Stoppt die Entwicklungshilfe

Kann man einem Land helfen, wenn es keine stabilen Institutionen, keine unabhängige Justiz und keine solid verankerte Verfassung hat? Nein, sagt die senegalesische Autorin Ken Bugul. Afrika müsse lernen, auf eigenen Füssen zu stehen.

Ken Bugul
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Solange man sich im Westen nicht wirklich dafür interessiert, was in Afrika passiert, ist jede Hilfe ein Schlag ins Wasser. (Bild: Rebecca Blackwell / AP)

Solange man sich im Westen nicht wirklich dafür interessiert, was in Afrika passiert, ist jede Hilfe ein Schlag ins Wasser. (Bild: Rebecca Blackwell / AP)

Heute gibt es in Afrika eine ganze junge Generation, die völlig desorientiert ist. Sie ist inmitten von Korruption und politischer Misswirtschaft aufgewachsen, in einer zunehmend materialistischen Gesellschaft, an der teilzuhaben sie nicht die Mittel hat. Diese Jugendlichen stellen mehr als die Hälfte der afrikanischen Gesellschaft; sie haben weder Schul- noch Berufsbildung, keine Zukunft und keine geistigen Werte, auf die sie zurückgreifen können.

Meine eigene Kindheit und Jugend war alles andere als einfach; aber in der Bildung fand ich zumindest Wertmassstäbe. Wenn ich manchmal nichts zu essen hatte, konnte ich immer noch ein Gedicht lesen, eine Landschaft betrachten, um daraus eine Art Nahrung zu ziehen: Ich hatte die geistigen Kapazitäten, einen materiellen Hunger in etwas Geistiges zu transformieren. Die Jugendlichen heute haben das nicht mehr. Natürlich brauchen sie daneben auch die Fähigkeiten und Chancen, die ihnen tatsächlich Brot auf den Tisch bringen. Diese Probleme müssten dringend angegangen werden, denn andernfalls wird der Kontinent die Welt destabilisieren. Die Migrationsströme werden zunehmen, und niemand wird sie aufhalten können. Niemand. Auch keine Maginot-Linie.

Afrika verkauft sich selbst

Zudem lauert hinter der Destabilisierung, dem Zerfall und Identitätsverlust afrikanischer Gesellschaften, der Perspektivlosigkeit der Jugend auch die Gefahr entsetzlicher innerafrikanischer Konflikte. Sie wird noch verschärft durch Umweltprobleme und die Folgen des Klimawandels, die auf unserem Kontinent besonders spürbar sind. Und all diese Schwierigkeiten werden zunehmen, denn wir haben jetzt die Chinesen. Wir haben Indien. Die Türkei. Russland.

Die Europäer versuchten in der Regel noch, ihre Sache halbwegs gut zu machen, auch wenn das nicht immer glückte. Den Chinesen dagegen ist alles egal. Diktatoren, die das eigene Volk umbringen? Nicht ihr Problem. Sie stellen keine Bedingungen, und obendrein tragen sie massiv zur Korruption bei, denn sie legen immer gleich Geld auf den Tisch.

Zuerst kamen sie mit grossen Infrastrukturprojekten. Sie haben Stadien gebaut, Strassen und so weiter. Aber eigentlich wollen sie die Rohstoffe. Sie wollen den Boden. Jetzt ist Afrika dabei, seinen eigenen Grund und Boden zu verschachern. Madagaskar etwa ist zu mehr als der Hälfte verkauft. Im Bankbereich, in der Telekommunikation, bei den Dienstleistungen und im Energiesektor sind auf dem Kontinent ohnehin schon allenthalben ausländische Firmen präsent. Jetzt aber geht es um die Erde. Afrika verkauft sich selbst.

In dem Dorf, wo ich aufwuchs, ernährten sich die Leute von dem, was der Boden hergab. Die Nahrung war ausreichend, und die Menschen waren gesund. Jetzt aber ist diese Subsistenzwirtschaft akut bedroht. Die Menschen sind krank, viele hungern.

Wie Geld sich verflüchtigt

Dennoch bin ich gegen Entwicklungshilfe, wie sie heute vielerorts praktiziert wird. Was nützt es, helfen zu wollen, wenn die Unterstützung nicht bei denen ankommt, die sie brauchen? Ich war selbst zehn Jahre lang bei einer NGO tätig und habe gesehen, wie sich das Geld verflüchtigte, während es durch die Hierarchie der Funktionäre sickerte; von zehntausend Dollar kamen vielleicht noch tausend dem Projekt zugute. Deshalb sage ich: Stoppt die Entwicklungshilfe! Und wenn das passiert ist, formuliert klare Bedingungen für eine künftige Kooperation.

