Diversität zählt mehr als Wahrheit: Wie sich die Akademie ins intellektuelle Abseits manövriert

Als ich vor dreissig Jahren in Harvard forschte, herrschte eine Atmosphäre der Offenheit und Neugierde. Heute dominieren hingegen Polemik und Abgrenzung. Die gesellschaftliche Spaltung hat längst auch den Elfenbeinturm erfasst.

Axel Meyer
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Auf dem Harvard-Campus fordern Studenten im Mai 1964 gleiche Rechte für alle und singen Protestlieder. (Bild: Frank H. Hill / The Boston Globe / Getty Images)

Auf dem Harvard-Campus fordern Studenten im Mai 1964 gleiche Rechte für alle und singen Protestlieder. (Bild: Frank H. Hill / The Boston Globe / Getty Images)

Es war eine aufregende Zeit, als ich an meiner Dissertation über die Evolution von Buntbarschen in den Kraterseen Nicaraguas gearbeitet habe. Ein Stipendium meiner Alma Mater, der University of California in Berkeley, ermöglichte mir vor dreissig Jahren, für ein Jahr an der Harvard University zu studieren und zu forschen. Eben bin ich zurück von einem wiederum einjährigen Forschungsaufenthalt in Harvard. Diesmal war ich Fellow am dortigen Radcliffe Institute for Advanced Study. Und der Schock hält an.

Harvard wirkte auf mich wie ein intellektuelles Nirwana im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in jenem Land, in dem ich fast zwanzig Jahre meines Lebens verbrachte und dem ich mich immer noch sehr verbunden fühle. Aber die USA haben sich in den letzten Jahren verändert und sind kaum wiederzuerkennen.

Damals, von 1986 bis 1987, unter Präsident Reagan, gab es grosse Aufregung um Oliver North, Iran-Gate und den Tower-Report, der aufdeckte, dass die CIA Waffen an die Ajatollahs in Iran verkaufte und mit dem Geld dann heimlich die Contras in Nicaragua finanzierte. Dies interessierte mich besonders, denn ich hatte Nicaragua zu Forschungszwecken schon 1984, 1985 und dann auch wieder 1987 bereist und kannte den von den USA finanzierten Bürgerkrieg aus eigener Anschauung.

Damals sprach der deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der 350. Abschlussfeier Harvards zum Jubiläum des Marshall-Plans, mit dem die USA nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschlands Wiederaufbau unterstützt hatten. Auch wenn ich als Student gegen Reagans Pershing-Raketen in Bonn protestierte, war die Verbundenheit mit den USA gross, und wir hörten Elektropunk-Bands der Neuen Deutschen Welle wie D. A. F. («Deutsch Amerikanische Freundschaft»). Heute ist Oliver North Präsident der National Rifle Association und Donald Trump lässt Ronald Reagan und George W. Bush im Rückblick wie brave, hochkorrekte Präsidenten aussehen.

Clinton auf Besuch

Amerika fühlt sich heute anders an. Es war zwar immer schon nach Rasse, Klasse und Politik geteilt, weitaus mehr als Deutschland. Damals aber schien es heiler, demokratischer und geschlossener zu sein – es passte besser zu unserem Bild von Lassie, Bonanza, Gary Grant und Doris Day. Nun wirkt es rassistischer, aggressiver, unglücklicher und vor allem viel gespaltener. Hat Trump das hervorgebracht – oder hat sich da etwas aufgestaut, das erst mit ihm zur Explosion kam?

Der kluge und gebildete Obama schien für acht Jahre ein hoffnungsvoller Lichtschimmer von Zivilisation und guten Intentionen zu sein, für die die USA stehen oder wenigstens zu stehen glauben. Die Rechtsprofessorin Samantha Power, 2018 wie ich Fellow am Radcliffe Institute, war unter Obama von 2013 bis 2017 Botschafterin der USA bei den Vereinten Nationen. Sie ist brillant und schillernd, ihre Anwesenheit machte den Unterschied zweier verschiedener USA schmerzhaft deutlich. Das Schlimmste, was man Obama ankreiden konnte, war bekanntlich, dass er heimlich rauchte.

Das Radcliffe Institute ist ein elitärer Elfenbeinturm im guten Sinne. Das ehemalige Frauencollege lädt jährlich rund fünfzig Fellows aus der ganzen Welt für ein Jahr ein, Projekte wie Bücher oder Kompositionen in völliger Freiheit zu realisieren. Die Leute, die sich hier treffen, sind kosmopolitisch, gebildet und haben breite Horizonte.

Hillary Clinton besuchte uns im Mai zum Radcliffe Day. Es galt, 80 Millionen Dollar an Spendenaufkommen für das Radcliffe zu feiern. Bei der Verleihung der Radcliffe-Medaille sprach sie (viel zu lange), wie auch Madeleine Albright, über die Niederlage der Wahl und wie sie damit jetzt umgehe. Beide animierten zum kollektiven Kopfschütteln darüber, wie dumm die Wähler von Trump doch sein müssen, um ihn gegen ihre eigenen Interessen gewählt zu haben. Sein Name fiel aber nicht ein einziges Mal.

