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Warum die Suizidrate bei Männern höher ist

Depressionen werden bei Frauen meist schnell erkannt, diagnostiziert und behandelt – bei Männern nicht Depressionen werden bei Frauen meist schnell erkannt, diagnostiziert und behandelt – bei Männern nicht
Depressionen werden bei Frauen meist schnell erkannt, diagnostiziert und behandelt – bei Männern nicht
Quelle: Getty Images
Was ist mit den Männern los? Ihre Selbstmordrate ist dreimal so hoch wie unter Frauen. Dabei lassen sich weitaus mehr Frauen wegen Depressionen behandeln. Doch Männer sind tödlich entschlossen.

In jedem Land der Welt gibt es Menschen, die dem Leben so verzweifelt gegenüberstehen, dass sie es selbst beenden. 800.000 Menschen sind es, jedes Jahr. So unterschiedlich dabei die Suizidraten sind, so besonders die kulturellen, historischen und ökonomischen Bedingungen, unter denen Menschen durch die eigene Hand sterben, es gibt ein globales Phänomen: Suizid ist Männersache.

Selbstmordrate bei Männern fünfmal so hoch

Mancherorts ist die Suizidrate bei den Männern fast fünfmal so hoch wie unter Frauen, etwa in Russland, wie der „Welt-Suizid-Report“ der Weltgesundheitsorganisation WHO zeigt. Manchmal ist die Diskrepanz geringer, und die Suizidrate der Männer nur anderthalbmal so hoch wie zum Beispiel in Indien.

Aber überall auf der Welt entscheiden sich mehr Männer als Frauen zu diesem drastischen Schritt, aus dem Leben zu scheiden. Auch in Deutschland ist das so. Etwa ein Prozent aller Sterbefälle geht auf Suizide zurück, im Jahr 2012 waren es nach Daten des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung 9900 Menschen. 2600 von ihnen waren Frauen, 7300 Männer – fast dreimal so viele.

Dieses Gefälle in der Suizidrate erscheint paradox: Schließlich wird bei Frauen etwa dreimal so häufig eine Depression diagnostiziert wie bei Männern, eine psychische Erkrankung, die sehr häufig versuchtem und vollendetem Suizid zugrunde liegt. Doch Forscher wissen inzwischen: Es ist ein komplexes Ursachengeflecht, das zu den hohen Suizidzahlen der Männer führt.

Das Glück hängt an den Frauen

Ihre Suizide sind impulsiver als die der Frauen, ihr Entschluss zu sterben ist stärker und endgültiger, ihre Methoden sind gewalttätiger. Und, auch das eine überraschende Erkenntnis: Ihr Glück hängt an den Frauen, weit mehr als das Glück der Frauen an den Männern hängt. Wenn sich die Partnerin eines schon belasteten Mannes trennt, scheiden lässt oder stirbt, steht der so Verlassene oft vor dem sozialen und emotionalen Nichts.

Insgesamt geht ein Prozent aller jährlichen Sterbefälle auf Suizide zurück
Insgesamt geht ein Prozent aller jährlichen Sterbefälle auf Suizide zurück
Quelle: Infografik Die Welt
Zahl der Selbstmorde weltweit
Zahl der Selbstmorde weltweit
Quelle: Infografik Die Welt

Seit etwa 30 Jahren sinkt die Zahl der Suizide in Deutschland kontinuierlich, sagt Vladeta Ajdacic-Gross, der am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Psychiatrischen Uniklinik Zürich forscht. Das liegt vor allem an der wirtschaftlichen Stabilität – denn in Krisenzeiten steigen die Suizidzahlen.

Außerdem sind viele Menschen inzwischen auch aufgeklärter und aufmerksamer. Sie achten mehr auf ihre psychische Gesundheit, gehen häufiger zum Arzt und nehmen mehr Hilfsangebote in Anspruch, als das noch vor 30 Jahren der Fall war.

