Das linke Dogma bäumte sich im Mai 1968 nochmals auf – bevor ein neues Zeitalter begann. Zwar haben die Protestierenden weder alte Tabus niedergerungen noch neue Ideen gebracht. Doch ihre Konzepte prägen uns bis heute: Die neue moralische Strenge spricht Bände über die paradoxe Wirkung der Achtundsechziger.
Jedes weltgeschichtliche Ereignis findet zweimal statt, schrieb Karl Marx mit Blick auf den achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte: «das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce». Die Maitage von 1968 waren in diesem Sinne zuoberst eine immense Parodie aller früheren revolutionären Bewegungen: 1789, 1830, 1848, 1870, 1917 – wobei sich die erste Revolution in der Reihe, die Französische, ihrerseits an die römische Antike angelehnt hatte: Die roten Mützen, die man 1791 auf dem Kopf hatte, waren jenen Kappen nachempfunden, die in Rom von den Freigelassenen getragen worden waren; sie standen für die Revanche des Volkes gegen seine Herren.
Überall, vom Hof der Sorbonne bis zum Odéon, frohlockten Wesen in Kostümen. Die Maitage glichen einer Theaterinszenierung, in der die Schauspieler ein altes Stück aufführten, ohne zu wissen, ob sie selber ein neues schreiben würden. Man traf auf Imitationen der russischen Revolutionäre, Lenin-Mützen oder Trotzki-Spitzbärtchen, aber auch Kragenwesten im Mao-Stil waren zu sehen, Matrosenblusen nach Art der südamerikanischen Guerilleros, Bérets à la Che Guevara, Castro-Bärte und -Zigarren und natürlich überall lange Haare – das Kennzeichen einer Generation, die aus dem Haarwuchs ein Erkennungsmerkmal machte.
Diesen Kostüm-Furor darf man jedoch nicht einseitig interpretieren. Dem Schein nach sprachen die Akteure von 1968 perfekt Bolschewikisch und beherrschten dessen unterschiedliche Dialekte vom Castristischen über das Anarchistische und Trotzkistische bis zum Maoistischen. In Tat und Wahrheit aber hat der Mai 1968 den unabwendbaren Niedergang der kommunistischen Ideologie in der französischen Gesellschaft markiert: Er war der letzte doktrinäre Fieberschub, die letzte dogmatische Aufwallung, bevor die Kommunistische Partei und die linken Gruppierungen verschwanden und das Zeitalter des demokratischen Hedonismus begann. Unter der Betonsprache der Ideologie war nämlich ein anderer Klang zu vernehmen: Dröhnend tauchte damals das Individuum auf. Die Losung «Alles ist politisch» war nur eine rhetorische Deckung, hinter der es sich umso besser über sich selber reden liess. So zeigte sich damals die List der Vernunft.
Man kann indes gar nicht genug betonen, dass diese Zeit auch eine der Euphorie war. Keine Krankheit schien damals unheilbar, keine erotische Verstrickung, keine sinnliche Tollheit war gefährlich, und schöne Abende gingen zuverlässig in lange, leidenschaftliche Nächte über. Der wirtschaftliche Reichtum der Nachkriegszeit, der in Kombination mit einem beschützenden Staat auftrat, sicherte den jungen Franzosen einen doppelten Status: Sie waren sowohl Protestierende, denen man zuhörte, als auch verwöhnte Lauskinder, die jeder ihrer Launen einen subversiven Anstrich gaben. Die Generation der 1960er hat die Jugend derart verherrlicht, dass sie den Ausspruch «Trau keinem über 30» zu ihrem Motto machte; sie hat die Ablehnung der Autorität theoretisch untermauert und im Namen des allmächtigen Begehrens jede Regel weggefegt – immer in der Überzeugung, dass noch die «ungehörigsten» Leidenschaften unschuldig seien.
Was bleibt von diesen Tagen? Das Gefühl eines Fiebertraums, der Ausgelassenheit und Leichtigkeit – während zweier Monate schien sich die Welt unseren Phantasien zu beugen. Aber auch der Eindruck einer Diskrepanz zwischen Rede und Realität bleibt dominant.
Die damaligen konservativen Bastionen sind gefallen, weil sie schon wurmstichig waren. Man erinnere sich an das Axiom von Tocqueville: Eine Revolution, meinte er, bricht aus, wenn sich Situationen verbessern, nicht wenn sie sich verschlechtern. Die Regeln, welche die Beziehungen zwischen Männern und Frauen einengten oder die Minderheiten niederdrückten, erschienen im reichen, aufstrebenden Frankreich der späten 1960er Jahre absurd und obsolet. Die Tabus waren brüchig und folglich ohne grossen Kampf zu sprengen. Tatsächlich konnte man in dieser glücklichen Zeit somit, ohne zu erröten, behaupten: Je mehr Liebe ich mache, desto mehr mache ich Revolution.
Der Mai 68 hat keine alten Tabus gesprengt, und er hat auch nichts Neues erfunden. Er hat die Dinge bloss synthetisiert und katalysiert.
