Am G20-Gipfel ging es um Afrika. Die Not auf dem Kontinent ist nach wie vor gross, die Entwicklungshilfe oft nicht zielführend. Dabei gäbe es durchaus Anhaltspunkte, was Afrika weiterbringen würde.
Wolfgang Drechsler, Kapstadt
In Afrika brodeln seit langem Kräfte, die den Kontinent zerreissen und deren Druckwellen auch Europa massiv erschüttern könnten. Aktuelle Prognosen der UNO gehen davon aus, dass sich die Zahl der Afrikaner bis zum Jahr 2100 mehr als verdreifachen wird – von derzeit 1,3 Milliarden auf 4,5 Milliarden. Woher die Schulen, Krankenhäuser, Strassen und vor allem die Millionen an Jobs für die vielen jungen Menschen in einem Kontinent ohne Industrie, Institutionen und Infrastruktur kommen sollen, weiss heute niemand.
Erste Anzeichen dessen, was sich in Afrika zusammenbraut, sind derzeit in Italien zu sehen. Kein Tag vergeht, an dem nicht Hunderte von Migranten in seinen überlasteten Häfen ankommen. Bis zum Jahresende werden es wohl 300 000 Menschen sein, die allein über die Mittelmeerroute via Libyen gekommen sein werden. Das sind mehr als je zuvor. Während auf Konferenzen, aber auch in den Medien, zuletzt der Aufstieg Afrikas gefeiert wurde, sehen vor allem jüngere Afrikaner in der gefährlichen Flucht über das Wasser oft den einzigen Ausweg aus politischem Stillstand und wirtschaftlicher Not.
Gross ist deshalb in Europa die Sorge, die Migration aus dem Süden könne nun aus dem Ruder laufen und seine Länder überlasten. Italien warnt bereits vor einem ähnlichen Kontrollverlust wie ihn Deutschland im September 2015 erlebt hat. Schiere Panik hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel nun bewogen, den Nachbarkontinent zu einem Schwerpunkt des G20-Gipfels zu machen, dem mit Südafrika bezeichnenderweise nur ein einziges seiner insgesamt 54 Länder angehört.
Immerhin geht es anders als bei früheren Gipfeln dieses Mal nicht um eine Aufstockung der klassischen Entwicklungshilfe, sondern um die Ansiedlung von Kleinindustrie und mögliche Wirtschaftspatenschaften. Eine stärker zwischen Politik und Wirtschaft abgestimmte Entwicklungszusammenarbeit könnte in der Tat manches effizienter machen, etwa durch die Verzahnung von Bildungsprojekten der Entwicklungshilfe mit Ausbildungsprojekten von Unternehmen.
Ob es jedoch sinnvoll ist, aus Angst vor einer drohenden zweiten Flüchtlingswelle, Patenschaften für ein paar ohnehin besser regierte Länder zu übernehmen statt die tieferen Ursachen wie die Bevölkerungsexplosion anzugehen, darf nach den Erfahrungen der Vergangenheit bezweifelt werden. Wie ambivalent die Rolle der Helfer seit langem in Afrika ist, zeigt die Drohung der Italiener, aus Angst vor einem staatlichen Kontrollverlust womöglich schon bald keine Schiffe internationaler Hilfsorganisationen (NGOs) mehr an Land zu lassen, die derzeit im Mittelmeer Migranten aufnehmen. Vielen NGOs wird vorgeworfen, mit ihren Rettungsschiffen, Flüchtlinge anzulocken und die Lage dadurch zu verschärfen.
Auch ist unlängst bekannt, dass durch den steten Geldzufluss die Korruption in Afrika gefördert wird. Die Idee, mit Geld wirtschaftliche Entwicklung zu erzwingen, sei so alt wie falsch, schreibt Volker Seitz, Autor des Buches «Afrika wird arm regiert» und lange Zeit Diplomat auf dem Kontinent. Statt Geld in moderne Maschinen für den Strassenbau zu stecken, empfiehlt er, erst einmal billige Jobs zu schaffen. Auch reicht es nicht, ständig Geld für eine bessere Regierungsführung nach Afrika zu schicken, um am Ende alle undemokratischen Auswüchse dort zu tolerieren.
Latente Schuldgefühle seitens des Westens wegen der Kolonialzeit haben dazu geführt, dass Europa selbst gegenüber repressiven Regimen in Afrika kaum Druck ausübt – und damit den Status quo dort zementiert. Auch könnten die vielen trägen Regierungen in Afrika, etwa durch eine strikte Kopplung von Hilfsgeldern an eine vorausschauende Bevölkerungspolitik, gedrängt werden, die aberwitzig hohe Geburtenrate mit weit mehr Nachdruck als bislang einzudämmen, schon weil derzeit jeder kleine Fortschritt buchstäblich gleich wieder aufgefressen wird.
Im Westen schreckt man jedoch gerade vor Forderungen nach kulturellen Eingriffen in Afrika schnell zurück – aus Angst, in die rechte Ecke gestellt zu werden. Die gleiche Sorge erklärt auch die Neigung zur steten Selbstgeisselung, etwa wenn Dritte-Welt-Bewegte über all die angeblich vom Westen errichteten Handelsbarrieren klagen, die den Aufschwung Afrikas verhindern würden. Dabei sind inzwischen fast alle subventionierten Agrarexporte aus Europa offiziell abgeschafft. Auch können fast alle afrikanischen Staaten, weil sie zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt zählen, quasi alles zoll- und kontingentfrei in die EU exportieren – ausser Waffen.
Besonders bedrückend ist, dass durch falsche Behauptungen der Eindruck erweckt wird, der Abbau der wenigen verbliebenen Handelsschranken würde fast automatisch die Wende zum Besseren in Afrika bringen. Gleichzeitig werden seine unfähigen Führer aus der Verantwortung entlassen, obwohl sie es seit Jahren versäumen, ihre Volkswirtschaften zu diversifizieren oder dort auch nur ein Minimum an Industrie anzusiedeln.
Trotz des (aus der Not geborenen) Umdenkens gilt es, realistisch zu bleiben. Für eine schnelle Trendwende ist es zu spät, zu viel Zeit seit der Unabhängigkeit Afrikas in den letzten 60 Jahren vergeudet worden. Inzwischen sind mehr als 50 Prozent aller Afrikaner jünger als 15 Jahre – und völlig unzureichend für die Zukunft gerüstet.
Die alten Denkschablonen werden erst dann aufbrechen, wenn sich Afrika nicht länger hinter der kolonialen Vergangenheit verschanzt und glaubt, seine Entwicklung als eine Art Kompensation für getanes Unrecht an den Westen oder neuerdings auch an China auslagern zu können. Denn retten können Afrika am Ende nur die Afrikanerinnen und Afrikaner allein.