Die einzige Ausnahme, erklärt der Wissenschaftler, seien ältere Männer, die Sorgenkinder. 73 Prozent aller Suizide entfallen in Deutschland auf die Altersgruppe ab 45 Jahren, und meist sind es die Männer, die sich das Leben nehmen.

Suizidrate steigt im Alter

Ab 65 Jahren wird der Geschlechterunterschied in der Suizidrate deshalb noch einmal erschreckend größer. Auf eine Frau, die sich das Leben nimmt, kommen dann fünf Männer. „Das Alter bringt oft große Belastungen mit sich“, sagt Ajdacic-Gross. Im Rentenalter fällt ein großer Teil sinnstiftender Aufgaben und Beziehungen weg, gleichzeitig mehren sich Krankheiten und Schmerzen. Verwandte und Freunde sterben, oft auch der Partner. All das seien schwere Verluste, die niemand einfach so wegstecke.

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So hat ein Viertel der Verwitweten schon einmal an einen Suizid gedacht, und chronische Krankheiten spielen Untersuchungen zufolge eine Rolle in fast der Hälfte aller Suizide. „Männer tun sich mit psychischen Problemen und diesen Verlusten schwerer als Frauen im gleichen Alter“, sagt Ajdacic-Gross.

Es sei auffällig, dass sie Hilfe weniger suchen und auch schlechter annehmen als Frauen. So werden etwa Depressionen bei Frauen meist schnell erkannt, diagnostiziert und behandelt – bei Männern nicht.

Diese Erfahrung hat auch Reinhard Lindner gemacht. Er leitete einige Jahre lang die Spezialambulanz für Suizidgefährdete am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und ist jetzt Oberarzt an der Medizinisch-Geriatrischen Klinik Albertinen-Haus. An ihn werden ältere Patienten zur Begutachtung und Therapie überwiesen, die seinen Kollegen im Krankenhaus lebensmüde erscheinen.

Ehe kann Männer schützen

Er glaubt, dass es vielen Männern nicht nur ungleich schwerer fällt als Frauen, Bedürftigkeit, also Schwäche zu zeigen – sondern dass es noch ein weiteres Hindernis gibt. „Mir fällt auf, dass ältere Männer oft gar nicht die grundlegenden Voraussetzungen mitbringen, die man in einer Therapie braucht: die eigenen Gefühle zu erkennen und benennen zu können“, sagt er. „Und wer das nicht kann, kann natürlich auch nicht darüber sprechen, was ihn belastet.“

Wenn sie sich jemandem öffnen würden, dann ihrer Frau. Sie pflege oft den gesamten sozialen Kontext des Mannes mit, sagt Lindner. Fällt die Partnerin dann als emotionaler Anker weg, rächt sich das bitter. Dann wird das Seelengerüst vieler Männer tief erschüttert.

Männer, die sich das Leben nehmen, sind in den allermeisten Fällen unfreiwillig Single: verwitwet, geschieden, getrennt. „Die Ehe schützt die Männer vor einem Suizid, die Frauen aber treibt die Ehe erst dorthin“, sagt Lindner. „Das klingt plakativ, ist aber die statistische Wahrheit.“ Männer leiden häufiger unter einer Trennung oder dem Tod des Partners, Frauen dagegen leiden häufiger unter dysfunktionalen Beziehungen.“

Der Wissenschaftler meint vor allem Beziehungen, in denen Frauen Opfer häuslicher Gewalt werden, wo sie geschlagen, gequält oder vergewaltigt werden. Früher gab es für solche Frauen kaum eine Möglichkeit, dem Partner zu entkommen. Heute trennen sich Frauen eher. Das schützt sie – und macht mehr Männer zu verlassenen Männern.

Alkoholismus spielt eine große Rolle

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Aber kein Suizid entsteht allein, weil jemand verlassen wurde. Mehr als 90 Prozent aller Selbsttötungen sind unmittelbare Folge psychischer Erkrankungen, vor allem affektiver Störungen wie der Depression. Begleitet wird sie häufig von anderen psychischen Problemen, allen voran Alkoholismus, der der WHO-Studie zufolge in bis zu 50 Prozent aller Suizide eine Rolle spielt.