In den achtziger Jahren sagten die Afrikaner, dass sie keine ausländischen Experten mehr wollten. Das hatte durchaus gute Gründe – die Gehälter und Lebenskosten dieser Leute brauchten oft schon die Hälfte des Budgets auf. Da lag die Option nahe, lokale Experten einzusetzen. Aber auch das funktionierte nicht, denn zu diesem Zeitpunkt lebten wir bereits in einem System, das die Mentalität der Kolonisatoren komplett übernommen hatte.

Man kann nicht helfen, wenn es in einem Land keine stabilen Institutionen, keine unabhängige Justiz, keine solide verankerte Verfassung gibt, wenn Präsidenten wie Robert Mugabe, Paul Biya, Idriss Déby, Denis Sassou-Nguesso sich lebenslang an die Macht klammern. Bei der Entwicklungshilfe arbeiten Länder mit starken, gefestigten Institutionen mit Ländern zusammen, die nichts respektieren, die nichts für ihr Volk oder ihre Jugend tun. Das kann nicht funktionieren.

Pure Augenwischerei

In Senegal haben wir Abertausende von Talibé auf den Strassen – Koranschüler, die um Geld und Essen betteln. Abertausende Kinder, die auf der Strasse leben, sich durch den Verkehr drängen, vor Nachtlokalen schlafen, vor Banken, Bäckereien, überall. Und der Staat? Tut nichts. Als der amerikanische Botschafter nach Dakar kam, war er fassungslos, die zahllosen bettelnden Kinder zu sehen. Flugs hat man sie eingesammelt; eine Woche danach waren sie wieder da. Es war pure Augenwischerei. Wenn Amerika auf der Stelle beschlossen hätte, keine Hilfsgelder mehr herauszurücken, bis für diese Kinder eine Lösung gefunden ist, das wäre ein Schritt in die richtige Richtung gewesen; der Botschafter hätte sagen können: Gut, wenn ihr Entwicklungshilfe wollt, dann werden wir Schulen bauen.

Meines Erachtens wäre die allererste Prämisse, die Leute darauf zu verpflichten, sich selbst zu helfen. Sobald man sieht, dass sie entsprechende Anstrengungen unternehmen, kann man ihnen die Dinge bringen, die sie brauchen, um die Arbeit zu Ende zu führen. Wenn man aber Geld oder Material schickt und nichts damit geschieht, dann müssen schnellstens die Konsequenzen gezogen werden.

Es ist nötig, die Projekte zu begleiten, noch wenn es nur um einen Zugang zu Trinkwasser oder um eine kleine Entbindungsklinik geht. Eine Regierung, die solches mit Steuergeldern finanziert, hat auch das Recht zu wissen, ob das Projekt funktioniert. Aber natürlich besteht da im Westen eine gewisse Scheu, solche Kontrollmechanismen einzusetzen. Man will – erst recht in einem historisch so belasteten Umfeld wie Afrika – die Souveränität der Staaten respektieren.

Kredite statt milde Gaben

Allerdings kann ich nicht wirklich daran glauben, dass der nötige fundamentale Wandel vollzogen wird, denn mit dem Geld, das man für Entwicklungsprojekte einsetzt, sind ja auch in den Geberländern Interessen verbunden. Aber wenn man eine bessere Welt haben will, dann müsste man sich diesen Fragen stellen.

Ungleich besser als Entwicklungshilfe scheint mir das System der Mikrokredite. Die Kanadier haben schon vor dreissig Jahren mit diesem Konzept gearbeitet: Sie richteten kleine Fonds ein, vor allem für die Frauen in ländlichen Gebieten. Mit dem geliehenen Geld konnten diese einen Gemüsegarten anlegen, kleine Kooperativen gründen, etwa für die Verarbeitung von Fisch, oder ein Kunsthandwerk ausüben; das erlaubte es vielen Frauen, ein Einkommen zu erwirtschaften. Und ein Mikrokredit ist keine milde Gabe: Dieses Prinzip lässt den Empfängerinnen auch ihre Würde.

Solange man sich im Westen nicht wirklich dafür interessiert, was in Afrika passiert, ist alle Hilfe ein Schlag ins Wasser, und die Immigrationsströme werden wachsen. Manchmal komme ich von einem Gang durch Dakar völlig aufgelöst nach Hause. Wir befinden uns mitten in einer Tragödie, und ich kann rein nichts tun. Einmal sagte ich: Ich werde mich nackt ausziehen und so zu unserem Präsidenten gehen. Die Leute haben gelacht und gesagt, ach maman, sie werden dich bloss verhaften. Aber ich halte es nicht mehr aus, in dieser Ungerechtigkeit, dieser Misere, dieser Unverantwortlichkeit und Gewalt zu leben. In einer Welt, wo ausgehungerte Afrikaner andere Afrikaner ansehen müssen, die dick und fett sind, mit goldenen Klunkern behängt, die Taschen voll Geld. Nicht mehr die Europäer sind unser Problem; wir sind es selbst.