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Deutschland Vier Gefahren

Wie Political Correctness zu Sprechverboten führt

Verpasst politische Korrektheit bloß Maulkörbe – oder stärkt sie die gegenseitige Rücksichtnahme? Verpasst politische Korrektheit bloß Maulkörbe – oder stärkt sie die gegenseitige Rücksichtnahme?
Verpasst politische Korrektheit bloß Maulkörbe – oder stärkt sie die gegenseitige Rücksichtnahme?
Quelle: Getty Images/Christian Ender
Mit der Asylkrise entflammt die Debatte um Political Correctness neu. Für Linke ist sie eine Art Religion, für Rechte Teufelszeug. Die USA geben eine Ahnung, was auf Deutschland zukommen könnte.

Sherman McCoy ist ein mieser Typ. Er betrügt seine Frau, er zockt verantwortungslos an der Wall Street, er überfährt einen schwarzen Jugendlichen aus der Bronx und begeht Fahrerflucht. Man kann durchaus auf den Gedanken kommen, dass er Strafe verdient.

Leider macht es uns Tom Wolfe, der amerikanische Autor des Bestsellers „Fegefeuer der Eitelkeiten“, nicht so leicht mit seinem Anti-Helden McCoy. Der wird nämlich nicht nur bestraft, er wird vernichtet. Vernichtet von Staatsanwälten, die zur Wiederwahl stehen. Vernichtet von ehrgeizigen Zeitungsschmierfinken, von politisch in Bedrängnis geratenen Bezirks-Bürgermeistern und einer populistischen Bürgerbewegung.

An Sherman McCoy wird symbolisch Rache geübt für alles Unrecht, das Schwarzen in den USA widerfahren ist. An ihm soll ein Exempel statuiert werden. Der weiße, westliche Mann ist nicht länger durch seine Privilegien geschützt.

Kein Fan von „Affirmative Action“: der US-amerikanische Schriftsteller Tom Wolfe
Kein Fan von „Affirmative Action“: der US-amerikanische Schriftsteller Tom Wolfe
Quelle: picture alliance / Globe-ZUMA

Wolfes Roman von 1987 ist eine radikale Abrechnung mit der amerikanischen Anti-Diskriminierungspolitik, mit der „Affirmative Action“ (einer Förderpraxis, die auf den aktiven Ausgleich bestehender Ungerechtigkeiten zielt) und der sich ausweitenden political correctness. In seinen Augen führt all dies zu neuer Ungerechtigkeit, zu moralisierender Maßlosigkeit, zu gesellschaftlicher Polarisierung und zu Denk- und Sprechverboten.

Der Blick in die USA gibt häufig eine Ahnung, welche gesellschaftlichen Trends auch auf Deutschland zukommen. Und zeigt in diesem Fall, wie weit es gehen kann mit der politischen Korrektheit, über die ja viele hierzulande schon jetzt klagen. Schaut man derzeit nach Amerika, dann hat Tom Wolfe mit seiner düsteren Prognose offenbar nicht so falsch gelegen.

Bedrohung der freien Meinungsäußerung

Die „New York Times“ zitiert eine aktuelle Studie der Fairleigh Dickinson University Vancouver, nach der 68 Prozent der US-Bevölkerung Political Correctness inzwischen für ein „großes Problem“ halten. Der republikanische Präsidentschaftsbewerber Donald Trump zielt auf den Zeitgeist und punktet ausgerechnet damit, dass er, politisch vollkommen unkorrekt, mexikanische Einwanderer als „Kriminelle, Drogendealer und Vergewaltiger“ beschimpft.

Auf der anderen Seite stehen die PC-Fanatiker. Die Zeitschrift „New Yorker“ berichtet, wie Studierende der Universität Missouri einen Studentenreporter bedrängten, der kritisch über eine „Antirassismus“-Demonstration schreiben wollte. Der „New Yorker“ widmete im vergangenen Herbst eine Titelgeschichte zwei Neuerscheinungen, die die Bedrohung der freien Meinungsäußerung anprangern („End of Discussion“ und „The Silencing: How the Left is Killing Free Speech“).