Trump ist in solchen universitären Kreisen wie Lord Voldemort allgegenwärtig. Er personifiziert das Böse, das aber nicht namentlich erwähnt werden darf. Dabei scheinen die Demokraten nicht wahrhaben zu wollen, dass die Wahl für Trump auch eine Wahl gegen Hillary Clinton war. Sie verkörpert das System Washington, das korrupt, ineffizient und zynisch sein kann oder zumindest von vielen so wahrgenommen wird. Hillary Clinton, die für Gagen von einer Million Dollar vor Goldman-Sachs-Bankern spricht, ist eine genauso wenig glaubwürdige Repräsentantin der Interessen der Mehrheit der Wähler wie der narzisstische Milliardär. Nur wirkt seine Lügenhaftigkeit merkwürdigerweise gelegentlich authentischer als das feine Lächeln von Clinton.

Anders Elizabeth Warren. Sie ist eine beeindruckende Persönlichkeit und kluge Professorin in Harvard und Hoffnungsträgerin der Demokraten für die Präsidentenwahl von 2020. Ich habe sie oft auf der Strasse gesehen, wir wohnten gegenüber in Cambridge. Trump nennt sie verächtlich Pocahontas, weil sie angeblich indianische Wurzeln bei ihrer Harvard-Bewerbung im Lebenslauf erwähnte. Es ist leicht vorherzusagen, dass die akademische und aufrichtige Warren gegen den lauten Demagogen keine Chance hätte. Er spricht zu vielen aus der Seele, und die Interessen von privilegierten oder unterdrückten Minderheiten interessieren ihn schlicht nicht.

Segregation im Elfenbeinturm

Selbst am Radcliffe Institute, wo es so international und intellektuell wie überhaupt denkbar zugeht, sortierten sich, was mich überraschte, die Fellows sehr schnell nach Rasse, Geschlecht und Disziplinen. Wo man in den USA früher das Thema Religion vermied, ist es heute heikel, über Politik zu reden. Die Politik spaltet Amerika mehr als alles andere – selbst im Elfenbeinturm.

Das politische Spektrum verläuft in den USA wie auch in Europa aber nicht mehr primär entlang der Achse links–rechts, sondern entlang der Achse global–national. Global ist aber keine Kategorie, auf die wir evolutionär getrimmt sind. Wie der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt, aber auch die Evolutionspsychologin Leda Cosmides oder die Sozialpsychologin Mahzarin Banaji zeigten, unterscheiden wir – und das trifft selbst auf die «guten», «globalen» Eliten zu – sofort und unbewusst zwischen Ingroup und Outgroup. Unser Gehirn ist ein extrem sensibler Detektor menschlicher Unterschiede, aufgrund deren wir immer schon sortieren. Diese biologische Prädisposition gilt es kulturell zu überwinden – aber in Zeiten, in denen die existenziellen Risiken höher gewichtet werden als die Chancen, fallen wir umso leichter in die alten, evolutionär selektierten Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster zurück.

Harvard trägt das Wort «veritas», also Wahrheit, als Motto in seinem Wappen. Man kann aber den Eindruck gewinnen, dass die Suche nach der Wahrheit gar nicht mehr als die primäre Aufgabe in einigen Teilen universitären Lebens gesehen wird. Es scheint dort mehr um Aktivismus, Diversität und ideologisch motivierte Weltverbesserung zu gehen. Die Funktion der altehrwürdigen Institution hat sich geändert: War die Universität einst Ort des freien Meinungsaustausches und der Generierung von Wissen, ist sie heute in einigen Disziplinen Instrument der ideologischen Weltveränderung. Das ist vielleicht nicht ganz neu, aber trotzdem nicht besser, als es schon 1968 war.

Reiner Machtkampf

Wahrheitsfindung wird in Teilen der Geistes- und Sozialwissenschaften explizit als wissenschaftliches Ziel infrage gestellt. In den harten Naturwissenschaften stellt sich dieses Problem nicht. Malcolm Perry, auch er ein Radcliffe Fellow und ein enger Kollege des im letzten Jahr verstorbenen Physikers Stephen Hawking, benutzte das Wort «truth» oft und ohne mit der Wimper zu zucken. Dies geschah zur Verwunderung einiger Fellows aus den Sozialwissenschaften, die zwar an einen wie auch immer definierten Fortschritt glauben, aber nicht an Wahrheit.

Laut Poststrukturalismus – verkürzt auch Postmodernismus genannt – gibt es nicht eine Wahrheit, sondern viele Wahrheiten, die sich in einem Machtspiel durchsetzen oder nicht. In einigen besonders politisierten Fachbereichen, die sich mit Gender, Afrika oder anderen identitätspolitischen Themen befassen, gelten die Wahrheit und die wissenschaftliche Methode als von dem Patriarchat oktroyierte Konzepte. Der weisse Mann – da wird unverhohlen rassistisch argumentiert, als ob alle weissen Männer identisch dächten und tickten – ist der Feind, den es zu bekämpfen gilt.