Abgesehen von einigen Ausnahmen war sogar der Linksextremismus nur eine Art impulsives Engagement – um die Sache oder einzelne Figuren kümmerte sich kaum einer wirklich. Wenn man in Paris, Berlin oder San Francisco die alten Phantome heraufbeschwor – sie mochten unter dem Namen Proletariat, Dritte Welt oder Revolution auftreten –, dann war dies meist nur ein Spiel ohne Ernst oder Tragik, eine epische Art, seine kleine Geschichte in die grosse einzufügen. Der Übergang vom Linksextremismus zum Konformismus der 1980er Jahre ist insofern weniger als Abkehr denn als Kontinuität zu sehen: Keiner trauert ernsthaft Idealen nach, die doch nur Lippenbekenntnisse waren.
Der Mai 68 hat keine alten Tabus gesprengt, und er hat auch nichts Neues erfunden. Er hat die Dinge bloss synthetisiert und katalysiert – alles hat er beschleunigt. Er hat den Antitotalitarisums populär gemacht, der schon in den 1920er Jahren mit Boris Souvarine und Bertrand Russell aufgetreten war; er hat das Interesse an der Kindheit gestärkt, das im 18. Jahrhundert mit Rousseau entstanden war; er hat jedermann die sinnlichen Freiheiten zugänglich gemacht, die in der Zwischenkriegszeit ein Vorrecht der Eliten gewesen waren.
Eben dadurch hat er aber die Erziehung und den Unterricht in die Krise gestürzt. Die nachsichtige Generation der 1960er Jahre hat ihren Kindern nichts weitergeben wollen – ausser der Ablehnung der Autorität. Der Vater, der Patron, der Patriarch, sie alle galten nunmehr als abgeschafft. Das war ein echter Kniff: Aus ihrer Unzulänglichkeit machten die Babyboomer ein Dogma, aus ihrer Gleichgültigkeit eine Tugend, aus ihrer erzieherischen Abwesenheit das Nonplusultra einer liberalen Pädagogik. Damit begann die Zeit der Kumpel-Väter und der Kolleginnen-Mütter, die keinen Unterschied zwischen sich und ihren Sprösslingen sehen wollten und ihnen nur ein einziges Credo eintrichterten: Mach, was dir gefällt.
So aber haben es diese «jugendlichen Erwachsenen» (Edgar Morin) versäumt, ihre Kleinen auf die Aufgaben vorzubereiten, die sie im Leben erwarten. Nicht selten sieht man daher alte Adoleszente, die ewig bei ihren Erzeugern bleiben, sich im elterlichen Domizil einigeln – und sich manchmal noch beim Aufbegehren Unterstützung von den Alten erbitten. Während die Achtundsechziger-Eltern glaubten, eine ganz neue Menschheit auf die Welt zu stellen, haben sie in Wahrheit Angsthasen produziert, ratlose Wesen, die häufig dem Konservatismus zuneigen und sich von moralischer Strenge angezogen fühlen. Das Verlangen nach Ordnung und der Wunsch nach Orientierungspunkten sind nicht umsonst zu Kennzeichen der jungen Generation geworden.
Eine Binsenwahrheit besagt, dass jede Generation aus dem symbolischen Mord an der vorangehenden entsteht. Die meisten heutigen Mädchen und Jungen haben diese Erfahrung nicht machen können. Alles war ihnen gegeben, nichts mussten sie erobern. Das Drama einer allzu liberalen Erziehung besteht eben darin, keine Erziehung zu sein.
Das gilt auch für die Schule. Den Unterricht hat man dem Lustprinzip unterworfen, indem man jeden Effort und jede Selektion verbannte und die Schule auf skandalöse Weise mit der Kaserne und dem Gefängnis gleichsetzte. Dass die Babyboomer seinerzeit die Institutionen durchschütteln konnten, verdankten sie ihrer klassischen Erziehung, die sie mit dem nötigen intellektuellen Rüstzeug versehen hatte. Bei den heutigen Jugendlichen geschieht nichts dergleichen: Mit voller Wucht hauen sie sich den Analphabetismus rein und können nach 15 Jahren Unterricht häufig weder richtig lesen noch schreiben oder rechnen.
Wenn man die Krise der Autorität bedenkt, die Explosion des Narzissmus oder die Verwandlung der erotischen Emanzipation in eine neue Ängstlichkeit, muss man sagen: Im Mai 1968 sind wohl Lösungen fürs damalige soziale Malaise gefunden, aber ebenso viele neue Probleme geschaffen worden. Man kommt nicht umhin, Bilanz zu ziehen, denn der Mai 68 hat unsere Zeit geprägt – er ist die Matrix unserer Gesellschaften, das grundlegende Ereignis, demgegenüber sich jeder positioniert. Nicht zufällig hat er schliesslich auch zwei politische Typen hervorgebracht. Einmal den Meckerfritzen zur Linken: Enttäuscht darüber, dass weder die Arbeiter noch die südlichen Länder etwas von seiner Revolution wissen wollen, verweigert er sich heute vielfach der Realität. Und dann die rechten Moralisten. Sie verdammen die Laxheit von 1968 – machen aber regen Gebrauch von den damals eingesetzten Freiheiten, lassen sich etwa mehrfach scheiden und wählen ihre sexuelle Orientierung nach Belieben. So spielt uns der Mai 68 zuletzt einen schönen Streich: Er hinterlässt uns etliche Erben wider Willen.
Der Romancier und Essayist Pascal Bruckner (*1948) lebt in Paris, wo er auch den Mai 68 erlebte. Zuletzt von ihm erschienen: «Un racisme imaginaire. La querelle de l’islamophobie». – Aus dem Französischen übersetzt von cmd.