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Von wegen ungesund – Dicke leben länger

Schlechte Ernährung, Stress, zu wenig Bewegung und auch die Gene können das Gewicht beeinflussen. Was genau Übergewicht im einzelnen Fall verursacht ist aber unklar, erklären Wissenschaftler Schlechte Ernährung, Stress, zu wenig Bewegung und auch die Gene können das Gewicht beeinflussen. Was genau Übergewicht im einzelnen Fall verursacht ist aber unklar, erklären Wissenschaftler
Schlechte Ernährung, Stress, zu wenig Bewegung und auch die Gene können das Gewicht beeinflussen. Was genau Übergewicht im einzelnen Fall verursacht ist aber unklar, erklären Wisse...nschaftler
Quelle: Infografik Die Welt
Beleibtere Menschen leben tatsächlich länger, Normalgewichtige leben dafür gesünder – das zeigen neue Studien. Warum manche aber überhaupt erst dick werden und andere nie, das bleibt umstritten.

Bauchfett ist böse, und eine schlanke Taille hält gesund. Ein gemischter Salat ist immer besser als die fettige Pizza und obendrauf noch ein Schokoladeneis. Und vielleicht sogar: Wer dick ist, kann sich schlecht zügeln und sollte lernen, sich einfach mal zusammenzureißen.

Das sind gängige Allgemeinposten zum Thema Fettleibigkeit in Deutschland, auch bei vielen Ärzten.

Aber stimmen sie wirklich? Es gibt mittlerweile neue Studien, die diese so sicher geglaubten Fakten vollständig auf den Kopf stellen. Einige Wissenschaftler wollen sogar herausgefunden haben, dass Dicke länger leben als Schlanke. Dazu gehört der Mediziner Achim Peters von der Universität Lübeck.

Seine Thesen beruhen auf den Ergebnissen der klinischen Forschergruppe „Selfish Brain“, die 2004 an der Universität eingerichtet wurde – mit Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

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Experten aus den Bereichen der Hirnforschung, Psychiatrie, Neuroendochronologie, Pharmakologie, Biochemie, Chemie und Mathematik werteten dafür insgesamt 12.000 Studien aus. Ihr überraschendes Fazit: Dicksein sei gar nicht ungesund. Vielmehr schützten ein paar Kilos zu viel sogar vor einigen Krankheiten.

Pummelige Menschen leben am längsten

Auch die Gesundheitswissenschaftlerin Ingrid Mühlhauser von der Universität Hamburg hat in ihren 2009 veröffentlichten Studien belegen können, das Dicke tatsächlich länger leben. „Die höchste Lebenserwartung liegt bei einem Body Mass Index (BMI) von 27“, sagt die Wissenschaftlerin.

Das ist ziemlich pummelig: Es entspricht beispielsweise einem Gewicht von 78 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,70 Metern.

Und was stimmt jetzt? Ist Dicksein ein medizinisches Problem – oder leben Dicke gesünder? Martin Wabitsch, Leiter der Arbeitsgruppe „Experimentelle und klinische Forschung im Bereich Endokrinologie, Diabetologie und Adipositas“ an der Universitätsklinik Ulm, sagt: „Die Studien sind alle korrekt.“

Doch er warnt auch. Würden Forschungsergebnisse aus dem Englischen übersetzt, komme es leicht zu Missverständnissen und verkürzten Darstellungen in den Medien. Außerdem handele es sich um Statistiken, die nicht einfach auf den Einzelnen übertragen werden können, im Sinne von: Ich bin dick, also sterbe ich früher, oder ich bin dick, also lebe ich länger.

Dicke sind widerstandsfähiger bei Krebs

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Er verweist dabei auf die im „Journal of the American Medical Association“ publizierten Ergebnisse einer Forschungsgruppe des Center for Disease Control and Prevention in Atlanta, USA mit 2,88 Millionen Probanden.

Ihnen zufolge ist, statistisch gesehen, die Sterblichkeit bei Menschen mit einem BMI zwischen 25 und 30, also vorhandenem Übergewicht, heute nicht mehr erhöht, sondern sogar geringer als bei schlankeren Menschen, etwa mit einem BMI von 20 – beispielsweise 58 Kilogramm bei 1,70 Metern.