„Du kommst hier nicht rein“ kann teuer werden

Niedersachsen hat sein Gaststättengesetz um eine Anti-Diskriminierungsformel ergänzt. Clubbesitzer begehen eine Ordnungswidrigkeit, wenn Gäste wegen ihrer Herkunft oder Religion abgewiesen werden.

Quelle: Die Welt

Präsident Obama kritisierte im Herbst 2015 in einer Rede vor Highschool-Absolventen in Des Moines die zunehmende intellektuelle Enge und Intoleranz im akademischen Milieu: „Nur weil Sie Studenten eines College geworden sind, haben Sie keinen Anspruch darauf, geknuddelt, in Watte gepackt und vor anderen Meinungen beschützt zu werden!“

Wer sich in Amerika wegen seines Geschlechts, seiner sexuellen Orientierung, seiner ethnischen Herkunft, seiner Religion oder seines Alters benachteiligt fühlt, kann unter Umständen hohe Schadensersatzforderungen durchsetzen. Eignet sich die Angelegenheit auch noch für eine der gefürchteten Sammelklagen (die das deutsche Recht nicht kennt), kann es für einen verurteilten Arbeitgeber unfassbar teuer werden.

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Aus diesen Gründen achten Personalverantwortliche peinlich auf die Einhaltung von Diskriminierungsverboten und Diversity-Standards. Das bleibt nicht ohne Wirkung auf deutsche Unternehmen, die in den USA Geschäfte machen.

Fürsorgliches Verschweigen funktioniert in Asylkrise nicht

Doch von einer vergleichbaren Nervosität ist in Deutschland selbst noch nicht viel zu spüren: Der 55-jährige Chefredakteur, der der 45-jährigen Journalistin sagt, na, die Story schriebe wohl besser eine jüngere Kollegin, könnte in Amerika leicht wegen Frauen- und wegen Altersdiskriminierung vor dem Kadi landen.

Quelle: Infografik Die Welt

Hierzulande hätte der Chefredakteur nicht viel zu befürchten. Und die deutsche Wirtschaft geht nach wie vor recht entspannt mit der Tatsache um, dass es nur ein knappes Drittel Frauen in Führungspositionen gibt.

Auch deutsche Hochschulprofessoren berichten eher von Studierenden, die jede politische Festlegung vermeiden, als von radikalen „PC“-Aktivisten. Phänomene wie der feindselige Blog „Münkler-Watch“, der den renommierten Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler des Rassismus und des Sexismus zieh und mit haarsträubenden „Rezensionen“ seiner Vorlesungen terrorisierte, scheinen einstweilen eher die Ausnahme zu sein. Aber das kann sich natürlich ändern.

Bei uns ist die Debatte um die Political Correctness, die seit Beginn der 90er-Jahre mit intelligenten Beiträgen unter anderem von Cora Stephan oder Dieter E. Zimmer geführt wurde, in Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise neu entflammt.

Darum sind viele Marokkaner unter den Verdächtigen

Die Ermittlungen zu den massenhaften Übergriffen der Kölner Silvesternacht zeigen: Alle bislang Beschuldigten stammen aus Nordafrika. Von dort kamen zuletzt auch deutlich mehr Asylbewerber.

Quelle: Die Welt

Die schleppende Auskunft über die Herkunft der Silvester-Täter von Köln; ein Pressekodex, der de facto auf die Zurückhaltung von relevanten Informationen zielt; Staatsanwaltschaften und Polizei, die, wie offenbar in Kiel geschehen, bei der Strafverfolgung von Flüchtlingen andere Maßstäbe anlegen als bei einheimischen Tätern – all dies schürt Misstrauen, wenn nicht Verschwörungstheorien.

Nicht allein AfD-Anhänger und Pegida-Bürger fragen sich, ob hier Probleme systematisch totgeschwiegen werden sollen. Die Absicht mag die beste sein: nämlich keine Ausländerfeindlichkeit zu schüren. Sehr Erfolg versprechend ist die Strategie des fürsorglichen Verschweigens nicht. 60 Prozent der Bürger halten die Zahl der Flüchtlinge inzwischen für zu hoch.

