautonome hatten zu einer Kundgebung «gegen faschistische, rassistische und sexistische Vorfälle» aufgerufen. Die Regierung war alarmiert, weil die Demonstration auf den Tag genau zehn Jahre nach der «Schande von Bern» terminiert wurde.

Am 6. Oktober 2007 verwüsteten Linksextreme die Stadt aus Protest gegen die SVP. Damals war die Polizei überfordert, weil sie nur 400 Beamte aufgeboten hatte. Gestern Abend nahm die Polizei zahlreiche Aktivisten schon vor Demobeginn fest.

Linke Gewalt wird unterschätzt

Die Sicherheitsbehörden haben die Einschätzung der Bedrohungslage in den vergangenen zehn Jahren revidiert. Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) hält den Linksextremismus für gefährlicher als den Rechtsextremismus.

60 Gewalttaten

Der Nachrichtendienst des Bundes registrierte 60 Gewalttaten von Linksextremen und nur 2 von Rechtsextremen im Jahr 2016.

Im vergangenen Jahr hat er 213 linksextreme Ereignisse erfasst, wovon 60 gewaltsam waren. Dazu gehören vor allem Angriffe auf Polizisten. Rechtsextreme hingegen fielen nur 23 Mal auf, wobei sie zwei Mal Gewalt anwendeten. Es handelte sich um eine Prügelei ohne ideologischen Hintergrund.

In der Schweizer Bevölkerung hingegen ist eine andere Wahrnehmung verbreitet. Gemäss einer repräsentativen ETH-Studie finden 78 Prozent der Leute, dass der Rechtsextremismus stärker bekämpft werden müsse als heute. Aber nur 64 Prozent verlangen mehr Einsatz gegen Linksextreme. Thomas Ferst, Studienleiter und Mitarbeiter des Verteidigungsdepartements, wundert sich darüber.

78 Prozent

Der Rechtsextremismus müsse stärker als heute bekämpft werden. Das finden 78 Prozent der Bevölkerung. Aber nur 64 Prozent wollen mehr Massnahmen gegen Linksextreme.

In einem soeben veröffentlichten Artikel in der Zeitschrift «Kriminalistik» schreibt er: «Interessanterweise schätzt die Schweizer Stimmbevölkerung das Bedrohungspotenzial des Rechtsextremismus höher als diejenige des Linksextremismus ein. Diese Auffassung deckt sich nicht mit der Einschätzung des NDB.»

Zu wenig Forschung

Matthias Mletzko, Extremismusforscher am Hannah-Arendt-Institut in Dresden, hat die Intensität der Gewalttaten von Links- und Rechtsextremen verglichen. Von 2000 bis 2010 habe sich das linke vom rechten Lager durch eine deutlich niedrigere Zahl der versuchten Tötungsdelikte unterschieden. Seit Beginn der neuen Dekade sei dies hingegen kein scharfes Unterscheidungskriterium mehr. Es habe eine Angleichung stattgefunden. Mletzko ist einer von wenigen Forschern, der Straftaten von Linksextremen untersucht. Er kritisiert seine Kollegen: «Viele Wissenschaftler nehmen linke Gewalt gar nicht zur Kenntnis. Die Studien dazu kann man an einer Hand abzählen.» Es fehle das Bewusstsein, dass es in Deutschland wie in der Schweiz insgesamt mehr linke als rechte Gewaltdelikte gäbe.

Einen Einblick in die linksradikale Szene gab diese Woche eine Verhandlung vor dem Zürcher Bezirksgericht. Eine Schweizerin wurde verurteilt, weil sie in Berlin an einer Serie von Brand- und Sprengstoffanschlägen beteiligt war. Die Schweiz übernahm das Strafverfahren aufgrund eines internationalen Rechtshilfegesuches. Die Frau hatte in Berlin Prominentenstatus erlangt. Als sie verhaftet wurde, organisierte die antifaschistische Szene Demonstrationen vor dem Gefängnis. Sie hatte sich den Respekt erkämpft, weil sie mit den Anschlägen auf Staatsgebäude und Luxusautos grossen Schaden und grosse Aufmerksamkeit erzielt hatte.

Umso schwieriger fiel der Frau der Ausstieg aus der Szene. Mittlerweile ist sie 49 Jahre alt und versucht den Einstieg in ein bürgerliches Leben als Primarlehrerin. Ihr Anwalt beschreibt ihre Situation: «Sie bewegte sich in einer linksextremen Szene, die wie eine Sekte autoritär geführt ist. Aussteiger gelten als Verräter und werden geächtet und bestraft.» Der Gruppendruck sei ähnlich hoch wie in der rechten Szene.

Weitere Anschläge angekündigt

Eine Brandanschlagserie findet derzeit auch in der Schweiz statt. Angegriffen werden Firmen, die in den Ausbau des Basler Ausschaffungsgefängnisses Bässlergut involviert sind. Es kursiert eine Liste mit Anschlagszielen. In den vergangenen Wochen wurden drei Bagger des Baukonzerns Implenia in den Kantonen Zürich und Aargau sowie ein Bohrkran in Weil am Rhein angezündet. In Basel brannte ein Zivilpolizistenauto. Weitere Anschläge werden auf Flugblättern bereits angekündigt. Die Szene arbeitet daran, nicht mehr länger unterschätzt zu werden.