Das liege daran, dass Dicke zwar ein höheres Risiko für Diabetes und Herzprobleme haben, diese Krankheiten aber heute sehr gut behandelbar sind, erklärt Wabitsch. Andererseits seien diese Menschen aber offenbar auch widerstandsfähiger bei schweren Erkrankungen, wie etwa Krebs. Außerdem erlitten sie seltener Knochenbrüche, so die Studie. Allerdings gelte auch: Ab einem BMI von 30 wird der Körper so schwer belastet, dass die Sterblichkeit wieder ansteige.

Ab einem BMI von 30 steigt die Sterblichkeit 

Es bleibt also die Frage: Wenn jemand nur ein paar Pölsterchen, also leichtes Übergewicht hat, sollte er handeln – oder nicht? Die Experten sagen: Es gelte eben, jene Folgekrankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck zu vermeiden.

Deshalb sei schlank grundsätzlich schon empfehlenswerter. Die Gründe dafür, wer aber überhaupt dick wird und warum, seien nicht leicht zu ermitteln, erklärt Wissenschaftler Wabitsch. Schlechte Ernährung, zu wenig Bewegung, Stress, und auch die Gene könnten das Gewicht beeinflussen. „Die letztendliche Ursache für Fettleibigkeit ist uns aber nicht in allen Fällen bekannt.“

An dieser Stelle jedoch widerspricht der Lübecker Mediziner und Autor des Buches „Mythos Übergewicht“ Achim Peters und überrascht mit einer ungewöhnlichen These: Übergewicht sei überhaupt keine Krankheit.

„Dicke Menschen sind weniger stressempfindlich“

Tatsächlich seien einige Kilos mehr eine Schutzreaktion des Körpers vor psychosozialem Stress – und zwar bei jedem Dicken. Das heißt, die zusätzlichen Kilos schützten den Körper vor stressbedingten Krankheiten, also Arteriosklerose, Schlaganfällen, Depressionen, Muskelschwund und Osteoporose.

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Folglich schade auch jede Diät. Wer einen Menschen also dünner machen will, werde ihn nicht gesünder machen – sondern das Gegenteil bewirken, ist Peters überzeugt. Entsprechend gebe es gar kein Übergewicht im herkömmlichen Sinne, sondern nur ein aus der individuellen Lebenssituation erwachsenes Gewicht, das exakt dem Energiebedarf des Gehirns entspricht – und genauso auch bleiben sollte.

Untersuchungen mit Probanden an der Uni Lübeck hätten ergeben: Menschen mit Übergewicht sind weniger stressempfindlich.

Stellt sich die Frage: Wird jemand, der einfach mehr isst, stressresistenter und lebt länger? Leider nein, erklärt Peters. Der Mechanismus im Gehirn, schädlichen Stress mit Übergewicht zu bekämpfen, sei mehr oder weniger angeboren – oder eben nicht. „Diesen Erkenntnissen wird sich die breite Ärzteschaft auf Dauer nicht verschließen können“, glaubt der Lübecker Wissenschaftler.

Peters Thesen haben viele Kritiker

Doch noch haben sich seine Thesen vor allem in der medizinischen Praxis nicht durchsetzen können. Mit der Forschung Peters konfrontiert, reagieren viele Experten sehr kritisch: Medizinerin Ingrid Mühlhauser beispielsweise räumt ein, dass sie seit vielen Jahren die Forschungsarbeit Peters verfolge.

Seine Theorien seien attraktiv. Doch sie kritisiert, dass er selbst bisher nur eine einzige Studie durchgeführt hat – mit nur 40 Personen. Die Bedeutung der Ergebnisse für die klinische Praxis sei daher noch völlig offen. Über die Hypothesengenerierung sei das Projekt nicht hinausgekommen.

Kritik kommt auch vom Epidemologen Gary Whitlock von der britischen Oxford University, der ebenfalls Studien über Fettleibigkeit geleitet hat und Peters Forschung kennt. Auch er spricht lieber von Hypothesen – denen es noch an Aussagekraft mangele. Er halte es für unglücklich, zu erklären, Abnehmen habe keine positiven Effekte auf die Gesundheit.