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Zugleich gibt es in Deutschland überwältigend gute Gründe, mit der Meinungsfreiheit punktuell restriktiver umzugehen als in anderen Ländern. Volksverhetzung und die Leugnung des Holocaust sind zu Recht verboten. Man fragt sich, was die „Junge Freiheit“, das intellektuelle Sprachrohr der „Neuen Rechten“, genau meint, wenn sie die politische Korrektheit der „Medienlinken“ anprangert: „In unserer Öffentlichkeit herrscht keine Waffengleichheit. Die Medienlinke hofiert die Linken und denunziert die Rechten.“

Haben wir Tabus in Deutschland? Gibt es Sprechverbote?

Ganz abgesehen davon, dass man gut darüber streiten kann, welche Medien heute noch eindeutig als „links“ zu verorten sind – verläuft der Mainstream nicht längst jenseits von rechts und links? – stellt sich die Frage, welche Freiheit hier verteidigt wird:

Pegida-Bündnis will europaweit Stärke demonstrieren

Das Pegida-Bündnis will im Februar auf einer "europaweiten Pegida-Rallye" Stärke demonstrieren. Das fremdenfeindliche Bündnis spaziert seit über einem Jahr fast jeden Montag durch deutsche Städte.

Quelle: Die Welt

Die Freiheit von Tatjana Festerling, gewählte Volksvertreter unwidersprochen „volksverratend“ und „volksverhetzend“ zu nennen und den Umgang mit den verhassten Systempolitikern in einen suggestiven Kontext mit Mistgabeln zu bringen? Die Freiheit von Pegida, Puppen der Bundeskanzlerin und des Vizekanzlers an Galgen herumzutragen? Dass es darauf unfreundliche politische und nötigenfalls auch strafrechtliche Antworten gibt, mag für die Rechte ja ungemütlich sein. Denunziation ist es nicht.

Dass die politische Rechte den Vorwurf der Political Correctness benutzt, um ihre antidemokratische „Wir können auch anders“-Rhetorik zu immunisieren, darf allerdings nicht den Blick dafür trüben, was womöglich wirklich falsch läuft zwischen der tonangebenden politisch-medialen Klasse und vielen nicht tonangebenden Bürgern.

Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa konstatiert eine fundamentale Entfremdung dieser Bürger durch den „Resonanzverlust“ der Politik: Diese Politik hört offenbar einfach nicht mehr richtig zu. „Die Kommandobrücken werfen kein Echo zurück“, schreibt Rosa.

Heinz Bude ist Soziologe und Hochschullehrer
Heinz Bude ist Soziologe und Hochschullehrer
Quelle: picture alliance / dpa

Der Soziologe Heinz Bude spricht vom „angemaßten Wissen“ der Tonangebenden, gegen das aufbegehrt, wer auch nur irgendeinen Ausschnitt der Wirklichkeit genau kennt.

Haben wir Tabus in Deutschland? Gibt es Sprechverbote? Angemaßte Sprachregelungen, bei deren Verletzung es ungemütlich wird?

Es lassen sich vier strukturelle Belastungen des öffentlichen politischen Gesprächs ausmachen. Und die haben rein gar nichts damit zu tun, dass man seine individuellen Probleme mit Schwulen und Lesben, wenn man sie denn hat, gefälligst für sich behält. Letzteres war übrigens nie eine Frage der PC, sondern immer eine Frage der ganz gewöhnlichen bürgerlichen Höflichkeit.

Erstens: Seit fast 20 Jahren – SPD-Kampa 1998! – ist die deutsche Politik extrem PR-getrieben. Authentizität wird simuliert, Parteitage und Politikerauftritte immer stärker inszeniert. Unvollkommenheit und Fehler sollen möglichst nicht sichtbar werden. Die Menschen merken aber, dass es sich um uneigentliche Kommunikation handelt.