Das neue Mantra in den Geisteswissenschaften heisst Diversität. Dabei wird ausgeblendet, wie rassistisch Diversitätsdenken per se sein kann, denn seit wann ist es denn wieder in Ordnung, Menschen nach Hautfarbe einzuteilen? Als ob alle Afrikaner gleich wären oder alle Hispanics gleich dächten. Man sagt, dass man mehr Diversity wolle, allerdings nur in Hautfarbe, aber nicht in Meinungen oder Fähigkeiten oder Talenten.

In der öffentlichen University of California in Berkeley haben mittlerweile 60 Prozent aller Studenten einen asiatischen Hintergrund. Sie schneiden im Gymnasium und in Aufnahmetests oft überdurchschnittlich gut ab. An der privaten Harvard University sind es weit weniger. Deshalb haben US-Asiaten eine Gemeinschaftsklage gegen Harvard eingereicht. Ihr Argument: Harvard nehme nicht mehr (nur) nach Leistung Studenten auf, sondern wolle Diversity-Quoten für sozial und ethnisch Benachteiligte erfüllen, zulasten der im Durchschnitt besseren Asiatischstämmigen. Es ist ihnen nicht zu verdenken.

Verändern, aber nicht verstehen

Wir leben im Zeitalter der Identitätspolitik, die sich nur für die Einzelinteressen bestimmter Gruppen (Farbige, LGBTQ, Frauen), also eines Clans, manchmal auf Kosten der Gesamtheit einsetzt. Die «guten» Menschen wenden einfach das Wir-gegen-die-anderen-Schema an, auf das wir seit je getrimmt sind, ohne uns dessen bewusst zu sein.

Was diese Stämme in der Politik vereint, ist, dass sie sich als Opfer einer vermeintlichen Unterdrückung des Systems sehen. Die vermeintlich guten Ziele zu grösserer Diversität ersticken dabei den freien Austausch von Ideen und die offene Debatte mit Fakten und Argumenten. Politischer Konformismus, Tribalismus und Identitätspolitik gefährden damit eine Gesellschaft und deren Bildungsanstalten, deren höchste Aufgabe und Existenzberechtigung ein offener Diskurs und Wahrheitsfindung sein sollte.

«Title IX» ist eine staatliche Massgabe an Universitäten in den USA, um Diskriminierung (ursprünglich von weiblichen Athletinnen) zu verhindern. Eigentlich eine noble Sache. Heute allerdings bedeutet verpflichtendes Title-IX-Training jedoch auch am Radcliffe Institute, dass Professoren lernen müssen, mit «trigger warnings», «micro-aggressions» und «safe spaces» umzugehen. Dabei ist es unerheblich, ob man einen Studenten absichtlich verletzte oder beleidigte. Es kommt allein auf die Gefühle der Person an, die sich beleidigt oder verletzt fühlt. Sie hat die Deutungshoheit – und alle anderen involvierten Parteien haben sich ihr unterzuordnen.

Das klingt wie Realsatire, aber es ist das, was gerade an den amerikanischen Eliteuniversitäten geschieht – und demnächst auch in Europa der letzte Schrei sein dürfte.

Die Folgen sind die absurden Dinge, die gerade in den USA – und zunehmend auch bei uns – passieren: Angeklagt bedeutet fast immer schuldig, es gibt keine Unschuldsvermutung mehr. Die Verfahren sind universitätsintern sehr intransparent und sollen, so darf man vermuten, vornehmlich teure Klagen gegen die Universität verhindern. Und so beginnt die Revolution ihre eigenen Kinder zu fressen. Linksliberale Ikonen wie Garrison Keillor, der für Jahrzehnte die «Prairie Home Companion» im Radio produzierte, Al Franken, der aus «Saturday Night Live» bekannte und jetzt ehemalige Senator aus Minnesota, sind schon gefallen. Nun wurde auch Avital Ronell, eine der Ikonen der Critical Theory und der Gender-Studies, von der New York University suspendiert.

Schwingt das Pendel zurück?

Eine Gegenbewegung gegen Identitätspolitik formiert sich zwar, aber fast nur ausserhalb der Universitäten. Sie wird angeführt durch öffentliche Intellektuelle wie Sam Harris, Steven Pinker, Jordan Peterson, Jonathan Haidt, Camille Paglia oder Christina Hoff Sommers. Sie finden hauptsächlich auf Youtube und in Podcasts Millionen von Zuschauern und Zuhörern, publizieren erfolgreiche Bücher und füllen riesige Auditorien. Aber an den Universitäten regt sich noch kaum nennenswerter Widerstand – da herrscht weiterhin die Angst vor, etwas Falsches zu sagen.

Auch (noch) am Radcliffe Institute.

Axel Meyer ist Professor für Zoologie und Evolutionsbiologie an der Universität Konstanz.