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Dank einem Tinnitus habe ich ein Jahr lang die Hölle erlebt

Wenn du Sonntagnachmittag nach einer langen Clubnacht aufwachst, hast du vielleicht unangenehmes Pfeifen im Ohr, was nach ein paar Stunden wieder verstummt. Bei mir war das anders.

Wenn du Sonntagnachmittag nach einer langen Clubnacht aufwachst, geht es dir meistens ziemlich scheiße: Dein Schädel brummt, du stinkst nach Zigarettenrauch und hast einen üblen Geschmack im Mund. Als wäre das nicht unangehnehm genug, hast du vielleicht noch ein Pfeifen und Zischen in den Ohren. Diese Geräusche haben auch eine Bezeichnung: Tinnitus. Der schreit dir genau dann ins Ohr, wenn du dein Gehör mit zu viel Lärm gequält hast und am Vorabend im Rausch auf alle Warnsignale geschissen hast. Aber das ist OK—man ist nur einmal jung: Im Normalfall wirst du nach ein, zwei Tagen schon wieder davon erlöst. Falls du denn öfters auf alle Warnsignale scheißt, solltest du Folgendes wissen: Tinnitus kann dich auch Wochen, Monate oder noch länger begleiten. Wenn du Pech hast, bleibt er für die Ewigkeit. Dann kannst du dir echt gratulieren.

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Ob du einen Tinnitus bekommst, hängt nicht nur davon ab, wie oft und wie stark du Party machst. Abgesehen von Lärm gibt es eine Menge andere Ursachen: Angefangen von Stress, Bluthochdruck, Kiefer- und Zahnproblemen oder Nackenverletzungen zählt man heute etwa 200 verschiedene Faktoren. Vielleicht fragst du dich, warum man so einen big Deal aus dieser Sache macht. So ein Ton tut ja niemanden was. Nun, ich hatte ein Jahr lang Tinnitus und kann dir sagen: Es war verdammt scheiße.

Bei mir war es ein pulsierendes Zischen, das sich so anfühlte, als würde es sich durch meine Schädeldecke bohren. Mir fiel es auf, als ich von einem sehr, sehr stressigen Arbeitstag heimkam und mich der Scheiß einfach nicht einschlafen ließ. Warum mir das passiert ist, kann ich nicht sagen. Als wahnsinniger Konzertfanatiker habe ich meine Ohren schon viel zu oft mit Lärmpegeln beleidigt. War das jetzt die Rache für den jahrelangen Missbrauch? Was auch immer der Grund war—es ging nicht weg und es machte mich wahnsinnig. Ich fühlte mich irgendwie isoliert und im eigenen Körper gefangen. Ich konnte nicht—wie bei so vielen anderen Sachen im Leben—alles stehen und liegen lassen, um das Weite zu suchen. Der Piepston begleitete mich einfach überall hin. Das ist eine ziemliche Härteprobe, die ich auch im Alltag durchlebte: So hatte ich Schlafprobleme—die bekam ich halbwegs mit „white noise“ in den Griff. Das ist Weißes Rauschen, das den Tinnitus maskiert und andere Lärmgeräusche abschwächen kann. Ich hatte so etwas wie eine Best Of-Rauschkollektion: pink noise, blue noise, brown noise— you name it. Irgendwann wurde ich kreativ: Ich stellte einen Ventilator neben das Bett und und ließ mich vom Summ-Geräusch in den Schlaf hypnotisieren. Duschen bekommt ebenfalls eine ganz neue Bedeutung: Der lautstarke Duschkopf befreite mich von der Zisch-Belästigung ganz gut und ließ mich zur Vernunft kommen. Ich verliebte mich in das Geräusch von Regen. Es gibt nichts Besseres, als fette Regentropfen, die nachts auf die Fenster klatschen und so das Tinnitus-Geplärre abschwächen.

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Die Konzentration ließ ebenfalls nach—ab und zu fragte ich mich, wie begriffsstutzig ich eigentlich sein kann, als ich Satzinhalte trotz mehrmaligem Lesens nicht checkte. Wenn du nicht lernst, den Tinnitus auszublenden, lenkt er dich pausenlos ab. Selbst Musikhören hilft nicht wirklich. Dieses Zischen bohrte sich schon so stark in den Schädel, dass nur irgendwelche Metal-Bands für Ablenkung sorgten, die es aber gleichzeitig auch schlimmer machten. Ein Teufelskreis. Viel Trost holte ich mir von den ganzen Celebrity-Listen, die angaben, welche (Rock-)Stars denselben Scheiß durchmachen wie ich.

Ich entwickelte eine hohe Affinität zu HNO-Ärzten, die so etwas wie meine Ersatzpsychologen wurden und ziemliche Abneigung gegenüber Arschlöchern, die mir im Internet irgendwelche Tinnitus-Heilmitteln unterjubeln wollten und meine Hoffnung als Geldanlage benutzten. Shame on you. Besonders schmerzvoll war meine daraus resultierende Konzertabstinenz—ich hielt es für sehr sinnvoll, mich eine Zeit lang von lautstarken Gehörextasen fernzuhalten und starb innerlich tausend Tode, als ich meinen Bands nach und nach den Laufpass gab. Später traute ich mich mit fettem Gehörschutz auf meine Gigs und gab mich mit dumpf-klingenden Live-Versionen meiner Lieblingssongs zufrieden.

Die Behandlungsmöglichkeiten für Tinnitus sind ziemlich begrenzt. Ein paar Kliniken pumpten mich mit Cortison-Infusionen voll oder boten ein Retraining-Therapie an, wo ich lernen sollte, meinen Tinnitus auszublenden. Ich probierte auch andere Methoden aus, die euch jetzt aber erspare. So etwas wie Suizid-Gedanken blieben mir zum Glück erspart. Dabei stolperte ich immer wieder auf dieses Thema, wenn ich mich nachts durch bedrückende Tinnitus-Foren quälte. Die Leute sprechen dort von noch viel schlimmeren Umständen. Wie schon gesagt, Tinnitus ist verdammt scheiße.

Ich weiß nicht genau, was der Grund war, aber nach etwa einem Jahr verschwand er plötzlich wieder. Kurz davor verabschiedete ich mich von meinem 60 Stunden-Job und machte mit meinem Studium weiter. Ich schrieb Kopfhörer auf meine Todsünden-Liste und vermied Lärm, wie katholische Priester Black Metal-Konzerte. Was auch immer mich von dem Scheiß erlöste, ich lebte wieder ein normales Leben. Lag es vielleicht daran, dass ich meinen Ohren eine Auszeit gegönnt hatte oder war es vielleicht eine körperliche Reaktion auf meine damalige Stressempfindlichkeit? Um ehrlich zu sein, war es mir auch egal. Ich war davon erlöst.

Manchmal liege ich heute einfach im Bett, lege iPhone und Laptop zur Seite und genieße nichts anderes als Stille. Das war nämlich etwas, was ich mir ein Jahr lang wünschte—jeden Tag. So merkwürdig das auch klingt, es ermöglichte mir, Dinge im Leben anders zu betrachten. Ich nehme Vieles nicht mehr als selbstverständlich wahr und entdeckte durch den Alleinkampf meine persönlichen Grenzen. Es ist kaum zu glauben, was ein simples Geräusch alles bezwecken kann und wie anfällig die Psyche auf so etwas reagiert. Abgesehen davon darf man Tinnitus nicht einfach auf laute Konzerte oder Clubnächte schieben, sondern sich zuerst generell Gedanken machen, was im eigenen Leben schief läuft. Es steckt oft deutlich mehr dahinter.

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