Auch er betrifft mehr Männer als Frauen. Das Gefühl, anderen eine Bürde und emotional von ihnen abgekapselt zu sein, ist ein typisches Zeichen der Depression – und gilt nach einer wissenschaftlichen Analyse von hinterlassenen Abschiedsbriefen als größter psychologischer Risikofaktor für vollendete Suizide.

Den Anstoß, Suizidgedanken aber tatsächlich in die Tat umzusetzen, gibt letztlich oft eine Kränkung oder Demütigung: Die Frau geht, der Chef kündigt einem, man fühlt sich öffentlich bloßgestellt und herabgewürdigt.

„Ein starker Impuls zum Suizid kann dann sehr schnell kommen – aber auch schnell wieder abflachen“, sagt Vladeta Ajdacic-Gross. „Deswegen spielt es eine so große Rolle, wie verfügbar die Mittel sind, um einen Suizid zu begehen.“

Die Telefonseelsorge bietet schnelle Hilfe

Auch das gilt vor allem für Männer. Studien zeigen, dass Impulsivität bei Männern zu Suiziden und Suizidversuchen führt, nicht aber bei den Frauen. Männer begehen öfter sogenannte Kurzschluss-Suizide – als Reaktion auf auf ein unerwartet eintretendes, sehr schmerzhaftes Ereignis.

Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, der Schmerz, den man nicht auszuhalten glaubt, und die gefühlte Einsamkeit sind dann in einem konkreten Moment so groß, dass ein schneller, der endgültige Ausweg als einzige Lösung erscheint. Daher zählt tatsächlich oft jede Minute, die der Lebensmüde nicht an eine Waffe, einen Strick oder an Tabletten kommt.

Der dringende Impuls, sterben zu wollen, kann, so stark er auch ist, bereits innerhalb einer Stunde fast gänzlich verflogen sein, sagt Vladeta Ajdacic-Gross. Manchmal reiche es auch schon, wenn in einem solchen Moment unerwartet ein Freund anrufe, um die Suizidabsicht zu stoppen, sagt Lindner.

Entscheidend ist die Aggression gegen sich selbst

Wer sterben will, will es also nicht immer gleich stark. Sind die Mittel jedoch unmittelbar zugänglich, wählen Männer im Gegensatz zu Frauen bevorzugt jene, die mit großer Sicherheit tödlich sind: erschießen, erhängen, von hohen Gebäuden springen. Dieser Unterschied in der Wahl der Tötungsmethode beeinflusst die Suizidzahlen ebenfalls.

Forscher sprechen mittlerweile von einer „lethal triad of suicide“, der tödlichen Triade des Suizids: impulsive Aggressivität, Drogen- oder Alkoholmissbrauch und Depression. Kommen diese drei Faktoren zusammen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass aus Suizidfantasien eine Suizidabsicht und daraus ein Suizidversuch wird.

Am Ende entscheidet die Aggression, die man gegen sich selbst zu richten bereit ist, darüber, wessen Unglück in einem Suizid endet und wessen nicht. Wer sich das Leben nehmen will, muss eine enorme emotionale Hürde überwinden, um sich selbst Gewalt anzutun. Dazu braucht man Aggression – und auch davon haben Männer meist mehr in sich als Frauen.

Mehr zu Depressionen bei Männern hier.

Wer Suizidgedanken hat, sollte sich an vertraute Menschen wenden. Oft hilft bereits das Sprechen dabei, die Gedanken zumindest vorübergehend auszuräumen. Wer für weitere Hilfsangebote offen ist oder sich um nahestehende Personen sorgt, kann sich an die Telefonseelsorge wenden: Sie bietet schnelle Hilfe an und vermittelt Ärzte, Beratungsstellen oder Kliniken unter der Nummer 0800/111 01 11.

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