„Politische Programme vermögen die Bürger so lange nicht zu berühren und zu bewegen, wie sie ihnen als ,notwendige Strukturanpassungen‘ oder ,alternativlose Sachzwangpolitik‘ angesonnen werden. ... Das Problem, auf das Bewegungen wie Pegida ... reagieren und das ihren Nährboden bereitet, sind nicht die Flüchtlinge, die Ausländer oder die Muslime, selbst wenn deren Anhänger das glauben mögen und deren Organisatoren das geschickt vorgaukeln“, schreibt Hartmut Rosa: „Das Problem liegt darin, dass die Resonanzachse zwischen Politik und weiten Teilen der Bevölkerung gebrochen ist, dass ihnen Politik nicht mehr zu antworten scheint.“

„Kulturpessimismus“ würgt jede Debatte ab

Zweitens fehlt, vielleicht, doch etwas mehr Selbstkritik der Medien – oder Kritik der Medien untereinander. Sind sie unfehlbar? Haben sie nicht jahrelang friedlich mit dem oben zitierten Pressekodex gelebt? Wer kann eigentlich sie kritisieren, wer dringt zu ihnen durch? Seit die alten Rechts-links-Gegensätze auch in Redaktionen verschwommen sind, wirkt der Medienbetrieb auf Leser und Zuschauer offenbar immer hermetischer. Nach einer Umfrage von Infratest dimap aus dem vergangenen Jahr vertrauen knapp zwei Drittel der Bevölkerung den etablierten Medien nur noch wenig oder gar nicht.

Drittens: Die Zeiten werden nicht übersichtlicher, auch nicht für die wahlentscheidende Mittelschicht. Zwar ist Deutschlands wirtschaftliche Situation im Augenblick entspannt, aber das bedeutet nicht, dass auch alle angstfrei leben. Man kann zum Beispiel Angst haben, dass soziale Gerechtigkeit am Ende immer ein Nullsummenspiel ist und dass also die Flüchtlinge zumindest eine neue Konkurrenzsituation schaffen. Man kann Angst vor Terror haben.

Man kann fürchten, dass das politische System instabil wird, vielleicht sogar, weil man selbst nicht genug für es tut. Man kann die sehr berechtigte Angst haben, dass das Bildungssystem überfordert ist – und dass es den eigenen Kindern später vielleicht schlechter gehen wird als einem selbst. In Deutschland ist es aber schwer, diese Ängste auszusprechen, weil „Kulturpessimismus“ in Reaktion auf ein brillantes, vielfach missverstandenes Buch von Fritz Stern aus dem Jahr 1959 bei uns als gefährliches, „rechtes“ Gefühl gilt. Jede Debatte lässt sich mit dem Hinweis auf „Kulturpessimismus“ umstandslos abwürgen. Nur vergehen davon die Ängste nicht.

Widersprüche aushalten!

Viertens herrscht bei uns seit den 2000er-Jahren eine Art von Machbarkeitsoptimismus, den man fast eher in Amerika vermutet hätte. Es ist, das muss in Richtung der Rechten betont werden, nicht verboten, ihm zu widersprechen. Es macht nur auch nicht besonders viel Spaß. Nicht nur im Justemilieu sprengt man ein Abendessen etwa mit der These, dass das Internet uns langfristig mehr Schaden als Nutzen bringen wird (Kulturpessimist!).

Oder mit der Frage, ob sehr kleine Kinder in der Krippe nicht doch eher untergehen als bei einer liebevollen Person zu Hause (Mütter zurück an den Herd?!). Oder wenn man Zweifel an den unbegrenzten Möglichkeiten der „Inklusion“ erhebt (Hast du was gegen Menschen mit Behinderungen?). Oder wenn man behauptet, Kindern mache die Scheidung ihrer Eltern doch etwas aus (Frontalangriff auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit).

Was brauchen wir also? Eine weniger durchgestylte Politik. Weniger selbstgerechte Medien. Das Zulassen von Skepsis und Angst. Einen Gang runterschalten beim Zweckoptimismus. Und das Schwerste überhaupt: Widersprüche aushalten. Das wäre der Wirkstoff-Cocktail gegen eine politische Polarisierung wie in den USA. Schaffen wir das?

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