Es kommt auch auf das Verhältnis zur Muskulatur an

Ebenso ist Mario Hellbardt vom Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum für Adipositas-Erkrankungen der Universitätsmedizin Leipzig Peters Thesen gegenüber kritisch: Übergewicht sei ein komplexes Problem, beeinflusst durch vielfältige Faktoren, nicht immer nur Stress allein. Bei der gesundheitlichen Bewertung von Übergewicht komme es etwa auch darauf an, wie das Fett am Körper verteilt ist und wie hoch der Anteil im Verhältnis zur Muskulatur ist.

Er bestätigt zwar: Leichtes Übergewicht ist unproblematisch. Außerdem sollten vor allem ältere Menschen eher nicht abnehmen, weil sie dann vor allem Muskelmasse und nicht Fett abbauen. Er betont jedoch: „Kann auf lange Sicht eine Pflegebedürftigkeit durch eine Gewichtsreduktion verhindert werden, ist ein professionelles Gewichtsmanagement notwendig.“ In jedem Fall sei es wichtig, sich jeden Patienten individuell anzuschauen.

„Völlig neben der Spur“

Auch von Ernährungsexperten kommt Kritik an Peters „Mythos Übergewicht“: Der Mediziner René Pietz aus Offenbach beispielsweise arbeitet seit 20 Jahren in der Ernährungsberatung und wirbt damit, jeden seiner Patienten rund acht Kilo schlanker gemacht zu haben.

Auch hält er es für sinnvoll, zunächst die Ursachen von Übergewicht zu behandeln, anstatt allein zu einer Diät zu raten. Doch er sagt auch: Durch eine Gewichtsreduktion kann fast jeder einen besseren Gesundheitszustand erreichen.

Es möge vielleicht sein, dass fettleibigere Menschen nach einem Herzinfarkt oder Schlaganfall in einer besseren Verfassung sind – und daher auch die Sterblichkeit geringer ist. „Dennoch halte ich es für völlig neben der Spur, daraus zu folgern: Bleib doch dick, dann lebst du länger.“ Übergewicht könne ernsthaft krank machen.

Es gibt nie nur eine Wahrheit

Auch die Ökotrophologin Judith Kettler aus Herzogenrath, die ebenfalls schon viele Jahre mit Patienten arbeitet, ist mit den Thesen Peters nicht glücklich. Sie weist ebenfalls darauf hin, dass das Thema Übergewicht und seine Ursachen hochkomplex seien.

Es gebe auf jeden Fall nicht nur die eine Wahrheit oder Ursache oder Lösung – vielmehr seien sie immer ganz individuell. „Ich finde es ungünstig, wenn Experten behaupten, jetzt die eine Lösung für ein Problem gefunden zu haben“, kritisiert sie.

Doch Peters lässt sich von dieser Skepsis nicht verunsichern: „Dieses Wissen ist in internationalen Forscherkreisen längst verbreitet“, sagt er. Es habe sich eben noch nicht bis in alle Praxen und das Allgemeinwissen vorgearbeitet.

Der Wissenschaftler wünscht sich eine neue Debatte

Die Kritik, dass er es sich beim Thema Fettleibigkeit zu einfach mache, höre er zwar öfter. Aber: „Wenn man das Gehirn in den Mittelpunkt des menschlichen Energiestoffwechsels setzt, dann wird es tatsächlich so einfach“, bleibt er überzeugt.

Vielmehr sieht er das Problem woanders: Manche Mediziner verstünden seine Forschung nicht vollständig, weil ihnen die mathematische Ausbildung zum tiefen Verständnis dieser Theorie fehle. Und er räumt ein: „Es wäre traurig, wenn meine Forschungsergebnisse nur in der Schublade landen.“

Für die Zukunft wünscht er sich daher eine Debatte, die alle Fakten auf den Tisch lege. Die wird er haben. Denn auch Wissenschaftler Wabitsch bestätigt: Die Forschung zu Fettleibigkeit ist international aktuell wieder ein großer Trend.

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